Noch mehr Nachhilfe von ddp

Vielleicht ist es keine gute Idee, dass bei der Nachrichtenagentur ddp der Stellvertreter des Chefredakteurs, Rainer Höhling, für die Beantwortung von Leseranfragen zuständig ist. Vielleicht ließe sich jemand im Haus finden, der es schafft, diplomatisch, freundlich und gelassen auch auf harte Kritik zu reagieren, und nicht gleich zurückpöbelt und eklig herablassend wird oder sogar mit dem Anwalt droht. Vielleicht ist das aber auch so gewollt, um die Leute abzuschrecken und einzuschüchtern. Schließlich sind die Kunden der Nachrichtenagenturen ja die Medien und nicht die Leser, die sich neuerdings einbilden, überall mitreden zu können.

Herr Höhling hat also noch mehr Nachhilfestunden gegeben. Da beschwerte sich ein Leser, weil ddp berichtete habe, dass an der Demonstration „Freiheit statt Angst: Stoppt den Überwachungswahn“ in Berlin nur 2000 Menschen teilgenommen hätten, obwohl selbst die Polizei von 8000 gesprochen habe. Und, ja, der Leser hat ein paar Dinge durcheinander gebracht, und Herr Höhling musste sehr, sehr pädagogisch werden und gleich mehrmals mit dem Anwalt drohen, denn der Vorwurf, eine Agentur berichte falsch, sei rufschädigend, und das könne sich ddp nicht gefallen lassen, denn dort arbeitet man meistens korrekt, und wenn nicht, gibt man es offen zu. (Bitte lachen Sie hier.)

Richtig ist: Fast alle Nachrichtenagenturen berichten am Samstagnachmittag zunächst von 2000 Demonstranten. Aber laut abendschaublog spricht die Polizei „gegen 17 Uhr von rund 8000 Demo-Teilnehmern“. Um 17.20 Uhr ist man bei ddp noch bei 2000.

Um 18.01 Uhr meldet AP: „8.000 demonstrierten gegen Vorratsspeicherung von Daten“. Um 18.12 zitiert tagesschau.de einen Polizeisprecher mit der Angabe „mehr als 8000 Teilnehmer“. Um 18.29 Uhr berichtet „heise online“, die Polizei habe die Zahl der Demonstranten anfangs auf 8000 geschätzt und dann nach oben korrigiert. In der „Abendschau“ um 19.30 Uhr wird die Zahl 8000 genannt. Danach habe ich keine Agenturmeldung mehr gefunden, die von 2000 Demonstranten spricht.

Außer der Morgenzusammenfassung von ddp um 4.15 Uhr am Sonntag, in der es unbeirrt heißt: „Rund 2000 Menschen haben nach Polizeiangaben gestern in Berlin unter dem Motto «Freiheit statt Angst» gegen die Verschärfung der Sicherheitsgesetze demonstriert.“ Erst um 12.18 Uhr korrigiert ddp unauffällig im hinteren Teil einer Meldung seine früheren Angaben und ist nun endlich auf dem Wissensstand, den u.a. die Konkurrenz von AP über 18 Stunden vorher schon verbreitete.

Aber Herr Höhling (bei dem ich diesmal aus naheliegenden Gründen nicht mehr nachgefragt habe) meint, ddp sei nichts vorzuwerfen, und warnt davor, den Ruf der Agentur zu beschädigen.

Als bräuchte ddp dabei Hilfe von außen.

ddp hat sich öffentlich nichts vorzuwerfen

Da war ja diese Geschichte mit der „Bild“-Vorabmeldung über „faule Kredite“, die am vergangenen Sonntag von den Nachrichtenagenturen AP und ddp verbreitet wurde und sich als Falschmeldung entpuppte. Ein BILDblog-Leser beschwerte sich daraufhin per E-Mail bei ddp, dass die Agentur, wie andere auch, ohne Prüfung Meldungen aus der „Bild“-Zeitung übernehme. Er fragte, ob die ddp-Redakteure „zu blauäugig, zu träge oder zu unfähig“ seien.

Der Leser bekam von Rainer Höhling, dem Stellvertreter des ddp-Chefredakteurs, eine ausführliche Antwort, in der Höhling die Kritik als unsachlich, unhaltbar und beleidigend zurückwies.

Nachdem der Leser uns den Briefwechsel weitergeleitet hat, habe ich bei Höhling nachgefragt — und (nicht wundern!) viele Formulierungen aus seiner erstaunlich schroffen, herablassenden und anmaßenden Antwort aufgegriffen:

Sehr geehrter Herr Höhling,

ich wende mich an Sie, weil ich gehört habe, dass Sie stets darum bemüht sind, auch Menschen, die nicht die geringste Ahnung von der Arbeit von Nachrichtenagenturen haben, eine kleine Nachhilfe zu geben, und hoffe, meine Fragen in einem Ton zu formulieren, den Sie nicht als beleidigend empfinden.

Ein Leser von BILDblog hat uns Ihren Mailwechsel weitergeleitet, in dem es um die auch von ddp verbreitete Falschmeldung der „Bild“-Zeitung über die „faulen Kredite“ ging. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir ein paar Nachfragen gestatten.

