Schlagwort: Eurovision Song Contest

Deutsche Leitmusik

Beim Schlager-Grand-Prix treffen sich Nationalstolz und Popkultur, und einer der Kandidaten heißt Moshammer.

Bumm-bomm bumm-bomm . . . Die Pauken aus Also sprach Zarathustra künden von einem großen, billigen Höhepunkt. Ein Dutzend Kamerateams drängeln sich um ein Rechteck im Teppichboden, livrierte Bedienstete versuchen, sie vom eingelassenen Metallrahmen weg zu bewegen, eine Rotte von 80 Journalisten späht durch ihre Beine. Es ist die Pressekonferenz, auf der die ARD bekannt gibt, wer an der deutschen Vorausscheidung zum europäischen Song Contest teilnehmen wird. Jürgen Meier-Beer, offiziell Unterhaltungschef des NDR, tatsächlich deutscher Schlager-Grand-Prix-Ober-Verwaltungschef, hat gerade dieNamen vorgelesen, darunter Zlatko Trpkowski, bekannt durch 39 Tage Aufenthalt im Fernsehcontainer, und Rudolf Moshammer, bekannt durch jahrelange Darstellung des Rudolf Moshammer. Sänger waren auch unter den Nominierten, und einige standen sogar hinter Meier-Beer auf der Bühne. Doch dahin schaut niemand mehr, seit er noch eine „kleine Überraschung“ angekündigt hat, die aus dem Fahrstuhl in der Mitte des Raumes aufsteigen soll.

Eine kleine Überraschung? Zlatko, das Fett verteilend, das er sichgerade öffentlich hat absaugen lassen? Moshammer als König Ludwig – oder Königin Elisabeth? Oder, bestimmt, Stefan Raab, der gleich, höhö, in einer absurden Verkleidung mit der Hebebühne mitten in die Runde platzt?

Das letzte Taa-Daaa-Daaaa! Dann ein trauriges metallisches Klonk. Dann nichts. Stille in den Kopfhörern, Bewegungslosigkeit auf den Monitoren. Die Medienöffentlichkeit hält den Atem an. Jetzt bewegt sich was. Die Bühne fährt hoch. Noch ein Klonk, dann ist es da. Es ist: das Buffet! Die Journalisten lassen ihre Schreibblöcke und Kameras sinken, aber enttäuscht sieht keiner aus.Das ist das Schöne an Phänomenen wie Zlatko und Moshammer: Die pompöse Leere und dramatischen Anti-Höhepunkte, die sie uns bescheren, kriegt man notfalls locker ohne sie hin.

Sladdi und Mosi also. Gott ja. Nachdem der Schlager-Grand-Prix schon wegen Guildo Horn und Stefan Raab partout nicht untergehen wollte, geschweige denn das Abendland, hält sich die Aufregung in Grenzen. Beruhigend auch zu erfahren, dass es nicht das erste Mal ist, dass Moshammer als Sänger auftritt: In der Goldenen-Eins-Hitparade hat er es schon einmal getan, er errang den letzten Platz. Selbst Mark Pittelkau, Unterhaltungsreporter bei Bild und Erster Frontberichterstatter in Sachen Grand Prix, hat die Reise zur Endausscheidung in Kopenhagen noch nicht gebucht. Er glaubt nicht, dass sich mit den Kandidaten genügend Aufregung produzieren lässt. Und dass es für Zlatko ein Jahr nach seinem Auszug bei Big Brother noch ein Durchmarsch werden wird, glaubt er auch nicht.

Meier-Beer formuliert das so: „Wer glaubt, hier eine billige PR-Nummer machen zu können, wird sich wundern.“ Für ihn ist das Kandidatenfeld ein Glücksfall. Zlatko und Moshammer sorgen für die nötigen Schlagzeilen (und Quote). Wolf Maahns Teilnahme bringt alte Deutschrocker zum Weinen. Joy Fleming bildet mit zwei anderen Sängerinnen ein Team, das sich aber nicht Mütter Mannheims nennt, sondern White Chocolate. Schlagersängerin Michelleist nach Angaben von Menschen, die sich mit sowas auskennen, in entsprechenden Kreisen außerordentlich populär.

Seit Meier-Beer dafür gesorgt hat, dass die großen Plattenfirmen selbst entscheiden, wen sie ins Rennen schicken, stehen den peinlichen traditionellen Beiträgen auch peinliche moderne gegenüber, etwa der Hamburger DJ Balloon. Wer noch? „Was wäre der Grand Prix ohne Ralph Siegel?“, fragt Meier-Beer freundlich und fügt, etwas weniger freundlich, hinzu: „Und was wäre Ralph Siegel ohne den Grand Prix?“ Für gleich zwei Beiträge schrieb er die Musik.

Nun darf man aber nicht den Fehler machen, aus Meier-Beers breitem Grinsen zu schließen, dass es um nichts geht: Für Moshammer zum Beispiel geht es um viel Geld. Für Zlatko um viel PR. Für die Nachwuchsbands um eine Karriere. Und für Deutschland um alles. „Wir wollen siegen“, hat das Erste die Vorentscheidung in diesem Jahr genannt, was sich ausdrücklich nicht nur auf diese Runde bezieht, sondern auch aufs Finale. Moderator Axel Bulthaupt soll die Zuschauer ermahnen, den zu wählen, von dem sie glauben, dass mit ihm oder ihr „Deutschland“ die größten Chancen hat.

Wenn Meier-Beer die Bedeutung der Veranstaltung erklärt, kommt er gerade so um das Wort „Leitkultur“ herum: „Das deutsche Volk entscheidet, was Ausdruck unseres Nationalstolzes ist.“ Dann philosophiert er, dass der Song Contest die einzige Gelegenheit sei, bei der Nationalstolz und Popkultur aufeinander treffen; das Ergebnis sei „oft eine Skurrilität, aber oft auch eine ernst zu nehmende Leistung“. Soviel Pathos ist neu, liegt aber im Trend. Und genau um den geht es ja: „In den vergangenen Jahren gab es offenbar ein Bedürfnis der Deutschen, dem Ausland zu zeigen: Wir haben Humor. Wir werden sehen, ob das Bedürfnis auch in diesem Jahr noch so groß ist.“

Wir lernen: Der Grand Prix ist groß, wichtig, unterhaltsam – und beruhigend noch dazu. Wer glaubt ernsthaft, dass die Deutschen diesmal der Welt zeigen wollen: Wir haben Moshammer?

