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„Breaking Bad“-Star Bryan Cranston: „Die Gier steckt in jedem von uns“

Spiegel Online

Das kann nur böse enden, oder? In der US-Serie „Breaking Bad“ wandelt sich ein langweiliger Chemielehrer zum skrupellosen Drogenboss. Zum Deutschland-Start der vierten Staffel erklärt Hauptdarsteller Bryan Cranston, warum man mit dem Bösen mitfiebert – und verrät, was er bereits vom Ende weiß.

Herr Cranston, werden Sie noch auf „Malcolm mittendrin“ angesprochen?

Bryan Cranston: Das ist eine Generationenfrage. Einige Leute kennen mich von „Malcolm mittendrin“, andere sogar noch von „Seinfeld“ oder älteren Sachen.

Es ist schwer, Sie da überhaupt wiederzuerkennen. Als Zuschauer kann man kaum begreifen, dass dieser lustig-überforderte Vater Hal in der überdrehten Sitcom „Malcolm mittendrin“ und Walter White, der todkranke Chemielehrer in „Breaking Bad“, der zum Drogenproduzenten wird, um für seine Familie zu sorgen, von derselben Person gespielt werden. Wie fühlt sich dieser Kontrast für Sie an?

Angenehm. Es fühlt sich nicht wie ein gewaltiger Wechsel an – ich schätze, einfach, weil ich ihn ja bewusst vollzogen habe. Es ist ein großer Luxus, beides gemacht zu haben, das ist selten. Normalerweise, wenn man für etwas bekannt geworden ist – was ja schon ein großes Glück ist – fällt es schwer, aus diesem Image auszubrechen. Aber ich war nach sieben Jahren „Malcolm mittendrin“ nie versucht, etwas ähnliches zu machen. Ich musste halt nur das richtige Mittel und Material finden.

Haben Sie gezweifelt, ob es Ihnen überhaupt gelingen würde, die Entwicklung des Walter White in all ihren Extremen zu spielen? Wussten Sie überhaupt am Anfang, wie weit es mit ihm bergab gehen würde?

Oh ja, ich wusste, wohin sich das entwickeln würde. Nicht den genauen Weg, aber das Ziel. Nein, die Entscheidung ist mir nicht schwer gefallen. Die meisten Schauspieler haben einen Sinn dafür, riskante Orte erkunden zu wollen. Ich wollte das auf jeden Fall und eine neue Herausforderung annehmen.

Walter White ist ein gelangweilter, langweiliger Durchschnittstyp, der plötzlich entdeckt, wozu er in extremen Situationen fähig ist. All die Abgründe, die er und das Publikum dabei entdecken — müssen Sie die als Schauspieler auch in sich selbst finden?

Die Palette eines Schauspielers besteht aus persönlicher Erfahrung und Vorstellungsgabe. Was einem an persönlicher Erfahrung fehlt, muss man mit seiner Fantasie auffüllen, um es plausibel und nachvollziehbar zu machen. Ich glaube, jeder Mensch trägt das Potenzial zu einer einer Unzahl verschiedener Emotionen in sich. Viele davon schlummern und müssen erst erweckt werden. Im Fall von Walter White war es sicher so: Bevor er die Möglichkeit hatte, an so viel Geld zu kommen, hatte er nicht dieses Anspruchsdenken, diese Gier, die Skrupellosigkeit. Aber im Lauf der Serie entdecken wir, dass das alles in ihm steckt. Es steckt in jedem von uns. Es kommt nur nicht zum Vorschein, wenn es nicht gebraucht wird.

Walters brave, eigentlich grundspießige Frau Skyler macht eine ähnliche Wandlung durch. Als sie hinter das Geheimnis ihres Mannes kommt, entdeckt auch sie ihr Talent zum Lügen und ihre Bereitschaft, eine gute Kriminelle zu werden. Ist das eine Botschaft der Serie, dass wir das alle in uns haben?

Ja, ich glaube, das ist so, und das war tatsächlich eine gewollte Aussage. Walter White wollte Geld machen, um es seiner Familie nach seinem Tod zu hinterlassen. Der Gedanke war altruistisch, aber um sein Ziel zu erreichen, musste er seine Seele verkaufen und etwas werden, was er nicht war. Und in dem Moment verlor er das, was ihn bislang als Mensch ausgemacht hatte. Wann immer jemand das tut, wird er es nie wirklich zurückbekommen. Es ist eine Abwärtsspirale.

„Breaking Bad“ ist in diesem Sinne eine äußerst moralische Serie, weil sie in radikaler Konsequenz und Kompromisslosigkeit zeigt, wohin es führt, wenn man sich auf ein Geschäft wie das mit Drogen einlässt. Andererseits stürzt die Serie den Zuschauer in ein Dilemma: Wir sehen, dass Walter White das moralisch Falsche tut, aber wir drücken ihm die Daumen, dass er damit durchkommt.

Vince Gilligan, der Autor, hat es geschafft, einen inneren Konflikt und ein Drama nicht nur in den Figuren zu erzeugen, sondern auch im Zuschauer. Plötzlich ertappt man sich dabei, wie man hofft, dass ein Mann Erfolg hat, der Drogen verkauft. „Breaking Bad“ löst einen Zwiespalt bei den Zuschauern aus, und es ist fantastisch, wenn das gelingt. Normalerweise ist das Publikum nicht hin- und hergerissen, sondern weiß: Diese Person mag ich, diese nicht. Wir aber lassen diese Grenzen verschwimmen: Ist Walter White ein Guter oder ein Böser? Es gibt keine klare Antwort darauf. Er will seine Familie beschützen, aber es gab einige Entscheidungen, bei denen selbst Walter White selbst zugeben würde, dass er einen Punkt überschritten hat. Er hat lange an seinem Dogma festgehalten, dass er das alles für seine Familie tut, aber wir als Publikum wussten, dass er sich etwas vormacht. Er ist verführt worden: von Macht, Geld, Anerkennung, dem Gefühl, wichtig zu sein, den Risiken, die er eingegangen ist. Das ist wie ein Aphrodisiakum für einen Mann. Jetzt haben wir Walter White entblößt und ich bin bereit, all die dunklen Seiten, seine Hybris und sein Ego zu zeigen – all das, was nicht attraktiv ist, aber ehrlich.

Je weiter die Serie fortschreitet, desto düsterer wird sie. Und je häufiger Walter White über Leichen geht, desto schwerer wird es, ihn noch zu mögen.

Wenn ich ihn spiele, urteile ich nicht über ihn. Ich spiele ihn nur — so ehrlich, wie ich es kann, emotional, intellektuell. Aber wenn ich dann einen Schritt zurücktrete am Ende einer Staffel und mir das ansehe, dann sehe ich natürlich: Oh ja, das ist böse. Er ist auf einem Weg, der nicht gut enden kann. Aber das wusste ich von Anfang an. Vince Gilligan wollte eine Serie schaffen mit einer Hauptperson, die als guter Kerl anfängt und böse wird. Das ist die vorgezeichnete Bahn.