Wenn Sie schreiben, dass es unmöglich war, den Wahrheitsgehalt der „Bild“-Vorabmeldung am Sonntagnachmittag zu überprüfen, bedeutet das, dass ddp im Zweifel lieber eine falsche Meldung verbreitet als zu warten bis eine Überprüfung möglich ist? Gilt diese Regel für alle ddp-Meldungen oder nur für Vorabmeldungen von anderen Medien? Und ist das Vorgehen von ddp unabhängig vom Medium, von dem die Vorabmeldung stammt, mit anderen Worten: Ist „Bild“ nach Ihrer Erfahrung eine Quelle, der man unbesehen trauen kann, dass ihre Angaben stimmen?

Wenn Sie fragen, wie lange es gedauert hätte, den gesamten BaFin-Geschäftsbericht von 2006 durchzusehen, um festzustellen, dass die „Bild“-Information falsch war, bedeutet das, dass die Mitarbeiter von ddp keine Suchfunktionen in Dokumenten nutzen, um zum Beispiel mit der Suche nach „188“ die entsprechende Stelle in Sekunden zu finden?

Wenn Sie Kritik an der ddp-Meldung zurückweisen, weil sie mit dem Satz geendet habe: „Bei der BaFin war am Sonntag zunächst niemand für eine Stellungnahme zu erreichen“, bedeutet das, dass ein solcher Satz ungefähr bedeutet: „Alles, was in dieser Meldung steht, könnte falsch sein“?

Wenn Sie schreiben, ddp hätte am Montag die Meldung vom Vortag „präzisiert“, meinen Sie dann „präzisieren“ im Sinne von „eine Falschmeldung korrigieren“? Und gibt es einen Grund, warum in dieser „präzisierten“ ddp-Meldung am Montag jeder Hinweis darauf fehlt, dass sie einer früheren ddp-Meldung in entscheidenden Punkten widerspricht? Wäre es nicht möglich gewesen, ein Wort wie „Korrektur“ in dieser Meldung unterzubringen?

Ist Ihnen bekannt, dass nach gängiger Spruchpraxis des Deutschen Presserates Zeitungen davon ausgehen dürfen, dass Agenturmeldungen sachlich korrekt sind, sie diese also nicht nachprüfen müssen? Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Vorgehensweise, wie sie im Fall der „Bild“-Vorabmeldung über die „faulen Kredite“ offenkundig geworden ist und an der Sie selbst offenbar nichts kritikwürdig finden, dieser Verantwortung gerecht werden?

Oder, kurz gefragt: Wird ddp die nächste falsche Vorabmeldung von „Bild“ auch ungeprüft verbreiten?

Über Antworten würde ich mich sehr freuen. Ich würde sie, wenn Sie einverstanden sind, gerne auf BILDblog.de oder in meinem Blog stefan-niggemeier.de veröffentlichen.

Vielen Dank,
mit freundlichem Gruß
Stefan Niggemeier
BILDblog.de

Rainer Höhling hat sich mir gegenüber erklärt, ist aber nicht damit einverstanden, dass ich seine Antworten in irgendeiner Form veröffentliche. Offenbar möchte die Agentur ddp, dass weder bekannt wird, wie sie mit Leserkritik umgeht, noch, wie sie den Fall intern bewertet. Und schon gar nicht möchte sie an einer Debatte über die Grenzen des Agentur- und Vorabmeldungsjournalismus mitwirken.

Kurz verlinkt (10)

Jerry Sanders, republikanischer Bürgermeister von San Diego, erklärt in einer bewegenden Rede, warum er plötzlich für die Homo-Ehe ist. Oder wie salon.com schreibt:

This is the way necessary social change happens. It starts out unthinkable, and then one day it’s inevitable. (…)

Grab a Kleenex, and press play.

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Hilfe, die Fernseh-Abzockspiele von 9Live, Callactive & Co. schaffen den Mediensprung ins Print. In der Schweiz jedenfalls.

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Lernen von „Politically Incorrect“: „limited“ stellt den praktischen „Bastelbogen Hassblog“ vor:

Mit wenigen zentralen Bausteinen läßt sich auch für den geistig minderbemittelten Kellernazi eine eingängige Ideologie stricken.

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Noch ein paar (verspätete) Links zur Debatte um Klimaforscher Stefan Rahmstorf

In der „Welt“ findet Eckhard Fuhr schöne Worte, um die unfassbare Antwort von Matthias Horx, Wolf Lotter, Dirk Maxeiner u.a. auf Rahmstorf zu charakterisieren:

Der Leser findet nicht den geringsten Hinweis darauf, dass es sich bei dieser ganz und gar durchgeknallten Tirade um eine Parodie auf den Klima-Glaubenskrieg handeln könnte. Die „Klimaskeptiker“ halten sich offenbar wirklich für eine kleine verfolgte Minderheit von „Andersdenkenden“ und ihre mediale Dauerpräsenz für ein heroisches Aufbegehren in aussichtloser Lage.