(c) Süddeutsche Zeitung

Aufstand alter Männer

Der Eurovisions-Song-Contest in Stockholm: Schlichtheit siegt, und Stefan Raab muss die Schlagerwelt auch nicht retten.

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Sie kommen aus einer anderen Galaxie. Tauchen aus einem gleißenden Lichtrechteck auf. Schreiten gemessen durch ein Spalier aus Bildern des Blauen Planeten. Treten an die Bühne. Rücken Gitarren und Mikrofone zurecht. Singen. Und 13 000 ergeben sich ihrer Macht.

Gut, aus einer anderen Galaxie kommen sie vielleicht nicht, die Olsen Brüder, die am Samstag den Eurovisions-Song-Contest gewonnen haben, eher schon aus einer früheren Zeit dieser Welt. Sie sehen aus wie Kenny Rogers und Unscheinbarer-Mann-neben-Kenny-Rogers. Sie sind Ende 40 und haben vor 22 Jahren zum ersten Mal versucht, zum Grand Prix zu kommen. Ihr Fly on the wings of love beruht auf genau der Folge von vier Harmonien, die schätzungsweise der Hälfte aller konventionellen Popsongs ihr Gerüst gibt. Das Lied rettet sich über die drei Minuten – wie Millionen Schlager vor ihm -, indem es kurz vor Schluss die Tonart wechselt. Halbwegs aus heutiger Zeit ist nur der Effekt, Jorgen Olsens Stimme einmal durch einen Vocoder verzerren zu lassen, wie bei Cher – aber den Effekt hat inzwischen selbst Mary Roos entdeckt. Nein, als irgendwie innovative Veranstaltung geht der Grand Prix nach dem Sieg der Dänen nicht durch.

Muss er auch nicht. Das furchtbare Erfolgsgeheimnis des Schlagerwettbewerbes ist seine Schlichtheit. Schon bei der Wiederholung des Siegertitels zum Finale konnte fast jeder in der Stockholmer Globen-Arena mitsingen. Am Tag zuvor wurden die Dänen plötzlich Favoriten, als das harmlose Lied bei der ersten öffentlichen Probe das überwiegend schwedische Publikum zur Raserei trieb. So gesehen geht der Sieg völlig in Ordnung. Auch in ein paar Jahren noch werden es die merkwürdigen Grüppchen von Grand-Prix-Fans rauf und runter spielen. Und wenn einer dazukommt, wird er sich erinnern und mitsingen. Und wenn er sich nicht erinnert, kann er es trotzdem nach zwei Strophen.

Auf den Straßen und in den Bars Stockholms liefen in der vergangenen Woche die Grand-Prix-Hits aus 45 Jahren in der Endlosschleife, aber auch beim zweiunddreißigsten Mal Waterloo und A-ba-ni-bi und Ring-A-Dong gerieten die Menschen aus ganz Europa, jung und alt, noch in Extase.

Es hätte alles viel schlimmer kommen können. Mit Irland als Sieger zum Beispiel. Die Iren schickten einen freundlichen, aber viel zu schönen Mann mit Vokuhila-Frisur, der vor dem Hintergrund brennender Kerzen derart kalkuliert vom Jahrtausend der Liebe schmachtete, dass es selbst den Schlagerfans zu viel war. Hohe Punkte für ihn wurden vom Publikum gar mit Buhrufen kommentiert.

Vor Irland aber lag am Ende ein ganzer Ostblock: Russland, Lettland, Estland. Dass die 16-jährige Russin Alsou mit ihrem modernen, aber belanglosen Stück auf Platz zwei kam, nahmen Song-Contest-Verantwortlichen aus aller Welt mit Erleichterung auf: Vielleicht gibt sich ihr Vater damit zufrieden. Der Herr ist Multimillionär, ließ ausrichten, dass auch Herr Präsident Putin für das Lied sei und drohte ernsthaft, das Schwedische Fernsehen zu kaufen, wenn deren Regisseure nicht tun, was er will.

Der Erfolg von Estland und Lettland, die mit MTV-kompatiblen jungen Nummern angetreten waren, gab denen Hoffnung, dass der Schlagerwettbewerb nicht nur ein skurriles Ritual sein muss, bei dem am Ende die simpelste Hymne gewinnt. Dahinter Stefan Raab auf Platz fünf: „Das ist das perfekte Ergebnis für mich“, sagte der deutsche Delegationsleiter Jürgen Meier-Beer vom NDR. Was schließt man daraus? Ist der Grand-Prix 2000 nun ein Zeichen für die Allmacht des zeitlosen Kitsch (wegen Platz 1) oder für das Aufholen des zeitgemäßen Pop (wegen Platz 2 bis 4)? „Ist mir egal“, sagt Meier-Beer, „solange die Leute nur ausgiebig darüber diskutieren.“ Über zehn Millionen sahen bei der ARD am Samstag im Schnitt zu.

Ein bitterer Abend war es für Österreich und die Schweiz. Beide dürfen im kommenden Jahr wohl nicht zum Finale nach Dänemark reisen – ihr Punkteschnitt der letzten Jahre ist zu schlecht. ORF-Leute glauben, dass ihnen das Anti-Österreich-Klima in Europa geschadet habe – obwohl sich der Auftritt der Rounder Girls, drei schwere Damen verschiedener Hautfarbe mit einem Motown-Stück, gerade als Anti-Haider-Demonstration werten ließ. Der Schweiz will Deutschland 2001 anbieten, wie bereits 1999 wenigstens mit einem Beitrag an der deutschen Vorausscheidung teilzunehmen.

