Schlagwort: Grand-Prix

Grand-Prix-Wette: Siegerehrung

78 Mitspieler haben bei meiner kleinen Grand-Prix-Wette mitgespielt, und nach einem gefühlt mehrtägigen Kampf mit einer Excel-Tabelle kann ich nun die stolzen Gewinner bekanntgeben. Den ersten Platz teilen sich mit jeweils fünf Punkten:

Markus Trapp (Sein Tipp: 1. Serbien, 2. Bulgarien, 3. Türkei, 4. Finnland, 5. Island, Letzter Finale: Bosnien-Herzegowina, Letzter Halbfinale: Albanien).

Christian Uchner (1. Serbien, 2. Schweden, 3. Ukraine, 4. Russland, 5. Dänemark, Letzter Finale: Frankreich, Letzter Halbfinale: Portugal).

Es gibt noch einen Teilnehmer mit fünf Punkten. Weil er seinen Tipp nach dem Halbfinale abgegeben hat, wodurch es natürlich ein bisschen leichter war, landet er „nur“ auf dem dritten Platz:

Wolfgang Verheyen (1. Russland, 2. Serbien, 3. Schweden, 4. Türkei, 5. Georgien, Letzter Finale: Irland, Letzter Halbfinale: Dänemark.)

Stolz sein kann auch die Handvoll Teilnehmer, die vier Punkte erreichten: der Weltherrscher, Frederik, braden und Malte!

Immerhin drei Teilnehmer haben richtig gewettet, dass Irland im Finale letzter wird (Gerri, Nick Noroc, Wolfgang Verheyen), vier tippten richtig, dass Tschechien den allerletzten Platz macht (Robert, Paulus, Patrick, Blanc).

Herzlichen Glückwunsch — und vielen Dank allen fürs Mitspielen!

Die Mär vom Ostblock beim Grand-Prix (2)

Das ist eine eindrucksvolle Karte, die der Popkulturjunkie da veröffentlicht hat. Sie zeigt die 16 erstplatzierten Länder des Eurovision Song Contest 2007:

Was die Karte aussagt, scheint klar: Wir können uns den Wettbewerb auch sparen, die Osteuropäer schanzen sich die Stimmen eh nur gegenseitig zu.

Nun ja. Das hier ist die Karte mit den 16 erstplatzierten Ländern des Eurovision Song Contest 2006:

Der Eindruck, dass jedes Jahr die gleichen gewinnen, ist also absurd. Der „Ostblock“, der alles dominiert, ist ein Phänomen dieses Jahres, keine generelle Entwicklung. Bislang jedenfalls nicht. Kann natürlich sein, dass sich das ändert.

Ich gebe (anders als vorgestern) zu: Der Song Contest hat ein Problem. Aber ich glaube, es ist vor allem ein Problem der Wahrnehmung, weniger der Tatsachen. Da ist zum Beispiel dieses in vielen Kommentaren mitwabernde Gefühl, dass „wir“ keine Chance mehr hätten in diesem Wettbewerb, weil die Osteuropäer sich gegenseitig alle Stimmen geben. Schaut man sich die Punktevergabe an, ist klar, dass Roger Cicero auch bei einem rein westeuropäischen Wettbewerb keine Chance gehabt hätte: Deutschland bekam keine Punkte aus Belgien, keine aus Frankreich, keine aus Irland, keine aus Norwegen, keine aus Portugal, einen aus Großbritannien. Dass die vier großen westeuropäischen Länder (und Haupt-Geldgeber) geballt hinten liegen, hat mit Osteuropa nichts, aber wirklich: gar nichts zu tun. Ihre Lieder sind nirgends in Europa gut angekommen.

Die These von den sich bevorzugenden Nachbarstaaten erklärt auch nicht, warum Serbien mit einigem Abstand gewonnen hat, es aber kein anderes Land des ehemaligen Jugoslawiens auch nur unter die Top-10 schaffte. Ich glaube, die Leute wählen nicht automatisch ihre Nachbarn. Ich glaube, sie wählen überwiegend das, was ihnen am besten gefällt. Und dass das möglicherweise nicht mehr das ist, was „uns“ Westeuropäern am besten gefällt, weil sich der Schwerpunkt Europas und noch viel mehr der Schwerpunkt des Song Contest nach Osten verlagert hat, ja, das ist nunmal so. Aber noch einmal: Uns Westeuropäern hat auch nicht gefallen, was Großbritannien, Irland, Spanien, Frankreich, Deutschland da ins Rennen schickten.

Ich glaube, das wahre Problem des Grand-Prix ist ein anderes. Dadurch, dass jetzt 42 Länder abstimmen durften, zersplittert sich die Meinung dramatisch. Jedes Land findet irgendetwas anderes gut. Diesen merkwürdigen Effekt früherer Jahre, dass Europa sich mit großer Mehrheit auf ein Lied als das Siegerlied verständigt, aus welchen irrationalen Gründen auch immer, den gibt es nicht mehr. Der Gewinner Serbien hat im Schnitt 6,5 Punkte aus jedem Land bekommen. Das ist lächerlich wenig. Russland hat es mit gerade einmal drei Bestnoten auf den dritten Platz geschafft. Die ersten drei, Serbien, Ukraine, Russland, haben jede Menge Null-Punkte-Voten bekommen. Es sind zuviele Länder dabei, als dass es einen echten Trend geben könnte, eine wirklich europäische Entscheidung. (Erinnert sich zum Beispiel jemand an die Olsen-Brüder aus Dänemark? Die hatte vorher kaum jemand auf der Rechnung, aber sie sind auf einer Sympathiewelle aus ganz Europa geschwommen.)

Ist eigentlich jemandem aufgefallen, dass eine andere Grand-Prix-Mär der letzten Jahre gestern widerlegt wurde? Hatten „wir“ „unser“ schlechtes Abschneiden nicht auch jahrelang damit erklärt, dass der Song Contest offenbar zu einer Veranstaltung verkommen sei, bei der man sich dreimal umziehen, wild tanzen, trommeln und feuerspucken muss? Könnte man sich daraufhin bitte nochmal den gestrigen Sieger ansehen?

Ich bleibe dabei: Der Grand-Prix mag egal sein, schrecklich, albern, kurios. Berechenbar ist er nicht.

Nachtrag: Daniel Haas hat für Spiegel Online eine wunderbar kluge und bissige Analyse geschrieben.

Grand-Prix-Wette: vor dem Finale

Gleich geht’s los. Ab 21 Uhr überträgt die ARD den 52. Eurovision Song Contest aus Finnland. (Hier zum Vergleichen, Ärgern, Zustimmen und Lachen alle Kandidaten im kommentierten Überblick von Lukas und mir.)