Und in der „taz“ diskutiert Bernhard Pötter die heikle Rolle der Medien in der Berichterstattung über wissenschaftliche Forschung:

Der Umgang mit abweichenden Meinungen ist völlig unterschiedlich: Wer in der Klimadebatte längst aufgegebene Positionen verteidigt, ist für Wissenschaftler ein Scharlatan – Journalisten schätzen so jemanden dagegen gerne als prinzipienfesten Querdenker. Und wer verlässlich das Gegenteil von dem behauptet, was der Mainstream für richtig hält, sichert sich auf diese Weise Einkommen und Bedeutung in der Medienlandschaft. (…)

„Wir nehmen uns das Recht zu zweifeln“, schreiben die Rahmstorf-Kritiker, „irgendjemand muss die Türen eines skeptischen Weltverständnisses gegen die praktisch gleichgeschaltete öffentliche Meinung offen halten, damit wir für die Zukunft lernen können“. Nur: Die Klimadebatte ist nie gleichgeschaltet gewesen, sondern nach jahrzehntelangem Streit haben sich praktisch alle relevanten Klimaforscher auf einen Konsens geeinigt. Wer nun grundsätzlich den Gegenpart zu diesem herrschenden Konsens vertritt, der verhindert genau das, was er angeblich erreichen will: eine informierte öffentliche Debatte über die Konsequenzen des Klimawandels.

Lesenswert ist auch ein Stück von Jan-Philipp Hein und Markus Becker bei Spiegel Online zum Thema, ein schrecklicher Artikel, aus dem man aber viel über das Selbstverständnis von Journalisten erfahren kann: Wer sie öffentlich kritisiert oder sich gar bei ihren Vorgesetzten beschwert, stellt beinahe schon die Pressefreiheit in Frage.

Wenn ein Journalist sich mit dem Klimawandel befasst und Argumente bringt, die Rahmstorf schlecht findet, kann es schonmal Stunk geben. Der Professor vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) schreibt dann Briefe. Allerdings nicht an die Autoren, sondern gleich an die zuständigen Chefredakteure oder Ressortleiter.

Ja, Wahnsinn. Überschrift des Werkes: „Die rabiaten Methoden des Klimaforschers Rahmstorfs“.

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René Kriest erklärt vermeintlich „7 Fehler von Blogeinsteigern und wie man sie vermeidet“, dabei ist der einzige Fehler, den ein Blogeinsteiger machen könnte, solchen blöden Listen zu glauben anstatt einfach drauflos zu bloggen. Zum Glück muss ich mich dazu nicht in Rage schreiben, weil es andere schon getan haben.

Fliegenklatschen als Digitalstrategie

Vor ein paar Tagen habe ich die Abschrift von einer Podiumsdiskussion bekommen, die ich auf den „Mainzer Tagen der Fernsehkritik“ des ZDF im März moderieren durfte. (Alle Diskussionen und Beiträge werden traditionell in gedruckter Form veröffentlicht.) Das Thema lautete, etwas sperrig: „Konsequenzen der Digitalisierung für Fiktion und Unterhaltung“, und es diskutierten Verena Kulenkampff, damals noch stellvertretende NDR-Programmdirektorin, aber schon designierte WDR-Fernsehdirektorin, und ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut.

Und beim nochmaligen Lesen stellte sich bei mir wieder das ungläubige Gefühl ein, das ich damals schon auf dem Podium verspürte:

Ich hatte mir eigentlich für den Schluss die Frage überlegt, ob die Antwort auf die Digitalisierung [für ARD und ZDF] ist, dass Sie viel mehr sehen müssen, dass Sie sich von da [aus dem Internet] Sachen mitnehmen und abgucken. Oder ob die Antwort genau das ist, eigentlich ganz anders zu sein; all das zu sein, was das Netz und alle Formen, die es da gibt, nicht ist. Im Grunde haben Sie, glaube ich, die Antwort schon sehr deutlich gegeben. Also, es ist das Zweite, oder?

Verena Kulenkampff: Nein, nein, nein! Als Wichtigstes der Digitalisierung kommt auf uns zu, dass wir ununterbrochen anderen Leuten auf die Finger klopfen müssen, die unsere Inhalte gegen ihr Recht nutzen. Die Digitalisierung bedeutet ja im ersten Schritt, dass es für jeden zugänglich ist, und darin sehe ich eigentlich ein Hauptproblem. […] Es gibt ganze Homepages, da werden die Inhalte, die zum Beispiel […] tagesschau.de verbreitet, auf irgendwelchen kommerziellen Seiten genutzt — und die Inhalte sind unsere Inhalte. Und ich finde, da müssen wir mit der Fliegenklatsche sitzen und wirklich sagen, ohne uns! Oder?

Thomas Bellut: Also, ich bin dann zufrieden, wenn mehr „heute“ als „Tagesschau“ dort zu sehen ist! (Lachen)

Kulenkampff: Ehrlich? Nein!

Bellut: Nein, das war jetzt nicht ernst gemeint! Aber ich meine, es wird eine komplizierte Sache, das einzudämmen.

Aber der Gedanke ist doch gar nicht so abwegig: Zu sagen, hoffentlich klauen die Leute mehr „heute“-Inhalte als „Tagesschau“-Inhalte, denn wie viele Leute werden tatsächlich auf irgendwelche NDR-, WDR-, ZDF-Sendungen aufmerksam, weil sie sie nicht im Fernsehen gesehen haben, sondern irgendwo unter Verletzung aller Copyrights bei YouTube?!

Kulenkampff: Unwahrscheinlich!

Bellut: Ja, das ist ein heißes Thema, Herr Niggemeier. Wir freuen uns auch schon, dass „Wetten, dass…?“ zum Beispiel bei YouTube enorm vertreten ist. Alle Wetten sind sofort im Netz. Wir fragen uns auch, wie das technisch geht. Aber sie sind halt da.

Aber Sie sehen es immerhin mit gemischten Gefühlen?

