Schlagwort: Grand-Prix

Ein bißchen Soufflé

Viel heiße Luft beim deutschen Grand-Prix-Vorentscheid.

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Der Grand Prix ist wie ein überfahrenes Tier auf der Landstraße. Man mag es nicht sehen und kann doch nicht aufhören hinzugucken. Und so sehen wir eine junge, blinde Frau, die es im dritten Versuch endlich geschafft hat, für Deutschland beim Song Contest singen zu dürfen, weshalb sie für die dreißig, vierzig Fotografen und Kameramänner, die sich vor ihr aufgebaut haben, immer und immer wieder die Arme zu einer Siegerpose hochreißen muß. Auf Zuruf der Fotografen reißt sie die Fäuste mit abgewinkeltem Ellenbogen hoch, und alle knipsen, und niemand sagt ihr, wie traurig das aussieht.

Und wir sehen neben ihr auf dem Podium Ralph Siegel, den sie „Mister Grand Prix“ nennen, weil bei ihm Lebenswerk und Schlagerwettstreit eine fast tragische Verbindung eingegangen sind. Und neben ihm Bernd Meinunger, über den man ähnliches nur deshalb nicht sagt, weil der Texter meist im Hintergrund steht, der aber Siegel fast immer die Texte zu seinen Melodien schreibt. Meinunger sagt, die Inspiration zu den Zeilen, die er für Corinna May geschrieben habe – „Ich kann nicht ohne Musik leben, nur du läßt mich weitermachen“ -, die Inspiration dazu stamme von der Künstlerin, für die Musik wirklich alles sei, einfach alles, und er sagt es, als habe er die Musikwelt damit revolutioniert, als hätten nicht Tausende Künstler die gleichen Zeilen, die gleiche Wahrheit millionenfach formuliert. Und Siegel sagt, seine Komposition sei „einfach ein so gelungenes Lied, auch von der Musik her“ und fügt tatsächlich hinzu, daß diese Musik, eine Mischung aus Boney M. und den immer gleichen Siegel’schen Versatzstücken, höchst modern sei, ja, Musik, wie Kylie Minogue sie gerade mache. So sitzen die beiden da und loben die „Super-Konkurrenz“ und erzählen, in wieviele Sprachen das Lied übersetzt werde, falls man im Mai in Estland gewinne, und plötzlich ist es 1982 und man wird den Gedanken nicht mehr los, wie Siegel jetzt nach Hause fährt, eine Gitarre weiß lackieren läßt und ein schwarzes Glitzerkleid kauft, denn Corinna May wird in Estland mit der Startnummer 18 auftreten, genau wie Nicole damals in Harrogate, wo sie gewann: „ein gutes Omen“.

Es ist diese Mischung aus unendlicher Banalität und unendlicher Wichtigkeit, die dazu führt, daß man den Grand Prix nicht ansehen kann und es trotzdem immer wieder tut. Dabei ist der Grand Prix auch eine Veranstaltung, in der Spaß und Geschäft und, ja, so etwas wie Talentförderung sich wunderbar verbinden. Um das zu erleben, hilft es hinzufahren, in diesem Jahr also in die Ostseehalle nach Kiel.

Ausverkauft ist sie nicht, kein Wunder – bis zu 50 Euro pro Karte, aber knapp 6000 Zuschauer sollen gekommen sein. Anders als in den Jahren, als Guildo Horn antrat oder Stefan Raab, ist es schwer, die Besucher nach Klischees zu sortieren und den Teilnehmern zuzuordnen. Erstaunlich viele Frauen mittleren Alters sind gekommen, unauffällig, ein bißchen herausgeputzt. Es ist nicht das Musikantenstadl-Publikum, auch kein reiner Tuntentreff, es sind viele junge Leute darunter, die nicht weiter auffallen. Man fragt sich, ob viele davon vielleicht nur wegen der Abwechslung hier sind, weil das Fernsehen eher selten nach Kiel kommt, doch dann treten, nachdem eine Aufwärmerin des Schlagerradios „NDR Welle Nord“ alles versucht hat, das Publikum einzuschläfern, die Weather Girls auf die Bühne, und der Laden explodiert. Innerhalb einer Sekunde ist das Publikum mitgerissen, applaudiert, trampelt, schwenkt Fähnchen und freut sich, dabeisein zu dürfen. Sie scheinen wirklich Spaß zu haben, nicht in seiner ironischen Brechung als „Kult“, einfach: Spaß. Wie die Weather Girls, die offensichtlich glücklich sind, den Laden (und mutmaßlich Millionen zu Hause) in Schwung zu bringen; wie vier Punks aus Cottbus namens SPN-X, die eine halbe Stunde vor der Sendung noch an der Bar im Pressezelt lehnen und Bier trinken, und dann auf die Bühne gehen, ihre Show machen, sich freuen, daß sie damit nicht nur ihren kleinen angereisten Fantrupp, sondern die halbe Halle mitreißen, und hinterher finden, daß die ganze Veranstaltung zwar „irgendwie peinlich“ gewesen sei, aber auch gut, weil die Kollegen nett waren und sie gar nicht so als Exoten behandelt haben. Diese Jungs sind beim Grand Prix, weil sie für ihre Musik leben und nicht für den Grand Prix.

Es geht trotzdem um viel. Nach Jahren völliger Belanglosigkeit ist die Veranstaltung zumindest für die Plattenindustrie höchst relevant. Außer bei „Wetten, daß. . .“ gibt es keine Möglichkeit, einen Künstler mit einem Schlag so vielen Millionen Menschen zu präsentieren, und bei „Wetten, daß. . .“ hat Nachwuchs eher keine Chance. Die Professionalisierung der Sendung und Titelauswahl führt leider auch dazu, daß sich spätestens nach der dritten wohlgeplanten Mainstream-Ballade Langeweile im Saal breit macht. Aber zum ersten Mal seit Jahren ist mehr als die Hälfte der Vorentscheidungsteilnehmer tatsächlich einigermaßen talentiert, stimmgewaltig und sogar in der Lage, live zu singen. Das ist doch was.

Bei solcher Bedeutung überläßt man lieber wenig dem Zufall, und so bestehen die Fanclubs, die man im Fernsehen jubeln sieht, überwiegend aus Mitarbeitern der Plattenfirma oder Freunden und Verwandten der Künstler. Der wahre Fan gibt sich mit so etwas nicht ab, und so sitzt auf der Tribüne eine sehr blonde junge Frau, die sich alle Mühe gibt, trotz kurzer Arme ihr selbstgestaltetes großes Plakat ins Bild zu bringen, dessen Text sie eher als Amateur im Plakatgestalten ausweist: „Go Linda Go“ hat sie darauf geschrieben, und darunter: „3 P steht für Musik mit Qualität, darum sind wir für die neue Soul-Königin“. Zwischen ein paar fröhlich pöbelnden Hools, die ein Ordner mit großer, aber letztlich nicht ausreichender Ausdauer immer wieder ermahnt, nicht auf die Stühle zu steigen, sitzt eine Rothaarige, um deren Oberkörper nur eine Art goldfarbene Serviette schlabbert, die gelegentlich ihren handgemalten Satz „SPN-X ich will ein Kindl von Euch“ hochhält, ein Kumpel in der Reihe vor ihr hat sich für die schlichte Aussage entschieden: „Bernhard Brinkts nicht“. (Dabei werden die Jungs von der Band später sagen, daß Bernhard Brink, der in der Halle gnadenlos ausgebuht wurde, ein dufter Typ sei und sie die einzigen waren, die morgens beim Frühstückstisch über seine Witze lachen konnten.) Außer bei der Kelly Family und der von „Bild“ und Dieter Bohlen ins Rennen geschickten jungen Isabel schien sich das Publikum mit allem anfreunden zu können, was ihnen geboten wurde: Die Anhänger des Mädchenduos Unity 2 zogen sich, nachdem ihre Favoritinnen fertig waren, die Einheits-Fan-T-Shirts aus, hielten sie an den Ärmeln hoch und schwenkten sie im Takt. Und ein einsames Mädchen im Parkett fand, daß es völlig reichte, ihre Werbe-Baseballkappe mit „Quam“-Aufdruck ein paar Zentimeter über dem Kopf zu schwenken. Und zu Hause saßen – trotz Olympia und Günther Jauch – nicht weniger als achteinhalb Millionen Zuschauer vor ihren Fernsehern und sahen sich an, wie Corinna May vor Joy Fleming, der Christen-Boygroup Normal Generation und den Kellys gewann.