Die Serie wird im nächsten Jahr nach der fünften Staffel enden. Sie kann nicht gut enden, oder?

Das hängt davon ab, wie man „gut“ definiert. Vielleicht ist ein Happy End für Walter White sein Tod. Schauen Sie sich an, was seine Entscheidungen bewirkt haben: Er hat seine Familie in Gefahr gebracht, sein Schwiegerbruder ist zum Krüppel geschossen worden, um ihn herum sterben die Menschen. Man kann in ihm eine Art Krebsgeschwür sehen. Vielleicht ist das beste, was ihm passieren kann, dass er stirbt. Und ich sage das, ohne zu wissen, was Vince Gilligan wirklich vorhat. Ich habe ihn nicht gefragt, und er hat es mir nicht gesagt.

Aber Sie werden es wissen, bevor Sie die letzte Staffel drehen?

Nein. Walter White weiß nicht, was passiert, von Woche zu Woche, von Stunde zu Stunde, sogar von Minute zu Minute. Deshalb gehört es sich für mich nicht, zu weit im Voraus zu wissen, was geschehen wird. Sonst lasse ich beim Spielen vielleicht etwas durchscheinen, was Walter White noch gar nicht weiß.

Der Niedergang des Walter White ist auch ein körperlicher. Er sieht in der vierten Staffel unglaublich geschunden aus. Wie sehr müssen Sie sich tatsächlich ausmergeln lassen während der Dreharbeiten?

Naja, es ist natürlich Make-Up und ich versuche, mich zwischen den Szenen, in denen ich mitspiele, zu erholen. Aber emotional macht man als Schauspieler die Reise des Walter White schon mit. Ich sage jungen Schauspielern immer: Versucht nicht zu schauspielern, sonst könnte man euch beim Schauspielern ertappen. Denkt und fühlt und vertraut darauf, dass ihr das auch ausstrahlt.

„Breaking Bad“ läuft in den USA auf dem kleinen Kabelkanal AMC. Dadurch sind die Freiheiten größer, aber das Budget kleiner.

Ich sehe da nur Vorteile. AMC und andere Kabelknäle hier mussten eine Identität, eine Marke etablieren. Sie suchten deshalb nach Stoffen, die die großen Networks nicht zeigen könnten. Das eröffnete erfahrenen, wunderbaren Autoren die Chance, aufzuschreiben, wovon sie immer schon geträumt hatten. AMC hatte den Mut, das auf Sendung zu bringen. Und Sony Television, unser Produzent, hatte den Mut, das zu bezahlen – und bei jeder einzelnen Episode das Budget zu überschreiten, in der Hoffnung, dass es den Menschen gefallen würde. „Breaking Bad“ ist nichts für die Massen. Diese Serie ist nicht Vanille, sie hat einen scharfen, stechenden Geschmack. Aber genau darum mögen sie viele Leute – weil sie so anders ist. Das Publikum heute ist viel, viel anspruchsvoller als früher. Es verlangt immer höhere Qualität, speziellere und kompliziertere Geschichten und Figuren, keine Stangenware. Das ist das gute an der Explosion neuer Medien und all der Auswahl: Man muss etwas Besonderes machen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Man kann nicht einfach irgendwas Beliebiges, Nettes machen. Es muss jenseits dessen sein, was wir vor 15 Jahren gesehen haben. Es wird keine Serien mehr geben, die sind wie „Mord ist ihr Hobby“ oder „Matlock“ oder „Magnum“. Das ist für immer vorbei. Die sind einfach zu irreal. Damit kann sich der Zuschauer nicht identifizieren.

Hat „Breaking Bad“ Ihnen neue Türen geöffnet?

Ja. Die Serie bekommt in der Branche viel Aufmerksamkeit; die Kollegen lieben sie. Das hat sehr geholfen.

Und die Rollen, die Sie jetzt annehmen, sind vermutlich ganz anders als Walter White.

Ja. Ich will auf keinen Fall wiederholen, was ich zuletzt gemacht habe. Und inzwischen, mit so viel Distanz zu „Malcolm mittendrin“, kann ich mir auch wieder vorstellen, Comedy zu machen.

Haben Sie den Erfolg von „Breaking Bad“ vorhergesehen?

Schauspieler können nur erkennen, ob das Material gut ist. Erfolg vorhersagen können wir nicht. Manchmal hat man alle richtigen Zutaten, aber das Ding will einfach aufgehen. Als ich das Drehbuch zum ersten Mal gesehen habe, war alles, was ich wusste, dass dies eine bemerkenswerte Serie werden würde, wenn sie lange genug auf Sendung bliebe. Und ich wusste: Welcher Schauspieler auch immer das Glück haben würde, Walter White zu sein – es würde sein Leben verändern.

Jörg Thadeusz

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Er freut sich so darüber, dass zum Jubiläum seiner 250. Sendung Iris Berben noch einmal gekommen ist, dass er auf dem Weg zu ihr an den Tisch vor Glück die Hände erst zu Fäusten ballt und dann zusammenschlägt wie ein Kind, sich vor ihr verbeugt und gleichzeitig für das Fernsehpublikum noch eine große Hier-ist-sie-Präsentationsgeste versucht, was nur halb gelingt. Frau Berben lächelt diesen ungelenken, charmanten Mann amüsiert und natürlich formvollendet an, und weil sie bezaubert ist, ist sie bezaubernd.

Vielleicht ist es das, was Jörg Thadeusz unwiderstehlich macht: Diese Mischung aus Unbeholfenheit und großem Geschick, das auch nur wie ein Versehen wirkt. Claus Peymann sagte zu ihm: „Sowas Rundes und Naives, wie Sie es sind — oder scheinen –, gibt es wenig.“ (Thadeusz erwiderte grinsend: „Kann ich mir das merken, als Qualität?“)

Wenn er ein bisschen Zeit zum Denken gewinnen muss, wiederholt er stotternd die Silbe, an der er gerade hängt. Und wenn er aufgeregt ist, unsicher oder vielleicht ein bisschen verliebt, stapelt er Wörter aufeinander: „Schön, eigentlich, hatten wir es zusammen, hier, immer“, sagt er zu Iris Berben, nachdem er ihr einige alte Ausschnitte gezeigt hat. Häufiger folgt er Gesprächsabzweigen und merkt zu spät, dass sie in Sackgassen in unwirtlichen Gegenden führen, aber es ist immer eine freundliche Neugier, die ihn dort hinführt, oder ein kindlicher Übermut.

