Die Zukunft des Journalismus

Alan Rusbridger, Chefredakteur der (von mir heißgeliebten) britischen Tageszeitung „Guardian“, hat vor Zeitungs-Ombudsleuten eine Rede über „Ombudsmänner in der digitalen Zukunft“ gehalten, in der er bemerkenswerte Dinge sagte über den Journalismus, wie sich seine Natur gerade rasant verändert und wie Journalisten und Medien darauf reagieren müssen:

(…) As journalists, we’re doing well if we confine ourselves to being truthful about what we know, which is often (through no fault of our own) fairly circumscribed. We’re doing better if we’re also truthful about what we don’t know. We should always be uneasy at grandiose boasts that we’re revealing The Truth.

(…) handing down tablets of stone and telling people „this is how it is” is a less persuasive proposition than it once was.

(…) the readers, users — call them what you will – have now got such good real time access to much of the information which was once our exclusive preserve. By that I mean that the traditional news media were, on the day, (and, indeed, for most people at all) the only source of information. A speech, a debate, a report, a scientific paper – most people had few independent ways of verifying a newspaper or broadcast account, certainly on the day it was published or broadcast. Now a huge amount of information is simultaneously released on official websites, enabling millions of people to check your version of events against the original.

What does that mean? It means that inquiring, suspicious or specialist readers (by which I mean people with a particular interest in a particular subject) will swiftly be able to test your journalism for accuracy or bias against any published information. Of course, we still have sources of information not available to just anyone. But today there are millions of fact checkers out there. Millions of them have their own blogs or websites. So we can refuse systematically to correct or clarify our journalism, but we would be foolish to imagine that it will therefore go uncorrected or unclarified. It will: all that will happen is that it will take place elsewhere.

And, of course, that will still happen even if you do have your own processes in place. The question editors have to face is: is it not a bit uncomfortable knowing that your failings may be revealed and widely discussed elsewhere, with not a word appearing in your own newspaper or on your own channel? Which is the road to building trust — engaging or ignoring?

(…) in truth, a passionate debate is raging out there in a way which many mainstream journalists have not quite yet appreciated. At times it feels more like a cacophony than a debate, it’s true. But various technological and economic forces are bearing down on what we do so forcefully and, frankly, so fast, that the very nature of journalism is being challenged in fundamental ways that have yet to filter back into more conventional print-focused newsrooms.

As with all these developments, so-called old media has a decision to make — whether to stand aloof from them and basically say „that’s not what we do.“ Or else to try it out on the basis that it might, indeed, not be what we do, but there are some things we can learn from it, or which might impact on us. And of course there is a third possibility: that we try it out and decide that that’s exactly what we should be doing. (…)

Die außerordentlich lesenswerte Rede Rusbridgers im Original und in der Zusammenfassung von Deborah Howell, Ombudsfrau der „Washington Post“.

Ahnungslose Hassprediger

Ich bin mir nach all den Monaten immer noch nicht sicher, ob ich es beruhigend oder beunruhigend finde, dass bei den Hasspredigern des erfolgreichen Anti-Islam-Blogs „Politically Incorrect“ die Ahnungslosigkeit immer noch größer ist als der Hass.

Wenn der Grünen-Politiker Volker Beck und andere beim Versuch, in Moskau für Versammlungsfreiheit und Grundrechte für Schwule und Lesben zu demonstrieren, geschlagen und zeitweise festgenommen werden, erntet er von „PI“-Macher Stefan Herre und seinen Mitstreitern dafür nur Häme und Beschimpfungen. Unter dem Eintrag überbieten sich „PI“-Stammkommentatoren in schwulenfeindlichen Kommentaren: Sie nennen Beck eine „dämliche *****tel“ („bah was widert einen dieser Typ an: kotz brech würg“), „Sodomist“ und „bekennenden Pädophilen“, malen sich aus, wie er im Iran mit einem „seiner warmen Brüder“ am Baukran erhängt wird, und nennen Homosexualität einen „genetischen Defekt“. Das ist der Hass.