Stefan Raab lag mit seinem fünften Platz deutlich über den Prognosen der Wettbüros. Dabei war sein Auftritt eigentlich ein Missverständnis. „Ich habe gehört, Sie wollen den Song Contest retten“, sagte die schwedische Moderatorin mit dem Charme eines Gefrierbeutels bei seiner Pressekonferenz. „Das ist ja nett.“ Die Veranstaltung braucht – anders als vielleicht die deutsche Vorentscheidung – keinen Retter-Raab. Sie ist trotz ihrer ganzen Rituale und Albernheiten ziemlich lebendig und vielfältig. Schon deshalb fiel Raab in Stockholm nicht so sehr auf. Außerdem kommentierten viele seinen Auftritt nicht mehr mit: „Hey – die Deutschen haben ja Humor!“, sondern mit: „Hatten wir den gleichen Witz nicht schon vor zwei Jahren?“

Eine Schlager-EM hat die gleiche Bedeutung wie eine Fußball-EM: Sie ist exakt so wichtig, wie man sie nimmt. Da schneidet der Grand Prix im Vergleich nicht mal schlecht ab: Einige Länder baten die Sänger in Stockholm zu offiziellen Empfängen in ihre Botschaften. Den Dänen ist es traditionell eine Party mit Freibier wert. Und die Engländer, die ihre Zielgruppe kennen, luden in eine Schwulenbar.

Dafür braucht die Welt den Grand Prix: Damit Leute wie die Olsen-Brüder Hoffnung auf eine neue Karriere haben und Leute wie Stefan Raab Material für ihre Comedy. Damit ein Fernsehzwerg wie Schweden der Welt zeigen kann, wie man die alte Veranstaltung als modernes Spektakel inszeniert. Damit wir feststellen, dass auch in Mazedonien (I love you 100 percent, yes I do) Mädchen nicht singen können müssen, um erfolgreich zu sein, wenn sie nur sehr jung sind und entsprechend wenig anhaben.

Und natürlich, damit einmal im Jahr Millionen Fernsehzuschauer eine knappe Stunde lang zusehen, wie nacheinander 240 Punktewertungen je drei Mal vorgelesen werden. Zwölf Punkte von Mazedonien an Rumänien – hurra! „Ist doch toll“, sagte eine norwegische Journalistin, „das hier ist die größte unwichtige Veranstaltung des Jahres.“

(c) Süddeutsche Zeitung

Der Mann, der nur Spaß versteht

Süddeutsche Zeitung

Der deutsche Grand-Prix-Vertreter Stefan Raab feiert vielleicht deshalb Erfolge, weil ihn an der Welt nur eines interessiert: Ob sie für einen Witz taugt.

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Stockholm, 10. Mai — Einer hat die Quelle entdeckt. Ein einziger, das genügt. Seine Kamera verrät ihn, er bleibt nicht lang allein. In Sekunden sind nach gutem Stoff hungernde Fernsehteams aus allen Ecken des Stockholmer Stadthauses zusammen geströmt und haben eine Oase gebildet. Der Mann in ihrer Mitte trägt, wie seine Freunde, eine wattierte penatenblaue Polyester-Jacke, die an die Ausgeh-Uniformen von Fußballern bei einer WM erinnern soll. Trotzdem wäre er unscheinbar, unrasiert wie er ist, mit Baseballkappe, Cargo-Hose und Turnschuhen, würden nicht sieben, acht Fernsehjournalisten, ihre Kameramänner und Mikrofonträger erwartungsvoll ihre Blicke auf den Mann richten, von dem sie wissen, dass er sie alle satt machen wird: Stefan Raab.

Es ist der Empfang des Bürgermeisters für die Teilnehmer des Europäischen Schlagerwettbewerbs, der an diesem Wochenende in Stockholm stattfindet. Wenige Zentimeter vor Raab, bedrängt von den Massen hinter ihm, steht ein junger schwedischer Reporter. Raab läuft jetzt wie aufgezogen. Nach jedem Satz zeigt er sein Nussknackergrinsen — ein breites, hölzernes Lächeln. „Na, bin ich lustig“, fragt dieses Grinsen, wenn er in die Runde schaut. Gerade erzählt er dem jungen Mann, der ihn anstrahlt, dass Wadde, Hadde und Dudde die drei meistverkauften Regale bei Ikea seien. „Das ist doch der ganze Witz bei meinem Lied Wadde hadde dudde da“, sagt Raab, legt den Kopf schief und schaut dem Reporter herausfordernd ins Gesicht, „wussten Sie das nicht?“ Kein Wort davon stimmt. Aber Raab hat großen Spaß, die Geschichte zu erzählen. Er hätte auch erzählen können, dass ihm der Text eingefallen ist, als er im Park sah, wie eine Frau mit ihrem Hund sprach. Aber das hat er schon zu oft erzählt. Und in Schweden jedenfalls passt die Ikea-Geschichte besser. „Die Hälfte von dem, was ich erzähle, von allem, was ich die ganzen letzten Jahre erzählt habe, ist erlogen“, sagt Raab. Er kann das ruhig sagen. Es wird keiner ankommen und sich beschweren. Aber wenn er die Wahrheit erzählte, und die Wahrheit langweilig wäre: dann würden sie sich beschweren.

Denn Raab ist Entertainer. Der erfolgreichste im Fernsehen heute. Seine wöchentliche Show TV Total hat erst Ostern wieder ihre eigenen Rekorde gebrochen und soll im nächsten Jahr gar täglich kommen. Seine Single Maschendrahtzaun wurde über eine Million mal verkauft und versorgte die Boulevardindustrie mit Stoff für Wochen. Raabs Musikfirma ist erfolgreicher als Große wie EMI und Ariola. Jetzt sorgt er dafür, dass sich junge Menschen massenhaft für eine alte, merkwürdige Erfindung interessieren: den Schlager-Grand-Prix.