Nach den Auftritten der 24 Finalisten können all die, die keine Lust hatten, sich die Teilnehmer vorab im Internet anzusehen, noch ihre Stimme bei meiner kleinen Grand-Prix-Wette abgeben. Einsendeschluss ist der Beginn der Punktevergabe in der Show.

Die Wette ist natürlich irgendwie auch ein Test der These von der „Weisheit der Massen“. Ich weiß nicht, ob man bei bis jetzt 70 Teilnehmern schon von „Massen“ sprechen kann. Jedenfalls glaubt die bisherige Tippgemeinschaft hier, dass der Abend wie folgt ausgeht:

1. Schweden
2. Russland
3. Deutschland
4. Finnland
5. Türkei

Am häufigsten auf den letzten Platz im Finale getippt wurde Großbritannien, gefolgt von Frankreich.

Mein persönlicher Tipp kann schon deshalb nicht mehr stimmen, weil sich Dänemark nicht fürs Finale qualifizieren konnte. Aber was soll’s:

1. Russland
2. Dänemark
3. Finnland
4. Georgien
5. Bosnien

Letzter: Rumänien

Viel Vergnügen! (Liveblogging gibt’s ein andermal wieder.)

Nachtrag. Lukas bloggt live!

Die Mär vom Ostblock beim Grand-Prix

Ich kann sie nicht mehr hören, die Leier, dass aus dem Grand-Prix der East Eurovision Song Contest geworden sei, bei dem sich nur noch Kleinstaaten von kurz vorm Ural gegenseitig die Punkte zuschustern und man als Westeuropäer überhaupt keine Chance hat.

Erstens langweilt sie mich.

Zweitens ist sie falsch. Wer hat denn im letzten Jahr gewonnen, mit großem Abstand? Wie passen Lordi mit ihrem Monsterrock und Finnland als relativ geschwisterloser Staat fern des Balkans in diese These? Wie kommt es, dass nicht dauernd ein Land aus dem ehemaligen Jugoslawien gewinnt; dass — genau genommen — noch nie ein Land aus dem ehemaligen Jugoslawien gewonnen hat? Dass gestern auch Kroatien und Montenegro rausflogen? Vor ein paar Jahren, als nacheinander Estland und Lettland gewannen, schrieben alle: Ja, bravo, dann wird der Grand-Prix jetzt ne baltische Veranstaltung. In Wahrheit schneiden Estland, Lettland und Litauen sehr unterschiedlich ab, selten gut, mal schafft es einer von ihnen halbwegs nach vorne, mal ein anderer. Wieso schafft es Schweden seit zehn Jahren, fast ohne Ausnahme unter den Top-Ten zu landen? Ach: Das ist dann nicht die Ost-, sondern die Nordeuropa-Connection? Und warum profitiert dann Dänemark so nachhaltig nicht von ihr?

Drittens finde ich sie anmaßend und chauvinistisch. Nach was sehnen wir uns denn zurück? Den alten Grand-Prix Ralph Siegelscher Prägung? Ist es schlimm, dass es den nicht mehr gibt? Der Schwerpunkt Europas hat sich nach Osten verlagert, politisch und kulturell, Berlin liegt plötzlich nicht mehr am Rand, sondern irgendwie in der Mitte. Aber wir ertragen es nicht, dass wir damit nicht nur ein paar schöne neue Reiseländer vor der Haustür haben, sondern sich auch der Durchschnittsgeschmack nach Osten verlagert hat?

Ja: Die osteuropäischen Länder haben es etwas leichter. Weil sie in der Überzahl sind. Und auch, weil es eine große nachbarschaftliche Verbundenheit gibt. Aber entscheidend sind diese Freundschaftspunkte nicht. Man wühle sich durch die Tabellen der letzten Jahre (der Song Contest ist schließlich mindestens so sehr ein Fest der Statistik wie der, äh, Kultur): Es gibt keine Dominanz des Balkans. Es gibt keine quasi-gesetzten Länder. Es ist für westeuropäische Länder nicht unmöglich, weit vorne zu landen. Und osteuropäische Geschmacksverirrungen siegen nicht zwangsläufig über westeuropäische Geschmacksverirrungen. Wer in den vergangenen Jahren vorne mitspielen wollte, musste den Nerv ganz Europas treffen. Und die Veranstaltung mag nach Osten gerückt und in mancher Hinsicht abwegiger geworden sein, aber vorhersagbarer wurde sie kein Stück. Monster aus Finnland. Umzieh-Latin aus Lettland. Feuer-Trommel-Tanz-Gewirbel aus der Ukraine. Opa-Duo aus Dänemark. Funk aus Estland. Kommerz-tauglicher Pop aus der Türkei.

Wo ist das Problem?

Grand-Prix-Wette: Erster Zwischenstand

Toll: Fast 50 Leute haben schon getippt bei meiner kleinen Grand-Prix-Wette. Weit vorne liegen im Augenblick Schweden und Russland, dahinter drängeln sich Dänemark, Deutschland, Finnland und die Ukraine.

Ganz schlechte Karten hat nach Meinung der Tipp-Gemeinschaft Albanien. Andorra scheint besonders umstritten zu sein: Die kleinen „anonymen“ Punkrocker werden genauso oft auf den letzten Platz getippt wie unter die ersten Fünf. (Hier alle Kandidaten im kommentierten Überblick.)

Gleich geht das Halbfinale los. Livebloggen (wie beim deutschen Vorentscheid) werde ich diesmal nicht.

Und um mich gleich mal richtig aus dem Fenster zu lehnen — mein Tipp, wer es heute schafft, sich fürs Finale zu qualifizieren, lautet so:

Andorra
Bulgarien
Dänemark
Georgien
Island
Litauen Lettland
Schweiz
Türkei
Ungarn
Weißrussland

23.40 Uhr. Geschafft haben es:

Bulgarien
Georgien
Slowenien
Lettland
Mazedonien
Moldau
Serbien
Türkei
Ungarn
Weißrussland

Sechs von zehn ist doch nicht schlecht. (Ich hatte Litauen geschrieben, aber Lettland gemeint, naja, wurscht.)

Aber der Hammer: Kein einziges westeuropäisches Land hat es aus dem Halbfinale ins Finale geschafft. Nicht Dänemark, die ich ganz, ganz weit vorne gesehen hätte, nicht Andorra, die mal was anderes gewesen wären, nicht die Schweiz, die sich mit DJ Bobo viel versprochen hatte, nicht der Retro-Funk der Belgier, nicht der Teflon-Grand-Prix-Pop der Niederländer.

Die Grand-Prix-Wette — jetzt aber!

Es gab ein paar technische Probleme mit dem Abstimmformular. Deshalb konnte bisher leider keine Stimme gezählt werden.