Und das ist die Ahnungslosigkeit: „PI“-Macher Stefan Herre wirft Beck vor, dass er nach Moskau reist, anstatt sich „zur Abwechslung einmal für die Versammlungsfreiheit der Schwulen und Lesben in Kreuzberg oder Neukölln“ [einzusetzen]. Herre suggeriert, dort könne keine Schwulenparade stattfinden — wegen der dort herrschenden und durch die Grünen mitzuverantwortenden „islamischen Gegenkultur“. Und Dutzende Kommentoren empören sich mit Herre darüber, was das für ein Skandal ist, dass in Kreuzberg und Neukölln keine Schwulen demonstrieren können wegen der vielen Moslems. Und keiner lässt sich das schöne Vorurteil dadurch kaputt machen, dass Schwule und Lesben seit 1998 jährlich durch Kreuzberg und teilweise Neukölln ziehen und demonstrieren und feiern: Auf dem „Transgenialen CSD“.

Turi stolpert beim Tanz durchs Minenfeld

[Disclosure: Peter Turi war vor vielen Jahren ein Auftraggeber von mir; José Redondo-Vega ist vor etwas weniger Jahren — weitgehend erfolgreich — juristisch gegen einen Artikel von mir vorgegangen; mit ix bin ich befreundet. Man könnte diesen Eintrag also als persönliche Angelegenheit verstehen. Das wäre aber ein Missverständnis.]

In den vergangenen Tagen sind ein paar Dinge aus dem Internet verschwunden. Eine Art Jugendfoto von Don Alphonso auf den Online-Seiten von „Vanity Fair“ zum Beispiel (verkleinerter und verfremdeter Screenshot rechts). Und aus dem Artikel namens „Minenfeld 2.0“, den es bebilderte, fünf Wörter:

Auftritt Don Alphonso, selbsternannter Rächer der Entbehrten, Beschützer von Web-Witwen und Waisenknaben. Heißt im wahren Leben Rainer Meyer, lebt vom Erbe seiner Eltern und dem Glauben, dass ohne ihn die Blogosphäre unter die „Johurnaille, PR-Nutten und Blog-Versager“ fällt.

Auch aus turi2.de, der „Seite für Medienmacher“ von Peter Turi, dem Autor des vanityfair.de-Artikels sind Foto und Textstelle ohne Erklärung entfernt worden.

Don Alphonso (oder Rainer Mayer) ist juristisch gegen beides vorgegangen. Das mit dem Erbe seiner Eltern sei in doppelter Hinsicht falsch, sagt er: Sie leben, und er lebt nicht von ihnen. Da geht es um Rufschädigung und falsche Tatsachenbehauptung. Und das Foto hätten Turi bzw. vanityfair.de rechtswidrig verwendet, dazu noch ohne Quellenangabe. Seine Abmahnungen haben offenkundig Wirkung gezeigt.

Es ist noch etwas verschwunden in den letzten Tagen aus dem Online-Auftritt von „Vanity Fair“: Turis Name in der Übersicht über die Blogs, die die Illustrierte anbietet. Das muss nicht unbedingt miteinander zusammenhängen, aber Tatsache ist: Aktuell gibt es keinen Hinweis darauf, dass die Medienkolumne „Turi am Sonntag“ auf vanityfair.de noch fortgesetzt wird.

Mindestens so interessant ist allerdings, was nicht verschwunden ist aus dem Online-Auftritt von „Vanity Fair“ und Turis Artikel: Mehrere falsche Aussagen über einen Rechtsstreit zwischen dem Blogger ix (Felix Schwenzel) und dem Kress-Verlag. Turis Blog-Einträge sind notorisch ungenau, und auch in diesem Fall hat er einige Behauptungen aufgestellt, die nachweislich nicht stimmen. Das ist für die Beteiligten besonders ärgerlich, weil es sich um einen laufenden Rechtsstreit handelt.