Raab ist 33 Jahre alt und seit sieben Jahren im TV-Geschäft — die meiste Zeit auf dem Musiksender Viva, der ihn alles machen ließ. Er kann nicht nur moderieren und Faxen machen. Er kann singen. Spielt Gitarre, Schlagzeug, Klavier. Komponiert und produziert. Er braucht, wenn nicht mehr Zeit ist, nur zehn Minuten, um mit einem Musiker, den er noch nie getroffen hat, live so zu spielen, dass das Publikum tobt. Ein Grand-Prix-Journalist bittet ihn, ein finnisches Lied anzuspielen, Raab denkt zwei Sekunden nach, greift zur Ukulele, spielt einen Schlussakkord und sagt: „Finished!“ Das ist Handwerk, das beherrscht er. Warum heute aus jedem kleinen Stein, den er ins Wasser wirft, eine riesige Welle wird, erklärt es noch nicht.

Raab nimmt das Wort Entertainment wörtlich. Alles, was er macht, muss unterhalten. Zuerst ihn. Dann die Fans. Die Medien sowieso. Zu seinen Pressekonferenzen, die er nach jeder Probe in Stockholm abhalten muss, können die Programme blind Sendezeit buchen. Selbst wenn alle anderen nur erzählen, ob sie nervös waren, was sie mit ihrem Lied ausdrücken möchten und was sie vom Grand Prix erhoffen. Für die geht es ja um was: um ihre Karriere, um Auftritte in Europa, um Patriotismus gar. Für Raab geht es nur um eins: Spaß. Gewinnen macht Spaß.

Die alten Grand-Prix-Fans murren, weil sie ihre Institution nicht ernst genommen fühlen. Jens Bujar, Chefautor und Raabs wichtigster Mann, zuckt mitleidslos die Achseln: „Das ist Demokratie.“ Raab sagt: „Ich habe einen guten Geschmack“, dann korrigiert er sich: „einen breiten Geschmack.“

Raab hat nichts gegen den Grand Prix, genauso wenig wie gegen die Frau vom Maschendrahtzaun, Karl Moik vom Musikantenstadl oder Zlatko aus dem Big-Brother-Haus. Sie sind ihm egal. Sie sind Material für seine Witze. Mehr als jeder andere befreit Raab die Realität und die Fernsehrituale von allem Inhalt, bis nur noch Spaß übrig bleibt. Er kann eine halbe Stunde lang witzig mit einem schwedischen Model plaudern, ohne je zu fragen, für wen sie Modell steht und was der Beruf ihr bedeutet.

Wenn Raab eine Frau in schwedischer Tracht sieht, zeigt er auf sie, lacht und ruft: „Guck mal, was hat die denn auf dem Kopf!“ Vor sechs Wochen hat er sich ein Kickboard gekauft, eine Art moderner Tretroller. Sein Lieblingsspielzeug heute. Keiner kommt in den Backstage-Bereich, ohne es bewundert zu haben. Nach der Aufzeichnung seiner Show kann er es kaum erwarten, damit zum Hotel zurück zu fahren. Auf halber Treppe dreht er sich noch einmal um und lacht: „Das ist geil, beim Rückweg geht’s fast nur bergab.“

Raab ist ein Kind, privat und auf der Bühne. Auf der Bühne nimmt er den Spaß ernst. Die Mitarbeiter, die mit ihm die Filmbeiträge schneiden, müssen eine große Leidensfähigkeit haben: Er gibt die Beiträge nicht eher frei, bis alles perfekt ist. Wenn es nicht perfekt wird, schmeißt er es weg. Als er einmal Will Smith traf und versuchte, ihn nachzumachen, schaute ihn der Amerikaner mitleidig an und sagte: „You’re trying too hard.“ Das hat Raab zum Kern seiner Philosophie gemacht: Wenn etwas nicht leicht ist oder nach harter Arbeit leicht wirkt, lass es ganz.

Die Menschen haben auf einen wie ihn gewartet. Wenn er in der Sendung einen neuen Running Gag einführt, ein Kelle zum Beispiel, auf der das Wort „Respekt“ steht, dann sitzen schon in der nächsten Woche Leute im Publikum, die sich selber „Respekt“-Kellen gebastelt haben, andere halten „Respekt“-Fahnen hoch. „Die Leute sind aufmerksam und wollen was zum Mitmachen“, sagt Raab. In der Südkurve beim 1. FC Köln tragen die Fans alle tiefblaue Hemden mit dunkelblauen Krawatten, seit Ewald Lienen Trainer ist, der sich so anzieht und den Verein nach vorne brachte. Das gefällt Raab. Er steht nicht in der Südkurve. Nicht am Big-Brother-Haus, um „Manu raus“ zu brüllen. Und nicht am Maschendrahtzaun. Aber wie den Leuten, die dort stehen und feiern, ist ihm völlig egal, wie Manu wirklich ist und was die Frau vom Maschendrahtzaun tatsächlich umtrieb. Wie sie hängt er im privaten Gespräch „weisse?“ ans Ende seiner Sätze.

Seine Moderationen liest er nicht ab. Sie sind spontan, wirken oft entsprechend unpoliert. Das ist typisch für Raab: Er macht das einfach, weil er so ist, und es ist geschickt, als wäre es kalkuliert. „Die Leute schätzen es viel mehr, wenn du etwas spontan machst“, sagt er. „Wenn einer einen Witz erzählt und die Pointe mittelmäßig ist, finden Leute den Witz schlecht. Wenn da aber einer sitzt, der spontan seinen Kommentar abgibt, wirkt das viel witziger, selbst wenn der Spruch nur mittelmäßig war.“

Raab hat für die Journalisten in Stockholm eine Fahrt auf einem Wikingerschiff organisiert. Gegen Ende trifft er einen, für den der Grand Prix das wichtigste Ereignis des Jahres ist. Voll Stolz will der ihm eine kleine Zeitschrift in die Hand drücken, die Euro Song News des Grand-Prix-Fanclubs, deren Chefredakteur er ist. Aus dem Heft könnte Raab viel erfahren, was der Wettbewerb, an dem er teilnimmt, anderen bedeutet. Leider ist es nicht witzig. „Ich geb’s ihm später“, sagt Raabs Managerin entschuldigend dem schreibenden Fan. Raab ist längst gegangen. Er hat nicht mal gewartet, bis sie die Artikel über ihn gefunden hat.