Bellut: Ja! Das sehe ich schon. Ich verstehe, was Sie sagen wollen, aber ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass man ein geordnetes Internet bekommen wird, wo alles genau kontrolliert wird. Mein Gott, das ist ein so gewaltiges Angebot. Das zu kontrollieren würde viel zu viele Planstellen kosten – also, da ist nichts zu machen.

Gesegnet seien die fehlenden Planstellen!

Nein, im Ernst: Ich konnte und kann nicht glauben, dass eine hochrangige ARD-Vertreterin auf die Frage, mit welcher Strategie sie auch in Zukunft das Publikum erreichen will, als wichtigsten Punkt den Gebrauch der Fliegenklatsche nennt.

Mir ist schon klar, dass ARD und ZDF es nicht offiziell gutheißen können, dass ihre Inhalte unter Verletzung von Urheberrechten überall weiterverbreitet werden, und spätestens dann, wenn jemand sie weiterveröffentlicht, um damit selbst Geld zu verdienen, wird es heikel.

Aber dieser Kampf gegen den Missbrauch kann doch nicht die wichtigste Reaktion von ARD und ZDF auf die Digitalisierung sein — und nicht nur deshalb, weil er so aussichtslos ist. Die zentrale Frage, vor die die Digitalisierung die etablierten Medien stellt, ist doch, auf welchen Wegen und mit welchen Inhalten sie in Zukunft die Menschen erreichen werden.

Muss sich das ZDF nicht über jeden Zuschauer, vor allem jeden der raren jungen Zuschauer freuen, der im Netz über ZDF-Sendungen stolpert, auf welcher Plattform auch immer?

Erstens glaube ich nicht, dass das schlecht ist für die Einschaltquote im Fernsehen: Vom Talentwettbewerb „Britain’s Got Talent“ zum Beispiel (der demnächst bei RTL unter dem Namen „Das Supertalent“ beginnt) finden sich massenhaft Ausschnitte bei YouTube, teilweise sogar offenbar vom Sender ITV selbst hochgeladen. Sie sind in jeder Hinsicht eine Werbung für die Show: Leute stoßen zufällig auf den Inhalt, gucken sich an, was sie verpasst haben, schicken Links weiter, diskutieren mit Freunden, wollen wissen, wie es ausgegangen ist. So paradox es für analog denkende Verantwortliche scheinen mag: Je mehr Menschen sich die Ausschnitte bei YouTube sehen, umso mehr Menschen werden sich die Live-Show im Fernsehen ansehen wollen.

Aber selbst, wenn das nicht so wäre. Angenommen, es stellt sich heraus, „Wetten dass“ wird von einer Million Leute auf irgendwelchen nicht-offiziellen Plattformen im Internet gesehen, und die weigern sich hartnäckig, samstags um 20.15 Uhr die Show im ZDF einzuschalten. So what? Für einen kommerziellen Sender, der allein vom Verkauf der Werbezeiten lebte, wäre das heikel. Aber ARD und ZDF müssen das nicht. Das ist theoretisch ein sensationeller Wettbewerbsvorteil. Den Öffentlich-Rechtlichen kann es völlig egal sein, wenn zehn Prozent der Zuschauer die Sendungen nicht im Fernsehen sehen, sondern irgendwo, irgendwie anders. Ihr einziges Ziel muss es sein, gute Programme herzustellen, und dafür zu sorgen, dass sie ein möglichst großes Publikum finden — um der Inhalte selbst willen.

Und im Interesse des eigenen Überlebens. Junge Leute gucken kein ARD und ZDF. Bei den 14- bis 29-Jährigen hat die ARD in diesem Jahr einen Marktanteil von 5,1 Prozent; das ZDF wäre, umgerechnet auf Wahlen, mit 3,9 Prozent eine Splitterpartei, die nicht einmal ins Parlament einzöge.

Zum Thema 9Live und Callactive finden sich, um ein Beispiel zu nennen, mehrere „Plusminus“-Sendungen auf YouTube, die von verhältnismäßig vielen Leuten verlinkt werden. Natürlich ist es unzulässig, diese Sendungen hochzuladen. Aber welches Interesse hat die ARD, dagegen vorzugehen? Keines.

Unterstellt, dass die ARD Sendungen produziert, die in irgendeiner Form gut sind, die uns — ich weiß, jetzt wird das Eis dünn — klüger machen, informierter, aufgeklärter, ist dann nicht ihr Interesse, dass diese Programme möglichst viele Menschen erreichen, auf welchem Weg auch immer? Und ist es so undenkbar, dass ein paar Leute, die in ihrem Leben noch keine Sendung mit dem merkwürdigen Namen „Plusminus“ eingeschaltet haben, auf diesem Wege überhaupt erst entdecken, dass es solche Verbrauchermagazine gibt, und dass jeder Kontakt die Chance erhöht, dass die Leute etwas Positives mit der ARD verbinden und vielleicht, ganz vielleicht selbst mal einschalten?

„Unwahrscheinlich“, sagt Frau Kulenkampff und holt die Fliegenklatsche.