Jetzt sollte aber alles funktionieren. Also: Bitte hier entlang und noch einmal (oder zum ersten Mal) tippen.

Entschuldigung für das Durcheinander!

Nachtrag:

Das NDR-Fernsehen überträgt das Halbfinale heute ab 21 Uhr. Richtige Tipps, die abgegeben werden, bevor feststeht, wer sich fürs Finale qualifiziert hat, werden besonders positiv bewertet. Die Teilnahme an der Wette ist aber noch bis zum Beginn der Punktevergabe im Finale am Samstag möglich.

Time to say goodbye

Lettland gewinnt den Grand Prix, und Deutschland muß sich nach dem 21. Platz etwas Neues überlegen.

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TALLINN, 26. Mai. Ein Radioreporter schaffte es, die ganze Verzweiflung in eine Frage zu stecken. „Was ist los in Europa, daß ihr kleinen Länder immer gewinnt“, fragte er die siegreiche Lettin. „Was machen wir Deutschen falsch?“ Und Marija Naumova hatte eine erstaunlich konkrete Antwort: „Ihr müßt Wärme ausstrahlen. Ihr müßt auf die Bühne gehen und vergessen, was ihr macht, vergessen, daß ihr Deutsche seid, den ersten Platz vergessen und einfach eine warmherzige Show abliefern.“

Wer sagt noch, der Song Contest sei eine bedeutungslose Veranstaltung? Im vergangenen Jahr bot der deutsche Vorentscheid die Bühne für die öffentliche Hinrichtung der Medienfigur „Zlatko“, in diesem Jahr war das Finale der Rahmen für die endgültige Demontage des Mythos Ralph Siegel. Wenn er es an diesem Samstag nicht gemerkt hat, wird er es nie merken. Diesmal hat ihm die gesamte europäische Fernsehgemeinde mitgeteilt, daß die Zeit seiner bis zur Unkenntlichkeit auf Sieg getrimmten Produkte vorbei ist. Aus keinem Land gab es mehr als vier Punkte, aus den meisten Ländern überhaupt keinen Punkt, Corinna May kam in Tallinn auf den viertletzten Platz. Nachdem selbst einige seiner Mitarbeiter schon begonnen hatten, sich von ihm abzuwenden, entzog ihm gestern auch noch die „Bild“-Zeitung die Unterstützung: „Noch eine gute Nachricht gibt es seit der Grand-Prix-Katastrophe gestern Abend“, formulierte sie mit böser Ironie. „Ralph Siegel wird nie mehr beim großen Schlager-Wettstreit für Deutschland antreten.“

Die ersten Verschwörungstheorien machten am Samstag abend im fassungslosen Fantroß die Runde, der bereits Sieges-T-Shirts gedruckt und getragen hatte: Der Sieg der Lettin, die mit fünf Tänzerinnen und Tänzern eine große lateinamerikanische Show auf der Bühne zeigte und dabei mehrfach ihr Kleid wechselte, zeige, daß nicht das beste Lied gewinne, sondern die auffälligste Show. Hätten sie recht, wären allerdings nicht die unprätentios, aber eindringlich vorgetragenen Balladen von Großbritannien und Frankreich so weit nach vorne gekommen. Marija Naumova, die im vergangenen Jahr mit modernen Versionen französischer Chansons auffiel und am Entstehen ihres Liedes „I Wanna“ selbst mitwirkte, hält dagegen ihre auffällige Show für einen wesentlichen Grund für den Sieg. „Dieser Wettbewerb heißt zwar Song Contest, aber wenn er wirklich einer wäre, würde er im Radio stattfinden. Dies hier ist Fernsehen. Es geht nicht darum, was man hat, sondern wie man es präsentiert.“

Sie hatte eine nette Ricky-Martin-Nummer, trat auf voller Leichtigkeit und Lebensfreude und bekam aus ganz Europa dafür Punkte, von Spanien bis Israel. Und weil Ähnliches schon in den vergangenen Jahren passiert war, ist das katastrophale Abschneiden Deutschlands für den ARD-Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer ein positives Signal: „Die Esten haben den Song Contest wie noch nie zuvor als eine moderne Popshow inszeniert“, sagte er. „Auf dieser Bühne sah der deutsche Beitrag besonders altbacken aus. Die eindeutige Niederlage gibt mir die Möglichkeit, jetzt auch in Deutschland endgültig vom alten Grand-Prix-Image wegzukommen.“ Deutschland habe in den vergangenen Jahren entweder traditionelle, konservative Schlager ins Rennen geschickt oder – mit Stefan Raab und Guildo Horn – die schräge Parodie darauf. Am meisten Erfolg, das zeigten die Siege der vergangenen Jahre, verspreche aber moderner Pop, der Leichtigkeit ausstrahle. Er hat sich zum Ziel gesetzt, im kommenden Jahr einen Vorentscheid zu organisieren, der einen Gewinner mit solch unverkrampfter Leichtigkeit produziert.

Die Letten dürfen sich unterdessen an die ungleich größere Aufgabe machen, den Song Contest auszurichten und sich einen Platz im öffentlichen europäischen Bewußtsein zu sichern. Der lettische Ministerpräsident sagte bereits zu, daß seine Regierung es halten werde wie die Esten im vergangenen Jahr: Die mehreren Millionen Euro Kosten, die dem ausrichtenden Sender trotz Erlösen aus Sponsoring und Kartenverkauf entstehen, sollen aus dem Staatshaushalt bezahlt werden. In Estland sind diese Ausgaben angeblich allein durch zusätzliche Steuereinnahmen und das Geld, das die angereisten Fans und Delegierten im Land ließen, wieder hereingekommen, hinzu kommt ein unschätzbarer Imagegewinn. Das Land, unter dem sich die meisten im Ausland bisher ein Brachland kurz vor Sibirien vorstellten, präsentierte sich Hunderten Millionen Zuschauern – allein fast zehn Millionen in Deutschland – als modernen, kreativen und ehrgeizigen Teil Europas. Erstmals in der Geschichte des Gesangswettbewerbs gab es ein Thema, „ein modernes Märchen“, aus dem Design, Bühnenbild, alle Elemente der Show entwickelt wurden. Und weil man so eine scheinbar harmlose Gelegenheit nicht ungenutzt lassen sollte, waren die kleinen Postkarten-Filme vor den einzelnen Beiträgen voll bedeutungsschwangerer Anspielungen. In einem verglich sich Estland mit Dornröschen, das jahrhundertelang erstarrt war – unschwer als Metapher auf die russische Besatzung zu verstehen. Und ausgerechnet vor dem Titel der verhaßten Russen stand ein Film, der mit dem Wort „Freiheit“ endete. Den Finnen wiederum machten die Esten die Erfindung der Sauna streitig. Daß jedoch ausgerechnet vor dem Auftritt der blinden Corinna May ein holzgeschnitzter Pinocchio zum Behinderten wurde, indem ihm die Nase abfiel, soll unglücklicher Zufall gewesen sein.