Hadder da Gummibärchen?

Süddeutsche Zeitung

Stefan Raab und die „Bild“ streiten sich ein wenig.

So viel steht fest: Stefan Raab war in Stockholm. Mark Pittelkau, Klatsch-Nachwuchshoffnung der Bild-Zeitung, auch. Sie haben sich getroffen, um ein Foto zu machen. Doch schon über die Frage, wo genau, gehen die Aussagen auseinander. Und darüber, ob Raab dabei vor dem Schloss mit Waffengewalt abgeführt wurde, ob ihm zwei 16-Jährige mit den Worten „Hadder denn da wat, un wenn ja, was hadder da“ in den Schritt griffen und ob er zum Frühstück Gummibärchen isst – wegen der Potenz. Es ist ein absurder Streit entstanden.

Raab sagt, der Bild-Artikel, der am Tag vor dem Grand Prix erschien, sei frei erfunden. Sein Management hat protestiert, Gegendarstellung und Widerruf gefordert; die Bild bleibt bei ihrer Darstellung, ist aber intern etwas desorientiert. Unterhaltungschef Manfred Meier sagt, man habe eine Unterlassungserklärung abgegeben, das sei Routine: dass man die Fakten nicht wiederhole, heiße nicht, dass sie nicht stimmten. Chefredakteur Udo Röbel widerspricht: Es gebe keine Erklärung; die Rechtsabteilung prüfe. Die Sache ist für beide Seiten keine Petitesse, Röbel hat sich Pittelkaus Darstellung als eidesstattliche Erklärung geben lassen. Dass Details nicht stimmen, muss nichts bedeuten: „Nicht alles, was wir schreiben, ist wahr, aber wir versuchen, wie alle seriösen Zeitungen, der Wahrheit möglichst nah zu kommen“ , sagt Meier. Ach ja.

Pittelkau ist für die Bild ein wichtiger Mann. Er kennt die Schlagerszene — und es gibt nicht viele Journalisten, die bereit sind, Nächte mit Jürgen Drews zu verbringen. Am Samstag bekommt er von der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlager einen Preis dafür, dass er versuche, „immer das Positive am deutschen Schlager herauszustellen“ . Manche sagen ihm Allmachtsphantasien nach. Nach einem geplatzten Termin bei Raab in Stockholm soll er gesagt haben: „Die Jagd auf Raab ist eröffnet; ich werde ihn in Grund und Boden schreiben.“ Pittelkau, sagt das Raab-Lager, leide darunter, dass nicht Corinna May zum Grand Prix durfte. Raab, sagt das Bild-Lager, leide darunter, dass er nicht so groß ins Blatt kam wie Guildo Horn. Und er gehöre offenbar zu einer neuen Generation von Stars, die selbst bestimmen wollen, wer wie über sie berichte. Jedenfalls sei er nicht halb so gut im Einstecken wie im Austeilen.

„Raab macht sich gegenüber Journalisten oft rar. Wir wollen nicht zulassen, dass die dann einfach Sachen erfinden“, sagt seine Managerin Gaby Allendorf. „Auf der Höhe, auf der sich Stefan jetzt befindet, müssen wir aufpassen, dass Leute ihn nicht für ihre Zwecke einspannen.“ Auf die Spitze treiben will sie den Streit nicht: Wenn Bild nicht nachlege, werde man die Sache auf sich beruhen lassen. Raab besteht nicht einmal mehr auf der Gegendarstellung. Im Herbst will er eine eigene Programmzeitschrift TV Total herausbringen — im Springer-Verlag. Und das ist halt der, in dem Bild erscheint.

Die Welt versteht uns

Süddeutsche Zeitung

Der Grand Prix – eine kleine, kollektive Wochenendpsychose.

Und so wird also im Mai ein finnischer Fernsehkommentator vor der Herausforderung stehen, seinen Zuschauern erklären zu müssen, was Wadde hadde dudde da heißt, wo da Sinn und Witz drin liegen, und was die Deutschen der Welt damit sagen wollen. Das ist nicht das Schlechteste. Hätte der Schlagersänger Marcel gewonnen, hätten die ausländischen Fernsehkommentatoren ihren Zuschauern übersetzen dürfen, was der nette junge Mann, der in drei Minuten nur zufällig mal den richtigen Ton traf, in Adios mit der Zeile meinte: „Nie war so tief jemand bei mir.“

Stefan Raab also fährt nach Stockholm: der Mann, der das Nicht-Ernstnehmen des Grand Prix ernst nimmt wie kein anderer. Mit einem albernen Lied, einer albernen Riesenbrille, albernen Riesenplateausohlen und einer albernen goldenen Uniform. Von über 1,5 Millionen Anrufern stimmten am Freitag bei der deutschen Vorausscheidung 57 Prozent für ihn. Das ist ein so riesiger Vorsprung, dass gleich die Diskussion wieder begonnen hat, ob man mit Handy, dessen Besitz besonders Raab-Fans zugesprochen wird, leichter durchkam als übers Festnetz. Aber er ist so riesig, dass solche Diskussionen unsinnig sind. Interessanter ist da schon die Frage, ob Wadde hadde dudde da nicht nach Say You’ll Be There von den Spice Girls klingt. Natürlich klingt es frappierend nach den Spice Girls. Man würde sich nicht wundern, wenn Raab eine Plagiatsaufregung einfach mal mit eingeplant hat.