Es war ein merkwürdiger Kontrast zwischen der genügsamen Menge im Publikum und dem unglaublichen Aufwand dieser Live-Sendung. Zwischen den unauffälligen Plätscherstücken und den Skandal-Geschichten, die die „Bild“-Zeitung täglich erfand. Noch nie, auch nicht zu Guildo-Horn-Zeiten, war das Medieninteresse an einem Grand-Prix-Vorentscheid so groß wie dieses Mal, 550 Journalisten waren akkreditiert. Und noch nie war die Diskrepanz so groß zwischen diesem offensichtlichen Interesse und dem, was sie an Substanz vorfanden, wobei Grand-Prix-Organisator Jürgen Meier-Beer gerne darauf hinweist, daß auch das beste Soufflé zur Hälfte aus Luft besteht. Aber vielleicht spiegelt sich in diesem scheinbaren Widerspruch ja nur eine Grand-Prix-Normalität, die in den Jahren der Verwahrlosung, aber auch den folgenden Jahren des Irrwitzes abhanden gekommen war: eine Mischung aus höchster Aufregung um eine schlichte Veranstaltung, die inzwischen höchst professionell auf musikalisch nicht ganz so hohem Niveau organisiert wird. So gesehen scheint der Grand Prix endlich zu Hause angekommen: in den frühen achtziger Jahren, bei Nicoles bißchen Frieden und mit Corinna Mays bißchen Musik.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Europa wählt amerikanischen Funk

Estland gewinnt völlig überraschend den Grand Prix, und nur die Dänen freuen sich nicht darüber.

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Der deutsche Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer glaubt, langsam eine Erklärung gefunden zu haben für das Phänomen, das immer wieder verblüfft: Die meisten Menschen verfolgen bei dem Pop-Wettbewerb im Fernsehen nicht die Auftritte der einzelnen Länder; mehr sitzen vor dem Ritual der Punktevergabe. „Europa nimmt sich einmal im Jahr diese Stunde, um kollektiv über die Beziehungen seiner Nationen untereinander zu meditieren“, sagt Meier- Beer. Nach den Wertungen zu urteilen, ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der skandinavischen Länder am Anfang des 21. Jahrhunderts intakt, auf britisch-irische Freundschaft kein Verlass, die Verbindung Frankreich-Portugal ungebrochen, und Deutschland ziemlich allein ohne seine Nachbarn Belgien, Schweiz und Österreich.

Eines aber erklärt Meier-Beers Theorie nicht: Warum sich Briten und Türken, Holländer und Griechen und noch einige mehr darüber einig waren, dass „Everybody“, ein altmodisches Stück amerikanischen Funks, gesungen von zwei unaufälligen Männern namens Tanel Padar and Dave Benton, die vor dem Contest in Kopenhagen kaum jemand wahrgenommen hatte, der beste Teilnehmer am diesjährigen Eurovision Song Contest gewesen sein soll. Die Europäer haben allem Anschein nach kaum noch Lust auf klassischen Schlager, aber der Weg nach vorne führt über die Vergangenheit. Denn die Alternative zu kitschigen Balladen waren Musikstile von gestern und vorgestern: Funk a la Cool and the Gang bei den Esten, eine Mischung aus Country und Kinderlied bei den Dänen, Bonnie-Tyler-Bombastpop bei den Slowenen. Die deutsche Vertreterin Michelle kam auf Platz acht.

Die Esten haben nun vier Wochen Zeit, dann steht ein Team der Eurovision bei ihnen vor der Tür und verlangt Rechenschaft, wo und wie sie es schaffen wollen, die Sendung im kommenden Jahr zu stemmen. Mit riesigem technischen und organisatorischen Aufwand (und nicht immer entsprechendem Ergebnis) haben die Dänen die angeblich größte Fernsehshow der Welt inszeniert – Übertragungen von Fußballspielen oder Konzerten nicht mitgerechnet. Da ist der Anspruch hoch, und die Gefahr für ein kleines Land, daran zu scheitern, ebenso. Mehr als 15 Millionen Mark soll die Sendung in diesem Jahr gekostet haben.

Für die Grand-Prix-verrückten Esten ist das Ergebnis ein Traum. Für die knapp geschlagenen Dänen eigentlich auch, die nun langsam anfangen können, die „Grand-Prix-Sonderangebote“ aus Einrichtungsläden und Modegeschäften in Kopenhagen abzuräumen. Die Mehrheit der 38000 Zuschauer im Fußballstadion „Parken“ ließ sich von dem Veranstaltungsort zwar zu einer Art Hooligan-Atmosphäre anstecken, buhte schlechte Wertungen für das eigene Land aus und sparte mit Applaus für die Sieger. Aber den Organisatoren war der zweite Platz lieber als ein Sieg. „Ich glaube nicht, dass man die gleiche Begeisterung hier noch einmal hinkriegen und die Besten des Landes aus allen Bereichen ins Team bekommen würde“, sagt Oberorganisator Jorgen Ramskov, der selbst für die Produktion des Festivals vor einem Jahr seinen Posten als Chef des staatlichen Fernsehsenders DR aufgegeben hatte. Er hatte sich das Ziel gesetzt, den Wettbewerb „nicht zu verjüngen, aber zu modernisieren“.

Ob das gelungen ist, ist schwer zu sagen. Einerseits waren nicht nur die Dänen im generationenübergreifenden Grand-Prix-Rausch, auch in Hamburg nutzten viele Tausend Menschen das schöne Wetter und den Hafengeburtstag, sich auf der Reeperbahn das Spektakel anzuschauen. Und mit mehr als acht Millionen Quote hat der Song-Contest das einzige für die ARD zählende Kriterium erfüllt. Andererseits waren viele Beiträge von einer Art, dass man hofft, dass die jeweils führende Boulevardzeitung in Bild-Manier wenigstens vorher mahnend gefragt hat, ob die für ihr Land überhaupt singen dürfen. Nach einem neuen Reglement müssen die sieben Länder mit den schlechtesten Ergebnissen im nächsten Jahr aussetzen – das trifft unter anderem große Grand-Prix-Nationen wie die Niederlande und Irland.

Deutschland wäre wie Frankreich, England und Italien selbst bei einem schlechten Ergebnis davon ausgenommen – aber Michelle landete ohnehin weit oberhalb der Abstiegszone, obwohl ihre Ballade „Wer Liebe lebt“ nur aus Portugal und Spanien nennswerte Punkte erhielt. Sie sagte, sie sei mit dem achten Platz sehr zufrieden und der Sieg für Estland gehe in Ordnung, weil das „ein kleines Land“ sei. Anders als bei der Probe zeigte sie im Finale stimmliche Schwächen – aber ob so etwas die abstimmenden Europäer überhaupt interessiert, bleibt eine der vielen ungeklärten Fragen dieser Veranstaltung.

(c) Süddeutsche Zeitung

Aber hallø!

Kleines Land, großer Wahnsinn: Die Dänen wollen es mit ihrem European Song Contest am Samstag erheblich krachen lassen.