Fast alle Favoriten fielen bei der Abstimmung durch. Anders als Deutschland, das als einer der größten Geldgeber der Eurovision gesetzt ist, müssen viele Länder, die sich noch Stunden zuvor Hoffnung auf einen Triumph gemacht hatten, im nächsten Jahr aussetzen. Doch so überraschend das Ergebnis war, so übereinstimmend war das Votum aus den unterschiedlichsten Ländern. Auch das macht die Faszination dieses Wettbewerbs aus: Es gibt ganz offensichtlich ein gemeinsames europäisches Bewußtsein – nur kennt es niemand.

Die Esten feierten den Song Contest mit einer Party auf dem mittelalterlichen Marktplatz ihrer Hauptstadt Tallinn. Unter dem in dieser Jahreszeit nie ganz dunkel werdenden Himmel und im gelben Schein der Laternen standen Esten, Russen und internationale Fans zu Tausenden in gefährlicher Enge, um bei ihren Beiträgen in Ekstase zu geraten. Als sich abzeichnete, daß Estland nicht mehr als einen hervorragenden dritten Platz erringen könnte, verlagerten sich die Sympathien zu den sonst nur bedingt geschätzten Nachbarn aus Lettland, die sich bis zum Schluß ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Malta lieferten. Daß deren glatter ultrakommerzieller Pop, der vor allem bei den Ländern ankam, die nicht die Zuschauer, sondern Jurys abstimmen ließen, dank des Votums der Nachbarn aus Litauen vom entspannten Latinosound aus Lettland überrundet wurde, rief auf den Straßen Freudenfeste hervor.

Ralph Siegel aber hielt es, wie Corinna May, tapfer und pflichtbewußt eine gute Weile auf der Aftershow-Party aus. Er wünschte seinen Nachfolgern ein glücklicheres Händchen und sagte, es gebe Wichtigeres als den Grand Prix. Er wird nur noch herausfinden müssen, was es ist.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ralph Siegel

He can’t live without music. Ralph Siegel braucht den Sieg beim Grand Prix d’Eurovision in Tallinn

TALLINN, 24. Mai. Nichts braucht er mehr als diesen Sieg, und niemand braucht diesen Sieg mehr als er. Er muß gewinnen, er glaubt, er kann gewinnen, und beides zusammen macht ihn halb wahnsinnig. Die Mitarbeiter seiner Plattenfirma, die mitgereist sind nach Tallinn, haben es sich in diesen letzten Tagen zur Hauptaufgabe gemacht, Ralph Siegel von Corinna May und ihren fünf Begleiterinnen fernzuhalten. Damit sich sein Wahnsinn nicht auf die Sängerinnen überträgt. Damit der Druck, den er mit seiner Aufregung hervorruft, nicht noch größer wird, als er schon ist. Damit sie eine Chance haben, das hier einigermaßen zu überstehen.

Deshalb lenken sie ihn weg von den sechs Frauen und lassen ihn lieber noch einmal über die Details seines privaten Abendessens gehen, das er am Donnerstag abend für sein Team und einige Journalisten und Ehrengäste gibt, etwa 50 Personen insgesamt. Das Restaurant Gloria ist das Beste der Stadt, der Papst hat hier gegessen, aber Siegel ist unsicher, zweifelt am Menü, sucht akribisch die richtigen Weine aus und grübelt immer wieder über der Tischordnung. Auch das hier muß perfekt sein, wie alles, was mit dem Grand Prix zu tun hat. Zum Glück ist seine Freundin Kriemhild an seiner Seite, die ihn in seiner Manie gelegentlich bremst und beruhigt. Mit seiner außerordentlichen Aufmerksamkeit, die seine Mitarbeiter an ihm rühmen, der positiven Kehrseite des oft schwer erträglichen Perfektionismus, hat er beim Essen noch gesehen, daß einige Kollegen etwas unglücklich fernab saßen, und eigenhändig geholfen, Tische und Stühle herüberzutragen. Dann, nach dem zweiten Gang, steht er auf und hält eine Rede. Und in dieser Rede, in dieser knappen halben Stunde, steckt das ganze Drama um Ralph Siegel und seinen Grand Prix. Sein Pathos erfüllt den Raum schon nach dem ersten Satz, in dem er sich nur bei dem Pianisten des Restaurants bedankt. Er sagt: „Thank you for the music!“

Musik, sagt Ralph Siegel, haben die Menschen schon vor Jahrtausenden gebraucht, nicht nur Essen und Liebe. Was er selbst braucht, ist viel konkreter: „Der Grand Prix“, sagt er, „ist mein Lebenselixier.“ Dann fällt sein Blick auf den Texter Bernd Meinunger, für den der Grand Prix kein Lebenselixier ist, sondern eine Verrücktheit, die er aus Loyalität und Freundschaft zu Siegel mitmacht. Er sagt: „Bernd, wir schaffen’s doch immer wieder“ und erinnert sich an die vielen gemeinsamen Jahre und Abendessen wie diese, und er muß das Mikrofon für ein paar Sekunden zur Seite nehmen, weil Tränen in ihm aufsteigen, seine Kehle zuschnüren und seine Augen füllen. Seine engsten Freunde und Mitarbeiter befinden sich in diesem Raum, aber vermutlich niemand, der wirklich verstehen kann, was ihn immer wieder zu diesem Wettbewerb treibt. „Ralph, nicht noch einmal Grand Prix“, haben sie ihn angefleht. Und er hat gesagt: „Laßt es uns noch einmal probieren, Kinder.“

Für ihn ist der Grand Prix wie die Teilnahme an den Olympischen Spielen, und er meint damit nicht die Floskel, daß dabeisein alles ist. Er meint damit, daß es um nationale Ehre geht, weshalb er auch nicht versteht, wie Journalisten und Komiker so abfällig über ihn oder Corinna May schreiben können, wo beide doch auch für sie kämpften, für die Deutschen, für Deutschland. Und er meint damit, daß dieser Wettbewerb nicht einfach ein Witz ist, wo man mal hinfährt und sieht, wo man landet, sondern wo man alles, alles dafür tut, daß man gewinnt. Den Sängerinnen hat er Mitte der Woche erzählt, sie müßten nicht unbedingt gewinnen, Platz zwei und drei seien auch in Ordnung. Aber erstens glaubt ihm das hier kaum einer. Und zweitens bedeutet das ja auch, daß Platz vier schon nicht mehr in Ordnung ist.