Dass die Gesprächssendung, die er seit fünf Jahren im RBB hat (dienstags, 22.15 Uhr), viel weniger Aufmerksamkeit bekommt, als sie verdient hätte, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache, denn sie versucht — genau wie ihr Moderator — nicht mehr zu sein, als sie ist. „Fernsehen bedeutet, anderen Leuten zugucken zu dürfen“, hat er kürzlich in einem Aufsatz für die „Welt“ über den Sinn des Mediums geschrieben. „Wenn sie sich sportlich verausgaben, einen schönen Mund küssen, oder einfach nur miteinander reden.“ Bei Thadusz reden sie einfach nur miteinander.

Es ist erstaunlich, wie selten sowas überhaupt versucht wird im deutschen Fernsehen. Es ist so sehenswert, wenn es gelingt. Iris Berben hatte Thadeusz schließlich in einer Stimmung, in der sie gleichzeitig sehr wach und sehr entspannt war. Auf seine Frage: „Stimmt es, dass Sex unter Kokaineinfluss mehr Spaß macht?“ sagte sie, ohne zu zögern: „Dacht‘ ich mal.“

Das wahre Leben im Netz

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wie gut kennen wir eigentlich unsere besten Freunde aus dem Netz? Und ist eine online geschlossene Beziehung automatisch weniger wert, als eine echte zum Anfassen?

Am Dienstag vergangener Woche tauchte auf Facebook eine Suchmeldung auf. Wer den Publizisten und Internet-Unternehmer Robin Meyer-Lucht gesehen hatte, sollte sich dringend unter einer angegebenen Telefonnummer melden.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Zyniker den Eintrag kommentierten: Da wolle sich wohl jemand mit einem geschmacklosen Marketinggag ins Gespräch bringen, man weiß doch, wie das geht, im Netz.

Es war kein Marketinggag, und wenig später wurde Meyer-Lucht tot aufgefunden. Nach der öffentlichen Suche im Internet begann die öffentliche Trauer im Internet. Menschen würdigten Robin Meyer-Lucht in ihren Blogs, in Kommentaren, auf ihren Profilseiten. Das Netz zeigte sich von seiner sozialen Seite und wahrhaftig als Netz: eine Verbindung von Menschen, die die Trauer um einen Verstorbenen eint.

Beim Lesen dieser Texte konnte man aber auch die Ahnung einer Leerstelle bekommen; das Gefühl, dass viele dem Menschen, dessen Verlust sie beklagten, nicht nahe waren. Dass sie einige Artikel kannten und vielleicht Teile seiner Biographie, aber nicht den Menschen. Noch deutlicher war das vor einigen Monaten, als plötzlich Jörg-Olaf Schäfers starb, Kolumnist dieser Zeitung und auch ein Netzaktivist, ebenfalls nicht einmal 40 Jahre alt. Viele Einträge lasen sich wie Nachrufe auf einen unbekannten Freund.

Wer wollte, konnte im Umgang mit diesen Todesfällen einen Beleg nicht für das Soziale im Netz sehen, sondern für seine Oberflächlichkeit; dafür, dass die Nähe, die von den ganzen „Freundschafts“-Anfragen, dem Aufleuchten von Namen im Chatfenster, dem Folgen auf Twitter suggeriert wird, nur eine Illusion ist.

Was sind sie wert, die Freundschaften, die wir im Internet pflegen? Und ist „pflegen“ – damit fängt es schon an – überhaupt das richtige Wort für etwas, das sich mit so wenig persönlichem Einsatz bewerkstelligen lässt: ein „Gefällt mir“-Klick hier, ein lustiger Kommentar dort; ohne das peinliche Schweigen in einem direkten Gespräch aushalten zu müssen, das Ungemütliche bei einem persönlichen Treffen; ohne die Notwendigkeit räumlicher oder auch nur zeitlicher Nähe (die E-Mail lässt sich später beantworten, wenn es gerade passt).

Unser Diskurs über das Internet wird von einer fundamentalen Prämisse geprägt: Online-Beziehungen sind richtigen Beziehungen; Online-Gespräche sind keine richtigen Gespräche. Es ist, als würden im Internet tatsächlich Computer miteinander kommunizieren, und nicht Menschen, die sie bedienen. Es sind nicht nur minderwertige Kontakte, es sind gar keine echten Kontakte.

Als die Drogenbeauftragte der Bundesregierung in dieser Woche eine Studie über „Internetsucht“ vorstellte, beschrieb der Direktor des Hamburger Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung, Jens Reimer, die gefährliche Anziehungskraft des Internets so: Die einzigartige Möglichkeit, online „soziale Kontakte zu pflegen“, steigere bei bestimmten Personen die Bereitschaft, ihr „Sozialleben“ in größerem Maß aufzugeben.

Ein Sinn ergibt dieser Befund nur, wenn man Online-Freundschaften nicht als reale Freundschaften wertet und den Austausch mit Freunden im Internet nicht als „Sozialleben“ akzeptiert – wie es implizit auch die Drogenbeauftragte implizit tut. Die vermeintlich internetsüchtigen, angeblich vereinsamenden Jugendlichen sind in Sozialen Netzwerken ganz besonders aktiv. Dass dieser Widerspruch in der öffentlichen Debatte nicht einmal auffällt und nach Erklärungen verlangt, zeigt, wie vollständig die Wahrnehmung des Internet von der Prämisse bestimmt ist, dass das, was online passiert, nicht echt ist.

Der Hamburger Medienforscher Jan Schmidt vermutet, es könnte am ursprünglichen Begriff „Cyberspace“ liegen, der als Metapher so überzeugend war, dass wir nun mit dem Bild eines vom wahren Lebens abgetrennten Raum auf das Internet schauen. Es könnte auch Ausdruck davon sein, dass das Internet als Aufenthaltsraum noch so neu und unfertig ist und wir im Umgang mit ihm so ungeübt. Vielleicht ist es schnöder Kulturpessimismus. Ganz sicher bündelt sich in der Abtrennung und Verteufelung des Internet aber auch die teils vage, teils sehr konkrete Angst vieler etablierter Institutionen vor dem Verlust an Macht und Kontrolle.

Dass wir dem, was im Internet passiert, die Echtheit absprechen,ist umso bemerkenswerter, als wir Kindern und Jugendlichen doch sonst im Gegenteil vermitteln wollen, dass das Internet kein von der Welt abgekoppelter Raum ist; dass Dinge, die sie online tun, offline Konsequenzen haben. Dass sie sich überlegen müssen, welche Fotos sie hochladen, und dass ein verbaler Angriff in einem virtuellen Forum jemanden tatsächlich verletzt.

Die amerikanische Wissenschaftlerin Danah Boyd, die die Nutzung sozialer Netzwerke durch Jugendliche untersucht hat, beschreibt in ihrer Promotion „Taken Out of Context“ anschaulich, wie sie lernen, dass virtuelle Erfindungen wie etwa ein Freundesranking auf MySpace sehr handfeste Auswirkungen auf die tatsächlichen Beziehungen unter den Betroffenen hat.