Wie in einem Märchenwald wirft Sonnenlicht Staubstreifen in die dunkle Arena. Das Gestänge, an dem das Dach aufgehängt ist, lässt dem Licht ein paar Lücken. Dem Wind auch. Kalt ist es. Draußen feiern die Kopenhagener den Frühling: Auf jedem Bordstein sitzt einer, lässt sich anstrahlen und strahlt zurück. Drinnen erinnern sich ein paar Deutsche, die auf den Rängen frösteln, wie die Nationalmannschaft hier vor einem halben Jahr verloren hat. Damals war das Parken-Stadion noch ein normales Fußballstadion, ohne Dach. Der Prospekt sagt, dass man die Halle schnell mit heißer Luft füllen kann. Am Samstag Abend findet hier also der Schlager-Grand-Prix statt (ARD, 21 Uhr).

Ganz so ist es nicht, dass das Stadion extra dafür ein teures Dach bekommen hat. Die Pläne lagen schon in den Schubladen. Aber für das längst totgesagte Fernsehritual hat man sie ‚rausgeholt. Deshalb werden die Kopenhagener in Zukunft, wenn sie hier Madonna zujubeln, dem Grand Prix dankbar sein – auch eine Antwort auf die ewige Frage nach dessen Sinn und Daseinsberechtigung.

Nicht, dass die in Kopenhagen in diesen Tagen viele stellen würden. Die Feuerwehrleute nicht, die eine Woche lang als Sicherheitsleute hinter den Kulissen stehen und sich ein paar Kronen dazu verdienen, damit sie in einem Monat zu den internationalen Polizei- und Feuerwehr-Spielen nach Amerika fliegen können. Die Tourismus-Leute von „Wonderful Copenhagen“ nicht, die jedem Delegationsmitglied am Flughafen das Gefühl geben, die „Wonder Brass“- Band spiele nur für ihn. Und die Leute vom dänischen Fernsehen schon gar nicht. Die haben seit einem Jahr eine Mission. Nach dem Sieg der Olsen-Brüder in Stockholm wollen sie die größte Fernsehshow aller Zeiten veranstalten. Um es den Schweden, den dänischen Lieblingsgegnern, mal richtig zu zeigen? „Nein“, sagt der örtliche Event-Manager Christian Have, „um es der Welt zu zeigen“.

Vielleicht muss man sich einmal vorstellen, was passieren würde, wenn unsere süße Michelle gewänne: Bild würde zwei Wochen komplett ausrasten und die Nation abstimmen lassen, ob Ex-Freund Matthias Reim zurück darf zu Michelle oder nicht. RTL und Sat 1 würden jeden ihrer Schritte zu ewigem Ruhm oder mal eben in den Abgrund mit der steady cam begleiten. Ralph Siegel würde sich heulend in seinem Studio einschließen, weil nicht er es war, der den Grand Prix nach Deutschland holte.

Aber sonst? Der NDR würde routinemäßig die Preussag-Arena buchen und die Fernsehleute engagieren, die die Arena schon bei der Vorentscheidung ganz fürchterlich nach Hannover aussehen ließen. Grand-Prix-Koordinator Jürgen Meier-Beer würde versuchen, Claudia Schiffer als Moderationspartnerin für Axel Bulthaupt zu gewinnen. Die schwulen Grand-Prix-Fanclubs könnten die Tickets unter sich aufteilen. Stefan Raab würde ein paar Sondersendungen machen. Und den meisten Menschen wäre die Geschichte, jenseits eines kultigen Fernsehabend mit Käse-Igeln und viel Alkohol, egal. Grand Prix halt.

In Dänemark ist es so, dass heute sämtliche Minister und der Regierungschef in der ersten Reihe sitzen werden, um sich anzusehen, wie junge unbekannte Menschen mit erstaunlich guten Stimmen erstaunlich uninspirierte Lieder um die Wette singen. „In diesem Jahr ist das für uns kein Song Contest“, sagt Cheforganisator Jørgen Ramskov: „Es ist ein Staatsakt.“ Der Stroget, die Einkaufsstraße, die der Reiseführer als möglicherweise längste Fußgängerzone der Welt beschreibt, hat sich in die sicherlich größte Ausstellung von Grand-Prix-Wahnsinn verwandelt: Eine Konditorei hat in ihrer Auslage den Titel jedes dänischen Beitrags der Geschichte in einer Torte dargestellt. Rosendahl hat seine Schaufenster leergeräumt und ein einzelnes Besteckset hineingestellt, das offizielle Grand-Prix-Besteck, in edler Box, statt 1624 nur 999 Kronen.

In den Plattenläden steht die CD mit den Liedern aller Teilnehmer, der Verkäufer rechnet fest damit, dass die bald auf Platz eins der Hitparade sein wird. Gleich neben den Sammlungen vom „Danske Melodi Grand Prix“ 2000, 1999 und 1954-1998, diversen Best-Ofs und der Platte von Johnny Logan, dem Iren, der zweimal gewonnen hat; die Platte hat er gerade extra für die Dänen aufgenommen. Rund um den Kongens Nytorv Platz strahlt ein Blumenbild mit Blütenklecksen, das die Noten des dänischen Beitrags darstellen soll.

„Es ist eine Geschichte ganz nach dem Geschmack der Dänen“, sagt Christian Have, „wir sind ein kleines Land, wir halten nicht viel von großem Startum. Wir lieben es, dass im vergangenen Jahr mit den Olsen-Brüdern zwei alte Männer gewonnen haben, die ihre große Zeit vor 20 Jahren hatten – und die niemand wirklich auf der Liste hatte.“ Nein, man kann nicht sagen, dass die Dänen vorbereitet waren auf diesen Sieg: Die öffentlich-rechtliche Anstalt Danske Radio hatte gerade beschlossen, ihre Unterhaltungsabteilung aufzulösen. Der frühere Grand-Prix-Beauftrage musste in eine kaufmännische Abteilung wechseln.

Nun hatten auch die Dänen vor ein paar Jahren noch ihre Zweifel an dieser merkwürdigen Veranstaltung. Nach dem Sieg erkannten sie schnell, dass dies die Chance war, der Welt etwas zu beweisen. Danske Radio ist ein kleiner Sender, wie man ihn sich in einem kleinen Land wie Dänemark vorstellt, in dessen Fernsehabteilung nachts und morgens noch das Testbild läuft. Ramskov, der eher auf Rockkonzerte geht und dem Michelle nicht in den CD-Player käme, kündigte seine Position als Fernsehchef, um ein Jahr lang etwas vorzubereiten, das nicht mehr Schlagerwettbewerb, sondern Mammut-Party werden sollte: „Wir erfinden den Song Contest neu. Entweder man macht ihn richtig oder gar nicht.“

Etwas beunruhigt verfolgten die Eurovisions-Kollegen den Gigantismus der Dänen und fragten sich nicht nur, ob das Dach über Parken rechtzeitig fertig würde, sondern auch, ob es überhaupt genügend Leute gebe für die 38 000 Plätze. Das Dach steht, die Karten für die Veranstaltung und zwei Generalproben waren innerhalb von 50 Minuten ausverkauft. Junge Menschen übernachteten in Schlafsäcken auf dem Rathausplatz, um Tickets zu ergattern, die heute für fast 1000 Mark auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden.

15 Millionen Mark soll die ganze Veranstaltung kosten, sechs Millionen bekommt Danske Radio von den größeren Eurovisions-Kollegen, den Rest sollen Sponsoren und Partner decken.

„Es war ein Pokerspiel“, sagt der deutsche Grand-Prix-Mann Jürgen Meier Beer. Er verfolgt diesmal nicht nur fasziniert, warum ernstzunehmende Menschen heftig über die Frage streiten können, wie furchtbar es ist, dass alle Teilnehmer plötzlich eine Strophe auf Englisch singen. Für ihn wäre so ein finanzielles und organisatorisches Pokerspiel kaum zu machen – „der Stellenwert des Grand Prix ist für ein kleines Land einfach ein anderer“. Andererseits hat er es geschafft, dass der deutsche Botschafter in Kopenhagen einen Empfang für Schlagermaus Michelle gegeben hat, in einer Kirche, deren Kirchenvorstand darum bat, die Sängerin auf seiner Harley fahren zu dürfen, bevor sie von den Olsen Brothers mit dem Lied „Michelle“ überrascht wurde. Ah, schön!