Kein Symbolfoto

Der Siegeszug des Symbolfotos im Internet — vielleicht ist er doch noch aufzuhalten. Die Kollegen beim Deutschlandfunk zum Beispiel haben sich entschieden, ein Radiofeature zum Thema „grau“ nicht mit einem Symbolfoto zu bebildern, sondern mit einer Abbildung des Gegenstandes selbst:

Leser Frank L. aus B., der’s entdeckt hat, findet’s „zugegebenermaßen eher abstraktwitzig“, weist aber auf Quellenangabe und Zusatzfeature hin:

(ui, man kann’s sogar vergrößern. mit klick. geil.)

Factually Incorrect (2)

Ein schönes kleines Beispiel dafür, wie „Politically Incorrect“ schlichteste Tatsachen ignoriert, ist auch dieser Eintrag von gestern:

Mal abgesehen davon, dass nicht die „Wikipedia“ den Eintrag zu „Taqiyya“ löschen wollte, sondern ein einziger Benutzer — die Sache hatte sich, als PI den Artikel gestern gegen 20.45 Uhr veröffentlichte, längst erledigt, sogar ganz ohne die sonst übliche Abstimmung Entscheidung eines Administrators. Bereits gestern Morgen um 9.41 Uhr hatte der Nutzer seinen Löschantrag zurückgezogen; ab 9.44 Uhr war der Eintrag nicht mehr als Löschkandidat gekennzeichent.

Aber die Meldung „Wikipedia will ‚Taqiyya‘ nicht löschen“ hätte die PI-Autoren und -Leser wohl einfach nicht genug in ihrem Verfolgungswahn bestätigt.

Factually Incorrect

Beate Klein, eine der Hauptautorinnen beim erfolgreichen Hass- und Hetzblog „Politically Incorrect“ (PI), schreibt:

Als relativ häufig aufgerufene Internetseite gegen den Mainstream ist PI immer wieder Zielscheibe linker Journalisten, die in Schmähartikeln ihre oft vor Un- und Halbwahrheiten strotzenden Diffamierungen verbreiten. Da die eigentlichen Beiträge für diese Medien zwar ärgerlich, in der Regel aber nicht angreifbar sind, zieht man einzelne Kommentare heran, um die Bösartigkeit und radikale Gesinnung PIs „beweisen“ zu können.

Ja, das ist echt blöd, dass die eigentlichen Beiträge von PI so selten angreifbar sind.

Gut, jetzt mal abgesehen von Beate Kleins Eintrag über das angebliche Blog von Murat Kurnaz, den sie den „zotteligsten Unschuldigen aller Zeiten“ nennt. Das Blog war nicht von Murat Kurnaz, was Frau Kleins Eintrag, sagen wir: angreifbar machte. Sie hat ihn sicherheitshalber nicht korrigiert, sondern ohne Erklärung gelöscht.

Ach so, und mal abgesehen von dem Eintrag von Jens von Wichtingen, der in Südafrika Sprachkurse veranstaltet und bei PI für Übersetzungen zuständig ist, über die angebliche Wandlung der BBC zur „Stimme Mekkas“.

Er berichtet:

Bei der BBC hat man sich entschlossen, den ganzen Schritt zu machen. In Zukunft wird man jedesmal bei Nennung des moslemischen Propheten Mohammed den bei Moslems gebräuchlichen Zusatz (Friede sei mit ihm) verwenden. Begründet wird das mit religiöser Toleranz – weil man dies ja auch bei anderen Religionen machen würde, wenn sie denn einen solchen Brauch hätten.

Die BBC-Seite, die seine Quelle für diesen Hammer ist, der bei den PI-Kommentatoren Fassungslosigkeit auslöst, ist allerdings vom 9.3.2006. Was laut PI „in Zukunft“ passiert, scheint also mindestens seit eineinhalb Jahren Praxis zu sein.

Und schon mit einfachsten Englischkenntnissen könnte man der Quelle entnehmen, dass die BBC dem Namen Mohammeds keineswegs „jedesmal“ die Worte „Friede sei mit ihm“ (peace be upon him / pbuh) hinzufügen wird. Die Regelung betrifft nur die Islamrubrik der Religionsseiten auf bbc.co.uk. Eine einfache Suche zeigt, dass die BBC den Zusatz auf den Nachrichtenseiten nicht verwendet.

(PI-Kommentator Phygos ist dennoch so erschüttert, dass er erklärt, dass England damit für ihn „endgültig als Urlaubsland flach fällt“, während PI-Leser Bokito vor Überreaktionen warnt: Schließlich könne man auch „jeden Samstag in Düsseldorf auf der Königsallee Heerscharen von Schleierschlampen beim Shoppen in den Nobel-Boutiqen anschauen. (…) Vor den Anhängern eines Kinderf**ers auf dem Boden zu kriechen ist die schlimmste Demütigung, die sich ein denkender Mensch vorstellen kann.“)

Ach so, und „angreifbar“ sind natürlich auch die PI-Einträge, in denen immer noch die Mär verbreitet wird, britische Banken hätten die Sparschweine abgeschafft, um die Gefühle muslimischer Kunden nicht zu verletzen — eine längst widerlegte Falschmeldung, die auch Henryk Broder und Udo Ulfkotte verbreiten, was dann wiederum PI aufgreift usw usf.

Ja, die PI-Autoren, für die „Gutmensch“ ein anderes Wort für „Nazi“ ist und die Andersdenkende als „dummdeutsche Multikultischwuchteln“ bezeichnen, sind gerne nicht nur politisch, sondern auch faktisch inkorrekt.