Turi wusste, bevor er den Artikel veröffentlichte, über die Fehler darin. Und der Redaktionsleiter von vanityfair.de, José Redondo-Vega, ist am Tag darauf von ix darauf hingewiesen worden. Als ix zwei Wochen später noch keine Antwort hatte und der Artikel unverändert dastand, fragte ich bei Redondo-Vega nach:

  • Ist es Politik von vanityfair.de, Artikel auch dann zu veröffentlichen, wenn sie fehlerhaft sind?
  • Ist es Politik von vanityfair.de, fehlerhafte Artikel auch nachträglich nicht zu korrigieren?
  • Antworten Sie grundsätzlich nicht, wenn Sie ein Betroffener auf Fehler in einem Artikel auf vanityfair.de hinweist, oder ist das nur im konkreten Fall so?

Redondo-Vega antwortete mir, dass die Klärung des Sachverhaltes laufe, er sich aber nur gegenüber den Betroffenen äußern werde. (Er lehnte meine Bitte ab, seine Antwort hier veröffentlichen zu dürfen.) Plötzlich bekam aber auch ix eine Antwort (die man ebenfalls nicht veröffentlichen darf), in der Redondo-Vega beteuerte, die Vorwürfe ernst zu nehmen und ix empfahl, niemandem mehr von der Angelegenheit zu erzählen (einen Grund, warum das in Felix‘ Interesse sein sollte, nannte er nicht). Redondo-Vegas Wunsch nach Akteneinsicht lehnte ix ab; seitdem hat er nichts mehr von vanityfair.de gehört.

Dafür bekam ich eine E-Mail von Peter Turi, der schrieb, er sei von Redondo-Vega gebeten worden, meine Mail zu beantworten. Seine Antwort lautet vollständig:

Mir ist die Zeit zu schade, um auf Mails ohne jedwede Substanz einzugehen.

Vielleicht fehlte ihm die Substanz, die Don Alphonso in Form eines Anwalts mitbrachte.

Wiederholungstäter V

(nur fürs Protokoll)

Oktober 2006. Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt über Blogs — und verwechselt Monate mit Tagen. Zwei Wochen später macht derselbe Autor denselben Fehler noch einmal.

Dezember 2006. „Jetzt.de“ schreibt über Blogs — und verwechselt Monate mit Tagen.

März 2007. Die „Fach“-Zeitschrift „werben & verkaufen“ schreibt über Blogs — und verwechselt Monate mit Tagen.

März 2007. Die Morgenzeitschrift „Tomorrow“ schreibt über Blogs — und verwechselt Zehntausend mit Tausend.

25. Mai 2007. Der Hamburger Kommunikationswissenschaftler Siegfried Weischenberg spricht über Blogs — und verwechselt Monate mit Tagen*:

[audio:http://www.stefan-niggemeier.de/weischenberg.mp3]

(Die Leute, die da im Hintergrund so fies lachen und ihre Ahnungslosigkeit zur Schau stellen, sind übrigens Journalisten, die glauben, es sei schlecht für das Volk, wenn sie ihr Informationsmonopol verlieren. Und ja, Weischenberg spricht danach auch noch von größeren und vermeintlich „interessanteren“ Blogs. Die ganze Deutschlandfunk-Sendung als mp3 hier.)

Um es noch einmal auszuschreiben: Man kommt laut einer Untersuchung von Jan Schmidt nicht mit 450 Lesern im Monat unter die Top 100 der deutschen Blogs, sondern mit 450 am Tag. Und selbst das reicht längst nicht mehr.

[via Medienblogger]

Blinde sorgen sich um Zukunft der Farbe

Auf Einladung des Deutschlandfunks diskutierte heute abend ein so genanntes „Medienquartett“ die Frage: „Verändern Leserreporter und Blogger den Journalismus?“ Es ist eine Sendung, die sich aufzuheben lohnt [mp3]. Schon um in ein paar Jahren, falls „der Journalismus“ tot aufgefunden werden sollte, belegen zu können, dass es sich nicht um Mord handelte, sondern um Selbstmord.