Am Samstag wird sie auf der Bühne stehen und ihr Lied „Wer Liebe lebt“ singen, von dem sie sagt, dass es eine Botschaft habe: Dass wir alle mehr lieben müssen. Außer von Nicole damals werde das ja viel zu selten gesungen. Die Russen zeigen, dass auch aus Wladiwostok erfolgreiche Musiker kommen können und diese aber trotzdem nicht gut sein müssen. Die Schweden könnten dafür sorgen, dass in Zukunft auch Abba-Kopien als Verstoß gegen die Genfer Menschenrechtskonvention gewertet werden. Aus England kommt eine junge Frau, die aussieht, als habe man sie bei Hempels unterm Sofa gefunden, aber sie singt wie eine Göttin.

Am Ende könnten die Franzosen gewinnen, was gut wäre, weil die keine Lust mehr haben auf einen Grand Prix, bei dem sie dauernd verlieren. Oder die Slowenen, was auch gut wäre, weil es dann auch im nächsten Jahr wieder einen Staatsakt statt eines Schlager-Wettbewerbs gäbe.

Ach ja, die Schlager. Dieses Problem haben die Dänen in ihrem Eifer noch verschlimmert: Auf einer riesigen Bühne sieht man schnell ganz klein aus.

(c) Süddeutsche Zeitung

Michelles Grand-Prix-Tagebuch

Lustig, lustig, tralalalalaaa. Grand Prix: Michelle wundert sich in Kopenhagen über ihr angeblich eigenes „Bild“-Tagebuch.

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Kein Sänger sollte das Haus ohne seine fleischfarbenen Ohrstöpsel verlassen. Sonst muss er im Fall eines Auftritts vor größeren Menschenmengen in windigen Hallen, wo man nicht einfach Lautsprecher-Monitore für die Interpreten aufstellen kann, fremde Ohrstöpsel benutzen, die nie richtig passen, was im Ausland besonders schlimm ist, weil es die Techniker dort ja nie schaffen, einen vernünftigen Ton draufzulegen. Michelle, deutsche Vertreterin beim Grand Prix in Kopenhagen, auch bekannt als „unsere Schlager-Prinzessin“, hat extra auf einer Tournee mit dieser Technik geübt. Und was hat sie nun zu Hause gelassen? Ihre fleischfarbenen Ohrstöpsel.

So steht sie bei der ersten Probe am Dienstagabend auf der Bühne im Kopenhagener Fußballstadion Parken, quengelt, der Ton sei „total überkoppelt“, erträgt die fremden Stöpsel beim Singen nicht, kann aber ohne sie nicht singen, tut sie rein, tut sie raus, einen rein, anderen rein, kommt gegen ihre Backgroundsänger nicht an, vergisst, dass sie den letzten Refrain auf Englisch singen soll, obwohl es ihr Chor aber tut (was zusammen witzig klingt), ist auch beim vierten Durchgang ahnungslos, welche Kamera auf sie gerichtet ist, weint fast.

Der erste Auftritt war also eine Katastrophe. Mit anderen Worten: „Gestern hatte ich meine erste Probe. Es ist schon ein gigantisches Gefühl, auf einer so großen Bühne zu stehen.“ Schreibt Michelle in ihrem „Tagebuch“, das die Bild-Zeitung täglich unter der Autorenzeile „Von MICHELLE (zur Zeit in Kopenhagen)“ veröffentlicht. Gigantisch? Soso.

Man muss nun daraus nicht schließen, dass es in Wahrheit Freudentränen waren, die in Michelles Augen standen. Es ist eher so, dass speziell dieses Tagebuch durch eine bemerkenswerte Kombination aus Gedankenlesen und Hellsehen entsteht, was — eine lästige Nebenwirkung solch‘ journalistischen Extremsports — nicht immer zu den verlässlichsten Resultaten führt. Der Tagebucheintrag über die Probe jedenfalls („Mein Herz zittert. Meine Knie werden weich.“) entstand, bevor die Probe begonnen hatte. Und auch wenn man auf einem Foto sieht, wie Michelle mit Block und Stift „allein in ihrem Hotelbett“ sitzt -– es ist Bild-Redakteur Mark Pittelkau, der ihre geheimsten Sehnsüchte und Sorgen beschreibt. Er kennt Michelle sozusagen besser als sie sich selbst. Er denkt sie sich aus.

Das ist soweit nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist, dass die Schlagerprinzessin „ihr“ Tagebuch am Anfang nicht einmal gelesen hat, bevor es in Druck ging — was, neben der Sache mit den fleischfarbenen Ohrstöpseln, daran zweifeln lässt, ob sie mit ihrem Manager gut beraten ist. Jedenfalls ergibt sich dadurch gleich am ersten Morgen, vor einer gemeinsamen Stadtrundfahrt, die folgende Szene, die Generationen von Studenten der Kommunikationswissenschaft Stoff für Seminare zum Thema Medieninszenierungen und Wirklichkeit geben könnte: Da steht also Michelle in der warmen dänischen Frühlingssonne und bekommt die Bild-Zeitung mit ihrem Tagebuch- Artikel in die Hand gedrückt. Drei deutsche Kamerateams filmen nun, wie Michelle zum ersten Mal „ihr“ Tagebuch liest, über die Schlagzeile „Nachts im Hotel fühle ich mich oft so einsam“ staunt, erschrickt, lacht und dann sagt, das sei ja ein Quatsch.

Der Autor Pittelkau, der ein paar Schritte daneben steht, wird am Nachmittag in Michelles Bild-Tagebuch den Eintrag machen, zum bevorstehenden ersten Geburtstag ihrer Tochter habe sich der Vater des Kindes, der Schlagersänger Matthias Reim, noch nicht gemeldet, was ja wohl mal wieder typisch sei. Am Tag darauf stellt Michelle ihren Ghost-Writer zur Rede.

In Zukunft will sie vorher wissen, was sie in ihr Tagebuch schreiben wird.

(c) Süddeutsche Zeitung

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Waterloo

Beim deutschen Schlager Grand Prix stirbt die Figur Zlatko.

Schwäbisch-mazedonisches Schimpfwort mit neun Buchstaben? Kotzköppe. Nicht gerade der verbreitetste Schmähruf. „Vielen herzlichen Dank, liebe Kotzköppe“ lautet der Satz, mit dem sich Zlatko am Freitag entnervt von den buhenden Zuschauern beim Grand Prix verabschiedete – und von der großen Bühne überhaupt. Denn es war nicht so, dass am Freitagabend in der Hannoveraner Preussag-Arena nur die notorisch schlageraffinen Grand Prix-Insider buhten. Außer einer Hand voll Jubelperser, die der Containerbetreiber Endemol bestellt hatte, buhten alle. Dabei wäre in der Halle durchaus Platz gewesen für ein paar Hundert Zlatko-Fans. Doch Unterstützung gab es hier so wenig wie bei der Abstimmung per Telefon, wo Zlakto angeblich auf Platz sieben, sicher aber nicht unter den ersten Dreien landete.