Die meisten Jugendlichen vernetzen sich online vor allem mit ihrem erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis aus der Schule. Sie haben realistische Vorstellungen darüber, dass nur ein kleiner Teil derjenigen, mit denen sie dort als „Freunde“ verbunden sind, tatsächlich eine enge Beziehung zu ihnen haben, und wissen die anderen dennoch zu schätzen. Und obwohl vieles an der Art, wie digital kommuniziert wird, fundamental anders ist, erfüllt sie dieselben Bedürfnisse: Junge Leute suchen und finden ihre eigene Rolle, vergewissern sich ihrer Identität, entwickeln Beziehungen.

Das findet an Orten statt, die sich der Kontrolle durch Erwachsene entziehen – aber Boyd erinnert daran, dass das immer schon so war. Früher verschwendeten die Jugendlichen ihre Zeit nicht in Chatrooms, sondern lungerten in Einkaufspassagen oder auf Parkplätzen herum. Aber analog zur Stigmatisierung all dessen, was im Internet stattfindet, wird die vermeintlich reale Welt verklärt. Jeder Kinobesuch ist demnach dem Ansehen von Online-Videos unterlegen – das erste gilt als soziale Aktivität, das zweite beinhaltet, egal wie intensiv der Austausch darüber in Foren oder Chats ist, die Gefahr der Vereinsamung.

Auch die Studie, wonach eine halbe Million Deutsche „internetsüchtig“ sind, beruht auf solchen Unterstellungen und befördert sie. Anstatt zu differenzieren, worin genau die Abhängigkeit besteht, ob es etwa konkret um Online-Spiele geht oder virtuellen Sex, wird der Ort an sich zur Gefahr erklärt. Eine der Schlüsselfragen, die zur Diagnose gestellt werden, lautet: „Wie häufig bevorzugen Sie das Internet statt Zeit mit anderen zu verbringen, z.B. mit Ihrem Partner, Kindern, Eltern, Freunden.“ Die Möglichkeit, im Internet „Zeit mit anderen zu verbringen“, ist nicht vorgesehen. Nähe und Gemeinsamkeit zählen nur in analoger, körperlicher Form. Das Internet wird konsequent als wirklichkeitsferner, einsamer Fluchtort definiert. Fragen wie: „Wie häufig setzen Sie Ihren Internetgebrauch fort, obwohl Sie eigentlich aufhören wollten?“ tun ihr übriges. (Man ersetze Internetgebrauch testweise durch Bücherlesen, Schlafen oder Essen.)

Natürlich gibt es im Internet Formen der Kommunikation, die in jeder Hinsicht virtuell sind. Menschen nehmen in Fantasiewelten Fantasierollen ein – und verlieren sich vielleicht darin. Das ist aber etwas grundsätzlich anderes als die alltäglichen sozialen Aktivitäten von Menschen im Netz. Die pauschale Entwertung von Internet-Kontakten verhindert eine Auseinandersetzung damit, welche Art von Kommunikation tatsächlich in eine soziale Isolation führen kann.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel behauptete im vergangenen Jahr im „Tagesspiegel“ in einem Essay über „virtuelle Nähe“: „Die wahren Freundschaften bei Facebook entstehen nicht dort, sondern sie entstehen im wirklichen Leben und werden ins Digitale übertragen.“ Das ist nicht nur anmaßend. Es ist auch bezeichnend in der behaupteten Dichotomie zwischen dem „wirklichen Leben“ und dem unwirklichen Internet – und den Werten, die ihnen jeweils zugeschrieben werden.

Die „wirkliche Welt“, um das mal auszusprechen, ist die, in der ein Personalchef bestimmt hat, mit wem man den Abend nach der Arbeit in der Kneipe verbringt. Im Gegensatz zum unwirklichen Internet, wo man sich über so abwegige Dinge wie gemeinsame Interessen kennenlernt und von so oberflächlichen Dingen wie der Art, Texte zu formulieren, beeinflussen lässt. Nein, wie sollen dort, über den regelmäßigen Austausch von Briefen und Kurznachrichten, über das Teilen eigener Erlebnisse, interessanter Artikel oder unterhaltsamer Links, „wahre Freundschaften“ entstehen?

Ich habe schon an so unwirtlichen Orten wie der Kommentarspalte meines Blogs nette und interessante Menschen kennengelernt, und aus einigen sind meine engsten Freunde geworden. Es sind Online-Kontakte von großer Intensität, voller Leben, Kommunikation und Austausch über alles, was man im Internet findet, also: alles.
Wir haben uns später auch in der „wirklichen Welt“ getroffen, wie Frau Meckel sagen würde, und aus den Kontakten echte Kontakte gemacht, wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung finden würde, aber ich könnte jetzt nicht sagen, ob die wichtigsten, intensivsten Momente in der analogen oder der digitalen Welt stattfanden. Die Unterscheidung ist sinnlos.

Richtig ist, dass es Facebook und ähnliche Online-Angebote erleichtern, Kontakte auf einem nicht-intensiven Niveau aufrecht zu erhalten; lose in Verbindung zu bleiben mit alten Schulfreunden oder Kollegen oder vage Beziehungen zu haben mit Menschen, mit denen uns nur ein spezielles Interesse verbindet.

Muss man sich sorgen, wenn jemand Kontakte in seinem räumlichen Umfeld zugunsten von Kontakten in einem Online-Netzwerk aufgibt? Oder nur, wenn jemand tiefgründige Beziehungen zugunsten oberflächlicher Kontakte kappt?

Angeblich ist unser Gehirn schon rein physikalisch nicht in der Lage, mit mehr als 150 anderen Menschen irgendeine Art von bedeutungsvoller Beziehung zu haben – das ist die sogenannte Dunbar-Zahl, benannt nach dem Anthropologen Robin Dunbar. Er hat sie durch einen Vergleich der Gehirngröße verschiedener Primatenarten mit der Größe ihrer sozialen Bezugsgruppen entwickelt. Sie wird trotzdem regelmäßig ernst genommen und als Beleg dafür genutzt, dass Menschen keine Hunderte oder Tausende Facebook-„Freunde“ haben können.

„Ja, ich kann mithilfe deines Tweets herausfinden, was du zum Frühstück hatte, aber kann ich dich wirklich besser kennen lernen?“, fragte Dunbar in einem Interview mit dem „Observer“. Zweifellos schaffen Facebook-Funktionen, bei denen Nutzer ihr Leben vom Babyfoto an dokumentieren, die Illusion einer Nähe, die ein gemeinsames Erleben nicht ersetzen kann. Aber es gibt keinen Grund, dieses gemeinsame Erleben auf Offline-Erfahrungen zu beschränken.

Wie bizarr ist es, dass im öffentlichen Diskurs ausgerechnet das Medium geringgeschätzt wird, das Kommunikation möglich macht, die nicht flüchtig ist? In der man teilweise auch eine Rennaissance der Kultur des Briefeschreibens sehen kann? Stattdessen gilt die Sichtbarkeit und Permanenz profaner Sekundenaufnahmen aus dem Alltag, die nur Offline-Alltag online sichtbar macht, als Beleg für die Lächerlichkeit digitaler Kommunikation.