Als die „Berliner Morgenpost“ es wagt, einen Deutschen, der einen Rabbi angegriffen hat, einfach als „Deutschen“ zu bezeichnen, obwohl seine Eltern aus Afghanistan stammen, veröffentlicht ein PI-Gastautor bedeutungsschwanger die E-Mail-Adresse für Leserbriefe der Zeitung. Und die Kommentatoren überbieten sich in empörten Leserbriefen an die Zeitung, und keiner merkt, dass unter dem Artikel die Worte „AP“ stehen, weil es sich um eine Agenturmeldung handelt.

Der PI-Beitrag fordert, den mutmaßlichen Täter nicht als Deutschen, sondern als „afghanischen Moslem“ zu bezeichnen. Und die Kommentatoren erkennen die Gesinnung dahinter und sprechen offen aus, was die PI-Autoren nur andeuten. Ein „Junker“ schreibt:

Er ist kein TATSÄCHLICHER Deutscher, sondern ein “Passdeutscher”. Wenn ein Dackel ein Schild mit der Aufschrift “Schäferhund” um den Hals trägt, bleibt er ein Dackel, bis zu seinem seligen Ende!

Der Täter ist Afghane mit deutschem Pass, hat seiner Religion entsprechend einen Juden fast getötet und wartet nun darauf, das Selbe mit einem Christen machen zu können.

Wenig später spricht ein „Beowulf“ von einem „Kanakenmob“, und ein „Entfernungsmesser“ gerät ins Onanieren:

Meine Freundin kam von der Arbeit nach Hause. Ich hatte Besuch von zwei Freunden. Wir saßen im Hof, hinter uns mein alter Bundeswehrunimog. Meine Freundin erzählte uns, sie sei von drei Kanaken in einem roten BMW-Cabrio angemacht worden: Hy Alde, willst figgen?

Als Deutscher Hauptfeldwebel und PzZgFhr habe ich nach kurzer Lagebeurteilung meinen Entschluß gefasst und in die Worte “Aufsitzen, Männer” artikuliert. Wir also den Mog gestartet und auf den Innenstadtring gefahren. Das ist das bevorzugte Cruisin-Gebiet der Kamelf…er! Vor der übernächsten Ampel überholt uns ein rotes BMW-Cabrio. Bestzung: 3 Kanaken. Die halten vo der roten Ampel, wir nicht!

Schön mit gut Schmackes denen den Kofferraum verkleinert. Die guggten wie Säue am Samstag. Meine Männer und ich abgesessen, denen kalr gemacht, wer wir si´nd und was wir machen wenn sie die Fresse aufreisen. Die waren sehr kooperativ. Meine Versicherung hat den Schaden am BMW gelöhnt. Den Schaden am 1,5-Tonner habe ich mit was Farbe und nem Pinsel beseitigt!

„Beowulf“ antwortet ihm: „gefällt mir“, und ein „Bavarian“ kommentiert: „Gut gemacht!“

Ich weiß nicht, ob Beate Klein, Stefan Herre, Jens von Wichtingen und die anderen PI-Macher auch davon träumen, „Kanaken“ in den BMW zu fahren. Bestimmt finden sie schon den Gedanken „diffamierend“. Was können sie schon dafür, dass sich in ihrem Wohnzimmer ein rassistischer Mob trifft, dem sie mehrmals täglich frisches Popcorn und was zu lesen geben?

Redaktionell unabhängig

„Eins von diesen Dingen gehört nicht zu den anderen“, sangen wir mit der „Sesamstraße“, und auf der Startseite von stern.de gibt es das Spiel auch:

Zwischen die diversen redaktionellen Angebote der „Stern“-Familie hat sich ein Hinweis auf die neue RTL-Show „6! Setzen“ geschmuggelt. Ohne jeden Umweg führt er direkt auf die Seite zur Sendung auf RTL.de. „Wir“ haben ein Trainingslager eingerichtet? stern.de? Nö: RTL. Ach, da ist ja auch das Logo. Wie praktisch.

Das ist jetzt einerseits nicht so überraschend, denn erstens gehört der „Stern“ ebenso wie RTL zum weiten Universum von Bertelsmann, und zweitens produziert die Firma I&U von Günther Jauch nicht nur die Sendung „Stern TV“, sondern auch „6! Setzen“ — bleibt alles irgendwie in der Familie.

Aber andererseits ist das doch nicht ganz das, was man sich unter der Trennung von Redaktion und Werbung bei Möchtegernqualitätsseiten so vorstellt.

Dabei hat es an Werbung für Jauchs neue Show auf stern.de ohnehin schon nicht gemangelt: In „Stern TV“ hat Jauch gestern fleißig dafür getrommelt, und auf den Seiten von „Stern TV“ auf stern.de lässt sich das in schöner Ausführlichkeit nachlesen — ebenfalls mit dem prominent platzierten Hinweis, dass man sich doch direkt an der Quelle informieren soll: Im „Trainingscamp“ auf rtl.de.

Aus der stern.de-Redaktion ist zu hören, die Anweisung zur ungekennzeichneten Werbung auf der Startseite sei von „ganz oben“ gekommen, wo auch immer das sein mag.