Der Star Zlatko ist Geschichte. RTL und Bild, die ihn erst zu dem machten, was er am Freitag war, haben längst die Seiten gewechselt und sind nun ganz vorne bei denen, die nachtreten. Zlatkos Auftritt war so verheerend, dass man immerhin hoffen kann, dass ein paar Leute bei Endemol und Bertelsmann – deren Produkt er ist, deren „Schützling“ er sein sollte und die ihn in eine Rolle drängten, der er nicht gewachsen war und ihm ein Lied schrieben, das er nicht singen konnte – dass also ein paar von denen jetzt schlecht schlafen. Wenn schon nicht aus Sorge um Zlatko, dann wenigstens aus Sorge um die verschenkten Millionen, weil sie ihre Milchkuh nicht gemolken, sondern geschlachtet haben.

Es war ein denkwürdiger Abend. Voll von diesen Grand Prix-Momenten, die sich ins Gehirn brennen und Therapeuten auf Jahre hinaus beschäftigen: Wie Rudolph Moshammer darum bat, für ihn zu stimmen, damit er das Geld den Obdachlosen geben könne. Wie sich die Begleiterinnen von DJ Baloon am Ende je einen Wassereimer griffen und über sich ausschütteten, damit man einen deutlicheren Blick auf ihre Anatomie werfen konnte. Wie Joy Fleming in einer Art Komposthaufen auf die Bühne kam, einem Kleid von so unfassbarer Schrecklichkeit, dass alle Sinne minutenlang mit der Verarbeitung und Verdrängung beschäftigt waren, anstatt auf das nette Lied zu achten. Und wie Joy die Gewinnerin Michelle umarmte, wobei sich irgendetwas an Michelle in den Stoffbergen verfing, weshalb eine Minute lang ein kleines Grüppchen von Frauen auf der Bühne stand, das aneinander herumnestelte.

Über neun Millionen Menschen sahen sich das an, und die ARD, die auch nicht alle Tage eine solche Quote hat, stellte sich als gefällige Werbeplattform zur Verfügung: für die Telekom, für T-D1, für den Verlag Hoffmann und Campe, für Jeanette Biedermann und diverse Tonträger. Nur für die inzwischen sehr ansehnliche und erfolgreiche deutsche Popmusikszene, dafür warb sie nicht. Kein deutscher Soul von Ayman, kein Mainstream-Hip-Hop der 3. Generation, kein moderner Pop eines Laith Al-Deen.

Mit Michelles Wer Liebe lebt gewann zwar ein klassischer Schlager, aber wenigstens der fast einzige zeitgemäße und ordentlich produzierte Beitrag des Abends. Der ARD Grand Prix-Chef Jürgen Meier-Beer hat es geschafft, dass der Wettbewerb an Aufmerksamkeit gewonnen hat.

An Relevanz nicht.

König der Zwerge

Die Sonne geht unter, der Schlager-Grand-Prix kommt.

Ich steh hier für euch / Das Mikro in der Hand / Ich steh hier meinen Mann / Tu alles was ich kann. / Ich steh hier für euch / Ich sag’s total direkt / Ich bin zwar nicht perfekt / Doch ich geh hier nicht weg. / Denn wir ham keine Angst . . .

Falsch! Wir ham Angst! Das Schlimmste ist nicht, dass Zlatko mit diesem Lied bei der Vorentscheidung zum Schlager-Grand-Prix antritt. Das Schlimmste ist, dass ihm trotzdem der Titel des peinlichsten Beitrages nicht gewiss ist. Dass es soweit gekommen ist, dass man der Bild-Zeitung recht geben muss in ihrem furchtbaren Lamento, wie weit es gekommen ist. Und dass man am Ende erleichtert sein wird, falls Michelle gewinnt, die ein konventionelles Schlagerlied im Stil der 80er über die Liebe singt, aber wenigstens eins, bei dem man von „Lied“ und „Stil“ und „singen“ sprechen kann.

Drei Arten von Beiträgen treten am 2. März an: die Unauffälligen, die Gutgemeinten und die Durchgeknallten. Michelle gehört zur ersten Gruppe, wie ein Trio um Joy Fleming. Nett, belanglos, Grand-Prix-Material halt, das noch in zehn Jahren auf kultigen Parties bejubelt wird und sonst nirgends. Mit gutem Willen kann man auch zwei Beiträge Ralph Siegels dazu zählen, der seine alten Ideen mit neuen Sängern recycelt, aber vorsichtig sein sollte mit der Forderung, manche Beiträge zu verbieten, weil er sonst selbst halb im Knast stünde.

Dann sind da die, die sich erschreckenderweise für die Retter des Grand Prix halten: Wolf Maahn, der die Idee zu seinem Lied in Sarajewo hatte und am Anfang ruft: „Welcome, yeah, this is Radio Open Mind, broadcasting to all humankind. “ Oder anständige Jungs namens Tagträumer, die man für Pur halten könnte, wäre ihr Lied nicht weitgehend eine Kopie des Hits Never had a dream come true von S Club 7. Womit wir bei Zlakto und den Durchgeknallten wären. Natürlich haben auch Leute, die keinen Ton treffen, das Recht zu singen. Aber doch nicht die Pflicht! An einem selbst für Billig-Techno-Verhältnisse entsetzlich entsetzlichen Stück haben fünf Leute mitgeschrieben! Und Donna Moshammer groovt: „Hier spricht der König der Welt. “

Was soll das? Fragen wir die Gruppe Illegal2001: „Ist Dieter Bohlen musikalisch oder fehlt im das Talent? Hat unser Schumi nen kleinen Penis, weil er so große Autos fährt? Kann man dem lieben Gott vertrauen, wenn’s ihn wirklich gibt? Ich weiß es nicht, und trotzdem bin ich am Leben. Doch steht die Sonne tief am Himmel, werfen Zwerge lange Schatten, und dann weiß ich, dass ich nicht klein und unbedeutend bin. “

Eine geplante Striptease-Nummer der Mädchencombo Love Rocket hat der NDR gerade noch verhindert. Trotzdem steht die Sonne verdammt tief vor der ARD.

(c) Süddeutsche Zeitung

Deutsche Leitmusik

Beim Schlager-Grand-Prix treffen sich Nationalstolz und Popkultur, und einer der Kandidaten heißt Moshammer.

Bumm-bomm bumm-bomm . . . Die Pauken aus Also sprach Zarathustra künden von einem großen, billigen Höhepunkt. Ein Dutzend Kamerateams drängeln sich um ein Rechteck im Teppichboden, livrierte Bedienstete versuchen, sie vom eingelassenen Metallrahmen weg zu bewegen, eine Rotte von 80 Journalisten späht durch ihre Beine. Es ist die Pressekonferenz, auf der die ARD bekannt gibt, wer an der deutschen Vorausscheidung zum europäischen Song Contest teilnehmen wird. Jürgen Meier-Beer, offiziell Unterhaltungschef des NDR, tatsächlich deutscher Schlager-Grand-Prix-Ober-Verwaltungschef, hat gerade dieNamen vorgelesen, darunter Zlatko Trpkowski, bekannt durch 39 Tage Aufenthalt im Fernsehcontainer, und Rudolf Moshammer, bekannt durch jahrelange Darstellung des Rudolf Moshammer. Sänger waren auch unter den Nominierten, und einige standen sogar hinter Meier-Beer auf der Bühne. Doch dahin schaut niemand mehr, seit er noch eine „kleine Überraschung“ angekündigt hat, die aus dem Fahrstuhl in der Mitte des Raumes aufsteigen soll.

Eine kleine Überraschung? Zlatko, das Fett verteilend, das er sichgerade öffentlich hat absaugen lassen? Moshammer als König Ludwig – oder Königin Elisabeth? Oder, bestimmt, Stefan Raab, der gleich, höhö, in einer absurden Verkleidung mit der Hebebühne mitten in die Runde platzt?