Das Gespräch begann (leicht gekürzt) so:

Moderator: Tissy Bruns vom „Tagesspiegel“ in Berlin, gibt es bei Ihnen auch Bürgerjournalismus?

Bruns: Es gibt ihn in Form von Teilnahme an Blogs. Es gibt in der Online-Abteilung des „Tagesspiegel“ Blogs, an denen sich natürlich nicht nur Redakteure beteiligen können.

Moderator: Warum? Haben die Journalisten nicht genügend zusammengebracht an interessanten Stoffen?

Bruns: Naja, das ist ja der Teil, der online läuft, also nicht in der gedruckten Zeitung selber erscheint.

Man muss Frau Bruns dankbar sein, dass sie einem gleich am Anfang eines solchen Gesprächs keine Illusionen lässt, dass sie für das Thema qualifiziert sein könnte. Offenkundig kennt sie die „Tagesspiegel“-Blogs nicht. Sie weiß nicht, dass sämtliche „Tagesspiegel“-Blogs von professionellen Journalisten geschrieben werden, überwiegend von „Tagesspiegel“-Redakteuren. Es gibt keinen Bürgerjournalismus in der „Online-Abteilung“ des „Tagesspiegel“.

Und zur Ahnungslosigkeit kommt Arroganz. Die gedruckte Zeitung ist das, worauf es ankommt. Online kann man natürlich allen möglichen Unsinn ausprobieren, scheint sie zu sagen, solange wir einen Damm haben, der unsere „gedruckte Zeitung“ vor irgendwelchen Ausflüssen schützt.

Moderator: Gibt es bei Ihnen denn auch Blogs zum Thema Doping beispielsweise?

Bruns: Ich hab jetzt heute leider nicht danach geguckt. (…) Ich würde mal auf Verdacht sagen: Ja. Weil die Erfahrung ist, immer wenn Themen dieser Art hochkommen in der Öffentlichkeit, also zum Beispiel Berliner Themen über Kindesmisshandlung, über die Frage, ob McDonald’s in Kreuzberg das erste Geschäft aufmachen darf, dann ist die [unverständlich] aus unserem Leser-Publikum besonders hoch. Insofern sag ich ungeschützt mal, es wird auch beim Doping-Thema besonders hoch sein.

Leider hat Frau Bruns nicht nur heute nicht danach geguckt, sondern auch gestern nicht, sonst hätte sie natürlich den Blog-Eintrag zum Thema gesehen. Insofern sag ich ungeschützt mal, Frau Bruns hat die „Tagesspiegel“-Blogs in ihrem ganzen Leben noch nicht besucht. Muss sie natürlich auch nicht, sie schreibt ja für die „gedruckte Zeitung“, und Blogs sind ja nur online. Und was die Erregung des Leser-Publikums mit der Frage zu tun hat, ob es einen entsprechenden Blog-Eintrag zum Thema gibt, bleibt völlig offen, es sei denn, man verwechselt „Blogs“ mit „Leser-Foren“ (die es aber beim „Tagesspiegel“ auch nicht gibt), mit Bürgerjournalismus (den es aber beim „Tagesspiegel“ auch nicht gibt) oder mit Kommentaren unter Artikeln (na also).

Als nächstes wurde Manfred Bissinger, Ex-Chefredakteur der Zeitschriften „Konkret“, „Natur“ und „Merian“, gefragt, ob die von ihm herausgebene und gegründete frühere Zeitung „Die Woche“ heute bei Blogs ganz vorne dabei wäre.

Bissinger: Damals [zu Lebzeiten der „Woche“] gab es das Internet auch schon und Internetauftritte, natürlich hat die „Woche“ auch da mitreagiert, aber wir haben keine Blogs gemacht, wir waren eigentlich mit unseren Leserbriefen zufrieden, das hat uns gereicht, und die Zeitung war nicht so auf Exhibitionismus angelegt wie Leserreporter, die auf Exhibitionismus angelegt sind.