„Wörter entgleiten uns“, behauptet Dunbar. „Jede Berührung ist tausend Wörter wert.“ Der Satz formuliert exemplarisch den Dünkel gegenüber allem, was nicht handfest begreifbar ist.

Für die Menschen, die Robin Meyer-Lucht und Jörg-Olaf Schäfers im Netz betrauert haben, waren die vielen Online-Kommentare sicher eine Form der tröstenden Umarmung. Das ersetzt keine tatsächliche Berühung, aber es ist eine Bereicherung, und sie ist echt und nicht virtuell. Und dass man oft erahnen konnte, dass sie die Verstorbenen nicht wirklich kannten, ist kein Zeichen für die Oberflächlichkeit der Online-Welt, sondern spiegelt nur wieder, dass wir von vielen Menschen, die in unserem Leben eine Rolle spielen, nur einen winzigen Ausschnitt kennen. Neu ist nicht diese Form der Beziehung. Neu ist nur die öffentliche Form privater Trauer.

Nothelle & Singelnstein

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Er gibt sich keine Mühe, seine Geringschätzung zu verbergen. Es ist ja schon Zumutung genug, dass er sich als Regierender, ach was: Natürlicher Bürgermeister von Berlin zwei Fernsehduellen mit irgendwelchen Herausforderern stellen muss. Dann könnte er die Sache wenigstens selber moderieren.

Das Schlimme ist, dass man Klaus Wowereit tatsächlich sofort die Leitung der Sendung übergeben möchte oder, alternativ, irgendjemandem. Stattdessen wird das „Berlin-Duell“ moderiert von der Programmdirektorin und dem Chefredakteur des RBB, Claudia Nothelle und Christoph Singelnstein. Als gutes Argument für die Regel, Fernsehsendungen von Moderatoren moderieren zu lassen und nicht vom Führungspersonal, hat die ARD eigentlich schon HR-Chefredakteur Alois Theisen, aber diese beiden stellen sogar ihn in den Schatten. Sie wirken, als hätte man sie gerade in einem vergessenen Kellerraum des Sender Freies Berlin entdeckt und sicherheitshalber nicht aufgeweckt. Immerhin können sie es aber vor der Kamera fast mit der Lebendigkeit der Polizeikommissare in alten „Aktenzeichen XY“-Folgen aufnehmen.

Sie beginnen die Sendung ernsthaft damit, Renate Künast zu fragen, was ihr „durch den Kopf ging“, als sie am Vormittag hörte, dass zwei Männer festgenommen wurden, die womöglich einen Bombenanschlag geplant hatten, und schließen den Themenblock im Kindergärtnerinnentonfall ab: „Auch wir haben einen großen Schreck bekommen und sind natürlich froh, dass nichts passiert ist.“ Singelnstein sucht wie ein Fünftklässler beim Gedichtaufsagen an der Decke nach den richtigen Wortern, während Nothelle flüssig Fragen formuliert, die frei von Inhalt sind. „Was raten Sie Bewohnern, die ihren Stadtteil wieder voranbringen wollen?“ Die Abschlussfrage an Wowereit lautet: „Welche Erfahrung (in der Zeit als Regierender Bürgermeister) hat Sie besonders geprägt, und welche nehmen Sie mit, um vielleicht auch das ein oder andere anders zu machen?“

Aus irgendeinem Grund waren beide wild entschlossen, nur Künast, aber nicht Wowereit zu fragen, mit wem sie koalieren wollten, und als Künast Wowereit zu einer Antwort aufforderte, ging Singelnstein mehrmals mutig dazwischen: „Wir fragen Sie jetzt nicht nach den möglichen Koalitionen, sondern am 18. September, aber wenn Sie antworten wollen, dann gerne.“

Am Ende bitten die Moderatoren die Berliner Zuschauer, am nächsten Sonntag zur Wahl zu gehen. Wer es geschafft hat, wach zu bleiben, sieht keinen Grund, ihnen den Gefallen zu tun.

Shitstorm

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

In der vergangenen Woche sind mehrere erstaunliche Dinge passiert. RTL hat sich für einen Bericht in seinem Knallmagazin „Explosiv“ entschuldigt. „Die Verallgemeinerung und Überzeichnung des Beitrags war ein Fehler“, sagte ein Moderator. „Wenn wir damit Gefühle verletzt haben sollten, entschuldigen wir uns ausdrücklich dafür.“ Die Sätze könnte der Sender natürlich in jeder seiner Magazinsendungen ausstrahlen, ohne dass es unpassend wäre, tut es aber sonst nicht.

Dann schaffte es die für RTL zuständige Niedersächsische Landesmedienanstalt, innerhalb von nur einem Tag festzustellen, dass der Beitrag zwar „ärgerlich, aber keinesfalls rechtswidrig“ war. Normalerweise sind nach diesem Zeitraum bei den deutschen Medienaufsichtsbehörden noch nicht einmal die Leute geweckt, die die Leute wecken sollen, die sich darum kümmern, Leute zu finden, die wissen, wie man an diese Fernsehbeiträge rankommt, über die die Menschen sich beschweren.

Und das alles, weil RTL sich mit den Falschen angelegt hatte. In einem womöglich lustig, ganz sicher aber gehässig und grotesk überheblich gemeinten Bericht über die Spielemesse Gamescom hatte „Explosiv“ Computerspieler als ungeliebte, ungepflegte, übelriechende Sonderlinge dargestellt. Nun ist es aber so, dass solche Jungs die Zeit, die sie beim Duschen einsparen, gerne dafür investieren, etwas zu organisieren, was man im Internet einen gepflegten „Shitstorm“ nennt. Sie sind es ohnehin gewohnt, von den Medien als Quasi-Terroristen in Ausbildung dargestellt zu werden. Echte Empörung mischte sich mit viel Tagesfreizeit, Selbstgerechtigkeit und Unterhaltungswillen, und so wehrten sie sich mit Tausenden Protestschreiben, mit Videos, Blog- und Foreneinträgen, mit dem Hacken von rtl.de, einem Flashmob und der ominösen Drohung weiterer Angriffe und schafften eine Aufmerksamkeit, von der andere Gruppen nur träumen können.

Das ist als Machtdemonstration eindrucksvoll, und so wird es sich der Sender in Zukunft sicher zweimal überlegen, bevor er Gamer bloßstellt und erniedrigt, und das lieber weiter mit wehrloseren Opfern tun.

Christoph Lütgert

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Das Jahresende 1999 verbrachte Stefan Raab damit, Heiner Bremer aufzulauern. Er wollte sich über dessen Moderationsversuche im RTL-„Nachtjournal“ lustig machen. Bremer sagte, er habe „aus guten Gründen was gegen Überfall-Kommandos“. Für Raab war das perfekt. Wochenlang füllte er seine Show mit dem vergeblichen Versuch, Bremer zu erreichen und ihm ein „Raabigramm“ zu singen.