Auf meine Frage, ob stern.de solche Aktionen für alle RTL-Sendungen mache oder nur die von I&U produzierten, antwortete stern.de-Chef Frank Thomsen, es handele sich um eine einmalige Aktion, eine „redaktionelle Kooperation“: Man habe von RTL eine Reihe von Fragen bekommen, aus denen stern.de einen Wissenstest gemacht habe, der bei den Lesern sehr gut angekommen sei. Im Gegenzug habe RTL darum gebeten, einen solchen Hinweis-Kasten zu bekommen, der ins Trainingscamp führt. „Wenn’s Pro Sieben oder das ZDF gewesen wäre“, sagt Thomsen, „hätten wir auch nicht anders entschieden.“

Ich frage mich nur, warum das ZDF dann zum Beispiel für seine Mediathek groß auf den teuren Werbeplätzen von stern.de wirbt, wenn doch redaktionelle Plätze so einfach zu haben sind.

(Genau genommen produziert Jauchs Firma „Stern-TV“ übrigens nicht für RTL, sondern für die Firma dctp, und zwar, wie es in der Zulassung durch die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) heißt, „von RTL rechtlich und redaktionell unabhängig“. Auf diese Weise erfüllt RTL seine Pflicht, Sendezeiten an „unabhängige Dritte“ abzugeben, was die Meinungsvielfalt sichern soll. Ja, genau.)

Und über die Überschrift reden wir noch!

Vor einiger Zeit bin ich von zwei Schülern der Deutschen Journalistenschule in München (auf der ich auch war) für ihre Abschlusszeitschrift interviewt worden. Und weil ich das Ergebnis so gelungen finde und fürchte, dass kaum jemand das schöne Magazin zum Thema Fehler in die Finger bekommt, veröffentliche ich den Text einfach selbst — mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Bildblog-Gründer Stefan Niggemeier über Wahrheit im Boulevard, das „System Bild“ und seine Freude am Streiten

Interview: Till Haase, Adrian Renner
Foto: Ulf Hanke

Herr Niggemeier, auf Bildblog.de decken Sie seit zweieinhalb Jahren die Fehler der Bild-Zeitung auf, mit 40.000 Lesern täglich sind Sie Deutschlands meistgelesener Blog. Warum hat Ihnen die Bild-Zeitung noch nicht Ihr Bild-Abonnement gekündigt?

Das wäre wohl eine etwas kurzsichtige Strategie. Aber wir hatten die lustige Situation, dass wir bei Bild angefragt haben, ob wir ihr Archiv nicht als kommerzieller Kunde nutzen können. Es hat dann sehr lange gedauert bis wir eine Antwort erhalten haben. Das Ergebnis war: nein, auch gegen Geld nicht.

Der letzte Bildblog-Eintrag ist inzwischen drei Tage alt. Ist das gut oder schlecht für Bildblog?

Schlecht, um ehrlich zu sein. Weil ich glaube, dass Bild in den letzten drei Tagen Fehler gemacht hat, auch gravierende. Wir haben sie nur nicht entdeckt.

Wie entdecken Sie denn Fehler in Bild? Haben Sie eine Fehlersuchstrategie?

Gut die Hälfte der Fehler entdecken wir durch Hinweise unserer Leser. Und dann lohnt es sich immer, bestimmten Signalwörtern nachzugehen. Bei „Geheimplan“ zum Beispiel schauen wir, ob das nicht schon vor einem Monat veröffentlicht wurde, oder bei „sagte zu Bild„, ob das nicht in einer Nachrichtenagentur stand. Und natürlich immer, wenn Bild über Außerirdische schreibt.

Was ist das dann für ein Gefühl, wenn man einen Fehler gefunden hat? Freude?

Nee. Meistens ist das ein Entsetzen. Ich bin immer wieder fassungslos, wenn man anfängt, eine Geschichte nachzurecherchieren, und sieht, was Bild daraus gemacht habt. Amüsieren kann ich mich bei diesen blöden Fehlern, wenn man sich sagt: Mein Gott, die haben das wieder nicht kapiert. Da kommt eine gewisse Schadenfreude auf.

Einen Fehler muss man auch beweisen. Auf welche Quellen verlassen Sie sich denn?

Es hilft, Originaldokumente zu finden, wissenschaftliche Studien zum Beispiel. Es hilft, wenn Nachrichtenagenturen oder andere Zeitungen über ein Thema geschrieben haben, wobei wir da auch vorsichtig sind. Ganz heikel ist es, wenn Aussage gegen Aussage steht. Wir wollen aus Bildblog kein Gegendarstellungsportal machen, nach dem Motto: Bild schreibt etwas und wir geben jedem eine Stimme, der sagt, das habe ich so aber gar nicht gemeint.

Gehen Sie bis zum Beweis der Tat, bis sie augenfällig ist, von einer Unschuldsvermutung aus?

Im Idealfall ja. Aber es ist die Unschuldsvermutung gegenüber einem Serientäter. Wenn einer schon 100 alte Frauen ausgeraubt hat, muss man ihm die 101. neu beweisen. Aber es gibt gute Gründe, ihn für verdächtig zu halten.

Seit Januar dieses Jahres finanziert sich Bildblog neben Spenden und dem Verkauf von Bildblog-Produkten auch über Werbung auf der Seite. Ist der Druck, Fehler zu finden, seitdem gestiegen?

Wir ertappen uns manchmal bei dem Gedanken, denn natürlich haben wir mehr Leser auf der Seite, je mehr wir schreiben, versuchen dem aber nicht nachzugeben. Der eigentliche Druck ist ein anderer. Wir bekommen täglich Dutzende Hinweise von unseren Lesern, und wir versuchen allen nachzugehen und alle nachzurecherchieren. Dieser Druck ist viel stärker als der Werbedruck.