Kein anderes Land setzt sich in diesem Jahr einem solchen Druck aus. Aber niemand anders als Siegel hat auch mit einer solchen Akribie fast ein Jahr lang auf den Sieg hingearbeitet. Im vergangenen Juli schon setzte er sich mit Meinunger zusammen und suchte nach einem passenden Titel zum Thema Musik, bis sie schließlich auf „I can’t live without music“ kamen. Auf den Text komponierte Siegel zehn verschiedene Melodien und überlegte drei Monate, bis er wußte: „Die ist es.“ Doch auch dann hörte er nicht auf zu basteln und zu schrauben. Die komplizierte Struktur des Liedes zeugt davon, daß er letztlich so viele Elemente aus den anderen Fassungen wie möglich in dieses eine Stück retten wollte. „Ich schreibe Titel gerne mal an einem Wochenende, aber hieran habe ich viele Monate gefeilt“, sagt er. Ralph Siegel hat sich nicht hingesetzt, einen Beitrag für die deutsche Vorentscheidung oder für Tallinn zu schreiben. Er hat sich hingesetzt, den Siegertitel des diesjährigen Grand Prix zu schreiben.

Und jetzt, bei diesem halböffentlichen Abendessen, beschwört er alles, was dafür sprechen könnte, daß dieses Projekt den einzigen angemessenen Abschluß findet. Johnny Logan, der zweimalige Grand-Prix-Sieger aus Irland, hat ein handgeschriebenes Fax mit „besten Wünschen“ geschickt: „Wenn das kein gutes Zeichen ist!“ Fast überall in Europa setzen die Buchmacher Deutschland auf Platz eins, was ja bedeute, erklärt Siegel, daß Menschen so sehr an sein Stück glaubten, daß sie sogar Geld dafür ausgäben. „Da habe ich doch das Gefühl, daß wir nicht so falsch liegen.“ In Internetforen findet er Zustimmung, Anrufer wünschen ihm Glück. „Das Feedback ist so schön, daß man’s gar nicht glauben kann“, sagt er. Und: „Ganz Deutschland drückt dir, Corinna, die Daumen aus ganzem Herzen.“

Er sagt, er wolle gewinnen, um die alte Entertainer- und Sportler-Regel „They never come back“ zu widerlegen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Siegel braucht diesen Sieg, um all die Demütigungen der vergangenen Jahre zu überwinden. Die Niederlagen in den Vorentscheiden, das schlechte Abschneiden vor fünf Jahren im Finale, die traurigen Verkaufszahlen vieler seiner Künstler, die Behauptung, er sei einer von gestern. In dieser Rede in Tallinn tauchen sie alle wieder auf. Er erzählt von der Gruppe Sürpriz, mit der er 1999 den dritten Platz belegte – „aber das hat man in Deutschland nie so richtig bemerkt“. Er erzählt von Stefan Raab, „der mit allen Wassern gewaschene und mit allen Talenten gesegnete Stefan Raab“, der verhindert habe, daß er und Corinna May im Jahr darauf den Vorentscheid gewannen. Er erzählt von den Leuten in den Medien, „die nicht gecheckt haben, was für eine wunderbare Persönlichkeit du bist, Corinna, und was für eine großartige Stimme du hast“.

Dann verliert er noch einmal die Fassung, kämpft wieder gegen die Tränen und läßt sich vom Pathos vollends überwältigen. Dankt den Background-Sängerinnen, die, das sagt er wirklich, „devot und trotzdem sehr engagiert ihre Unterstützung geben“. Dankt dem deutschen Kommentator Peter Urban, der ja das Glück habe, jedes Jahr die Reise zum Song Contest antreten zu dürfen – „ich darf sie ja nur manchmal machen“. Dankt Mark Pittelkau von der „Bild“-Zeitung, daß er täglich Geschichten schreibt, „die wir mal mit Freude, mal mit Verbitterung lesen, aber auch das ist ja eine Leistung“. Und er dankt Corinna May – „so wie du singst, kenne ich selten jemanden, obwohl ich viele Künstler gehört habe“ – und schwärmt von dem Album, das er gerade mit ihr aufgenommen habe, in wochen- und monatelanger harter Arbeit, das so etwas Besonderes sei. Später läuft die Platte im Hintergrund, aber es fällt schwer, mehr darin zu hören als sehr konventionelle Cover-Versionen sehr naheliegender Evergreens wie „Come on baby light my fire“ oder „Blowing in the wind“.

Schließlich greift noch der Präsident des deutschen Grand-Prix-Fanclubs OGAE nach dem Mikrofon und hält eine atemberaubend devote Hymne auf Siegel. Er bedankt sich, daß der Meister nur die Ehrennadel seines Clubs trage (und nicht die des verfeindeten anderen deutschen Fanclubs) und fleht Siegel an, nicht wie – wieder einmal – angekündigt, zum letzten Mal für Deutschland beim Grand-Prix teilgenommen zu haben. Ohne seine Beteiligung seit inzwischen genau 30 Jahren hätte Deutschland all die großen, wunderbaren, zauberhaften Erfolge nicht feiern können, sagt er und setzt den Höhepunkt dieses höchst nationalen und höchst persönlichen Abends mit einer Handbewegung auf die jungen Background-Sängerinnen und dem Satz: „Ihr seid eine Zierde für unser Land.“

Ralph Siegel aber beendet seine Ansprache mit den Worten: „Wenn ich bei all den Anstrengungen der letzten Monate das Lachen manchmal verloren habe – ich hoffe, daß ich es am Samstag wiederfinde.“ Nicht auszudenken, wenn es anders käme.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Bernd Meinunger

Höchstens ein bißchen Frieden. Warum Bernd Meinunger, der Songschreiber von Corinna May, den Grand-Prix pervers findet und eigentlich nicht gewinnen möchte.

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TALLINN, 23. Mai. Es ist nicht so, daß alle hier verrückt wären nach dieser Veranstaltung. Bernd Meinunger hat sich auf die Suche nach einem Golfplatz in der Nähe gemacht und einen gefunden, keine dreißig Kilometer von Tallinn entfernt, den einzigen in Estland. Dort hat er mit seiner Frau Golf gespielt, wie er das jedes Jahr tut, wenn ein Lied seines Freundes und Kollegen Ralph Siegel Deutschland beim Song Contest vertritt und er wieder den Text geschrieben hat. Beim Empfang des Bürgermeisters ist Meinunger schnell verschwunden, da waren ihm zu viele Leute; das Gedränge in der Residenz des deutschen Botschafters am Tag darauf hielt er kaum eine Minute aus. Und während Siegel durch die Hallen tigert, aufgekratzter noch als früher, und in jedes Mikrofon diktiert, mit dem Herzen glaube er zu gewinnen, nur sein Verstand mahne ihn, sich nicht sicher zu sein, ist Meinunger eher genervt, sich überhaupt eine Stunde mit einem Journalisten hinsetzen zu sollen. „Der Grand-Prix ist pervers“, sagt er und krault sich den grauen Bart, „ich verstehe nicht, warum sich der Ralph da so reinsteigert und wo er diesen unglaublichen Enthusiasmus hernimmt. Sicher würde ich mich freuen, wenn wir gewinnen. Aber soviel Energie da reinstecken? Dafür ist mir das nicht wichtig genug.“