Der NDR-Reporter Christoph Lütgert betreibt eine Art Stefan-Raab-Journalismus. Er macht aus Filmen über brisante Themen Filme über sich selbst, wie er versucht, Verantwortliche dazu zu bringen, mit ihm zu reden. Das ist — trotz klassischer Einstellungen wie dem Hinterherlaufen mit der Kamera und spektakulär plumper Ausweichversuche der Betroffenen — , nicht ganz so unterhaltsam wie bei Raab. Vor allem aber geht es in einem Film wie „Rot-Grün macht Kasse“, den das Erste in dieser Woche zeigte, dann nicht mehr um das eigentliche Ärgernis, die Hemmungslosigkeit und Gier ehemaliger Regierungspolitiker, sondern bloß um das für jeden außer Lütgert ungleich kleinere Ärgernis, dass sie sich gegenüber Lütgert nicht erklären wollen.

Es ist natürlich eine fantastische Unverschämtheit, wenn der Öl-Förderer Gerhard Schröder ihm ein Interview mit dem Satz verweigert: „Das ist kein politisches, sondern ein ästhetisches Problem.“ Es fällt nur so schwer, ihm zu widersprechen, wenn man gerade fast dreißig Minuten lang fast ununterbrochen das Gesicht Christoph Lütgerts gesehen hat, das kein Fernsehgesicht ist (immerhin ist Lütgerts Kameraleuten inzwischen der Trick eingefallen, teilweise von hinten über seine Schulter durch seine Brille zu filmen, so dass es möglich ist, gelegentlich noch etwas anderes im Bild zu zeigen als ausschließlich den Reporter). Wenn man gesehen hat, wie er einen Rechercheur darstellt, indem er im Flugzeug in einem Werbeprospekt wichtig auf das Wort „Safety“ tippt, oder einen knallharten Hund, indem er bei einer BMW-Pressekonferenz fragt, ob die neuen umweltfreundlichen Autos von Joschka Fischer selbst entwickelt wurden. Und wenn man gesehen hat, in welchem Maße bei Lütgert Empörung Argumente ersetzt. Über Marianne Tritz, die sich von Kollegen (aber nicht von ihm) durchaus kritisch befragen lässt, sagt er: „Von der grünen Kämpferin gegen den Atomtod zur obersten Lobbyistin für die todbringende Zigarettenindustrie. Ein wahrhaft atemberaubender Wechsel.“

Sein stärkster Beleg, dass er im Recht ist, ist die Weigerung der Betroffenen, mit ihm zu reden. Tun sie es doch, ist er erstaunlich hilflos. Raab hatte dann immerhin noch seine Ukulele.

Ernie & Bert

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die dümmste Antwort kommt ausgerechnet von Steve Whitmire, der nach dem Tod von Jim Henson Kermit den Frosch und Ernie spielte. Auf die Frage, ob Ernie und Bert schwul seien, sagte er: „Es sind Puppen. Sie existieren nicht unterhalb der Hüfte.“ Als ob sexuelle Identität eine Frage des Unterleibs wäre.

Früher war es die fundamentalistische Rechte, wie der amerikanische Pfarer Joseph Chambers, der in den beiden „Sesamstraßen“-Figuren subversive Propaganda für homosexuelle Lebensgemeinschaften sah. Aktuell ist es die Linke, die fordert, dass Ernie und Bert endlich ihr Coming Out haben und heiraten müssten. Die Antwort der Macher ist seit Jahren dieselbe: Ernie und Bert existierten bloß, um Vorschülern zu verdeutlichen, dass auch sehr unterschiedliche Charaktere Freunde sein könnten. Muppets hätten keine Sexualität.

Dabei gibt es durchaus vereinzelte, offen heterosexuelle Muppet-Paare: Oskar und Graf Zahl zum Beispiel haben — selten gesehene — Freundinnen. (Und in einem legendären „Sesamstraßen“-Special verspeist das Krümelmonster eine höchst aufreizende Julie Andrews — oder jedenfalls ihren Schmuck und ihre Schuhe.) Die Frage ist nicht ganz abwegig, ob die „Sesamstraßen“-Welt wirklich eine Welt ohne Sexualität ist — oder nicht doch eine nur ohne Homosexualität. Ist das Verhältnis von Ernie und Bert womöglich Ausdruck der „Don’t Ask Don’t Tell“-Ideologie — dass Schwulsein okay ist, solange man nicht darüber redet? Und würden zwei männliche (oder weibliche) Puppen, die einfach ganz selbstverständlich ein Paar sind, nicht Normalität reflektieren und demonstrieren?

Es geht eigentlich um zwei verschiedene Fragen: Dürfen Ernie und Bert schwul sein? Und: Müssen Ernie und Bert schwul sein? Die liberale amerikanische Journalistin Alyssa Rosenberg argumentiert zu recht, dass der Gedanke, dass ein Mann, der mit einem Mann zusammenlebt oder eine enge Freundschaft führt, schwul sein müsse, weder für schwule noch für heterosexuelle Männer hilfreich ist.

In der zweiten Folge der „Muppet Show“ vom 28. Februar 1976 gibt es übrigens einen großen romantischen Auftritt von Bert mit der Schauspielerin Connie Stevens, mit der er „Some Enchanted Evening“ in einer Weise singt, die alle Zweifel an seiner Heterosexualität beseitigen sollte. Das nette schwule „Sesamstraßen“-Paar müssten also dann doch andere sein als die Gay Icons Ernie und Bert.

So sieht die Welt ohne Will aus

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wenn die Leute und die Talkshows im Urlaub sind, entspannt sich das Fernsehen. Dann schaffen es auch mal schwerere Stoffe ins Programm. Ein Lob der Sommerpause.

Es sind dann, trotz des Dramas in Norwegen, keine Forderungen laut geworden, dass Frank Plasberg oder Maybrit Illner ihre Sommerpausen unterbrechen und Sonderausgaben ihrer Talkshows einberufen. Dabei ist gerade so eine Rückrufaktion — jedenfalls in der Politik — ein sehr starkes Symbol, das gleichzeitig den Ernst der Lage und die Bereitschaft zum Handeln suggeriert. Aber ganz so groß scheint das Bedürfnis der deutschen Gesellschaft nicht gewesen zu sein, sich das Grauen in einer gemeinsamen Talkrunde von Arnulf Baring, Hajo Schumacher oder Wencke Myhre erklären zu lassen.

Und, offen gestanden, haben ja die anderen Medien eine mögliche Unterversorgung mit reflexartigen Thesen und vorhersagbaren Grabenkämpfen ganz gut ausgeglichen. Aber ist es nicht erstaunlich, wie wenig diese Möbelstücke des deutschen Fernsehens fehlen, wenn sie nicht da sind?