Gut, Herr Bissinger hat offenbar gedacht, was Frau Bruns kann, kann ich schon lange, und sich noch schneller und noch weiter ins Aus geschossen. Leserreporter sind auf Exhibitionismus angelegt? Vielleicht meint er Voyeurismus, und hätte so pauschal trotzdem Unrecht. Wirklich entlarvend ist aber die Formulierung, „das hat uns gereicht“. Den „Woche“-Machern hat es es gereicht, ein paar Leserbriefe abzudrucken. Ob es den „Woche“-Lesern reichte? Who cares?

Bissinger: Bei der Schwierigkeit, in der sich Printmedien befinden, glaube ich nicht, dass es eine Lösung ist, dass man über Leserreporter oder Blogs versucht, da rauszukommen, weil: Das beschädigt die Glaubwürdigkeit noch mehr, die so Produkte haben. Und ich glaube, dass nur Kundenprodukte überleben können, wenn sie eine hohe Glaubwürdigkeit haben und wenn das Publikum das Gefühl hat, da bekomme ich etwas vorgesetzt, das nachgedacht, recherchiert, genau erörtert ist und da wird nicht nicht so was hingerotzt. Und Blogs sind ja eine Aneinanderreihung von persönlichen Befindlichkeiten von Leuten, die eigentlich für den Journalismus oder für die Öffentlichkeit keine wirkliche Bedeutung haben.

Da dies ein Blog ist, könnte ich nun natürlich ganz beleidigt sein. Aber ich sage das mal ganz ungeschützt: Herr Bissinger kennt dieses Blog so wenig wie irgendein anderes. Bissinger hat weder nachgedacht, noch recherchiert, noch etwas genau erörtert. Er hat, vermutlich aus persönlicher Befindlichkeit, irgendwelchen Unsinn in die Öffentlichkeit gerotzt. Und trotzdem wären die meisten Blogger, die ich kenne, beleidigt, wenn man sie mit Manfred Bissinger vergliche.

Ich habe danach ausgemacht. Ich habe es nicht mehr ertragen zuzuhören, wie Leute meines Berufsstandes, die sich für klug, professionell und vor allem sehr überlegen halten, ihre Ahnungslosigkeit und Untauglichkeit öffentlich so stolz zur Schau stellen.

Nachtrag, 29. Mai: Tissy Bruns antwortet auf meine Kritk.

Don’t Panic!

(via Lukas)

Nachtrag. Jojo Beetlebum ist bereit!

Nachtrag, 20.23 Uhr. Gut, heute morgen hätte das vielleicht ein bisschen albern aussehen können, mit einem Handtuch rumzurennen. Aber gerade, nachdem der Himmel mal so richtig gezeigt hat, was in ihm steckt, wäre ich damit echt der Größte gewesen. Geschieht mir recht.

9Live erklärt erstmals den „Hot Button“ (2.Update)

9Live hat in einer langen und schwer verständlichen Presseerklärung auf die Vorwürfe geantwortet. Der Sender räumt dabei (soweit mir bekannt) erstmals öffentlich ein, dass der „Hot Button“, der einen Anrufer ins Studio durchstellt, kein reines Zufallssystem ist, sondern wesentlich davon abhängt, wann der verantwortliche Redakteur diesen Mechanismus auslöst. Das genaue Verfahren sei der Aufsichtsbehörde BLM ebenso bekannt wie der Staatsanwaltschaft München, behauptet 9Live.

Damit steht nun Aussage gegen Aussage. Wolfgang Flieger, Sprecher der BLM, sagte der „Berliner Zeitung“: „Wir wissen nicht im Detail, wie diese Technik funktioniert.“

Darüber hinaus stelle ein Zufallsmechanismus sicher, so 9Live, dass gelegentlich auch vor dem vom Redakteur bestimmten Zeitpunkt Anrufer ins Studio durchgestellt werden können. Deshalb habe jeder Anrufer jederzeit eine Gewinnchance. Wenn das stimmt, muss dieser Zufallsmechanismus auf extrem kleine Gewinnchancen eingestellt sein. Anders ließe es sich nicht erklären, warum oft über Stunden kein Anrufer ins Studio gestellt wird.