Dann sagt er noch, daß es irgendwie auch schade wäre, wenn Deutschland gewänne, schade für Nicole, die dann nicht mehr unsere Einzige wäre, wenn ausgerechnet Siegel zwanzig Jahre später den Erfolg wiederhole. Das ist ein Satz, der an Blasphemie grenzt, aber Meinunger darf so was sagen. Er und Siegel arbeiten seit einem Vierteljahrhundert zusammen, und ihre Beziehung lebt von dem Kontrast zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Siegel, der Getriebene, der die totale Öffentlichkeit genießt und alles zu einem Kampf um Ehre, nationale und persönliche, verklärt. Meinunger, der Abgeklärte, der am liebsten im Hintergrund bleibt und schreibt, was andere bei ihm bestellen.

Seit 1978 sind die Texte des gelernten Agrarwissenschaftlers die Alltagslyrik und das Grundrauschen der Deutschen. Als er das letzte Mal nachzählte in seinem Computer, kam er auf 3800 Titel, die Platten hat er archiviert, „aber ich höre sie mir eigentlich nie an“. Die großen Siegelschen Grand-Prix-Nummern wie „Ein bißchen Frieden“, „Dschingis Khan“, „Theater“ stammen von ihm, die späten Platten von Rex Gildo und die frühen von Peter Maffay, er textet heute für Nicole und für Gaby Altenburg, leistet sich begeistert Ausflüge in deutschen Rap und erfüllt pflichtgemäß Anfragen aus der volkstümlichen Musik. Er sagt, daß er kaum einen seiner Texte auswendig könne und viele nicht einmal wiedererkennen würde.

Meinungers Texte sind schlicht und handeln von der Liebe. Und wenn man ihn fragt, ob das nicht ein bißchen wenig ist, schaut er treuherzig und fragt, ob es überhaupt ein anderes wichtiges Thema gebe, aber er sieht dabei aus, als wüßte er, daß das weder die Frage noch die Antwort ist. Morgens um neun setzt er sich in seinem Büro in München an den Computer, meistens bekommt er per E-Mail die Melodie, einen halben Tag später ist die neue Herzschmerz-Kombination fertig. Er sieht sich als Handwerker und lehnt auch den Ausdruck „Fließband-Arbeit“ nicht ab, aber er legt Wert darauf, das Optimale für den Zweck abzuliefern, nicht diesen „peinlichen Schrott“, der seit zehn Jahren die deutsche Schlagerlandschaft verhunze. Es sind Auftragsproduktionen, bei denen sich Meinunger selber ausdenken muß, worüber der Sänger wohl gerne singen würde, weil der oft nicht einmal das selbst formulieren kann. „Ich arbeite extrem künstlerorientiert; ich schreibe nicht, was ich denke und fühle“, beteuert er. Und er fragt sich, warum nicht viel mehr Menschen den Beruf ausüben, gerade 300 sind es in Deutschland bei fünfmal so vielen Komponisten, wo er doch der einfachste der Welt sei.

„Schlager haben nur eine Botschaft: Fühlt euch wohl!“, sagt er. Allergisch sei er gegen den Wunsch, daß Lieder „Themen anpacken“ sollen. Doch zu seinem Leidwesen sehnen sich offenbar auch die Künstler nach Bedeutungsschwere. „Nach Jahren, in denen sie erfolgreich über Liebe und sonst nichts gesungen haben, kommen sie plötzlich an und wollen was über Seehunde. Aber da sage ich: Nicht mit mir!“ Ein Umwelt-Lied namens „Verlorenes Paradies“, das er für Vicky Leandros geschrieben hat, hört er heute nur noch „mit Schaudern“. Aber beim Grand gelten ja eben andere Regeln. „Ein Grand-Prix-Lied braucht natürlich eine Botschaft“, sagt Meinunger, weil Siegel das sage. „Da bin ich von Ralph inzwischen gedrillt, da muß alles kalkuliert sein: Das Stück muß in Deutschland ankommen, um die Vorentscheidung zu überstehen, es muß überall in Europa gefallen, sogar in Österreich, es muß perfekt zum Künstler passen, und früher, als es noch Jurys gab, mußte immer noch ein bißchen Kunst drin sein. Absurd, oder?“ Der Siegertitel 1982 entstand, weil Siegel in dem Jahr unbedingt ein Friedenslied machen wollte, Meinunger aber auf gar keinen Fall ein Friedenslied schreiben wollte, und er irgendwann sagte: „Höchstens ein bißchen Frieden“. Damit war der Titel, die sogenannte „Zeile“, gefunden. Und Meinunger schwört, daß die Geschichte nicht nur schön, sondern auch wahr sei.

Die „Zeile“ sei das allerwichtigste, wichtiger oft noch als die Musik. Zu Meinungers unangenehmsten Aufgaben gehört, wenn Siegel anruft und sagt, er brauche jetzt schnell eine Handvoll Zeilen für Nicole, oder, schlimmer, ein Produzent mal eben fünfzig Zeilen für die Kastelruther Spatzen bestellt. Die meisten davon landen im Papierkorb, zu den wenigen anderen darf Meinunger später den restlichen Text dazuerfinden. Dessen Stellenwert sei aber nicht mehr hoch. Bei „I can’t live without music“ für Corinna May komme es eigentlich nur auf die Person der Sängerin, die Musik und die Titelzeile an. Der Rest ist kaum mehr als Füllmaterial.

„Zudringliche Weltbeschwörungsphantasien“ findet der Grand-Prix-Experte Jan Feddersen Jahr für Jahr in Meinungers Texten. Dahinter steckt ein Handwerk, das aus wenig mehr zu bestehen scheint, als die Begriffe „Traum“ und „Freiheit“ immer neu zu kombinieren. 1987: „Gib dem Traum ein bißchen Freiheit“. 1999: „Wir haben einen Traum, der nie die Kraft verliert. Leben ist eine Reise, die nach morgen führt“ (wohin sonst?). 1992, ungewöhnlich konkret und dadurch besonders perfide: „Siehst du dort das junge Mädchen, auf dem Bahnsteig stehn/Sie glaubt einer von den Zügen/wird in die Freiheit gehn/Und der Mann, der seinen Job verlor/träumt, daß er’s allen zeigt/Wie Phönix aus der Asche steigt.“ Das Werk trug den Titel „Träume sind für alle da“, der Meinungers ganzes Ruhigstellungs-Pathos und leeres Glücksversprechen wie kein anderer auf den Punkt bringt.