Freitag abend also. Natürlich war es schrecklich. Da stehen diese traurigen hoffnungsvollen Figuren, üben sich in großen Posen und versuchen mit dünnen Stofffetzen von noch dünneren Stimmen abzulenken, vom grausamen Reglement zum Live-Gesang gezwungen. In einem Heim-Video treffen wir Marcel in seinem Wohnzimmer, wo er mit Vater und Mutter Reise nach Jerusalem um ein braunes Ledersofa spielt, (das wir bestimmt bald in TV total bei Raab wiedersehen). Die Lieder decken zwar mehr Musikstile ab als je zuvor, aber in jedem ihrer Heimatsegmente sind sie, wenn es sehr hoch kommt, Mittelmaß. Das meiste ist musikalisch so originell wie eine deutsche Version eines Cher-Hits von Mary Roos. Und am Ende stehen alle zusammen auf der Bühne, singen Thank you for the music von Abba und bei soviel Wir-sind-Konkurrenten-aber-haben-uns-trotzdem-lieb möchte man die Titelzeile schon aus Trotz für Ironie halten. Furchtbar.

Einerseits. Andererseits, mal angenommen, es müsse so etwas geben wie einen europäischen Schlagerwettbewerb. Wie sollte eine Vorentscheidung dann aussehen? Doch so: Mit einem Star, der die Menschen polarisiert und vor den Bildschirm treibt. Mit Verrückten, die ihr Plüsch-Keyboard zertrümmern und sich auf der Bühne wälzen, von einer durch genmanipuliertes Fleisch hervorgerufenen Verwandlung in ein Schwein singend (Knorkator, Platz vier!). Mit anderen Verrückten, die glauben, dieser Wettbewerb sei nachgerade dazu verpflichtet, junge Frauen gewinnen zu lassen, die in schwülstigen Arrangements von etwas Frieden oder ganz viel Gott singen (Corinna May, traf den Ton leider auch nur selten, aber das bombastisch, Platz zwei).

Mit vielen Interpreten, von denen man weiß, dass man nie mehr von ihnen hören wird, und wenn doch, dann nur, bis man den Knopf zum Umschalten gefunden hat (ein Gruseleffekt, der traditionell einer der Hauptgründe war, sich diese Vorentscheidung überhaupt anzusehen). Mit ein, zwei Newcomerbands von den Tausenden, die über die Dörfer ziehen und sehr ordentliche Musik machen, für die der Grand Prix die Chance ist, groß rauszukommen – wie in diesem Jahr für die Hamburger Band Kind of Blue, die den dritten Platz für ihr wirklich sehr schönes Lied Bitter Blue feierte, als wäre es ein erster. Mit einer perfekten Inszenierung. Und mit einem Medienhype, für den der ganze Zirkus überhaupt da ist. So gesehen: eine tolle Veranstaltung.

Das mit dem Keyboard-Zertrümmern fand die Bild am Sonntag in offenbar sehr verzweifelter Suche nach einem Aufmacher an einem stinklangweiligen Wochenende ganz, ganz schlimm. Und auch, dass da einer auf der Bühne geraucht hat. Grand-Prix-Senior Ralph Siegel hat – schon wieder – angekündigt, nie mehr teilnehmen zu wollen. „Ich fürchte, das Ausland lacht sich über uns kaputt“, kommentiert einer, der es wirklich wissen muss: Tony Marshall. Die deutsche Frage, was denn die Welt wieder von uns denken soll.

Ach, Tony: Die Welt, die versteht das schon! Am Freitag erzählte der britische Independent seinen Lesern die ganze Geschichte vom Maschendrahtzaun und bezeichnete Stefan Raab als den Mann, der den Deutschen ihren Sinn für Humor wiedergegeben habe. Womöglich wird Raab im Ausland gar nicht unter-, sondern sogar überschätzt. Aber wenn er doch beim Finale ganz hinten landen sollte, wie Siegel – der dort hinten schon war – prognostiziert, dann wäre das auch nett: Mal gucken, was er dann wieder daraus macht.

Gaga? Nur äußerlich!

Süddeutsche Zeitung

Hinter ihrer Prolo- und Fäkalfassade ist die Grand Prix Vorauswahl betrüblich bürgerlich.

Fußball ist unser Leben, und der Grand Prix auch. Nicht für dieselben Leute, klar, auch nicht für ganz so viele, aber doch. Der europäische Schlagerwettbewerb ist genau so unendlich wichtig wie eine Europameisterschaft. Und natürlich genau so unendlich egal. Aber erheben sich vor dem Endspiel oder nach einem 0:3 gegen Kroatien mahnende Stimmen, die sagen: „Regt Euch ab, ist doch nur Fußball?“ Also.

Der Grand Prix ist eine ernste Sache. Er ist wichtig, für ein paar Tage wenigstens, viel länger hält die Aufregung beim Fußball auch nicht an. Danach bleiben von der Schande nur noch geseufzte Kurzverweise, wie „Cordoba 1978!“ (Fußballpleite gegen die Ösis) oder „Berti 1998!“ (Fußballpleite bei den Franzosen) oder „Dublin 1995!“ (Grand Prix-Pleite bei den Iren). So ist das. Es mag ganz großartig sein, wenn Stefan Raab „für Deutschland“ singt. Oder ganz furchtbar. Nur egal ist es nicht, was heute abend so beim deutschen Countdown (20.15 Uhr, ARD) passiert. „Die Politik stellt sich selbst eine Bankrott-Erklärung aus, und wir schicken dann zu allem Überfluss womöglich noch Herrn Raab nach Stockholm“, schreibt einer vorab im Internet ins Gästebuch des Grand-Prix-Fanclubs, sowie den bemerkenswerten Satz: „Als ob die Deutschen in ihrer Geschichte nicht schon genug Schlimmes erlebt hätten . . .“

So schlimm wie dieses Jahr war’s noch nie. Aber das war schon immer so. 1995 wegen Stone & Stone, die später exakt einen Punkt bekamen. 1998 wegen Guildo Horn. 1999 wegen nicht mal Guildo Horn. Seit der MDR 1994 drei Babyhupfdohlen namens Mekado nominierte, die „Wir geben ’ne Party“ trällerten, ist es für Deutschland und den Grand Prix überhaupt schwer geworden, so schlimm zu sein wie noch nie. Bild aber hat die diesjährige Vorentscheidung schon zum „Gaga-Grand-Prix“ erklärt. Also ist es, wenn schon nicht schlechter, wenigstens anders als je zuvor. Stimmt, sagt Jürgen Meier-Beer, Leiter der TV-Unterhaltung beim NDR und Grand-Prix-Beauftragter der ARD. Anders, weil die Titel bis vor einer Woche nicht gespielt werden durften. Deshalb habe niemand über die Musik schreiben können, sondern alle nur über das Image der Beteiligten.