Dass es der Redakteur ist, der maßgeblichen Einfluss darauf hat, wann der „Hot Button“ „zuschlägt“, scheint auch 9Live endlich nicht mehr wirklich zu bestreiten. Der Sender erklärt, es sei „ganz offensichtlich, dass es allein der Redakteur“ (und nicht der Moderator) „der eigenverantwortlich und nach strengen Maßstäben die Entscheidung über die Aktivierung des Zufallsmechanismus ‚Hot Button‘ trifft“. Und hier zum Vergleich die Aussage von 9Live-Moderator Robin Bade am 18. Mai live auf 9Live:

„Auf den Hot-Button hat niemand Einfluss. Und wer das behauptet, der lügt und hat keine Ahnung, glauben Sie mir.“

Oder in den Worten von 9Live-Sprecherin Sylke Zeidler: „9Live (…) ist (…) auch im Hinblick auf die Verantwortung gegenüber seinen Zuschauern Marktführer im Bereich des Mitmachfernsehens.“

Nachtrag, 25. Mai, 9.40 Uhr. Keine Frage, die 9Live-Erklärung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Mindestens in einem entscheidenden Punkt scheine ich sie missverstanden zu haben. Gelegentlich scheint man beim Anrufen bei 9Live, wenn der „Hot Button“ noch nicht „zugeschlagen“ hat, nicht die übliche Ansage zu bekommen, nicht gewonnen zu haben, sondern etwa folgenden Satz: „Noch hat der Hot Button nicht zugeschlagen. Sie haben die Möglichkeit, sich zu registireren und die Chance, später zurückgerufen zu werden und Ihre Lösung zum laufenden Spiel dennoch zu nennen. Sind sie damit einverstanden wählen Sie die 1.“ Auf diese Weise würde ein Redakteur zwar ganz alleine entscheiden, ob zum Beispiel drei Stunden lang niemand durchgestellt wird. Aber wenn nach drei Stunden jemand durchgestellt wird, könnte es auch jemand sein, der schon zwei Stunden früher angerufen hatte. Insofern wäre die 9Live-Behauptung richtig, dass jeder Anrufer zu jeder Zeit gewinnen könne. Wie groß diese Wahrscheinlichkeit ist, sagt 9Live nicht.

Nachtrag, 25. Mai, 18.05 Uhr. 9Live hat mir gegenüber diesen Ablauf mit dem Rückruf bestätigt. Die Ansage, die einzelne, zufällig ausgewählte Mitspieler hören, die vor dem „Zuschlagen“ des „Hot-Button“ angerufen haben, laute genau:

„Noch hat der Hot Button nicht zugeschlagen. Gleich noch mal versuchen. Außerdem haben Sie nun die Möglichkeit, sich zu registrieren. Mit etwas Glück rufen wir Sie zurück. Sie erhalten dann eine neue Chance, die aktuelle Gewinnspielfrage zu beantworten. Wenn Sie damit einverstanden sind, dann drücken Sie jetzt bitte die 1.“

Wie hoch die Chance ist, diese Ansage zu hören, wollte 9Live nicht sagen.

CallActive will Kritiker mundtot machen

Es ist ja nicht nur 9Live.

Da gibt es auch noch Stephan Mayerbacher und seine Firma CallActive, die täglich im Auftrag von MTV dubiose Anrufsendungen produziert. Zu den Spezialitäten seiner Sendungen, die von Frauen moderiert werden, die man nicht „Animösen“ nennen darf, gehört es, über einen längeren Zeitraum mit sehr hohen Gewinnsummen zu locken, die später wieder reduziert werden. Während der Phasen mit hohen Gewinnsummen wird oft niemand durchgestellt. Oder, wenn doch, ist auffallend oft niemand dran, jemand legt sofort wieder auf, der Anrufer ist nicht zu verstehen oder er gibt (selbst bei leichten Rätseln) eine grotesk falsche Antwort.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese merkwürdigen Anrufe zufällig zu diesen für CallActive günstigen Zeiten so ballen, ist gering. Wer die Sendungen häufig sieht, kommt fast zwangsläufig auf den Gedanken, diese Anrufe würden vom Veranstalter gefälscht.