Es ist Sommerpause, und selten war der Begriff irreführender als heute. Womöglich wird die „Bild“- Zeitung sogar die diesjährige Wiederholung ihres Evergreens „Im Fernsehen laufen nur noch Wiederholungen“ ausfallen lassen. Denn in Wahrheit ist der Sommer, wenn all die Talkshows pausieren, eine Zeit geworden, die eine Ahnung davon gibt, wie aufregend und relevant öffentlich-rechtliches Fernsehen sein könnte. Zu keiner anderen Jahreszeit kann es einem so leicht passieren, noch vor Mitternacht auf eine aktuelle, sehenswerte Dokumentation oder einen besonderen Film zu stoßen.

Am vergangenen Mittwoch zum Beispiel gaben Jo Goll und Matthias Deiß den Zuschauern einen Einblick in die Gedankenwelt, die den Berliner Kurden Ayhan Sürücü dazu brachte, seine Schwester Hatun umzubringen, weil sie durch ihren Lebenswandel die „Ehre“ seiner Familie verletzt habe.

Die Dokumentarfilmer von „Verlorene Ehre“ haben den Täter im Gefängnis getroffen, und es war schockierend, wie normal dieser junge Mann wirkte, wie wenig er von einer Bestie hatte, wie plausibel seine Beteuerung war, dass er ja niemanden außerhalb des Weltbildes seiner Familie hatte, an den er sich hätte wenden können, und wie tief trotzdem der Glaube in ihm verwurzelt scheint, dass es nicht ganz ungerecht war, was er da getan hat. Es ist ein Film, der viel erklärt, aber noch mehr ratlos macht, und es ist natürlich banal, hinzuzufügen, dass keine Talkshow zum Thema „Ehrenmord“ diese Nähe und Tiefe, Anschaulichkeit und Intensität erreichen könnte.

Außerhalb des Sommers sind solche Schätze in die Spartenprogramme oder in die Nacht verbannt. Dabei macht gerade am späteren Abend die Anfangszeit viel aus. Niemand weiß das besser als die ARD, die ihre „Tagesthemen“ vor einigen Jahren auch deshalb in einem eigentlich übertrieben wirkenden Kraftakt um eine Viertelstunde auf 22.15 Uhr vorgezogen hat. Die Fernsehnutzung steigt im Verlauf des Abends allmählich an, bis sie um kurz nach neun ihren Höhepunkt erreicht: Knapp 45 Prozent der Menschen schauen jetzt fern. Nach 22 Uhr fällt die Kurve steil ab: innerhalb einer Stunde von 40 Prozent auf 25; um Mitternacht sind es nur noch rund 15 Prozent.

Wer weiß, wie viel Zuschauer mehr man für die leise, unspektakuläre und dadurch sehr bewegende Reportage „Die letzte Loveparade“ vor zwei Wochen hätte gewinnen können, wenn sie nicht erst weit nach Mitternacht geendet hätte. So waren es nur 600 000. „Die verlorene Ehre der Hatun Sürücü“ begann immerhin um 23 Uhr und fand ein Publikum von 1,6 Millionen Zuschauern. Auch Filme, die sperriger sind, haben um diese Zeit die Chance, dass die Menschen vor den Fernsehern noch nicht ganz weggedöst sind. Lutz Hachmeisters anderthalbstündige Collage mit Einblicken in die SPD am Tag zuvor sahen 880 000 Menschen.

Im ZDF blockiert sonst „Markus Lanz“ regelmäßig die Sendeplätze, zu denen man Stoffe senden könnte, die sich vielleicht um 20.15 Uhr schwer täten, aber mehr Zuschauer verdient haben, als es in den Nischen und nachts gibt. Leider wiederholt der Sender stattdessen „Lanz kocht“, zeigt aber auch eine zweiteilige Dokumentation von Sandra Maischberger über den Nato-Doppelbeschluss vor dreißig Jahren: „Pershing statt Petting“.

Jetzt schafft es sogar die Reportagereihe „ARD-exklusiv“, die früher einen festen Platz am Hauptabend hatte, bis sie der Wiederholung des „Tatorts“ weichen musste, wieder ins Bewusstsein der Zuschauer. Sie ist der Lückenfüller, wenn „Hart aber fair“ pausiert, und beginnt am Mittwoch um 21.45 Uh r ihre „Sommerstaffel“ mit einem Bericht über „das Hermes-Prinzip“. Während Michael Otto, der Hauptbesitzer des Paketdienstes, sich öffentlich für sein soziales Engagement feiern lässt, bekommen die Fahrer am unteren Ende einer ausgeklügelten Unternehmenspyramide nur beschämende Cent-Beträge pro Paket, das sie ausliefern. In den Wochen daraufgeht es um alte Arbeitslose, um das lukrative Geflecht von Politik und Wirtschaft von Gerhard Schröder und Joschka Fischer und um die industrielle Hähnchenproduktion des „Systems Wiesenhof“, und vermutlich wird nicht jeder dieser Filme gleich gelungen sein. Aber ihre Relevanz und Brisanz ist offenkundig, und sie machen schmerzhaft deutlich, wie selten es die Lebenswirklichkeit sonst jenseits der Magazin-Häppchen ins Fernsehen schafft.

„Das ist bester Journalismus im Ersten“, sagt ARD-Chefredakteur Thomas Baumann. Nur warum kommt der sonst so selten so prominent ins Programm? Die vielen Shows, die sonst die Sendeplätze blockieren, pausieren nicht nur deshalb im Sommer, damit die Mitarbeiter schön mit ihren schulpflichtigen Kindern wegfahren können, sondern vor allem, weil dann am wenigsten Menschen fernsehen. Im Januar 2010 hatten die Deutschen im Schnitt 256 Minuten täglich den Fernseher eingeschaltet; im August war es fast eine Stunde weniger.

Das Programm als Wundertüte mit Relevanz, das wenigstens ansatzweise aus der berechenbaren vollständigen Formatierung ausbricht, leistet sich die ARD nur, wenn eh nicht so viel auf dem Spiel steht. Wenn die Menschen aus dem Alltag ausbrechen, macht sich auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen ein bisschen locker, was paradoxerweise bedeutet, dass auch schwerere Stoffe ins Programm kommen können. Das beschränkt sich nicht auf Dokumentationen. Am Montagabend, wo sonst Reinhold Beckmann am Küchentisch in Gästeseelen bohrt, gibt es im Sommer plötzlich einen Sendeplatz für junge Spielfilme. Morgen läuft dort Junge Parasiten“ von Christian Becker und Oliver Schwabe. Und auch für ein cooles, cleveres, schnelles Fernsehkrimiformat wie die bisher dreiteilige BBC-Reihe „Sherlock“, die sehr gegenwärtige Versionen der Klassiker Holmes und Watson zeigt, hätte die ARD außerhalb der Urlaubszeit gar keinen Sendeplatz, ebenso wenig wie für moderne internationale Serien und Filme. Es ist halt alles vollgestellt.