Das letzte Taa-Daaa-Daaaa! Dann ein trauriges metallisches Klonk. Dann nichts. Stille in den Kopfhörern, Bewegungslosigkeit auf den Monitoren. Die Medienöffentlichkeit hält den Atem an. Jetzt bewegt sich was. Die Bühne fährt hoch. Noch ein Klonk, dann ist es da. Es ist: das Buffet! Die Journalisten lassen ihre Schreibblöcke und Kameras sinken, aber enttäuscht sieht keiner aus.Das ist das Schöne an Phänomenen wie Zlatko und Moshammer: Die pompöse Leere und dramatischen Anti-Höhepunkte, die sie uns bescheren, kriegt man notfalls locker ohne sie hin.

Sladdi und Mosi also. Gott ja. Nachdem der Schlager-Grand-Prix schon wegen Guildo Horn und Stefan Raab partout nicht untergehen wollte, geschweige denn das Abendland, hält sich die Aufregung in Grenzen. Beruhigend auch zu erfahren, dass es nicht das erste Mal ist, dass Moshammer als Sänger auftritt: In der Goldenen-Eins-Hitparade hat er es schon einmal getan, er errang den letzten Platz. Selbst Mark Pittelkau, Unterhaltungsreporter bei Bild und Erster Frontberichterstatter in Sachen Grand Prix, hat die Reise zur Endausscheidung in Kopenhagen noch nicht gebucht. Er glaubt nicht, dass sich mit den Kandidaten genügend Aufregung produzieren lässt. Und dass es für Zlatko ein Jahr nach seinem Auszug bei Big Brother noch ein Durchmarsch werden wird, glaubt er auch nicht.

Meier-Beer formuliert das so: „Wer glaubt, hier eine billige PR-Nummer machen zu können, wird sich wundern.“ Für ihn ist das Kandidatenfeld ein Glücksfall. Zlatko und Moshammer sorgen für die nötigen Schlagzeilen (und Quote). Wolf Maahns Teilnahme bringt alte Deutschrocker zum Weinen. Joy Fleming bildet mit zwei anderen Sängerinnen ein Team, das sich aber nicht Mütter Mannheims nennt, sondern White Chocolate. Schlagersängerin Michelleist nach Angaben von Menschen, die sich mit sowas auskennen, in entsprechenden Kreisen außerordentlich populär.

Seit Meier-Beer dafür gesorgt hat, dass die großen Plattenfirmen selbst entscheiden, wen sie ins Rennen schicken, stehen den peinlichen traditionellen Beiträgen auch peinliche moderne gegenüber, etwa der Hamburger DJ Balloon. Wer noch? „Was wäre der Grand Prix ohne Ralph Siegel?“, fragt Meier-Beer freundlich und fügt, etwas weniger freundlich, hinzu: „Und was wäre Ralph Siegel ohne den Grand Prix?“ Für gleich zwei Beiträge schrieb er die Musik.

Nun darf man aber nicht den Fehler machen, aus Meier-Beers breitem Grinsen zu schließen, dass es um nichts geht: Für Moshammer zum Beispiel geht es um viel Geld. Für Zlatko um viel PR. Für die Nachwuchsbands um eine Karriere. Und für Deutschland um alles. „Wir wollen siegen“, hat das Erste die Vorentscheidung in diesem Jahr genannt, was sich ausdrücklich nicht nur auf diese Runde bezieht, sondern auch aufs Finale. Moderator Axel Bulthaupt soll die Zuschauer ermahnen, den zu wählen, von dem sie glauben, dass mit ihm oder ihr „Deutschland“ die größten Chancen hat.

Wenn Meier-Beer die Bedeutung der Veranstaltung erklärt, kommt er gerade so um das Wort „Leitkultur“ herum: „Das deutsche Volk entscheidet, was Ausdruck unseres Nationalstolzes ist.“ Dann philosophiert er, dass der Song Contest die einzige Gelegenheit sei, bei der Nationalstolz und Popkultur aufeinander treffen; das Ergebnis sei „oft eine Skurrilität, aber oft auch eine ernst zu nehmende Leistung“. Soviel Pathos ist neu, liegt aber im Trend. Und genau um den geht es ja: „In den vergangenen Jahren gab es offenbar ein Bedürfnis der Deutschen, dem Ausland zu zeigen: Wir haben Humor. Wir werden sehen, ob das Bedürfnis auch in diesem Jahr noch so groß ist.“

Wir lernen: Der Grand Prix ist groß, wichtig, unterhaltsam – und beruhigend noch dazu. Wer glaubt ernsthaft, dass die Deutschen diesmal der Welt zeigen wollen: Wir haben Moshammer?

(c) Süddeutsche Zeitung

Der Mann, der nur Spaß versteht

Süddeutsche Zeitung

Der deutsche Grand-Prix-Vertreter Stefan Raab feiert vielleicht deshalb Erfolge, weil ihn an der Welt nur eines interessiert: Ob sie für einen Witz taugt.

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Stockholm, 10. Mai — Einer hat die Quelle entdeckt. Ein einziger, das genügt. Seine Kamera verrät ihn, er bleibt nicht lang allein. In Sekunden sind nach gutem Stoff hungernde Fernsehteams aus allen Ecken des Stockholmer Stadthauses zusammen geströmt und haben eine Oase gebildet. Der Mann in ihrer Mitte trägt, wie seine Freunde, eine wattierte penatenblaue Polyester-Jacke, die an die Ausgeh-Uniformen von Fußballern bei einer WM erinnern soll. Trotzdem wäre er unscheinbar, unrasiert wie er ist, mit Baseballkappe, Cargo-Hose und Turnschuhen, würden nicht sieben, acht Fernsehjournalisten, ihre Kameramänner und Mikrofonträger erwartungsvoll ihre Blicke auf den Mann richten, von dem sie wissen, dass er sie alle satt machen wird: Stefan Raab.

Es ist der Empfang des Bürgermeisters für die Teilnehmer des Europäischen Schlagerwettbewerbs, der an diesem Wochenende in Stockholm stattfindet. Wenige Zentimeter vor Raab, bedrängt von den Massen hinter ihm, steht ein junger schwedischer Reporter. Raab läuft jetzt wie aufgezogen. Nach jedem Satz zeigt er sein Nussknackergrinsen — ein breites, hölzernes Lächeln. „Na, bin ich lustig“, fragt dieses Grinsen, wenn er in die Runde schaut. Gerade erzählt er dem jungen Mann, der ihn anstrahlt, dass Wadde, Hadde und Dudde die drei meistverkauften Regale bei Ikea seien. „Das ist doch der ganze Witz bei meinem Lied Wadde hadde dudde da“, sagt Raab, legt den Kopf schief und schaut dem Reporter herausfordernd ins Gesicht, „wussten Sie das nicht?“ Kein Wort davon stimmt. Aber Raab hat großen Spaß, die Geschichte zu erzählen. Er hätte auch erzählen können, dass ihm der Text eingefallen ist, als er im Park sah, wie eine Frau mit ihrem Hund sprach. Aber das hat er schon zu oft erzählt. Und in Schweden jedenfalls passt die Ikea-Geschichte besser. „Die Hälfte von dem, was ich erzähle, von allem, was ich die ganzen letzten Jahre erzählt habe, ist erlogen“, sagt Raab. Er kann das ruhig sagen. Es wird keiner ankommen und sich beschweren. Aber wenn er die Wahrheit erzählte, und die Wahrheit langweilig wäre: dann würden sie sich beschweren.

Denn Raab ist Entertainer. Der erfolgreichste im Fernsehen heute. Seine wöchentliche Show TV Total hat erst Ostern wieder ihre eigenen Rekorde gebrochen und soll im nächsten Jahr gar täglich kommen. Seine Single Maschendrahtzaun wurde über eine Million mal verkauft und versorgte die Boulevardindustrie mit Stoff für Wochen. Raabs Musikfirma ist erfolgreicher als Große wie EMI und Ariola. Jetzt sorgt er dafür, dass sich junge Menschen massenhaft für eine alte, merkwürdige Erfindung interessieren: den Schlager-Grand-Prix.