Als im Forum call-in-tv.de, das sich intensiv mit den entsprechenden Shows beschäftigt, diese merkwürdigen Anrufe aus naheliegenden Gründen „Fake-Anrufe“ genannt wurden, ging Stephan Mayerbacher aus ebenso naheliegenden Gründen dagegen vor. Marc Doehler, Betreiber des Forums, musste eine Unterlassungserklärung abgeben. Nun ja: Der Beweis, dass es sich wirklich um „Fake-Anrufe“ handelt, ist schwer und wäre wohl nötig.

Um zu verhindern, dass andere Forennutzer weiter das verbotene Wort benutzten, baute Doehler in das Forum eine Sperre ein: Begriffe wie „Fake-Anrufer“ werden von der Software automatisch in „verwirrte Anrufer“ umgewandelt.

Dennoch wurde Doehler gestern wieder von CallActive abgemahnt. Meyerbachers Anwalt schreibt:

„Inzwischen hat sich (…) auf der Website der Begriff ‚verwirrte Anrufer‘ als Synonym für ‚Fake-Anrufer‘ durchgesetzt. Jeder User weiß, dass mit ‚verwirrte Anrufer‘ tatsächlich ‚gefakte‘ Anrufe gemeint sind, und die User benutzen inzwischen den Begriff ‚verwirrte Anrufer‘ auch entsprechend.

Bei den von unserer Mandantin produzierten Programmen gibt es keine gefälschten bzw. gefakten Anrufe. Durch die bewusste Verwendung des Wortes ‚verwirrte Anrufer‘ für ‚Fake-Anrufe‘ behaupten Sie aber gerade dies.“

Doehler wird aufgefordert, es künftig zu unterlassen,

„unter Bezug auf Quizsendungen in den Fernsehprogrammen VIVA plus [gemeint ist vermutlich Viva], NICK oder Comedy Central, zu behaupten und/oder behaupten zu lassen,

dort gäbe es ‚verwirrte Anrufer‘, insbesondere wenn dieser Begriff ‚verwirrte Anrufer‘ als Synonym für ‚Fake-Anrufe‘ verwendet wird.“

Als Gegenstandswert haben die Anwälte 50.000 Euro festgelegt; allein für die Abmahnung verlangen sie daher von Doehler 1379,80 Euro.

Nachtrag: Marc Doehler wird die geforderte Unterlassungserklärung nach Angaben seines Anwaltes nicht abgeben.

BLM kapituliert vor 9Live

Die Bayerische Landesmedienanstalt (BLM) hat 9Live nichts vorzuwerfen.

Dass Alida live on Air zu hören war, wie sie offenbar dem Redakteur empfahl, den Hot Button noch nicht auszulösen, stelle keinen Verstoß gegen die Gewinnspielregeln dar:

Zum aktuellen Fall, bei dem der Eindruck erweckt wurde, dass eine Moderatorin von 9Live direkt Einfluss nimmt auf das Auslösen des sog. Hot Buttons, erklärte Ring, dass der Sender diesen Eindruck in seiner Stellungnahme plausibel widerlegt hätte. Da nach den Äußerungen der Moderatorin, den Hot Button nicht auszulösen, kurze Zeit später eine Anruferin in die Sendung gestellt wurde, muss die Landeszentrale davon ausgehen, dass der Redakteur die Entscheidung über die Aktivierung des Zufallsmechanismus eigenverantwortlich getroffen hat und insoweit kein Verstoß gegen die Gewinnspielrichtlinien vorliegt.