Nicht, daß er ein Reaktionärer wäre. Er engagierte sich politisch auf der Uni, war im linken SDS, fand nichts entsetzlicher als Chris-Roberts-Schlager. Siegel lernte er kennen, weil er ein Stück für sich selbst geschrieben hatte: „Song of emancipation“. Am Ende sangen ihn andere und brachten ihm 25 Pfennig Tantiemen ein, und Meinunger verabschiedete sich von den Idealen und begann mit dem Geldverdienen. „Was für Ideale soll man beim Schlagertexten haben? Das interessiert kein Schwein.“ Und Michael Kunze, auch ein erfolgreicher Texter, der Schlager wie das „Ehrenwerte Haus“ für Udo Jürgens und „Aufrecht gehn“ für Mary Roos geschrieben hat, die genau das Maß an Sozialkritik und Lebenswahrheit enthalten, die so ein kleines Lied enthalten kann – hat der es nicht geschafft, sich ein paar Ideale zu bewahren? Das sei die Ausnahme, sagt Meinunger. „Neunzig Prozent von dem, was Kunze schreibt, ist auch ganz braver Schlager.“

„Braver Schlager“ ist einer der freundlicheren Ausdrücke für die Musik, die er hauptsächlich produzieren hilft. Das Adjektiv „beschissen“ benutzt er für einen Achtundfünfzigjährigen mit der Ausstrahlung eines ruhigen bayerischen Brummbärens erstaunlich oft, auch für den Disco-Trash der Gruppe „E-Rotic“, der er mit viel Spaß Texte wie „Max don’t have sex with your ex“ bescherte. Peter Maffay warf ihm einmal vor, daß er neben seiner Arbeit für ihn für so viele andere entsetzliche Leute arbeite. Meinunger erwiderte, er sei Architekt: „Ich kann nicht jeden Tag Villen zaubern, ich muß auch viele Garagen bauen.“ Vielleicht fünf Prozent dessen, was er so getextet habe, sei „ganz schön“, zu dem Rest sagt er: „Es wäre genauso gut gewesen, wenn ich es nicht gemacht hätte“ — auch in finanzieller Hinsicht, weil sich das meiste dann doch nicht verkauft. Andererseits kann er sich nicht vorstellen, daß ihm je die Lust vergeht, auch noch den fünftausendsten Schlager-Text aufzuschreiben.

Er hat Chris Roberts dann irgendwann kennengelernt und gemerkt, daß das ein ganz belesener, kluger Mann ist. Und er hat sich in einem ähnlichen Maß von der Branche korrumpieren lassen, wie er es bei ihm und anderen feststellte. Nur die Leidenschaft, die läßt er sich nicht absprechen. „Ich habe nicht weniger Leidenschaft als Ralph Siegel, aber ich bin realistischer. Ich lebe nicht mehr in der Zeit vor zwanzig Jahren, als der Grand Prix wichtig war und Platten verkaufte und Karrieren begann.“ Aber ins Schwärmen kommt er nur bei den alten Geschichten, wenn er über die anstrengende Zusammenarbeit mit Maffay redet und darüber, wieviel Spaß es machte, für Dschingis Khan zu schreiben, die nie eine Botschaft hatten. Und dann schwärmt er noch für Reinhard May, der Alltagsgeschichten so grandios erzähle, wie er es nicht könne. Und wie er schon in dessen allererste Platte „reingekrochen“ ist.

In welches Lied von Bernd Meinunger möchte man reinkriechen?

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wie „Bild“ Corinna May vor Männern schützt

Sex, Macht, Politik – und Estland als Testland: Was uns der Grand Prix in der kommenden Woche bescheren wird.

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Sie hätte es längst getan haben können, zum ersten Mal seit drei Jahren. Sie hätte längst einen gefunden haben können, vielleicht einen estnischen Recken, wie ihre Sängerinnen sich wünschen, vielleicht einen sechzigjährigen türkischen Tänzer, wie ihn die „Bild“-Zeitung gefunden hat, jedenfalls jemanden, der sich „gut anfühlt“, wie sie selber sagt.

Und wir könnten längst weiter sein in dem Liebesdrama um Corinna May, vielleicht schon in der Phase, wo sie erzählt, wie zärtlich er im Bett war, oder in der, wo er erzählt, wie sie beim Sex leise singt, oder auch nur in der, wo „Bild“ beschreibt, wie liebevoll er ihr über die vielen Klippen hilft, die in dem wunderschönen alten, aber hoffnungslos verwinkelten Hotel Schlößle in Tallinn zwischen dem Eingang und ihrem Zimmer im Erdgeschoß liegen. Denn eigentlich wollte die „Bild“-Zeitung die große Corinna-May-sucht-einen-Mann-Serie schon im März bringen, aber dann kam Uschi Glas dazwischen.

Seit die schönsten Geschichten nicht mehr das Leben, sondern Mark Pittelkau in der „Bild“-Zeitung schreibt, muß man mit solchen Unbillen rechnen. Wenigstens besteht bei Corinna May nicht die Gefahr, daß sie, wie Michelle im vergangenen Jahr, im Beisein von Journalisten „ihr“ Grand-Prix-Tagebuch in „Bild“ liest und erschrickt und widerspricht.

Die anfänglichen Sorgen des NDR-Unterhaltungschefs und deutschen Grand-Prix-Beauftragten Jürgen Meier-Beer sind also verflogen, daß er nach den Jahren mit Stefan Raab und seiner eigenen PR-Maschine und Michelle und ihrem Riesenpack Kindheits- und Trennungsdramen sich diesmal gewaltig anstrengen müßte, um aus einer steifen, sperrigen, blinden Sängerin genug Medienstoff für eine Woche zu generieren. Und wenn Corinna May wieder solo bleiben sollte, kann sich die Rekordzahl von rund 120 anreisenden deutschen Journalisten (mehr als bei Raab!) immer noch auf schmutzige Details aus der Suite von Ralph Siegel verlassen.

Der Song-Contest ist nicht nur nicht totzukriegen, er lebt mehr denn je. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird sich in der kommenden Woche sogar das amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ mit ihm beschäftigen. Das freut vor allem das Gastgeberland, das sich so viel verspricht von diesem Ereignis.