Raab ist 33 Jahre alt und seit sieben Jahren im TV-Geschäft — die meiste Zeit auf dem Musiksender Viva, der ihn alles machen ließ. Er kann nicht nur moderieren und Faxen machen. Er kann singen. Spielt Gitarre, Schlagzeug, Klavier. Komponiert und produziert. Er braucht, wenn nicht mehr Zeit ist, nur zehn Minuten, um mit einem Musiker, den er noch nie getroffen hat, live so zu spielen, dass das Publikum tobt. Ein Grand-Prix-Journalist bittet ihn, ein finnisches Lied anzuspielen, Raab denkt zwei Sekunden nach, greift zur Ukulele, spielt einen Schlussakkord und sagt: „Finished!“ Das ist Handwerk, das beherrscht er. Warum heute aus jedem kleinen Stein, den er ins Wasser wirft, eine riesige Welle wird, erklärt es noch nicht.

Raab nimmt das Wort Entertainment wörtlich. Alles, was er macht, muss unterhalten. Zuerst ihn. Dann die Fans. Die Medien sowieso. Zu seinen Pressekonferenzen, die er nach jeder Probe in Stockholm abhalten muss, können die Programme blind Sendezeit buchen. Selbst wenn alle anderen nur erzählen, ob sie nervös waren, was sie mit ihrem Lied ausdrücken möchten und was sie vom Grand Prix erhoffen. Für die geht es ja um was: um ihre Karriere, um Auftritte in Europa, um Patriotismus gar. Für Raab geht es nur um eins: Spaß. Gewinnen macht Spaß.

Die alten Grand-Prix-Fans murren, weil sie ihre Institution nicht ernst genommen fühlen. Jens Bujar, Chefautor und Raabs wichtigster Mann, zuckt mitleidslos die Achseln: „Das ist Demokratie.“ Raab sagt: „Ich habe einen guten Geschmack“, dann korrigiert er sich: „einen breiten Geschmack.“

Raab hat nichts gegen den Grand Prix, genauso wenig wie gegen die Frau vom Maschendrahtzaun, Karl Moik vom Musikantenstadl oder Zlatko aus dem Big-Brother-Haus. Sie sind ihm egal. Sie sind Material für seine Witze. Mehr als jeder andere befreit Raab die Realität und die Fernsehrituale von allem Inhalt, bis nur noch Spaß übrig bleibt. Er kann eine halbe Stunde lang witzig mit einem schwedischen Model plaudern, ohne je zu fragen, für wen sie Modell steht und was der Beruf ihr bedeutet.

Wenn Raab eine Frau in schwedischer Tracht sieht, zeigt er auf sie, lacht und ruft: „Guck mal, was hat die denn auf dem Kopf!“ Vor sechs Wochen hat er sich ein Kickboard gekauft, eine Art moderner Tretroller. Sein Lieblingsspielzeug heute. Keiner kommt in den Backstage-Bereich, ohne es bewundert zu haben. Nach der Aufzeichnung seiner Show kann er es kaum erwarten, damit zum Hotel zurück zu fahren. Auf halber Treppe dreht er sich noch einmal um und lacht: „Das ist geil, beim Rückweg geht’s fast nur bergab.“

Raab ist ein Kind, privat und auf der Bühne. Auf der Bühne nimmt er den Spaß ernst. Die Mitarbeiter, die mit ihm die Filmbeiträge schneiden, müssen eine große Leidensfähigkeit haben: Er gibt die Beiträge nicht eher frei, bis alles perfekt ist. Wenn es nicht perfekt wird, schmeißt er es weg. Als er einmal Will Smith traf und versuchte, ihn nachzumachen, schaute ihn der Amerikaner mitleidig an und sagte: „You’re trying too hard.“ Das hat Raab zum Kern seiner Philosophie gemacht: Wenn etwas nicht leicht ist oder nach harter Arbeit leicht wirkt, lass es ganz.

Die Menschen haben auf einen wie ihn gewartet. Wenn er in der Sendung einen neuen Running Gag einführt, ein Kelle zum Beispiel, auf der das Wort „Respekt“ steht, dann sitzen schon in der nächsten Woche Leute im Publikum, die sich selber „Respekt“-Kellen gebastelt haben, andere halten „Respekt“-Fahnen hoch. „Die Leute sind aufmerksam und wollen was zum Mitmachen“, sagt Raab. In der Südkurve beim 1. FC Köln tragen die Fans alle tiefblaue Hemden mit dunkelblauen Krawatten, seit Ewald Lienen Trainer ist, der sich so anzieht und den Verein nach vorne brachte. Das gefällt Raab. Er steht nicht in der Südkurve. Nicht am Big-Brother-Haus, um „Manu raus“ zu brüllen. Und nicht am Maschendrahtzaun. Aber wie den Leuten, die dort stehen und feiern, ist ihm völlig egal, wie Manu wirklich ist und was die Frau vom Maschendrahtzaun tatsächlich umtrieb. Wie sie hängt er im privaten Gespräch „weisse?“ ans Ende seiner Sätze.

Seine Moderationen liest er nicht ab. Sie sind spontan, wirken oft entsprechend unpoliert. Das ist typisch für Raab: Er macht das einfach, weil er so ist, und es ist geschickt, als wäre es kalkuliert. „Die Leute schätzen es viel mehr, wenn du etwas spontan machst“, sagt er. „Wenn einer einen Witz erzählt und die Pointe mittelmäßig ist, finden Leute den Witz schlecht. Wenn da aber einer sitzt, der spontan seinen Kommentar abgibt, wirkt das viel witziger, selbst wenn der Spruch nur mittelmäßig war.“

Raab hat für die Journalisten in Stockholm eine Fahrt auf einem Wikingerschiff organisiert. Gegen Ende trifft er einen, für den der Grand Prix das wichtigste Ereignis des Jahres ist. Voll Stolz will der ihm eine kleine Zeitschrift in die Hand drücken, die Euro Song News des Grand-Prix-Fanclubs, deren Chefredakteur er ist. Aus dem Heft könnte Raab viel erfahren, was der Wettbewerb, an dem er teilnimmt, anderen bedeutet. Leider ist es nicht witzig. „Ich geb’s ihm später“, sagt Raabs Managerin entschuldigend dem schreibenden Fan. Raab ist längst gegangen. Er hat nicht mal gewartet, bis sie die Artikel über ihn gefunden hat.

Hadder da Gummibärchen?

Süddeutsche Zeitung

Stefan Raab und die „Bild“ streiten sich ein wenig.

So viel steht fest: Stefan Raab war in Stockholm. Mark Pittelkau, Klatsch-Nachwuchshoffnung der Bild-Zeitung, auch. Sie haben sich getroffen, um ein Foto zu machen. Doch schon über die Frage, wo genau, gehen die Aussagen auseinander. Und darüber, ob Raab dabei vor dem Schloss mit Waffengewalt abgeführt wurde, ob ihm zwei 16-Jährige mit den Worten „Hadder denn da wat, un wenn ja, was hadder da“ in den Schritt griffen und ob er zum Frühstück Gummibärchen isst – wegen der Potenz. Es ist ein absurder Streit entstanden.

Raab sagt, der Bild-Artikel, der am Tag vor dem Grand Prix erschien, sei frei erfunden. Sein Management hat protestiert, Gegendarstellung und Widerruf gefordert; die Bild bleibt bei ihrer Darstellung, ist aber intern etwas desorientiert. Unterhaltungschef Manfred Meier sagt, man habe eine Unterlassungserklärung abgegeben, das sei Routine: dass man die Fakten nicht wiederhole, heiße nicht, dass sie nicht stimmten. Chefredakteur Udo Röbel widerspricht: Es gebe keine Erklärung; die Rechtsabteilung prüfe. Die Sache ist für beide Seiten keine Petitesse, Röbel hat sich Pittelkaus Darstellung als eidesstattliche Erklärung geben lassen. Dass Details nicht stimmen, muss nichts bedeuten: „Nicht alles, was wir schreiben, ist wahr, aber wir versuchen, wie alle seriösen Zeitungen, der Wahrheit möglichst nah zu kommen“ , sagt Meier. Ach ja.