Nochmal langsam zum Mitdenken: Die BLM erklärt, weil nicht die Moderatorin, sondern der Redakteur den „Hot Button“ auslöst, ist das Verfahren in Ordnung. Als spiele das irgendeine Rolle. Die Frage ist nicht, ob die Moderatorin oder der Redakteur oder die Schwippschwägerin von Edmund Stoiber den Hot Button auslösen. Die Frage ist: Ist der „Hot Button“ ein Zufallsmechanismus, der jederzeit „zuschlagen“ kann, wie die Moderatoren auf 9Live und den anderen Sendern quasi ununterbrochen suggerieren. Oder wird der Zeitpunkt, zu dem er „zuschlägt“, von einem Menschen bestimmt, wie es ehemalige Mitarbeiter, langjährige Beobachter, sämtliche Kenner behaupten.

Die BLM ist entweder noch weniger kompetent, als ich bisher angenommen habe. Oder sie hat sich in ihrer Doppelrolle, die Privatsender sowohl zu kontrollieren, als auch ihre Interessen zu vertreten, klar für das zweite entschieden.

Selbst die Kollegen vom Medienmagazin DWDL, übertriebener Polemik unverdächtig, nennen die BLM-Entscheidung „unerklärlich“. Ihre Stellungnahme gehe „völlig am Thema vorbei“.

Lesetipp in eigener Sache: Schafft die Landesmedienanstalten ab!

Nachtrag, 16.50 Uhr. Laut DWDL hat die BLM wirklich nicht kapiert, worum es ging, und dass es auch ein Problem darstellt, wenn nicht der Moderator, sondern ein Redakteur den „Hot Button“ „eigenverantwortlich“ auslöst:

Dr. Wolfgang Flieger, Pressesprecher der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien, räumt auf Anfrage des Medienmagazins DWDL.de ein, dass man dieser Frage nicht nachgegangen sei und dies Anlass einer neuen Prüfung werden müsse.

Hilfe.

Ein Anschlag auf Diekmanns Kindersitze?

Ich habe eine Frage, was den Brandanschlag auf das Auto von „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann angeht.

dpa berichtete gestern mehrmals unter der Überschrift „Familienauto mit Kinderwagen und Kindersitzen verbrannt“. AP meldete: „In dem Mercedes-Kombi befanden sich drei Kindersitze und ein Kinderwagen.“ Der Sprecher des Axel-Springer-Verlages erklärte: „Es handelt sich um den Privatwagen von Herrn Diekmann mit drei Kindersitzen, nicht um eine Dienstlimousine.“ Diekmann selbst sagte: „Das war kein Luxusauto, sondern ein Familienkombi.“

Was ich nicht verstehe: Welche Relevanz haben diese Kindersitze?

Als Detailschilderung in einer Reportage würde ich es verstehen; auch als Mittel, den Leser dazu zu bringen, den Menschen hinter dem Amt des „Bild“-Chefredakteurs zu sehen. Aber in nachrichtlichen Agenturmeldungen? Oder als fast einzige Aussage des Arbeitgebers des Opfers zum Thema überhaupt? Wäre der Inhalt des Autos auch so prominent erwähnt worden, wenn es sich um eine Gitarre, eine Tauchausrüstung, die Gesamtausgabe des Brockhaus gehandelt hätte? Schon klar, die Kindersitze sind nur ein Symbol, aber wären Anschläge gegen kinderlose oder gar kindersitzlose Menschen weniger zu verurteilen?

Und welchen Unterschied macht es, dass das Auto Diekmanns Privatwagen war? Wäre es weniger schlimm gewesen, seinen Dienstwagen anzuzünden? Reicht es nicht, dass das Fahrzeug unmittelbar vor seinem Haus stand, um keine Zweifel daran zu lassen, dass der Anschlag im bedrohlichsten Sinne persönlich gemeint war?

Der Chefredakteur des „Hamburger Abendblatts“ ließ seinen Kommentar zum Thema in dem Satz gipfeln: „Brennende Kindersitze in Privatautos kann und will ich mir als Teil der politischen Auseinandersetzung bei uns nicht vorstellen.“

Ja, Himmel, aber brennende Angelausrüstungen in Dienstwagen von Singles doch hoffentlich auch nicht!