Auftritt Knorkator, fäkalverliebtes Trio mit tätowierter Haut. Auftritt Lotto King Karl, angeblicher Hamburger Aufsteiger Vom-Gabelstaplermonteur-zum-Millionär mit eigentlich unerklärlicher Mediendauerpräsenz. Auftritt Stefan Raab, Profi-Provokateur und Komponist von „Guildo hat Euch lieb“. Auftritt Fancy, aus den 80er Jahren gefallener „King of Disco-Fox“. Auftritt E-Rotic, großbusige Blondinentruppe („Greatest Tits“). Gaga? Keine Frage. Äußerlich.

Dann singen sie, und man wünschte sich, sie wären wirklich Gaga. Aber Fancy hat jemand ein Stück geschrieben, das sich anhört, als sänge die Fußballnationalmannschaft „Go West“. Lotto King Karl erinnert daran, dass man für Geld nicht alles kaufen kann, besonders keine Stimme. Stefan Raab beherrscht als viel beschäftigter Medienprofi das Gesetz der Aufwandsminimierung und hat sich mit einem durchschnittlichen Ritt auf der aktuellen Earth-Wind-and-Fire-leben-doch-noch-Welle beschränkt. Und bei Knorkators „Ick werd‘ zun Schwein“ wollte einer ein bisschen auf Ramstein machen, nun klingt das Ganze noch dümmer als das Original. Dass Bernd Meinunger und Ralph Siegel („Ein bisschen Frieden“) ihnen Talent und Können bescheinigen, muss dazu kein Widerspruch sein. Die Lieder sind furchtbar peinlich oder furchtbar eingängig, meist aber furchtbar belanglos. Und das ist doch eigentlich das, was man von einer deutschen Vorentscheidung zum Grand Prix erwartet – neben Meldungen wie der in der Schlager-Prawda Bild, dass Siegel den Proben in Bremen zeitweise wegen einer Diarrhö fern bleiben musste.

Allerdings ist nur ein echter deutscher Schlager dabei: Marcel, der tapfer versucht, bei seinem Refrain „A-a-a-adios, u-u-u-mon-amour“ ernst zu bleiben. Meier-Beer ist stolz: „Endlich bilden wir das Spektrum der Musik einigermaßen ab.“ Mit Ausnahme des Hip Hop. Eingereicht werden die Titel von den Plattenfirmen. Die meisten Beiträge sprechen dafür, dass dort ein Praktikant mal eben das Demotape seines besten Freundes weiter geleitet hat. Das ist aber gar nicht so. „Das ist in jeder Firma Chefsache“, sagt Meier-Beer: „Wenn ein Titel floppt, sind die blamiert.“ Und dass die Künstler, äh, Teilnehmer in diesem Jahr versuchen, sich mit zur Schau gestellter Gleichgültigkeit zu überbieten, sollte man ihnen nicht abnehmen: „Die haben alle Riesenschiss, nicht zu gewinnen.“ Was wiederum unnötig wäre, weil doch vor zwei Jahren Rosenstolz und Die drei Tenöre nur zweite und dritte wurden, aber hinterher viel mehr Platten verkauften als der große Sieger Guildo Horn.

Knorkator haben übrigens gestreut, sie würden bei ihrem Auftritt in Bremen auf der Bühne onanieren – aber so ein Gerücht reicht inzwischen auch nicht mehr für eine Meldung auf der ersten Seite im Boulevard. Wer heute abend einschaltet, um einen Skandal zu sehen, diesen oder einen anderen, wird enttäuscht.

Guildo Horn

Süddeutsche Zeitung

Unser Mann in Birmingham. Wie der Schlagersänger Guildo Horn mit Hilfe der Medien unschlagbar wurde.

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Der neue Meister des Grand Prix ist klein, hat seine Haare auf Millimeterlänge rasiert, trägt graue Anzüge und heißt Johannes Kram. Ein paarmal ist er dem alten Meister des Grand Prix, Ralph Siegel, vor der Veranstaltung in die Arme gelaufen. Der hat ihn an sich herangezogen und den Journalisten vorgestellt als den Mann, der eigentlich den Preis verdient hätte: für die geniale PR-Kampagne. Kram hat leicht gequält gegrinst, etwas gemurmelt von ‚Möge der Bessere gewinnen‘ und sich entschuldigt.

Johannes Kram ist der Manager, der die Nußecke in die deutsche Medienwelt gebracht hat. Regelmäßig zelebriert sein Schützling Guildo Horn seine Liebe zu diesem Gebäck der Mutter — eines von vielen Ritualen, die den Rummel um den Künstler ausmachen, der am Donnerstag die deutsche Vorausscheidung zum europäischen Schlagerwettbewerb gewonnen hat. Am 9. Mai vertritt er Deutschland in Birmingham. Horn ist 35 und zieht seit sieben Jahren mit seiner Band Die orthopädischen Strümpfe durch Dörfer und Städte. Zum Geheimtip wurde er nicht nur dadurch, daß er als einer der ersten das Potential entdeckte, das der deutsche Schlager der 70er und 80er als Popkultur für die Jugend der 90er hat. Sein Auftreten mit wirrem Haar, nacktem, speckigem Oberkörper und Kostümen, die jede Geschmacksgrenze sprengen, ist zu skurril, um ernstgenommen zu werden. Und seine Musik und Show sind zu gut, um ihn als bloße Comedy abzutun, die den Schlager lächerlich macht.