Pittelkau ist für die Bild ein wichtiger Mann. Er kennt die Schlagerszene — und es gibt nicht viele Journalisten, die bereit sind, Nächte mit Jürgen Drews zu verbringen. Am Samstag bekommt er von der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlager einen Preis dafür, dass er versuche, „immer das Positive am deutschen Schlager herauszustellen“ . Manche sagen ihm Allmachtsphantasien nach. Nach einem geplatzten Termin bei Raab in Stockholm soll er gesagt haben: „Die Jagd auf Raab ist eröffnet; ich werde ihn in Grund und Boden schreiben.“ Pittelkau, sagt das Raab-Lager, leide darunter, dass nicht Corinna May zum Grand Prix durfte. Raab, sagt das Bild-Lager, leide darunter, dass er nicht so groß ins Blatt kam wie Guildo Horn. Und er gehöre offenbar zu einer neuen Generation von Stars, die selbst bestimmen wollen, wer wie über sie berichte. Jedenfalls sei er nicht halb so gut im Einstecken wie im Austeilen.

„Raab macht sich gegenüber Journalisten oft rar. Wir wollen nicht zulassen, dass die dann einfach Sachen erfinden“, sagt seine Managerin Gaby Allendorf. „Auf der Höhe, auf der sich Stefan jetzt befindet, müssen wir aufpassen, dass Leute ihn nicht für ihre Zwecke einspannen.“ Auf die Spitze treiben will sie den Streit nicht: Wenn Bild nicht nachlege, werde man die Sache auf sich beruhen lassen. Raab besteht nicht einmal mehr auf der Gegendarstellung. Im Herbst will er eine eigene Programmzeitschrift TV Total herausbringen — im Springer-Verlag. Und das ist halt der, in dem Bild erscheint.

Die Welt versteht uns

Süddeutsche Zeitung

Der Grand Prix – eine kleine, kollektive Wochenendpsychose.

Und so wird also im Mai ein finnischer Fernsehkommentator vor der Herausforderung stehen, seinen Zuschauern erklären zu müssen, was Wadde hadde dudde da heißt, wo da Sinn und Witz drin liegen, und was die Deutschen der Welt damit sagen wollen. Das ist nicht das Schlechteste. Hätte der Schlagersänger Marcel gewonnen, hätten die ausländischen Fernsehkommentatoren ihren Zuschauern übersetzen dürfen, was der nette junge Mann, der in drei Minuten nur zufällig mal den richtigen Ton traf, in Adios mit der Zeile meinte: „Nie war so tief jemand bei mir.“

Stefan Raab also fährt nach Stockholm: der Mann, der das Nicht-Ernstnehmen des Grand Prix ernst nimmt wie kein anderer. Mit einem albernen Lied, einer albernen Riesenbrille, albernen Riesenplateausohlen und einer albernen goldenen Uniform. Von über 1,5 Millionen Anrufern stimmten am Freitag bei der deutschen Vorausscheidung 57 Prozent für ihn. Das ist ein so riesiger Vorsprung, dass gleich die Diskussion wieder begonnen hat, ob man mit Handy, dessen Besitz besonders Raab-Fans zugesprochen wird, leichter durchkam als übers Festnetz. Aber er ist so riesig, dass solche Diskussionen unsinnig sind. Interessanter ist da schon die Frage, ob Wadde hadde dudde da nicht nach Say You’ll Be There von den Spice Girls klingt. Natürlich klingt es frappierend nach den Spice Girls. Man würde sich nicht wundern, wenn Raab eine Plagiatsaufregung einfach mal mit eingeplant hat.

Freitag abend also. Natürlich war es schrecklich. Da stehen diese traurigen hoffnungsvollen Figuren, üben sich in großen Posen und versuchen mit dünnen Stofffetzen von noch dünneren Stimmen abzulenken, vom grausamen Reglement zum Live-Gesang gezwungen. In einem Heim-Video treffen wir Marcel in seinem Wohnzimmer, wo er mit Vater und Mutter Reise nach Jerusalem um ein braunes Ledersofa spielt, (das wir bestimmt bald in TV total bei Raab wiedersehen). Die Lieder decken zwar mehr Musikstile ab als je zuvor, aber in jedem ihrer Heimatsegmente sind sie, wenn es sehr hoch kommt, Mittelmaß. Das meiste ist musikalisch so originell wie eine deutsche Version eines Cher-Hits von Mary Roos. Und am Ende stehen alle zusammen auf der Bühne, singen Thank you for the music von Abba und bei soviel Wir-sind-Konkurrenten-aber-haben-uns-trotzdem-lieb möchte man die Titelzeile schon aus Trotz für Ironie halten. Furchtbar.

Einerseits. Andererseits, mal angenommen, es müsse so etwas geben wie einen europäischen Schlagerwettbewerb. Wie sollte eine Vorentscheidung dann aussehen? Doch so: Mit einem Star, der die Menschen polarisiert und vor den Bildschirm treibt. Mit Verrückten, die ihr Plüsch-Keyboard zertrümmern und sich auf der Bühne wälzen, von einer durch genmanipuliertes Fleisch hervorgerufenen Verwandlung in ein Schwein singend (Knorkator, Platz vier!). Mit anderen Verrückten, die glauben, dieser Wettbewerb sei nachgerade dazu verpflichtet, junge Frauen gewinnen zu lassen, die in schwülstigen Arrangements von etwas Frieden oder ganz viel Gott singen (Corinna May, traf den Ton leider auch nur selten, aber das bombastisch, Platz zwei).

Mit vielen Interpreten, von denen man weiß, dass man nie mehr von ihnen hören wird, und wenn doch, dann nur, bis man den Knopf zum Umschalten gefunden hat (ein Gruseleffekt, der traditionell einer der Hauptgründe war, sich diese Vorentscheidung überhaupt anzusehen). Mit ein, zwei Newcomerbands von den Tausenden, die über die Dörfer ziehen und sehr ordentliche Musik machen, für die der Grand Prix die Chance ist, groß rauszukommen – wie in diesem Jahr für die Hamburger Band Kind of Blue, die den dritten Platz für ihr wirklich sehr schönes Lied Bitter Blue feierte, als wäre es ein erster. Mit einer perfekten Inszenierung. Und mit einem Medienhype, für den der ganze Zirkus überhaupt da ist. So gesehen: eine tolle Veranstaltung.

Das mit dem Keyboard-Zertrümmern fand die Bild am Sonntag in offenbar sehr verzweifelter Suche nach einem Aufmacher an einem stinklangweiligen Wochenende ganz, ganz schlimm. Und auch, dass da einer auf der Bühne geraucht hat. Grand-Prix-Senior Ralph Siegel hat – schon wieder – angekündigt, nie mehr teilnehmen zu wollen. „Ich fürchte, das Ausland lacht sich über uns kaputt“, kommentiert einer, der es wirklich wissen muss: Tony Marshall. Die deutsche Frage, was denn die Welt wieder von uns denken soll.

Ach, Tony: Die Welt, die versteht das schon! Am Freitag erzählte der britische Independent seinen Lesern die ganze Geschichte vom Maschendrahtzaun und bezeichnete Stefan Raab als den Mann, der den Deutschen ihren Sinn für Humor wiedergegeben habe. Womöglich wird Raab im Ausland gar nicht unter-, sondern sogar überschätzt. Aber wenn er doch beim Finale ganz hinten landen sollte, wie Siegel – der dort hinten schon war – prognostiziert, dann wäre das auch nett: Mal gucken, was er dann wieder daraus macht.