Dabei können die Zuschauer anscheinend sogar mit dem Schock umgehen, dass sonntags nach dem „Tatort“ etwas anderes kommt als ein Stuhlkreis zum Thema „Ist Deutschland / Europa / die Regierung / der Sommer am Ende“. Viereinhalb Millionen Menschen sahen vergangenen Sonntag um 21.45 Uh r die erste Folge von „Sherlock“ – eineinhalb mal so viel, wie die letzte Folge von „Anne Will“ hatte. Die Sommerpause ist auch nicht mehr, was sie mal war.

Thomas Gottschalk

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Das Gute für ihn ist: Er kann immer wieder zurückgehen. Wäre ja nicht das erste Mal, dass er sich groß verabschiedet von „Wetten, dass“, um dann nach kurzer Zeit einfach wieder zurückzukommen, fragen Sie mal Wolfgang Lippert. Ab einer bestimmten Liga wirkt das nicht unentschlossen oder unsouverän, sondern als Beweis echter Größe. Hans-Joachim Kulenkampff hat sich schon 1966 zum ersten Mal von „Einer wird gewinnen“ verabschiedet. Vielleicht könnte man sogar eine jährliche Gottschalk-Verabschiedungs- und Rückkehr-Routine daraus machen, quasi eine Meta-Show, mit den Berichterstattern als Kandidaten, die erraten müssen, zu welchem Sender er das nächste Mal geht, wohin er dafür seinen Wohnsitz verlegt und ob Michelle Hunziker ihn begleiten wird.

Vorerst aber zerbrechen sich die Medienprofis und -laien im Land rührend den Kopf, wie genau die ARD denn Platz finden soll für eine fast-werktägliche halbstündige Gottschalk-Show vor der „Tagesschau“, wo diese Strecke doch zugerümpelt ist mit Programmhinweisen, Werbung, einem Miniwissensmagazin, Werbung, einem Minibörsenmagazin, Werbung und dem Wetterbericht. Dabei ist das leicht: Das wird einfach alles Teil der neuen Show.

Gottschalk sitzt also auf dem Sofa und begrüßt die Zuschauer zuhause und die Moni aus Pirmasens, die per Facebook zugeschaltet ist und über deren knappes Kleid er ein paar anzügliche Witze macht, die Kamera zieht auf, man sieht, dass Steffi zu Guttenberg schon neben Gottschalk sitzt, er bietet ihr auf die Frage, wie es so war in Amerika, drei Antwortmöglichkeiten und erkundigt sich, ob sie sich auch schon mal gefragt hat, wie ein Fahrstuhl funktioniert, aha, soso, na dann soll uns das der Ranga mal erklären; es folgt ein Einspielfilm über eine Familie aus der Pfalz, die kleine Nougat-Guttenberge verkauft, ein Quiz, bei dem Moni gegen irgendeinen Twitter-Typ um einen Audi spielt, eine Schalte zur Börse, der Lustige-YouTube-Clip des Tages, die Nachfrage bei Moni, wie denn das Wetter in Pirmasens ist, Überleitung zu Claudia Kleinert, die Moni sagt, dass sie die Grillparty am Wochenende knicken kann, Verabschiedung Steffi zu Guttenberg, morgen auf dem Sofa: Fritz Wepper!

Barbara Salesch

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die große Stärke von Richterin Barbara Salesch ist ihre Fähigkeit, nicht zu urteilen. Vor ihr spielen sich die erschütterndsten Szenen ab: Arme werden in die Luft geworfen, Hände gerungen, Stimmen gepresst und überschlagen, Gesichter verzogen, Augen aufgerissen und gerollt. Doch all diese Gewalttaten, begangen im Auftrag eines Fernsehsenders von Menschen, die große Gefühle und dramatische Überraschungen ausdrücken sollen und dafür ungefähr so viel Talent haben wie eine Autobahnbrücke, bleiben ungesühnt. Barbara Salesch schafft es, im Angesichts dieses Grauens mit keiner Wimper zu zucken. Sie prustet nicht laut los, kichert nicht in sich hinein und bricht nicht weinend über dem Richtertisch zusammen. Sie spricht nicht einmal, was das Mindeste wäre, ein lebenslanges Fernsehauftrittsverbot aus. Nur ganz gelegentlich ruft sie die Zeugen und Angeklagten, Verwandten, Geliebten und Prostituierten, in einer Heftigkeit zur Ordnung, dass nicht ganz klar ist, ob das nur der Rolle gilt oder auch ihrem Darsteller.

Mit der Umstellung der täglichen Sat.1-Show „Richterin Barbara Salesch“ von echten kleinen Fällen vor einem Schiedsgericht zu gespielten Verhandlungen über Mord- und Totschlag-im-Swingerclub-Dramen begann vor elf Jahren der Siegeszug der Darstellerlaien im deutschen Fernsehen. Viele spielen sich in ihren Rollen geradezu in einen Rausch (wobei genauso wahrscheinlich ist, dass sie den schon zu den Dreharbeiten mitgebracht haben), schaffen es aber trotz allem Bemühen regelmäßig nicht, auch nur annähernd so geistesgestört zu wirken wie Drehbücher.

Fürs Fernsehen entdeckt wurde Salesch, die richtige Richterin in Hamburg ist, ursprünglich, weil sie so munter, volkstümlich und extrovertiert ist. Inzwischen fällt sie eher dadurch auf, wie gleichmütig und unbeeindruckt sie das Beklopptheitengetöse in ihrem falschen Gerichtssaal hinnimmt. Leise fragt sie zum millionstenmal den Beruf eine Befragten ab und weist ihn darauf hin, dass er vor Gericht die Wahrheit sagen muss. Wenn sie selbst Fragen stellt (was sonst meist die Staatsanwälte und Verteidiger übernehmen, die echte Staatsanwälte und Verteidiger sind, die Laiendarsteller spielen, die Staatsanwälte und Verteidiger spielen), tut sie das mit einer Behutsamkeit und in einem Tonfall, als ob sie mit Drei- oder Hundertdreijährigen spricht.

Ähnlich routiniert beantwortet sie inzwischen Journalistenfragen. Ein zehn Jahre altes Zitat des ehemaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofes muss immer noch als Beleg dafür dienen, dass ihre Justizparodie auch gut sein könnte für die Justiz. Noch länger bezeichnet sie sich als „Deutschlands bestbeobachtete Richterin“ und schließt daraus, dass die Urteile über den Quatsch seriös sein müssten.

Nun hat sie bekanntgegeben, dass sie zum Ende des Jahres aufhören will. Sie will sich mehr der Malerei widmen. Ich hätte angenommen, dass sich das auch während der Show machen ließ, hinter dem Richtertisch, zwischen zwei Nichtvereidigungen von Zeugen. Irgendwas hat sie da immer schon vor sich hingekritzelt. Aktennotizen werden es ja nicht gewesen sein.