Was skeptische Beobachter ins Grübeln bringt, läßt die Fans rasen. Seine Fans nennen ihn „Meister“ und unterstützten ihn bei der Vorentscheidung in Bremen mit „Guildo für Deutschland“-Rufen, Spruchbändern und T-Shirts. Horn weiß, was er tut: Er hat Pädagogik studiert, Musik- und Theaterarbeit mit Behinderten gemacht und seine Diplomarbeit über „Die Befreiung von der Vernunft“ geschrieben.

Seit drei Wochen spaltet Guildo Horn angeblich die Nation und eint die Medien. Damals titelte die Bild-Zeitung „Darf dieser Mann für Deutschland singen“ und befragte ein paar ausrangierte Schlagersänger, die mit einem empörten „Oh mein Gott, wo kämen wir denn da hin?“ antworteten. Der Artikel sorgte dafür, daß außer der überschaubaren Masse ursprünglicher Guildo-Anhäger auch Gegner von Bild und des klassischen Schlagers aktiv wurden, und erfüllte damit genau seinen Zweck. Johannes Kram und sein Team hatten ihn selbst geplant. Exklusiv arbeiten sie mit dem Blatt zusammen, dessen Reporterin ihm sogar die Haare föhnen darf.

Am Tag der Entscheidung legte Bild noch mal nach: „Dramatischer Zwischenfall: Guildo Horn — Notarzt! Klinik!“ Der Sänger hatte sich mit einem Handtuch die Augen gerieben, auf dem ausgerechnet der Siegel-Klan Rheumasalbe zurückgelassen haben soll. Daß das rechtzeitig zur Endphase der Proben und vor der Abreise zur Harald-Schmidt-Show ein Unfall gewesen sein könnte, glaubt in Bremen zwar niemand — spielt aber auch keine Rolle: Horn hatte die erste und die letzte Schlagzeile vor der Grand-Prix-Wahl. Er gewann die Abstimmung mit 62 Prozent der TED-Anrufe.

Dazwischen lagen drei Wochen, in denen die meisten Medien in eine kollektive Hysterie verfielen. „Es war eine Entscheidung der Menschen auf der Straße“, sagte Guildo Horn nach seinem Sieg, den er als „Perestrojka“ des deutschen Schlagers sieht. Das ist bei 420 000 Fans, die für ihn stimmten, unbestreitbar. Wäre dies ein Umsturz nach osteuropäischem Vorbild, hätte das Volk allerdings mit tatkräftiger Unterstützung durch Prawda und fast allen anderen Medien des Landes gekämpft. Viele Fernsehsender und Zeitungen brachten die Bild-Geschichte in Variationen. 40 Interviews habe er in den vergangenen Tagen gegeben, sagte Peter Plate von der Gruppe Rosenstolz, die den zweiten Platz belegte, in 20 sei es nur um Horn gegangen. Die meisten Jugendradios riefen ihr Publikum dazu auf, massenhaft für Guildo zu stimmen. Sie bejubelten, daß da endlich jemand aufgetaucht ist, der die für sie immer größere Unerträglichkeit des deutschen Grand Prix gleichzeitig personifiziert und persifliert. Und Viva-Moderator Stefan Raab, der besonders heftig für Horn warb, verriet erst zum Schluß, daß er selbst als Komponist und Produzent von Horns Titel Guildo hat euch lieb hinter dem Pseudonym Alf Igel steckt.

Die Wucht der Medienmaschinerie, die er selbst mit in Bewegung gesetzt hatte, überrollte schließlich auch Johannes Kram. Daß die Medien Guildo, und zwar nur Guildo wollten, überfordete nicht nur sein Team, sondern gefährdete auch das Image von Horn als nettem Irren unter lieben Schlagerkollegen. Am Ende zog Kram ein überraschendes Fazit: „Beschämt“ habe ihn die Unfähigkeit der Medien, noch andere Themen zu behandeln. Dasselbe Wort wählte NDR-Organisator Jürgen Meier-Beer. Er freute sich über das Interesse und die doppelt so hohen Quoten wie üblich (knapp acht Millionen). Die Bedeutung, die dem Ereignis beigemessen wurde, treibt ihn aber zur Aussage: „Das hier hat größere Dimensionen als die Niedersachsenwahl.“

Selbst seinen Sender NDR 2 konnte er nicht davon abhalten, längere Auszüge aus Horns Stück zu spielen — obwohl das Reglement das untersagt. Fast alle Fernsehsender zeigten Horns Auftritt vorab. Die „Wettbewerbsverzerrung“, die Ralph Siegel beklagte, interessierte im allgemeinen Horn-Fieber niemanden.

Manager Kram versuchte, gegen die schlechte Stimmung hinter den Kulissen zu kämpfen und sagte den Konkurrenten, sie hätten sich ja auch eine nette PR-Strategie überlegen können. Er erntete ein müdes Lächeln: Ein solches Produkt, mit dem das möglich gewesen wäre, hatte keiner zu bieten. „Der Grand Prix hat den skurrilen Reiz, Popmusik und so was wie nationale Ehre miteinander zu verbinden“, versucht Meier-Beer eine Erklärung. „Das Thema Horn funktioniert hervorragend, weil es eine Provokation auf beiden Ebenen darstellt.“ Ein Reporter der Berliner B.Z., die als eines der wenigen Blätter Front gegen Horn machte, meinte, der Medienrummel beruhe schlicht auf Faulheit, sich die Mühe zu machen, andere Themen zu recherchieren. Denn nicht nur Horn brachte neue Ideen und bereitete den Siegelschen Produkten ein Debakel. Fokker sang: „Sie trat mir in die Hoden, in mein Leben trat sie nicht.“ Auch Die drei jungen Tenöre und der Punk-Pop von Maria Perzil sprengten die Grenzen der bis dahin bekannten Grand-Prix-Kunst. Gegen die Medienmacht für Horn hatten sie keine Chance. „Ich hätte mich schon gefreut, wenn wir gewonnen hätten“, sagte Rosenstolz-Mann Plate. Vor der Abstimmung.