Bildblog ist für den Aufruf, Bild-Chefredakteur Kai Diekmann zu fotografieren und die Bilder an Bildblog zu schicken, stark kritisiert worden. War diese Aktion richtig?

Zunächst war die Aktion im Nachhinein eher enttäuschend, weil wir so wenig Bilder erhalten haben. Was ich bei der Kritik nicht verstanden habe, ist, dass uns vorgeworfen wurde, wir würden uns auf Bild-Niveau begeben. Ich finde es grundsätzlich nicht verwerflich, Leser aufzufordern, Bild spannende Fotos zu schicken. Verwerflich ist, dass bei der Veröffentlichung dieser Fotos das Persönlichkeitsrecht offensichtlich keine Rolle spielt.

Warum macht denn Bild so viele Fehler? Weil sie es will oder weil sie es nicht besser kann?

Beides. Bild macht absichtlich Fehler, Dinge werden falsch dargestellt, weil es dann eine „bessere“ Geschichte wird. Und Fehler entstehen, weil Bild schlampig arbeitet. Wenn man beides zusammenfasst, könnte man sagen, dass vielleicht die Wahrheit bei Bild nicht das Entscheidende ist.

Sondern die Verwertbarkeit?

Ja. Ich glaube, jeder Bild-Mitarbeiter arbeitet unter einem immensen Druck, die bestmögliche Geschichte abzuliefern, und das ist nicht immer die, die am Ende noch zutrifft. Dahinter muss im Einzelfall nicht einmal immer eine böse Absicht stecken. Anders ist es bei Themen, wo Bild eine Agenda hat, bei der Rente zum Beispiel. Für Bild lohnt es sich einfach, jeden Tag aufzuschreiben, dass die Renten nicht sicher sind, selbst wenn sie dafür Argumente erfinden oder Tatsachen verdrehen muss.

Kann es denn eine Bild-Zeitung ohne Fehler überhaupt geben?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Wallraff hat vor 30 Jahren in seinen Büchern Mechanismen beschrieben, bei denen ich das Gefühl habe, die gelten heute immer noch. Dieses Stille-Post-Spiel zum Beispiel, dass am Ende jemand die Überschriften über den Text macht, der die Ursprungsfassung gar nicht kennt.

Wenn sich über so lange Zeit nichts ändert, ist es dann das System Bild, dass die Fehler hervorruft?

Es ist das Prinzip, auf jeden Mitarbeiter den Druck aufzubauen, die Geschichte zu liefern, die zur größten Schlagzeile taugt. Das führt im besten Fall dazu, dass Bild Sachen herausfindet, die andere nicht herausfinden. Aber oft genug führt es dazu, dass Leute aufschreiben, was sie oder ihre Vorgesetzten für die gute Geschichte halten. Ich weiß nicht, ob Bild ohne dieses Prinzip funktionieren kann, ob man Bild revolutionieren oder reformieren kann.

Sehen Sie sich denn selbst als Chronisten oder als Entertainer?

In diesem Gegensatz zu 100% Chronist, wobei: Chronist klingt mir fast zu unbeteiligt. Was wir machen, hat auch etwas Kämpferisches. Aber mir ist klar, dass uns Leute lesen, weil wir etwas Lustiges über Bild schreiben.

Passt Idealist besser als Chronist?

Ja. Darf ich das nachträglich nehmen?

Angenommen, Sie wären Chef einer großen Tageszeitung. Würden Sie einen Redakteur einstellen, der bei Bild gearbeitet hat?

Das kommt auf den Einzelfall an. Halb im Scherz könnte ich sagen, man muss diesen Menschen ja auch eine Perspektive geben. Ihnen Wege aufzeigen, aus dem Unrechtssystem Bild herauszukommen.

Und Ihre Perspektive? Wenn man böse wäre, könnte man sagen, Sie haben schon fast Ihr ganzes Leben lang genörgelt, was wollen Sie denn als Rentner noch machen?

Vielleicht werde ich dann zum positiven Menschen, weil ich mich so ausgenörgelt habe, und schreibe Rosamunde-Pilcher-Romane. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich.

Aus: „Klartext — Das Magazin der Deutschen Journalistenschule“. Nummer 11. Lehrredaktion 45K.

Halbe Portion

Vielleicht ist ein Grund für meine anhaltende Faszination mit dem real existierenden Online-Journalismus, dass man täglich denkt: „Blöder geht’s nicht“, und damit immer unrecht hat.

Das Online-Angebot der „Süddeutschen Zeitung“, das bekanntlich seit Monaten von einer Qualitätsoffensive erschüttert wird, berichtete am Montag über einen für heute angekündigten Pasta-Streik in Italien. Und illustrierte den Artikel nicht mit dem Foto eines betroffen aussehenden Nudelgerichts, sondern mit dem halben Screenshot eines Artikels der Online-Ausgabe des britischen „Daily Telegraph“, der bereits vor fast zwei Wochen darüber berichtet hat und die Quelle für den sueddeutsche.de-Artikel ist.

Und wenn Sie beim Bewundern der Absurdität des Ganzen bitte auch Bildunterschrift, Bildzuschnitt und Quellenangabe würdigen würden, vielen Dank.

(Entdeckt hat’s der Lukas.)