„Eine Milliarden-Dollar-Chance für Estland“ hat der Generaldi-rektor des estnischen Fernsehens die Ausrichtung des Grand Prix genannt. Über die Zahl kann man streiten, über den Kern der Aussage nicht. „Jetzt sind wir auf der Landkarte präsent“, beschreibt Jörg-Dietrich Nackmayr, Direktor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tallinn die Stimmung im Land, „jetzt sehen die anderen Länder, wie toll wir sind.“ Zunächst einmal lernen sie: „Estland liegt nicht in der Tundra“, nennt der deutsche Botschafter in Tallinn, Gerhard Enver Schrömbgens, das Minimalziel. Er lädt am Dienstag zu einem Empfang in seine Residenz auf dem Domhügel in Tallinn. Dort wird Ralph Siegel sich an den Flügel setzen und mit Corinna May und estnischen Kindern singen und möglicherweise, so Schrömbgens‘ Hoffnung, einen kleinen Beitrag dazu leisten, daß die Deutschen sich an ein Land erinnern, das ihnen eigentlich nahe sein müßte. Im Grunde teilt er die Meinung der stolzen Esten, daß sich ihr Land sehen lassen kann: „Estland nutzt seine Kleinheit für Flexibilität und Agilität“, sagt er, und daß es in den üblichen Nationenvergleichen nicht ganz vorne auftauche, liege nur daran, daß es zu klein sei, um überhaupt aufzutauchen. Beispiel Olympia: Würden die Medaillenspiegel pro Kopf der Bevölkerung erstellt, läge Estland mit seinen drei Medaillen der letzten Winterspiele bei seinen 1,4 Millionen Einwohnern ganz vorne.

Auch nach innen ist die Bedeutung des Grand Prix erstaunlich – zumindest die Erwartungen, die an ihn geknüpft werden, sind es. Viel publiziert ist, daß die Zustimmung zu einem EU-Beitritt unter den Esten, die nach ihrer gerade erst erlangten Unabhängigkeit zögern, sich nun schon wieder einem Bündnis eingliedern zu sollen, nach dem Grand-Prix-Sieg im vergangenen Jahr um zehn Prozent anstieg. „Through EBU into EU“ soll die Regierung als Slogan ausgegeben haben – EBU ist die Eurovision, der Veranstalter des Wettbewerbs. Seitdem sind die Umfragewerte zwar wieder zurückgegangen, aber allgemein wird erwartet, daß sie in diesen Wochen, rund um die Veranstaltung, wieder ansteigen werden. „Die Esten freuen sich, daß Europa sie zur Kenntnis nimmt, sich um sie kümmert“, sagt Nackmayr. Er glaubt, daß der Grand Prix ein wichtiger emotionaler Bestandteil auf dem Weg nach Europa ist: „Dadurch werden auch Teile der Bevölkerung nach Europa mitgezogen, denen der schnelle Wandel eher angst macht und die vom Wirtschaftswunder nicht profitiert haben.“

Kein Wunder, daß sich die Regierung überreden ließ, die Ausrichtung zu finanzieren – jedenfalls, nachdem das kleine öffentlich-rechtliche ETV mit der Einstellung seines Sendebetriebes gedroht hatte. Alles, was nicht durch Sponsoren oder den Verkauf von Eintrittskarten hereinkommt, zahlt der Staat. Obwohl die Karten regulär 300 bis 450 Euro kosten (mehr als das durchschnittliche Monatseinkommen eines Esten), bleibt wohl ein Loch von mehreren Millionen Euro. Das weckt Begehrlichkeiten: So wollte die Regierung eine eigene Agentur beauftragen, die kleinen Filme zu drehen, die vor den einzelnen Beiträgen laufen, um Estland im richtigen PR-Licht zu präsentieren. Zum Glück war der estnische Grand-Prix-Chef Juhan Paadam vorher jahrelang so etwas wie der Außenminister seines Senders und entsprechend erfahren in Diplomatie. Mit sanftem Druck überzeugte er die Regierung, daß die beste Werbung für Estland nicht durch Agit-Prop erreicht werde, sondern durch eine gelungene Show ohne politische Einflußnahme.

Wer den Grand Prix nicht als Musik-, sondern als Fernsehereignis versteht, sah schon in den vergangenen beiden Jahren TV-Shows, die zweifelsohne state of the art waren. Nachdem die Schweden sich 2000 das Ziel setzten, eine moderne Show zu veranstalten und die Dänen im vergangenen Jahr aus dem Grand Prix ein Massenereignis im Fußballstadion machten, stellen die Esten den Grand Prix erstmals unter ein Motto: „Ein modernes Märchen“ wollen sie inszenieren und sich, ihre Unabhängigkeit und all die Kontraste aus Mittelalter und 21. Jahrhundert feiern, die das Land ausmachen. Es wird, nach allem was man hört, ein außergewöhnlicher Grand Prix, mit innovativem Bühnenkonzept, schrägem Design, modernster Umsetzung. Staunen soll die Welt, und zwar nicht zu knapp, über die Kreativität eines Landes, dem viele die erfolgreiche Ausrichtung eines solchen Großereignisses gar nicht zugetraut hätten.

Ach ja, bleibt noch die Musik. In diesem Jahr liegen die Griechen beim paneuropäischen Wettbewerb um den absurdesten Beitrag weit vorn. Sie schicken fünf Männer in Leder, die ein elektronisches Lied über Cyber-Sex singen: „Every time you need my love / Before you enter in my world / Give the password.“ Gleich eine Handvoll Länder hat sich entschieden, mit mehr oder (meistens) weniger gelungenen Revivals des Disco-Sounds der siebziger und achtziger Jahre ins Rennen zu gehen, es gibt langweilige Balladen, kalkulierten Pop, mißglückte Anleihen bei modernen Musikeinflüssen und viele Exoten, die sich alle Mühe geben, daß der Trash-Faktor des Ereignisses erhalten bleibt oder, positiv formuliert, die einen beruhigt staunen lassen über die Vielfalt Europas trotz Globalisierung und MTV und allem.

Zum Glück geht es ja nicht um Musik. Der Gewinnertitel des vergangenen Jahres, das Funk-Stück „Everybody“ von Tanel Padar und Dave Benton, war vermutlich der am wenigsten gehörte, gekaufte und gespielte Siegertitel in der Geschichte des Grand Prix, das Duo hat sich längst im Streit getrennt, einer startete seine Solo-Karriere mit einem Live-Konzert vor 41 Zuschauern, beide werden das Stück wohl nie wieder gemeinsam aufführen. Doch das Lied war so erfolglos wie folgenreich und beschert Estland nun die größte Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit seit dem Mittelalter.

Was für Estland gilt, gilt auch für Corinna May. Natürlich würde ein Sieg ihres „I can’t live without music“ den Grand Prix auf seinem zögernden Kurs zu Modernität und musikalischer Relevanz um Jahre zurückwerfen. Aber was kümmert sie das, was kümmern sie die kaum nennenswerten Plattenverkäufe, wenn sie es dank des Grand Prix schafft, nach drei Jahren endlich wieder Sex zu haben?

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung