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Seine Show, sein Publikum, seine Wahrheit

Ein Besuch in der Welt des Carsten Spengemann, in der Deutschland den Superstar schon gefunden hat.

Sie springen von ihren Sitzen, als er auftritt. Er läuft schwungvoll die Treppe herunter, und alle Menschen stehen in der Halle. Sie toben, brüllen, applaudieren. Seine Augen glänzen. „Hallo!“ ruft er. „Hallo!“ Es ist nicht nur eine Begrüßung, es ist auch ein Ausdruck des Staunens. Er rollt die Karten, die er in den Händen hält, und sagt: „Eins ist klar: Das nenn‘ ich schon mal richtig großen Applaus. Denn: Sowohl das Studiopublikum als auch Sie zu Hause haben natürlich lange — “ Er bricht ab und lacht. Keine Chance. Das Publikum hat sich noch nicht beruhigt.

Außer den tausend im Studio sehen ihn jetzt zwölf, dreizehn, vierzehn Millionen Menschen zu Hause vor ihren Fernsehgeräten. Sehen ihn, Carsten Spengemann, den Moderator von „Deutschland sucht den Superstar“: 30 Jahre jung, strahlend lächelnd, braungebrannt, haargegelt, schlank, groß, makellos.

Er bekommt Fanpost in Kisten. 800 Briefe passen in jede. Er hat vorher am Vorabend in der ARD-Soap „Verbotene Liebe“ gespielt, da schmachteten ihn die Mädchen auch an. Das war Zielgruppenfernsehen. Jetzt bittet ihn am Flughafen der Geschäftsmann im Maßanzug um Autogramme. Für Frau, Kinder, Zimmermädchen. Wie groß die Show wird, wie groß er wird, merkt er im Dezember. „Als der Pizzabote vor mir stand und den Karton fallen ließ.“ Spengemann erklärt ihm: Doch, er sei es wirklich, und sortiert den Belag wieder auf die Pizza. „Das ist ein Moment, den werde ich mein ganzes Leben nicht vergessen“, sagt er.

„Ich wollte diesen Job immer machen, ich habe viel dafür getan. Ich habe das von der Pieke auf gelernt. Deshalb ist es für mich das schönste Gefühl zu wissen: morgen ist Probe. Ich freue mich wie ein kleines Kind darauf. Das ist, wie auf den Abenteuerspielplatz zu gehen.“ Er sagt, es sei bei ihm wie bei den Kandidaten: „Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen.“ Nein, diese Riesenchance spüre er nicht als Last. „Wenn ein Rennfahrer eine Testfahrt in der Formel 1 angeboten bekommt, was geht ihm durch den Kopf? Ich glaube, der denkt nicht über den Druck nach, sondern will einfach fahren, Spaß haben, das Auto ausprobieren. Genauso ist es bei mir. Natürlich ist mir klar, daß RTL mich ausgesucht hat und es da auch eine Erwartungshaltung gibt. Diese Erwartung habe ich, glaube ich, erfüllt.“

Carsten Spengemann ist über Nacht berühmt geworden. Die ganze Welt kennt ihn. Für Stefan Raab ist er „die Elster“. Die „Bild“-Zeitung nennt ihn „Pannemann“. Radiosender machen lustige Serien über ihn und wünschen sich Aufsager wie: „Hallo, ich bin Carsten Spengemann, und ich klaue nur Radios, auf denen Radio X. läuft.“ Ein Richter hat ihn verurteilt, weil er den Cartier-Ring einer flüchtigen Frauenbekanntschaft unterschlagen haben soll. Ein Kollege behauptet, Spengemann habe einen Koffer entwendet. Spengemanns Mutter soll eine uneheliche Tochter von Hans Albers sei, was diverse Hans-Albers-Fanclubs für einen Witz halten.

Tagelang diskutiert die halbe Nation, schenkelklopfend, aber detailverliebt, ob Spengemann beim Alsterradio ein Volontariat (wie er sagt) oder ein Praktikum (wie der Sender sagt) absolviert hat. Daß den meisten vorher — völlig zu Recht — die Existenz eines „Alsterradios“ gänzlich unbekannt war, tat der Ernsthaftigkeit der Diskussion und der Schwere der Anschuldigungen keinen Abbruch.

Die Welt ist verrückt geworden. Und Carsten Spengemann?

Sitzt im Eßzimmer seiner Managerin und ist glücklich. Er sieht in Natur noch perfekter schön aus als im Fernsehen, falls das überhaupt vorstellbar ist. Die Haut noch gebräunter, die Augen faszinierend hellgrau, das weiße Hemd weit genug geöffnet, den Blick auf kurzgeschorene Brusthaare freizugeben. Er raucht Kette, sagt „du“, wirkt edel, aber ungeschliffen und mit seinem Hamburger Dialekt sehr kumpelhaft. Und er freut sich darauf, wie es weitergeht mit seiner Karriere, jetzt, nach diesem unfaßbaren Erfolg, den er hat.

Er hat gute Argumente gegen das, was ihm vorgeworfen wird. Wenn man ihm zuhört, wie das abgelaufen sei, im Prozeß zum Beispiel, klingt das plausibel, und auch die ungeschickte Geschichte von seinem „Opa“ Hans Albers will er nie selber lanciert haben, sondern eine Ex-Freundin, Journalistin, die dabei war, am Totenbett der Großmutter. Es ist leicht, ihm zu glauben, daß ihm übel mitgespielt wurde. Die Managerin ruft, noch ehe man richtig in ihrem Büro ist: „Er ist ein Opfer! Carsten ist hier das Opfer!“

Carsten Spengemann hat eine These, warum er ein Opfer wurde. „Von 17.55 Uhr auf 21.15 Uhr zu wechseln — das gab es noch nie in Deutschland“, sagt er. „Es gab noch nie den Sprung, daß jemand aus einer Soap kam und die Chance hatte, ganz großes Fernsehen zu machen. Das bringt viele Leute auf den Plan, die meinen: Es kann nicht sein, daß jemand aus einer Soap kommt — zwar Schauspielerei gelernt hat und jetzt auch noch moderieren kann — plötzlich eine Quote hat, die es sonst nur bei ,Wetten, dass …?‘ gibt.“

Das wäre soweit nicht unplausibler als andere Verschwörungstheorien, gäbe es nicht einen Haken: Es beruht auf der Annahme, daß der ehemalige Hamburger Türsteher und Soap-Darsteller Carsten Spengemann gerade einen unglaublichen Erfolg feiert, den ihm die Welt neidet. Bei RTL selbst sagt man, daß das Moderatorenpaar ungefähr das Unwichtigste an der Sendung ist. Spengemann dagegen hält „Superstar“ für seine Sendung und ihren Erfolg für seinen Erfolg, etwa so, wie Susan Stahnke die „Tagesschau“ für „ihre“ Sendung hielt. Er erfindet zwar im Gespräch kluge, treffende Metaphern: „Ich bin ein Rädchen im Uhrwerk. Vielleicht, wie bei einer Glasuhr, das Rädchen im Boden, das man als erstes sieht. Ich bin ein Teamspieler.“ Aber jedesmal, wenn es um die Sendung geht, sagt er „ich“ statt „wir“ und spricht von seinen 15 Millionen Zuschauern.

Mehrmals erzählt er, daß die Medien ja alles mögliche Schlechte über ihn erzählten, aber niemand, niemand werfe ihm vor, nicht moderieren zu können oder einen schlechten Job zu machen. Vielleicht hat er die „Süddeutsche“ nicht gelesen, deren positivste Formulierung war, ihn einen „professionellen Schön-Ausseher“ zu nennen. Oder die Fernsehbeilage des Stadtmagazins „Tip“, bei der im Programmteil stand: „Moderation, falls man das überhaupt so nennen kann: Michelle Hunziker und Carsten Spengemann.“ Oder die „Berliner Zeitung“, die schrieb: „Spengemann könnte für die Kandidaten zum lebenden Beweis werden, daß man es auch ohne alle Gaben auf die Bühne schaffen kann.“

Carsten Spengemann ist bestimmt kein dummer Mensch und wahrscheinlich auch kein Dieb oder chronischer Lügner. Aber er glaubt, daß er die Riesenchance, die er bekam, voll genutzt und sich durch seine professionelle Leistung für große zukünftige Fernsehaufgaben empfohlen hat. „Sein Realitätsverlust ist dramatisch“, sagt ein RTL-Mitarbeiter.

Doch der Moderator bekommt den Erfolg ja täglich bestätigt: In der Fanpost. Von den Menschen auf der Straße, die ihm auf die Schulter klopfen und sagen: Wir glauben an dich! Vom Berliner Bürgermeister, der ihm, wie er erzählt, beim „Echo“ gesagt habe, er solle bloß nicht hinschmeißen. Von seinem Sender, der öffentlich erklärt, Spengemann „ist und bleibt“ der Moderator. So sehr er die Kritik, die Wirkung der furchtbaren Boulevardgeschichten, seinen Status als aktuelle Lachnummer der Nation ausblendet oder als eine normale „Begleiterscheinung“ des Erfolges nimmt, so sehr nimmt er jedes positive Bekenntnis, das zu so einem öffentlichen Dasein gehört, für bare Münze. Ginge man mit ihm in ein Rockkonzert, würde er wohl hinterher glücklich sagen: „Wahnsinn! Wir waren das beste Publikum, das sie je hatten.“

Wie lebt einer, der es so heftig abbekommen hat? „Muhammad Ali hat es auch mal richtig auf die Augen gekriegt und stand am nächsten Morgen auf und fragte sich: Ist es das wert? Was hat er gemacht? Er hat sich den Typen vorgenommen und Revanche genommen und gewonnen. Weil er seinen Job geliebt hat. Und genauso ist es bei mir.“

Er vergleicht sich mit Robbie Williams, der ja auch, wie er, den Sprung vom belächelten Teenie-Star in die allererste Reihe schaffte. Über den ja auch, wie über ihn, so viele schlimme und wahrscheinlich zu 99,5 Prozent erfundene Geschichten geschrieben wurden. Bei dem es ja auch, wie bei ihm, das Publikum nicht mehr interessiere, weil seine Arbeit über jeden Zweifel erhaben ist.

Er glaubt, daß alles gut wird: „Ich habe keine Leichen im Keller. Die Presse hat jetzt meinen Keller, meinen Dachboden und die Tiefkühltruhe abgesucht und dreimal den Garten umgegraben. Das Gute ist: Die Gerüchte und Trittbrettfahrer sind jetzt hoffentlich durch und langweilig.“ Auch die „Bild“-Zeitung sei zumindest schon halb umgeschwenkt. Er folgert das aus einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ vergangene Woche, in dem jede einzelne Frage ein Witz auf seine Kosten ist.

Es ist tragisch. In der Welt von Carsten Spengemann ist Carsten Spengemann ein erfahrener Live-Moderator, weil er regelmäßig einen Pausenfüller im WDR-Werbefernsehen namens „Studio 1“ moderiert hat, wo Leute anrufen und etwas gewinnen konnten.

Vielleicht ist er wirklich ein umgänglicher Kerl, auch wenn er ein paar Mal im Beisein des Reporters ausrastet, wenn ihn seine Managerin ins Wort fällt, und er mit rollenden Augen auf den Tisch haut und ein paar Sekunden wie ein Amok-Läufer vor dem Zücken der Waffe wirkt. Aber jemand müßte ihm sagen, daß es nicht geschickt ist, einen Richter zu beschimpfen, öffentlich Witze über die Co-Moderatorin zu reißen oder sich mit Robbie Williams zu vergleichen. Jemand müßte ihm erklären, warum Oliver Geißen, ein anderer junger Hamburger Moderator, öffentlich sogar jeden Vergleich mit Thomas Gottschalk ablehnt. Jemand müßte ihm erzählen, wie Leute von RTL und der Produktionsfirma Grundy reagieren, wenn man ihnen erzählt, daß Spengemann kaum Ferien machen will, um gegebenenfalls bereitzustehen für die nächste „Superstar“-Staffel: Sie schweigen, lang und unmißverständlich.

Jemand, der es gut mit ihm meint, müßte ihm sagen, daß ein längerer Urlaub gerade wirklich nicht schaden kann.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Johannes B. Kerner

“Ich hab’ ja nicht gefragt!” Und nicht fragen wird man wohl noch dürfen: Seit einem Jahr talkt Kerner täglich — ein Blick zurück im Zorn

Kerner: Sie haben ein Kochbuch geschrieben über Suppe, ja? Wie heißt das genau?

Marianne Sägebrecht: „Meine Überlebenssuppen – Geschichte und Rezepte“.

Kerner: Also geht’s nicht nur um die Suppen, das hab‘ ich mir auch gedacht, das wäre auch ein wenig dünn gewesen, also nicht die Suppen, sondern für das Buch, und das wäre Ihrem ereignisreichen Leben auch gar nicht angemessen.

Und damit ein herzliches Willkommen zu unserem Jahresrückblick „Kerner 2002“ – vielen Dank für den freundlichen Empfang.

Es war das erste Jahr, in dem Johannes B. Kerner sich fast werktäglich hinter einen wuchtigen Schreibtisch setzte, auf Karteikarten schaute und mit Leuten redete, gern je einem Politiker, Schauspieler und Opfer, 150 Sendungen insgesamt. Und weil es die Zeit ist und Kerner heute im ZDF wieder den Rückblick „Menschen 2002“ moderieren darf, wollen auch wir zurückschauen, auf ein Jahr Kerner täglich – mit vielen bunten Ausschnitten aus seiner Show.

Kerner: Ich glaube, du bist genauso nett wie ich.

Dieter Bohlen: Das kommt nur nicht so rüber.

Kerner: Dann versuchen wir jetzt mal, den Leuten das zu beweisen.

Doch, er hat es immer noch, am Ende dieses Jahres: das Etikett „nett“. Die Journalisten haben es ihm so oft angeklebt, und er hat so oft empört gefragt, was die Leute denn von ihm erwarten: „Soll ich randalieren? Mich besaufen?“, daß er es inzwischen sicher selber glaubt. Dabei ist Johannes B. Kerner fast so nett wie ein Schaulustiger, der vorbeikommt, wenn Brandstifter einem das Haus angezündet haben, Öl ins Feuer gießt, einem dann anteilnehmend auf die Schulter klopft und kopfschüttelnd fragt, was für Leute so was nur machen.

Ein Fernsehjournalist, der die Schlagersängerin Michelle eingeladen hätte, der von einigen Blättern eine Affaire mit Oliver Kahn nachgesagt wurde, hätte sie gefragt: „Läuft da was?“ Und sie hätte antworten können: „Ja.“ Oder: „Nein.“ Oder: „Das geht Sie einen Dreck an.“ Aber so läuft das nicht bei Kerner.

Kerner: Hallo Michelle, herzlich willkommen. Ja, übrigens Oliver Kahn war eigentlich angesagt für diese Sendung. Der FC Bayern hat ihm nach den glorreichen Spielen zuletzt verboten, die Stadt zu verlassen, und deshalb konnten wir das schöne Treffen mit Ihnen . . . Hätten Sie ihn gerne mal kennengelernt?

Michelle: Das ist schade, weil man sagt ja, ich hätte ein Verhältnis mit ihm, und ich hätte ihm zumindest vorher gerne einmal die Hand geschüttelt.

Kerner: Ach, Sie haben ihn noch nie getroffen?

Michelle: Nein, ich kenne ihn leider nicht.

Kerner: Ich kannte das Gerücht. Ich hätte nicht die Frechheit besessen, Sie darauf anzusprechen. Aber er ist ja glücklich verheiratet, wird Vater, zum zweiten Mal, das müßten Sie eigentlich wissen?

In Zeitlupe: Kerner lädt Michelle und Kahn ein. Er spricht Michelle noch vor dem Hinsetzen auf Kahn an. Dann stellt er sich neben den Schlamm, in den er sie geschubst hat, und zeigt auf seine sauberen Hände. So einen kann man natürlich als „nett“ bezeichnen. Zwingend ist es nicht.

150 Sendungen, das sind für Kerner fast 150 Stunden Angst. Angst, Stellung zu beziehen. Angst, etwas zu sagen, womit er aneckt. Dabei hat ein Talkmoderator in seiner Rolle wenig Gelegenheit, das Falsche zu sagen – doch Kerner hat sogar Angst, das Falsche zu fragen. Deshalb ist er zum Meister im Nichtfragen geworden. Mit Bastian Pastewka sprach er vor der Bundestagswahl darüber, ob er Brief-, Stamm- oder Wechselwähler sei, dann passierte dieser Dialog:

Kerner: Wenn ich sozusagen jetzt die eine Frage stelle, die man natürlich geneigt ist zu stellen, dann rufen immer Menschen an und sagen: Wir haben geheime Wahl, und da muß man doch gar nicht – und dann sag‘ ich immer: Man darf ja fragen! Man muß ja nicht antworten. Ne?

Pastewka: Was ich gewählt habe?

Kerner: Ja. (Pause.) Na, ich hab‘ ja nicht gefragt.

Pastewka: Natürlich.

Kerner: Nein, ich hab‘ ja nicht gefragt.

Pastewka: Natürlich.

Kerner: Nein, ich hab‘ erklärt, warum es nicht kommt.

Pastewka: Gut.

Kerner: So, und jetzt aber . . . (wechselt das Thema).

Das macht ihm keiner nach. Niemand kann ihm vorwerfen, eine unverschämte politische Frage gestellt zu haben. Und niemand kann ihm vorwerfen, das heikle Thema nicht angesprochen zu haben. Niemand kann ihm irgend etwas vorwerfen. Außer diese seine Glitschigkeit natürlich. Aber dann antwortet er wörtlich, wie jetzt in der „Hörzu“: „Wissen Sie, wie viel Geld ich verdiene? Es ist unglaublich, wie viel Geld ich mit diesem Image machen kann. Besser geht’s nicht. Ich habe alles richtig gemacht!“

Pastewka: Der MDR ist toll.

Kerner: Ein Sender aus Leipzig, der für die umliegenden Regionen sendet.

Pastewka: Aus der Zone, seien wir ehrlich.

Kerner: Das wäre nicht meine Formulierung.

Das war auch nicht seine Formulierung — das war Pastewkas Formulierung. Kerner distanziert sich sogar von den Aussagen seiner Gäste. Besser ist das. Man weiß ja nie. Er hat nämlich schlechte Erfahrungen gemacht. Manchmal hat er Fragen gestellt, aus denen die Befragten fahrlässigerweise schlossen, daß er damit etwas sagen wollte.

Kerner: Sie erwarten, wenn ich so viel Details verraten darf, Ihr zweites Kind vom zweiten Mann. (Was er meint: Ihre Kinder haben verschiedene Väter.)

Alexa Hennig von Lange: —

Kerner: Stimmt doch, oder?

Hennig von Lange: —

Kerner: Ist doch o.k., ist doch auch bekannt, oder?

Hennig von Lange: Welches Jahrtausend haben wir denn überhaupt?

Kerner: Nee, völlig o.k. Im übrigen kann jeder, wie er möchte.

Dazu macht er mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung, die sagt: „Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten“, aber auch: „Treten Sie mir nicht zu nahe!“ Was ihn so unwahrscheinlich massenkompatibel macht, ist, daß seine demonstrative Toleranz deutlich unterfüttert ist mit eigener Abgrenzung von allem, was Toleranz verlangt. Kathy Karrenbauer, die für ihre Rolle als klassische Klischee-Kampflesbe in „Hinter Gittern“ bekannt wurde, begrüßt er mit größtmöglichem körperlichen Abstand von jenseits des Schreibtisches und erklärt:

Kerner: Ich wahre respektvolle Distanz.

Später wird er sich hoffnungslos festbeißen an der Frage, wie das für sie war, eine Frau zu küssen, und noch lange, nachdem sie gesagt hat, daß es für sie keinen Unterschied macht, ob sie einen Kuß mit einem Kollegen oder einer Kollegin spielt, erkundigt er sich erregt nach der „Überwindung“, die sie das gekostet habe. Vielleicht beruht sein Image, „normal“ zu sein, auf dieser Haltung eines aufgeklärten Spießers, der brav sein konventionelles Leben führt und sich unschuldig interessiert nach den Verirrungen der anderen erkundigt, sich manchmal sogar bemüht, sie zu verstehen. Obwohl es ihm nicht immer gelingt: Mathieu Carrière erzählt, ein Kind könne bei getrennten Eltern auch zwei Zuhause haben, und Kerner findet das — nicht so gut.

In Kerners Sprache ist von dem Versuch seiner frühen Jahre bei Sat.1, „natürlich“ zu wirken, nichts übriggeblieben. Heute schafft er es gerade noch, die Frage „Wann haben Sie angefangen zu schreiben“ unverkrampft herauszubringen. Kompliziertere Gedankengänge klingen deutlich angestrengter. Am Jahrestag des 11. September ist er so erfüllt von Bedeutung, daß er die ZDF-Kollegin, die damals am Ground Zero war, fragt:

Kerner: Julie, Sie haben ja nicht nur über Sachverhalte berichtet, sondern in der Hauptsache auch in den Tagen und Wochen danach über Menschen, über Schicksale, auch über Helden. Das sind ja Sachen, die einem sehr nahegehen, auch als Berichterstatter — oder als Berichterstatterin. Sind daraus Kontakte geworden, haben Sie zu einigen Menschen, über die Sie damals Bericht erstattet haben, heute noch Kontakt?

Kein Journalist, der bei ihm zu Gast ist, verläßt das Studio, ohne daß Kerner ihn mehrfach mit seinem Lieblingswort „Bericht erstatten“ eingenebelt hätte. Auf das schlichte „berichten“ kommt er nur, wenn er vorher wenigstens „Sachverhalte“ sagen durfte. Vermutlich glaubt Kerner, daß „Bericht erstatten“ nicht nur wichtiger klingt, sondern auch korrekter ist, und wenn es etwas gibt, an das Kerner glaubt, dann ist es Korrektheit.

Kerner: Als Sie den Job bekommen haben, hat Herr Schröder Sie angerufen? – Also, der Herr Bundeskanzler, wir wollen ja die Form wahren.

Korrektheit ist gut gegen Angst, und das Kokettieren mit Korrektheit ein schöner Weg, ein Gespräch zu beginnen und sich in Sekunden so winzig klein zu machen, daß seine Gegenüber wissen, daß auch sie keine Angst haben müssen.

Kerner: Die Vorstandsvorsitzende der Firma Veronas Dreams AG.

Verona Feldbusch: Richtig.

Kerner: Gut, dann habe ich das ordentlich ausgesprochen.

Fernsehen besteht aus Ritualen. Es braucht Menschen, die uns Tag für Tag erzählen, daß sie sich freuen, daß wir eingeschaltet haben, und sich Tag für Tag entschuldigen, daß das leider schon alles war, wofür die Sendezeit reichte. Weil Kerner aber, wie er der „Hörzu“ verriet, „in allen Dingen der Beste sein“ will („Oberstes Drittel reicht mir nicht. Eins b reicht mir nicht. Eins b kann jeder andere sein“), hat er die üblichen Talkmaster-Floskeln auftoupiert: mit großen Adjektiven. Seit er viermal die Woche Dienst hat, sind sie ihm in dieser Form im Ritual erstarrt. Er kündigt „außerordentlich interessante“ Gäste an, bedankt sich „sehr herzlich für das sehr offene Gespräch“, und wenn er versucht, seine Standard-Beteuerungen mit individuellen Bemerkungen zu schmücken, schwurbelt es ihn vollends aus der Kurve. Der schwangeren Alexa Hennig von Lange sagt er zum Abschied nicht: „Schön daß Sie da waren, alles Gute für die Geburt.“ Sondern:

Kerner: Ich bedanke mich sehr herzlich für das offene Gespräch und freue mich, wenn wir uns alsbald wiedersehen. Wichtig ist allerdings, daß Sie unsere Wünsche entgegennehmen, nämlich daß wir Ihnen alles Gute wünschen für die bevorstehende Geburt Ihres zweiten Kindes.

Es war ein gutes Jahr für Kerner. An seinem Ende sagte er, er konkurriere mit Reinhold Beckmann um die „Talk-Krone“. Kerner hatte Kohl zu Gast und war bei Giuliani, sprach mit Bohlen und Feldbusch, lachte über Konsul Weyers Reichtum und entschuldigte sich dafür, klärte mit Hilde Knef Details ihrer Krankheit und wiederholte, als sie starb, das Krankengespräch, um sie zu „würdigen“.

Kati Witt: Ich find’s schade, daß eigentlich heutzutage alles an die Öffentlichkeit gezerrt wird und nichts mehr privat wird, was sich zwischen zwei Menschen abgespielt hat.

Kerner: Nicht in jedem Fall, in manchem.

Witt: In manchem, ja.

Kerner: Dann beenden wir das jetzt.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ein Scherz für Kinder

Der kleine Jeetham muß zurück in seinen Slum: Bei Benefizshows ist die gute Tat wichtiger als der gute Geschmack

Wenn es November wird, vergeht keine Stunde, ohne daß irgendwo auf der Welt ein Prominenter in ein deutsches Mikrofon Sätze wie diese spricht: „Alles, was man für Kinder tun kann, ist wichtig. Ich setze mich sehr dafür ein. Denn Kinder sind doch unsere Zukunft.“ In diesem Fall stammen die Worte von Halle Berry und das Mikrofon von RTL, Variationen in der Formulierung sind erlaubt. Schon im Sommer wird damit begonnen, deutsche Schauspieler mit dürren fremden Kindern zu versehen und zu filmen. Der Sender macht daraus Beiträge von dreißig Sekunden und fügt Sätze hinzu wie: „Jeetham ist traurig. Seine Mutter und Maria Furtwängler bringen ihn zurück in seine Hütte in den Slums. Es fällt ihnen schwer, doch sie hoffen auf Unterstützung.“

Geschenkt: Jeder Euro, der für einen guten Zweck gespendet wird, weil jemand sich von solchen Bildern und Worten beeindrucken läßt, ist ein Gewinn. Die übergroße Mehrheit der Kinder kommt zu kurz, fast überall – außer im weihnachtlichen Wohltätigkeitsrausch. Die Designer von RTL haben es geschafft, den Vorspann ihres „Spendenmarathons“ diese Woche so randvoll mit großen, traurigen, fremden Kinderaugen zu packen, daß nicht einmal ihre Körper, kaum ein Haar, ein Hals zu sehen sind, nur Augen, die dem Moderator über die Schulter gucken, überlebensgroß, fast größer als die Logos der Sponsoren.

Ohne Kinderaugen geht wenig, wenn das Fernsehen sich ans Spendensammeln macht. Kinder sind selbst im Elend deutlich ansehnlicher als Kranke, Behinderte, Greise. Und sie sind unschuldig – da ist man sich ja nicht bei jedem Notleidenden so sicher. So sammelt das Fernsehen, wenn nicht gerade eine Jahrtausendflut ist, für Kinder. Kai Pflaume letztens in „Charity“ (Sat.1) für „Hand in Hand for Children“, Wolfram Kons in dieser Woche für die RTL-Stiftung „Wir helfen Kindern“, Dirk Bach gestern für die Unicef (ZDF), Thomas Gottschalk bald für „Ein Herz für Kinder“ (ZDF). Lobt man den Sat.1-Unterhaltungschef Matthias Alberti dafür, daß er sich traut, statt dessen für das sperrige Thema Aids zu sammeln, sagt der erst: „Öhm“, und dann: „Es gibt ja auch wichtige HIV-Projekte für Kinder, eines aus Südafrika werden wir ganz am Anfang der Sendung vorstellen.“ Vermutlich müßte man ihm sonst auch vorwerfen, die Erlösmöglichkeiten für die Deutsche-Aids-Stiftung fahrlässig zu gefährden.

Jobst Benthues, Unterhaltungschef von Pro Sieben, sagt, er sei überhaupt nicht daran interessiert, den Bildschirm mit traurigen Kinderaugen zu füllen – fast glaubt man es ihm, beim Sender, der gerne so flippig unelternhaft daherkommt. Und für wen wird Pro Sieben sammeln, mit einer großen neuen Aktion 2003? Für drei Organisationen: Eine für Kinder, eine für Kinder und eine für Kinder.

Das ist insofern tragisch, als es an anderen unterstützenswerten Hilfsorganisationen nicht mangelt. Für die Aids-Stiftung soll die Sat.1-Gala immer fast eine Hälfte der Gesamtspenden einbringen – da werden die Begehrlichkeiten groß und die Versuche, eine eigene Show zu bekommen, entsprechend verzweifelt. Alle Sender erzählen, daß Organisationen auf sie zugekommen seien mit dem Angebot, für eine Benefizshow zu ihren Gunsten auch einen erheblichen Teil der Produktionskosten zu übernehmen. Da dadurch mehr Geld zusammenkomme, als für die Sendung ausgegeben werden müßte, gehe das schon in Ordnung. Offiziell sind dennoch alle ganz empört über den damit verbundenen Mißbrauch von Spendengeldern und sagen, für sie käme so etwas nicht in Frage. Bei den Charity-Vereinen erzählt man die Geschichte übrigens umgekehrt: Es seien die Sender, die die Ausstrahlung von Galas gelegentlich davon abhängig machten, daß die Hilfsorganisation einen Teil der Showkosten übernimmt. Der MDR etwa hat den Fluthelfern die Kosten für das Callcenter in Rechnung gestellt – dabei waren sie verpflichtet, dafür die teuren Dienste einer MDR-Tochter in Anspruch zu nehmen. Einige in der Branche glauben, es gebe nicht zuletzt deshalb so viele Benefizshows, weil das der leichteste Weg sei, viele große Stars zu bekommen, preisgünstig, weil die „natürlich“ auf ihre Gage verzichten. Der Vorwurf trifft nicht alle. Regina Ziegler zum Beispiel, die die gestrige Unicef-Gala im ZDF produziert hat, legt Wert darauf, die Künstler, denen es freisteht, die Gage zu spenden, für ihre Arbeit normal zu bezahlen.

Manchen Künstlern ist dennoch nicht wohl bei der Mischung aus Imagewerbung, lustigen Auftritten und guter Tat. Der Komiker Bastian Pastewka spendet gerne, sagt er, geht aber zu den klassischen Formen mit Elendsbildern, Auftritt und Anrufmöglichkeit nicht hin. „Über den guten Zweck vergessen leider viele, eine gute Sendung zu machen“, sagt er. Karat singt auf der MDR-Flutgala: „Über sieben Brücken mußt du gehn.“ Dieter Thomas Heck steht in einer Dekoration aus den frühen achtziger Jahren und mahnt zum Thema Krebs: „Wir alle wissen nicht, wann diese Geißel der Menschheit direkt neben uns einschlagen kann.“ Verona Feldbusch, die gerade eine große goldene Version eines Schmuckstücks aus ihrer Kollektion versteigert hat, sagt: „Wer leer ausgegangen ist, muß sich das leider in kleinem Silber morgen nachkaufen.“ Und immer Katastrophenbilder, in denen der Originalton durch Geigen (ältere Zielgruppen) oder Peter Gabriel (jüngere Zielgruppen) ersetzt wurde.

Es darf – neuerdings – gelacht werden. Die Sat.1-Aids-Gala, im vergangenen Jahr noch eine Musikrevue, wird heute von Hape Kerkeling moderiert, der dafür mit einem achtjährigen Mädchen, das er als seine Nichte ausgab, durch die Bambi-Preisverleihung zog und Kollegen bat, sie aufzuklären. „Wenn die Menschen lachen“, sagt Sat.1-Mann Alberti, „kommt man viel näher an ihre Seele ran.“ Ab nächstem Jahr will Pro Sieben das britische Konzept des „Red Nose Day“ importieren. An diesem Tag kauft die halbe Insel eine rote Nase und macht schrille, witzige Aktionen, um Geld zu sammeln. Für die Lizenz bekommen die Briten von Pro Sieben zehn Prozent der deutschen Erlöse. „Der ,Red Nose Day‘ paßt gut zu uns“, sagt Jobst Benthues. „Er entspricht unserer internationalen Comedy-Tradition – und das Marketing freut sich, weil die Nasen unsere Senderfarbe haben. Es soll nicht verkrampft-staatstragend zugehen. Wir machen eine lustige Comedy-Show, bei der Künstler für einen guten Zweck aktiv werden.“ Dazu muß man sich das Pro-Sieben-Ensemble mit Stefan Raab, Elton, Erkan & Stefan vorstellen und wissen, daß die Aktion von Prime Productions produziert wird, die auch schon an Highlights wie der „Karl Dall Show“ und „Strip!“ (Ausziehen mit Jürgen und Ramona Drews) beteiligt war.

Benthues betont, daß die Aktionen rund um den 14. März keine reine Pro-Sieben-Veranstaltung bleiben, sondern allen offenstehen sollen. Nur die große Sendung wird auf Pro Sieben laufen, denn natürlich soll das Image, das mit der guten Tat verbunden wird, seinem Sender zugute kommen.

Ist das schlimm? Oder ist es schlimmer, daß manche ARD-Anstalt grundsätzlich keine Spendenshow macht, weil die Einschaltquoten dabei zurückgehen, bei Themen wie Aids sowieso? Beim ZDF, das mit gleich acht Sammelsendungen in diesem Jahr weit vorne liegt, räumt man ein, daß das auch damit zu tun hat, daß viele dieser Wohltätigkeitsorganisationen ja im ZDF-Fernsehrat säßen . . .

Die Hilfswerke der beiden großen Kirchen teilten sich eine ZDF-Benefizshow, die wegen Überfüllung nicht mehr in die Vorweihnachtszeit paßte und schon Mitte November laufen mußte. Da es sich aber zweifellos um eine vorweihnachtlich geprägte Musiksendung handelte, hatten die Kirchenleute ein Problem: Öffentlich kritisieren sie nämlich mit Kampagnen wie „Advent ist im Dezember!“ den Trend, schon ab dem Spätsommer Straßen zu schmücken und Lebkuchen zu verkaufen. Man fand dann einen Kompromiß: In den Liedern wurden nicht die „Weihnachtsglocken“ besungen, sondern „Winterglocken“. Oder waren es „Kinderglocken“? Hauptsache rührend.

Und hat sich doch an nichts gewöhnt

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Anke Engelke könnte heute für „Ladykracher“ den „Emmy“ gewinnen, aber trotz ihres Erfolgs ist sie erstaunlich dünnhäutig geblieben.

Wenn man Anke Engelke begleitet, ist das erste, das man lernt, daß es so etwas wie Routinetermine nicht gibt. Ein paar Minuten fürs Jugendradio, mit kaum mehr Inhalt, als daß sie da war: Was soll da schiefgehen? Nun, was das letzte Mal schiefging, war dies: Moderatorin und Interviewte waren so unterschiedlicher Meinung, was eine „witzige“ Idee mit einer „spontanen“ Anke wäre, daß das Gespräch nur in einer um alle Varianten des akustischen Sich-an-den-Haaren-Ziehens gekürzten Rumpfform ausgestrahlt werden konnte. Diesmal fragt ein Kollege: „Welche Figur aus ‚Ladykracher‘ ist dir am liebsten?“ Und Anke Engelke antwortet: „Natürlich habe ich keine Lieblingsfigur, klar. Aber das wäre eine langweilige Antwort, deshalb denke ich mir immer, wenn ich das gefragt werde, einfach eine aus. Dir also antworte ich heute …“

Was für eine Zicke. Es müßte ein Traum sein, jemanden wie Anke Engelke als Gast im Studio zu haben. Jemanden, der lustig ist, jung und lange selbst Radio gemacht hat, damals bei SWF 3. Häufiger ist es ein Albtraum. Weil sie weiß, wie es geht, hat sie genaue Vorstellungen, was geht, und nicht immer den Gleichmut, den anderen das durchgehen zu lassen, was nicht geht. Einer unbedarften jungen Boulevard-Häppchen-Sammlerin, die sie bei einer Veranstaltung anspricht, ohne sich vorzustellen, flötet sie entgegen: „Ich habe Ihren Namen nicht verstanden?“ Und fügt dann fies hinzu: „Ach Sie — ich habe schon viel von Ihnen gehört.“ Das ist erstaunlich viel Gefühlswallung (und sie kann sich über solche Situationen noch Tage später in Rage reden) für eine, die so lange im Geschäft ist und doch längst einen Weg gefunden haben müßte, auch dessen lästige Seiten zu ertragen. Anke Engelke ist dünnhäutig. Gerade weil sie so professionell ist, weil die lustige Frau ihren Job so ernst nimmt, sich in Sachen reinhängt, ärgert sie sich maßlos, wenn andere in ihren Augen weniger professionell sind.

Beim Deutschen Fernsehpreis, für den sie mit zwei Sendungen nominiert war, ist sie extra zweimal über den roten Teppich gelaufen: Einmal mit Olli Dittrich von „Blind Date“, einmal mit dem Ensemble von „Ladykracher“. Hat die Kolleginnen in den Arm genommen, immer wieder die strahlende Komödiantinnen-Pose eingenommen, für den Fotografen-Pulk auf dieser Seite, jaaaa!, für den Fotografen-Pulk auf der anderen Seite, jaaaa!, endlos. Das Bild stand dann zwar in den Zeitungen, aber den Redakteuren war entgangen, mit wem sie da posierte. „Anke Engelke kam allein“, schrieben sie, „hatte sich aber ein paar Freundinnen mitgebracht.“ Klasse.

Nur: Darf man sich als erfolgreicher Star noch über so was aufregen?

„Ich fühlte mich so gezerrt von den Fotografen“, sagt Anke Engelke, „wie ein Tier, das gezähmt werden sollte. Das war so entwürdigend. Wenn Günther Jauch vorbeigekommen wäre, das wäre meine Chance gewesen, durchzuatmen. Dann wären sie alle mit einem Schritt weg gewesen. Das wäre aber auch das Tragische gewesen: Ich hätte gemerkt, daß ich denen eigentlich völlig egal bin.“ Vielleicht macht diese Empfindsamkeit gegenüber Offensichtlichem einen Teil ihrer Beliebtheit aus. Aber es klingt sehr, sehr anstrengend.

Man muß dabeigewesen sein, bei einer dieser Veranstaltungen, wo ein Dutzend Journalisten mit einem Promi in einem Konferenzraum sitzen. Vorher wird die neue Serie gezeigt, dann sagt der Pressesprecher, jetzt sei Gelegenheit, Fragen zu stellen — nur nichts Privates, das sei tabu. Die meisten Journalisten interessieren sich nicht fürs Fernsehen. Sie wollen wissen, ob die Ehe der Prominenten wirklich kaputt ist, was sie an diesem jungen Komiker findet, wer sich nun um das Kind kümmert. Sie finden immer neue Varianten, scheinbar beruflich zu fragen („Findet Herr Ruf die Serie toll?“), ernten nur Schweigen und fragen immer weiter. Wer würde aus einer solchen Veranstaltung nicht herausgehen und sie alle verfluchen, pauschal und ungerecht, das ganze elende Pack?

Sie macht nicht mehr diese Presserunden. Notfalls, wenn eine Sendung PR braucht, gibt es Telefongespräche. Jeder zehn Minuten, nichts Privates, bitte, danke. Wer sie auf Fakten anspricht, die er aus alten Interviews kennt, läuft Gefahr, als Antwort zu bekommen: „Ach, das hab‘ ich doch nur so dahingesagt, das war nicht ernst gemeint.“ Das ist vielleicht ein naheliegender Reflex auf eine Medienwelt, die von ihren Protagonisten dauernd Kommentare verlangt, und doch wirkt es wie eine Verletzung der Spielregeln. Als die Journalisten vor zwei Jahren in ihrem Privatleben wühlten, auch ganz konkret in ihrer Mülltonne, hat sie Harald Schmidt gefragt. Der sagte: „Erzähl den Leuten nicht, was du zum Frühstück ißt, sondern behaupte irgendwas.“ Er selbst sage fröhlich, er trinke Orangensaft, obwohl er Orangensaft hasse. „Ich hab‘ gesagt: ‚Das kannst du doch nicht machen!‘ Und er: ‚Du mußt das machen.‘ Er hat mich richtig gewarnt: ‚Du bist viel zu ehrlich.'“ Hat er recht? Sie macht ein nachdenkliches Mmmh. Es gibt Hunderte Interviews mit Anke Engelke, aber man hat immer weniger das Gefühl, darin etwas von einer „echten“ Anke zu finden. Sagt sie den Leuten nur noch, was sie hören wollen? „Ja. Das ist nicht zynisch gemeint. Aber bestimmt bediene ich das. Ich kann ja nicht erwarten, daß die Leute mich freitags sehen und mögen und sich samstags nicht dafür interessieren sollen, was für Kleider ich einkaufe.“

Würde man eine Aufnahme vom Verlauf ihrer Karriere machen, hörte sie sich übersteuert an; als hätte jemand den Regler zu weit aufgedreht, so daß alle Höhen und Tiefen gleich in den roten Bereich ragen. Sie war nicht einfach ein frisches Talent in der „Wochenshow“, sie wurde zum Superstar geschrieben. Heute stellt sie selbst die Frage, für die sie Journalisten früher gehaßt hat, ob der Erfolg nicht vor allem daran lag, daß sie eine Frau ist und es so wenig Frauen gab, die Comedy machten. Ihre „Ricky“ jedenfalls, sagt sie, sei so gut nicht gewesen, die Aufregung zu rechtfertigen. Der Hype war ihre Chance und ein Fluch, als den Boulevardblättern ihre Privatgeschichten nicht gefielen und die wunderbare Serie „Anke“ über eine depressive Talkshow-Moderatorin beim Publikum durchfiel und sie weiter grell malten, nur in den anderen Farben.

„Zum Glück“, sagt sie, „habe ich immer, wenn ich etwas gemacht habe, was sehr im Fokus stand, etwas zum Ausgleich gehabt.“ Anfangs, neben der „Wochenshow“, das Radio: „Das war mir ganz wichtig: Daß ich etwas mache, was sich der Öffentlichkeit ein bißchen entzieht.“ Heute übernimmt auch „Blind Date“ diese Funktion, die Improvisation mit Olli Dittrich, bei der nichts vorgegeben ist, außer der Situation: Weihnachten zeigt das ZDF die dritte Ausgabe, eine Begegnung zweier Fremder im steckengebliebenen Fahrstuhl. Man hört ihr an, daß ihr „Blind Date“ nicht nur am Herzen liegt, weil es ein seltenes, spannendes, tolles Experiment ist. Sondern auch, weil es eine Sendung in der Nische ist, so klein, daß es sich für Leute, die ihr Übles wollen, nicht lohnt, sie kaputtzumachen.

Es ist nicht so, als würde sie sich die ganze Zeit beklagen. Man hat nur das Gefühl, sie würde mehr über die Dinge nachdenken, als ihr guttut. Andererseits hat ihre Karriere gerade eine sehr angenehme Reiseflughöhe eingenommen. „Ich spüre, anders als früher, keinen Druck“, sagt sie. „Heute ist die Situation entspannt, und ich bin es auch.“ „Ladykracher“ ist ein anhaltender Erfolg; selbst gewagte Sketche, etwa auf Kosten von Kindern, werden ihr nicht übelgenommen, obwohl die „Bild“-Zeitung, wenn ihr langweilig wäre, leicht einen Strick daraus drehen könnte: Wie kann sie so was tun, als Mutter? „Ich bin ein Glückskind“, sagt sie. „Ich weiß nicht, ob man das allen Kolleginnen so verzeihen würde.“

Heute sitzt sie in New York bei der Verleihung des Fernsehpreises Emmy, für den sie mit „Ladykracher“ nominiert ist. Seit sie die anderen Kandidaten gesehen hat, ist sie überzeugt, daß sie ihn nicht gewinnen wird. Auf die heikle Journalistenfrage, was sie als nächstes macht, kann sie lässig antworten: Wir drehen wieder „Ladykracher“. Sie überlegt sich, ob sie nicht Theater spielen soll, jetzt, da sich die Anfragen nicht mehr nur auf Boulevardtheater oder schlichte Komödien beschränken.

Und natürlich geht sie am 7. Dezember wieder zu „Wetten daß“, weil sie für ihre Weihnachtsshow „Danke Anke“ werben darf. Und weil es „schon toll“ sei, da auf dem Sofa zu sitzen — sie sagt das, als sei sie ein Mädchen, das eingeladen wurde, obwohl es eigentlich nicht dazugehört. Dabei hat sie sich letztes Mal so geärgert, daß sie am Ende nur noch Staffage war und Paul McCartney die Gitarre angeben durfte. Ihr Schimpfen darüber sei im Gegensatz zu so vielen Interviews sehr echt gewesen, sagt sie: „Dann verkauf‘ ich das ein bißchen humoresk, aber eigentlich war das ganz schön intim. Ich war da richtig gekränkt. Dabei finde ich das doof, das will ich nicht sein, schon gar nicht öffentlich. Aber da konnte ich nicht an mich halten.“

Der Witz ist, daß das keiner gemerkt hat.

Bauer-Verlag

Klatsch vom Fließband. Ein Verlag mit Gespür für den Massengeschmack: Bauer paßt zum Privatfernsehen.

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Sie hätten, statt des ganzen Bieterverfahrens um die Kirch Media, einfach einen Leo-Kirch-Ähnlichkeitswettbewerb veranstalten können – Heinz Heinrich Bauer hätte bestimmt gewonnen. Der Mann ist konservativ und öffentlichkeitsscheu, Christ und Patriarch, mythenumweht, und daß es von ihm nicht wie von Kirch nur eine Handvoll unscharfe Porträtfotos gibt, sondern zwei Handvoll, liegt allein daran, daß er sich einmal im Jahr öffentlich zeigt: bei der „Goldenen Feder“. Das ist eine merkwürdige Preisverleihung, die seit 1999 so organisiert ist, daß sehr viele, sehr prominente Menschen vorbeikommen, damit wenigstens an einem Tag im Jahr so etwas wie publizistischer Glanz auf das Unternehmen fällt. Aber selbst dann sitzt der heute 62 Jahre alte Verleger vorn an seinem Tisch und schweigt und läßt die Begrüßungsworte auf der Bühne von seiner Frau sprechen.

Warum der Hamburger Heinrich Bauer Verlag eine teure Image-Veranstaltung braucht, läßt sich nachvollziehen, wenn man einmal an den Kiosk geht, sich diverse Bauer-Zeitschriften greift, kurz grübelt, ob man einem Kassierer Rechenschaft über sein Kaufverhalten schuldet, und draußen das Zeitschriftenpaket verschämt zusammenrollt. Die Illustrierte „Neue Revue“, die eigentlich seit drei Jahren in einer Liga mit „Stern“ und „Bunte“ spielen soll, macht in dieser Woche mit der Information auf, daß Prinzessin Diana ihre Rivalin Camilla mit Gift im Champagnerglas töten wollte. Im Inneren enthüllt sie, daß man sich mit Homosexualiät keineswegs abfinden müsse, wie die Tochter von Berlusconi mit ihrem neuen, ehemals schwulen Freund bewiesen habe: „Sie hat ihn umgedreht.“ Die „Neue Revue“ markiert das obere Ende des Qualitätsspektrums des Bauer Verlages. Weiter unten befinden sich „Blitz Illu“ und „Coupé“, in denen es heute mehr denn je monoton um Genitalien und Stellungen geht. Das ist in diesem Fall ein Vorteil; vorher hatten dazwischen noch mehr Horror-Geschichten Platz, die auf unsägliche Weise Vorurteile pflegten und Panik schürten. Deutlich konsequenter, und gerne mal auf dem Index, sind die Titel „Sexy“, „Sexwoche“ und „Schlüsselloch“. Abgerundet wird dieses Segment durch Angebote wie schluck-alles.de.

Fast jede zweite verkaufte Klatschzeitschrift stammt aus dem Hause Bauer. Sie bedienen unterschiedliche Niveaus, am liebsten aber jenes, auf dem es genügt, wenn Günther Jauch in der „Achtziger Jahre Show“ darüber scherzt, wie gefährlich lange er damals in der Sonne gelegen habe, um daraus ein Titelthema zu stricken: Die Angst, in der Jauchs Familie wegen des Hautkrebses lebe.

Mehr noch dominiert Bauer den Markt der Fernsehzeitschriften und verdankt ihm sein größtes Format: „TV Movie“, die zu besten Zeiten mehr als drei Millionen verkaufte und heute noch zweieinhalb Millionen Exemplare abesetzt. Ihr Konzept einer vierzehntäglichen Fernsehzeitschrift mit umfangreichen Spielfilmtips war zwar eigentlich Dirk Mantheys Idee – sein Milchstraßenverlag hatte es mit „TV Spielfilm“ erfunden. Kreativität ist nicht die Stärke des Verlags oder seines Verlegers. Beide beherrschen aber eine Umsetzung im Detail, die bei den Massen ankommt. Notfalls zögert der Verlag nicht, seine Macht durch Preiskämpfe zu verteidigen: Als ein Konkurrent ein neues Segment im Fernsehzeitschriftenmarkt eröffnete – billiger und dünner als „TV Movie“ und „TV Spielfilm“ – setzte Bauer schnell ein eigenes Heft namens „TV 14“ zusammen und verkaufte es so lange zum Schleuderpreis, bis es alle Auflagenrekorde gebrochen hatte und die kleineren Mitbewerber abgehängt hatte. Mitbewerber, die nicht über die Fließbandproduktion und das finanzielle Polster des Bauer Verlages verfügten, dessen Verleger angeblich schon persönlich nachzählt, ob in einer Druckerei nicht zu viele Lampen hängen.

„TV Movie“ war lange ein strategisch besonders wichtiges Objekt für Bauer, weil es den Weg zu Anzeigen von Markenartiklern eröffnete. In die meisten anderen Blätter traute sich kaum ein Unternehmen, das einen Ruf zu verlieren hätte. „TV Movie“ war die erste Bauer-Zeitschrift, die sich nennenswert aus Werbeerlösen finanzierte. Bauer-Blätter sind Vertriebs-Zeitschriften, und damit war viele Jahre ein Makel und ein Minderwertigkeitskomplex verbunden. Als Heinz Bauer 1999 den PR-Profi und ehemaligen Kohl-Sprecher Andreas Fritzenkötter als Verlagssprecher engagierte, der auch die „Goldene Feder“ neu erfand, ging es nicht nur darum, etwas für die Außenwirkung zu tun. Fritzenkötter nahm sich auch vor, so etwas wie ein gutes Gefühl in der Mitarbeiterschaft aufzubauen. Anders als der Hamburger Rivale Gruner + Jahr, der schöne, edle Hefte herstellte und dessen Journalisten stolz waren, dazu beitragen zu dürfen, war an den Bauer-Zeitschriften nichts schön und edel – außer der Auflage. Die Gruner + Jahr-Zeitschriften hatten Preise, Image, große Namen; die Bauer-Titel waren seelenlose Produkte, von namenlosen Menschen in industrialisierten, rationalisierten Prozessen gefüllt und von Chefredakteuren kontrolliert, die bis zu fünf Titel gleichzeitig führen mußten oder durften. Und doch hatten die Bauers ein entscheidendes Argument gegen den Hochmut der Gruner + Jahr-Leute: Sie machten die Zeitschriften, die Millionen Menschen lesen wollten.

Es ist ein Argument, das jetzt schlagend geworden ist. Mit dem Einbruch der Anzeigenmärkte stehen plötzlich jene gut da, die nie viele Anzeigen hatten. Nicht die Qualitäts-, sondern die Massenpresse. Es ist kein Zufall, daß Bauer bislang im Fernsehen an einem Sender wie RTL 2 beteiligt war. Nicht nur wegen der offensichtlichen Nähe des Verlags, der „Bravo“ herausgibt, zu einem jungen Vollprogramm und nicht etwa, weil der Verlag auf Sex und Provokation festgelegt sei, die das RTL-2-Profil jahrelang ausmachten. Sondern weil ihm die Inhalte egal sind. Während sich die Bertelsmann- und RTL-Leute wanden, wenn RTL 2 sein Heil wieder in neuen Untiefen suchte, war Bauer daran interessiert, daß am Ende das Geld stimmte. Wenn RTL-2-Geschäftsführer Josef Andorfer glaubte, mit Flachsinn am meisten Gewinn machen zu können, gut. Wenn er glaubte, durch den Verzicht darauf am meisten Gewinn machen zu können, auch gut.

Bauer hat im Print-Bereich umgesetzt, was für das Privatfernsehen längst gilt: daß so etwas wie ein verlegerischer inhaltlicher Anspruch an Medien Ballast ist und nur die Quote zählt. Er hat längst die Sparmentalität in seinem Unternehmen umgesetzt, die zumindest in den nächsten Jahren das Fernsehen prägen muß, das weitere schmerzhafte Schritte noch vor sich hat. Bauer steht dafür, dies durchzusetzen. Und schließlich gewinnt er so die Millionen Kunden zurück, die ihm in den vergangenen Jahren verlorengegangen sind, als das Fernsehen die Themen der Boulevardpresse entdeckte.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Einen links, einen rechts, das ZDF fallenlassen

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Markus Söder kämpft für die CSU gegen die Sozis im Sender und für einen konservativen Programmdirektor – uns zuliebe natürlich.

Am Freitag entscheidet der ZDF-Verwaltungsrat, wer neuer Programmdirektor werden soll. Alles spricht für Fernsehspielchef Hans Janke – außer, daß er nach der schlichten Farbenlehre als „Roter“ gilt und Intendant Markus Schächter der einzige „Schwarze“ in der vierköpfigen ZDF-Spitze wäre. In der CDU gibt es inzwischen Stimmen, die sich trotzdem für Janke aussprechen. Wortführer der Gegner ist Markus Söder, Chef der CSU-Medienkommission und Mitglied im ZDF-Fernsehrat.

Herr Söder, Sie haben das ZDF öffentlich kritisiert: Im Wahlkampf sei „in den Redaktionsstuben linke Politik gemacht“ worden. Sie haben das Thema in den Fernsehrat gebracht. Gab es Beschlüsse dazu?

Wir haben gemeinsam festgestellt, die Debatte künftig in den zuständigen Ausschüssen zu führen.

Das heißt, Sie äußern sich in Zukunft weniger und anders?

Das hängt von Fall zu Fall ab. Die Situation ist nach der Wahl mehr als schwierig. Es gibt schon sehr viele Kritikpunkte an der Berichterstattung. Ob es um die „Endspurt“-Reportage ging, die Themenauswahl in „Frontal 21“ und das dortige „Kanzlerduell“ zweier Puppen, die Zusammensetzung des Publikums bei Sendungen wie „Nachtduell“, die Auswahl der Gäste von „Berlin Mitte“, bei der es meistens ein Verhältnis von drei zu zwei für Rot-Grün gab. Diese Fälle wollen wir jetzt intern aufarbeiten. Dann sehen wir, ob sich das bessert oder sich der Trend fortsetzt.

Dem ZDF ist schon vieles vorgeworfen worden, aber selten, ein linker Sender zu sein.

Ich würde nicht pauschal sagen, das ZDF ist links. Das ist viel zu einfach und würde dem Gesamthaus nicht gerecht. Aber es gibt aus unserer Sicht eindeutige Tendenzen bei der Themensetzung in der Aktualität und bei Magazinen.

Ein Trend, daß die meisten ZDF-Journalisten links sind?

Einige schon. Das sind natürlich alles professionelle Journalisten – aber die Art, wie die Themen aufbereitet wurden, war sehr oft an die Regierungssicht angelehnt.

Deshalb drohen Sie, man müsse „an die Rundfunkgebühren ran“.

Diese Debatte ist sehr ernst und wichtig. Das ZDF ist eine Länderanstalt, da müssen sich die Menschen auch wiederfinden. Die Bayern sind treue und unglaublich viele Gebührenzahler – und bei uns hat die CSU über 58 Prozent erreicht. Diese Bürger wollen sich auch im Programm wiederfinden. Sonst stellt sich schnell die Frage: Gebühren zahlen für etwas, bei dem man sich nicht repräsentiert fühlt? Oder diese noch erhöhen?

Kann es sein, daß Sie Ihr Interesse und das Parteiinteresse mit dem Zuschauerinteresse verwechseln?

Ich verstehe mich als Anwalt der Gebührenzahler und als Kontrolleur einer öffentlich-rechtlichen Anstalt. Ein Fernsehrat ist kein Lobbyist des ZDF. Meine Aufgabe besteht darin, darauf zu achten, für was Gebühren verwendet werden.

Der Gebührenzahler hat also ein Interesse, daß der neue ZDF-Programmdirektor konservativ ist?

Das ZDF ist zur Ausgewogenheit verpflichtet. Alle gesellschaftlich relevanten Gruppen müssen sich entsprechend ihrer Stärke wiederfinden; im Programm und letztlich in der personellen Mannschaft.

Sie kämpfen nicht für die Union, sondern für die Zuschauer gegen einen Programmdirektor Hans Janke? Ist das Ihr Ernst?

Ich nehme an, Sie wollen darauf hinaus, daß es dem Zuschauer letztlich egal sein kann, wer da sitzt.

Nein, aber welcher Partei er angeblich nahesteht.

Natürlich wäre es zu kurz gegriffen, allein aufs Parteibuch zu schauen. Daß die Leute Kompetenz haben müssen, ist keine Frage. Kompetenz steht an erster Stelle, aber an zweiter, aus welchem gesellschaftlich-politischen Milieu er kommt und ob sich damit die gesellschaftlich relevanten Gruppierungen repräsentiert fühlen. Es geht nicht darum, ob die CSU glücklich ist. Es geht darum, ob das ganze komplizierte Geflecht der gesellschaftlich-relevanten Kräfte repräsentiert wird im ZDF.

Und Thomas Reitze oder Thomas Bellut wären eine gute Wahl, weil sie als konservativ gelten?

Weil sie es können und weil es im Rahmen der Intendantenwahl bezüglich des Programmdirektors eine klare Vereinbarung gab. Ich denke, es wäre sinnvoll, diese Strukturen zu erhalten.

Hatten Sie den Eindruck, daß die Art, wie die Intendantenwahl auf der Grundlage dieser Strukturen stattfand, gut war fürs ZDF?

Nicht unbedingt. Ich würde manches ändern. Ich halte es für falsch, daß nicht nach zwei Wahlgängen eine einfache statt einer Dreifünftel-Mehrheit genügt. Das hat ja zu dieser Problemlage geführt.

Das? Oder eher, daß es immer allein darum geht: Welcher Partei steht jemand nahe? Sie sprechen von „gesellschaftlich relevanten Gruppen“, aber was zählt, ist nur, daß Janke als SPD-Mann gilt, Bellut als CDU-Mann.

Völlig unbedeutend ist es nicht.

Ist das gut fürs Fernsehen? Ist das im Interesse der Gebührenzahler?

Wir haben eine repräsentative Demokratie in unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, und die definiert sich über diesen pluralistischen Ansatz. Das hat sich 50 Jahre in vielen Bereichen von Gesellschaft und Politik bewährt. Das ZDF unterliegt den gleichen Prinzipien. Ich finde nicht, daß man das in Frage stellen sollte, bloß weil man mal bei einer Personalentscheidung nicht gleich die augenscheinlich „schnellste“ Lösung hat.

Viele, die sich auskennen, sagen öffentlich, sie halten Janke für die beste Wahl. Beeindruckt Sie das?

Natürlich nimmt man diese Stimmen ernst. Ich weiß allerdings nicht, ob zum Beispiel das massive Werben von Gottschalk dem Kandidaten nützt. Entscheiden müssen andere. Ich bin fest überzeugt, daß der Intendant am Freitag dem Verwaltungsrat einen Vorschlag macht, der mehrheitsfähig ist.

Sind Sie selbst mehrheitsfähig? Der Fernsehratsvorsitzende Polenz, CDU, sagt, der Einfluß der Parteien solle nicht zu groß werden, man dürfe nicht jeden Personalvorschlag politisch diskutieren.

Ich habe das so verstanden – und da stimme ich ihm auch zu -, daß man nicht jede Personalie öffentlich dauerhaft diskutieren soll.

Genau das tun Sie.

Nein, das tue ich nicht mehr.

Haben Sie aber getan.

Ich habe einen Diskussionsbeitrag zu dem Thema gegeben. Ich denke, das war wichtig und richtig. Aber ich habe Herrn Polenz so verstanden, daß wir das nicht dauerhaft fortsetzen wollen. Vor allem nicht bei jeder kleinen Personalie.

Polenz sagt: „Ich halte es nicht für sachgerecht, wenn öffentlich über Personen debattiert wird.“

Der Fernsehratsvorsitzende hat im übrigen eine andere Aufgabe als ich. Ich bin der Meinung: Ein bißchen Transparenz schadet nie. Es muß doch Kritik möglich sein, ohne daß gleich gesagt wird, „da wird jemand beschädigt“. Es nützt doch dem ZDF nur, wenn manche Sachen kritisch hinterfragt werden. Ich bin schließlich einer der jüngsten im Fernsehrat, vielleicht formuliere ich manches auch plakativer als ein Etablierter.

Etablierter als Sie kann man kaum sein: Sie halten jeden Unions-Mann für qualifiziert, jeden SPD-Mann für unqualifiziert.

Das habe ich nicht gesagt.

Darauf läuft es hinaus.

Ich habe gesagt, Qualifikation ist das erste. Aber stellen Sie sich vor, es gibt zwei Gleichqualifizierte.

Sie wollen einen Konservativen.

Halte ich insgesamt für die ausgewogenere Lösung. Aber entscheiden müssen es andere.

Sie sitzen als Vertreter der CSU im Fernsehrat. Es gibt Vertreter von CDU und SPD. Ich frage mich, ob da irgend jemand als Vertreter des Publikums oder der Interessen des ZDF sitzt.

Aber das ZDF-Programm ist doch ganz gut. Oder haben Sie den Eindruck, das ist alles schlecht?

Nein.

Dann haben wir doch gute Arbeit gemacht!

Wenn das Programm gut ist, dann trotz des Einflusses der Parteien, nicht wegen.

Das sehe ich nicht so.

Wie sehen Sie jetzt die Chancen für Janke oder für Bellut?

Ich bin optimistisch.

Inwiefern?

Ich bin optimistisch, daß wir eine gute Lösung finden.

Und Sie haben gesagt, daß Sie Reitze und Bellut für gute Lösungen halten und Janke nicht.

Ja, das habe ich gesagt.

Wäre Janke schlecht fürs ZDF oder schlecht für die Union?

Ich glaube, es würde eine schwierige Situation auslösen, die das Gesamtvertrauen zwischen ZDF und Kontrollgremien betreffen könnte.

Haben Sie überhaupt Indizien, daß Leute wie Janke oder Schächter Entscheidungen aufgrund ihrer Parteipräferenzen fällen?

Es sind ja Leitungspositionen bei der größten Fernsehanstalt in Europa. Da hat jede Aufgabe eine politische Dimension.

Barbara Schöneberger

„Wer kein Geld hat, soll sich bei mir melden“. Wie macht man eine Show, die fast nichts kostet, und wird trotzdem für den Fernsehpreis nominiert? Fragen wir Barbara Schöneberger

Frau Schöneberger, haben Sie sich schon informiert, ob der Deutsche Fernsehpreis dotiert ist?

Nein, aber das war die erste Frage von allen meinen Freunden, als sie erfahren haben, daß ich nominiert bin: Und? Dotiert? Geil!

Und? Ist er?

Ich glaube, nur, wenn Günther Jauch gewinnt. Wenn wir ihn bekommen, dann nicht. Denn wo viel ist, muß noch mehr hin.

Dabei könnten Sie es so gut gebrauchen für Ihre kleine Show.

Ja, denkt man immer. Aber wir wollen gar nicht mehr. Wir kommen mit unserem schmalen Budget ganz gut zurecht.

„Blondes Gift“ lebt ja auch davon, daß Sie sagen: Dies hat der Requisiteur wieder nicht besorgt; hier hinten bricht das Bühnenbild zusammen; meine Redaktion besteht aus drei unfähigen Menschen…

… einem! Die Spiele werden mir ja immer aufgeschrieben. Da heißt es: „Barbara zieht aus einer Lostrommel Bingo-Kärtchen“ oder so. Es stellt sich heraus: Eine „Lostrommel“ ist ein Blumentopf, wo einer zwei Henkel drangeklebt hat, mit einer Pappe drumherum, das sieht aus wie ein schwules Handtäschchen. Und du guckst rein und fällst echt vom Glauben ab, denn in diesem Blumentopf, den du in der Hand hältst mit den Bingo-Kärtchen, war gerade noch eine Zwerg-Azalee drin, die auf meinem Schreibtisch stand. Jeder, der mal beim Fernsehen war, fällt bei uns vom Glauben ab. Das Studio ist ein normales Wohnhaus. Das Set könnte man in meinem Wohnzimmer aufbauen, und es wäre noch dicke Platz. Das Tor, durch das der Gast kommt, wurde früher von Hand von unserem ostdeutschen Quotenmitarbeiter mit einem Seilzug hochgezogen. Inzwischen funktioniert das elektrisch.

Plötzlicher Geldsegen?

Weil das Ding so schwer war, konnte der das nicht so reibungslos nach oben ziehen, daß es immer die gleiche Geschwindigkeit hat, sondern das war so hööö-hööö. Da haben wir dann gesagt — also, ich nicht, mich hat das nie gestört –, daß zu der sphärischen Musik ein Hau-Ruck-Hochziehen nicht so gut kommt.

Stand vor dem Dauerwitz über die Billig-Ausstattung echtes Entsetzen?

Na klar. Als der Komiker Bernhard Hoecker zu Gast war, hatten wir ein Spiel mit Höckern, also Kamelen, auf Höckern. In diesem Fall wurden einfach Bürostühle verschiedener Größe ins Studio geschoben, und man hat Plüschkamele da draufgesetzt, die mit Sicherheit nur ausgeliehen und nicht gekauft waren. Und das muß auch so sein. Du kannst ja nicht einen Messebauer beauftragen: Du, wir brauchen das und das, und es muß sich organisch in die Deko einfügen.

Jauch kann das.

Ja, Jauch sitzt auch in einem Studio, das 150mal größer ist und eine Deckenhöhe hat, wo gewisse Bauten Sinn machen. Bei uns ist es so, wenn ich die Hand oben ausstrecke und noch einen Stift halte, stoße ich an den Scheinwerfern an.

Nervt das nicht?

Nein, jetzt ist es toll. Ich mag diese High-Tech-Scheiße nicht. Egal, in welche Sendung du reinplatzt, es steht immer irgendwo ein Drei-mal-drei-Meter-Flatscreen, wo Muster draufgebeamt werden, und du weißt genau: Das Ding zu leihen kostet am Tag schon 30.000 Euro. Bei uns schrabbert halt dieses Tor nach oben, und ich finde, das hat viel Charme. Manchmal guck‘ ich mich im Monitor an, und dann sage ich zu Richy, der hinten am Licht sitzt, „Richy, was ist denn hier los?“, und Richy sagt: „Naa, das ist nur der Fernseher do, der ist nicht gscheit eigstellt, mußt amol auf meinen Monitor schaun, da schaugst du supa aus“, und dann sag ich, „Entschuldige mal, mir stehen Drähte aus dem Kopf, weil meine Haare, meine blonden, vor dem schwarzen Hintergrund aussehen, als wären sie zentimeterdick, die mir da so vom Kopf wegstehen, und ich hab‘ Ringe unter den Augen“, und er: „Naa, überhaupt net, das ist nur der Monitor.“

Hm.

Wir haben eine Pilotsendung aufgezeichnet mit Bully, da haben wir wirklich fünf Stunden an dieser dreiviertelstündigen Sendung gearbeitet, die nie gesendet werden konnte. Wir saßen da wie zwei Wasserleichen. Bully lief nur die Soße runter, er hat immer mit dem Zeigefinger so die Schweißperlen weggeschnipst, es war so heiß. Permanent sind die Sicherungen rausgeflogen. Mir standen die Haare weg, und die sehr bemühte Visagistin hat versucht, mit sehr viel Pomade mein Haar zu bändigen, was dazu führte, daß ich aussah, als wär‘ ich gerade aus der Dusche gekommen, mit so einem angeklatschten Fettkopf, es war wirklich fürchterlich.

Ahnt man in so einem Moment, daß diese billige Show einmal Kult werden könnte?

In dem Moment denkst du nur: Okay, Barbara, du machst das jetzt einfach. Es wird eh nie jemand erfahren, weil dahin, wo das läuft, verirrt sich kein Fernsehzuschauer.

Weit gefehlt.

Binnen zwei Wochen kannten das viele. Wir haben ja nicht durch Qualität auf uns aufmerksam gemacht, sondern durch Quantität. Wir wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit wiederholt, mehrfach täglich, was zu einer ganz subversiven Durchdringung der Gesellschaft führte. Das war geil, dann kannte uns jeder, und dann konnte der WDR sagen: Okay, jetzt senden wir sonntags um null Uhr.

Gibt es jetzt vom WDR mehr Geld, oder haben die sich gefreut, nichts ausgeben zu müssen?

Es gibt schon mehr Geld. Bei den Ballungsraumpleitensendern gab es ja eigentlich Minusgeld. Der WDR ist unglaublich reich, und wir dürfen davon profitieren. Das Budget ist bestimmt locker 3000 Euro höher, aber das ist immer noch nichts.

Jetzt konkurrieren Sie um den Fernsehpreis mit Oliver Geißen und Günther Jauch…

…den absoluten Riesen…

…da drängt sich der Gedanke auf: Braucht man gar kein Geld, um gutes Fernsehen zu machen?

Die Frage ist natürlich: Wie kommerziell bin ich? Und: Könnte ich zur gleichen Sendezeit ebensoviele Leute unterhalten — da bin ich mir nicht so sicher. Ich denke, daß viele Leute das gutfinden, wenn das Studio groß ist und das Licht Kreise machen kann und dazu eine Melodie kommt wie dödödödödööö (macht die Runden-Anfangs-Melodie von „Wer wird Millionär“ nach). Das kommt allgemein schon gut an, und das versteht man auch unter „Großer Abendunterhaltung“. Mit meiner Show könnte ich um 20.15 Uhr wahrscheinlich keinen hinter dem Ofen hervorlocken.

Aber umgekehrt kann fehlendes Geld anscheinend keine Ausrede für langweiliges Programm sein.

Definitiv nicht. Ich finde das Allerschlimmste, wenn ein Sender wieder mit einer Unterhaltungsshow um die Ecke kommt, „du, das wird ganz toll, da werden die auf Schlitten reingefahren, und da fallen Kandidaten aus der Decke, und dann machen die ’nen Hubschrauberrundflug und alles groß groß groß“ — nicht oft hat man damit Erfolg. Ich glaube, es gibt nicht die Korrelation: viel Geld = viele Zuschauer, viel Geld = gute Unterhaltung.

Jetzt bekommen Sie den Fernsehpreis, jetzt wird alles anders.

Gott, ich weiß nicht, ob das so heilsbringend ist. Ich find’s nur schon geil, nominiert zu sein, das kann einem keiner nehmen. „Nominiert für den Fernsehpreis“, Punkt.

Soll sich gar nicht viel ändern?

Nein, es muß sich überhaupt nichts ändern. Das Schlimmste ist, wenn du denkst: Jetzt muß alles ganz groß werden, ganz schick, und plötzlich unterscheidet man sich in nichts mehr von Nina Ruge, und das ist natürlich bitter.

Alle werden Sie fragen: Wann machen Sie eine Samstagabendshow?

Ja, genau, weil der Samstag, 20.15, auch der dankbarste Fernsehtermin ist, herzlichen Glückwunsch. Ich glaube, im Marginalfernsehen, wie das so schön heißt, kann man sich mehrere Jahre gewinnbringend durchmogeln. Es gibt Leute, die machen seit 20 Jahren eine Nachrichtensendung im Dritten, die sind nie jemandem aufgefallen, und die fahren auch Porsche und haben eine Eigentumswohnung. Es gibt andere, die sind für sieben Monate on top bei RTL und fliegen dann derartig raus aus dem Kader, daß es für immer zappenduster bleibt. Klar reitet einen oft die Eitelkeit, ich will vorne dabeisein, aber ich glaube, wenn man da steht, denkt man sich manchmal: Ach, war das geil früher bei TV München.

Halten wir fest: Wenn den Sendern das Geld ausgeht, ist das keine Ausrede, schlechtes Fernsehen zu machen.

Nein, wer kein Geld mehr hat, soll sich bei mir melden. Ich bin gerne zu anspruchsvoller Abendunterhaltung mit wenig Geld bereit.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die einzigen Zeugen

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

„9/11“: Jules und Gédéon Naudet filmten die Feuerwehrleute beim Einsturz des World Trade Center.

Der Körper eines Menschen, der aus dem 90. Stockwerk eines Hochhauses springt, macht beim Aufprall kein dumpfes „Fump“. Es ist ein lautes, krachendes Scheppern, als würde ein Auto aus großer Höhe auf dem Asphalt zerschellen. Es ist ein Geräusch, das einen mit entsetzlicher Klarheit begreifen läßt, warum ein Feuerwehrmann, der am 11. September von einem Menschen getroffen wurde, der aus dem World Trade Center sprang, sofort tot war.

Alle dreißig bis vierzig Sekunden hört Jules Naudet dieses Geräusch, eine Stunde lang, während er in der fensterscheibenlosen Lobby des brennenden Nordturmes steht. Er filmt keinen der Aufschläge. Er filmt nur die Gesichter der Feuerwehrleute, wie sie jedesmal innehalten und ruckartig für eine Sekunde aufschauen – aber: Das „nur“ in diesem Satz ist falsch.

Er hat auch die brennende Frau nicht gefilmt, an der er vorbeigegangen ist. Das war keine bewußte Entscheidung. Es war das Gefühl, daß schon, was er aus dem Augenwinkel gesehen hatte, mehr war, als ein Mensch sehen sollte. „Das Bild war so furchtbar, daß ich bereute, es mit meinen eigenen Augen gesehen zu haben. Ich wußte, daß es nichts Gutes bringen könnte, so ein Bild zu sehen.“ Die Kamera darauf zu richten war keine Option.

Aber Jules Naudet filmt. Er filmt, während die Leiter der Brigaden in der Lobby ihre Befehlszentrale aufbauen und immer neue ankommende Trupps in die Treppenhäuser schicken. Er filmt, als eine Welle von Staub und Lärm und Dunkelheit alles überrollt genau in dem Moment – wie er später erfahren wird -, in dem der andere Turm zusammenbricht. Er filmt, wie Chief Joseph Pfeiffer alle Kollegen per Funkgerät auffordert, den Nordturm sofort zu evakuieren, während er durch eine graue Wand eine stillstehende Rolltreppe hoch rennt.

Er leuchtet mit der Lampe seiner Kamera in das Chaos, bis die Feuerwehrleute ihren Geistlichen gefunden und geborgen haben, den sie später auf einen Altar legen und mit der Opfernummer 00001 registrieren werden. Er hält die Kamera in der Hand, als der zweite Turm einstürzt und er wieder um sein Leben rennt und wieder denkt, daß er jetzt stirbt.

Jules Naudet hat am 11. September die einzigen Aufnahmen aus dem Inneren des World Trade Centers gemacht und vorher die einzigen vom ersten Flugzeug, wie es in den Turm rast. Aber das weiß er in diesem Moment nicht. Was er weiß, ist, daß er wahnsinnig würde, wenn er die Kamera jetzt nicht laufen ließe. Wenn er nicht durch den Sucher oder das kleine LCD-Display blicken könnte, mit dem Rahmen, der Distanz, die sie dem Unvorstellbaren geben, das um ihn geschieht. „Ohne etwas, auf das du dich konzentrieren kannst, brichst du zusammen.“

Es ist eine Kette unglaublicher Zufälle, die dazu führt, daß Jules Naudet, 28, hier mit seiner Kamera steht und sein Bruder Gédéon, 31, einen Block weiter das Inferno auf der Straße filmt. Aber Jules spricht nicht von Zufall. Er sagt: „Geschichte sucht sich einen Zeugen, der alles aufzeichnet, und das waren wir.“ Er sagt das ohne Pathos. Es klingt zwangsläufig. Anders ließe sich ihre Geschichte auch kaum erklären.

Sie waren Ende der achtziger Jahre aus ihrer Heimat Paris nach New York gekommen, wo man an der Universität Filmemachen dadurch lernt, daß man einfach eine Kamera in die Hand bekommt und filmt. Sie haben mehrere, später preisgekrönte Dokumentarfilme gedreht, immer über Menschen, in deren Welten sie sich über Monate eingearbeitet, eingelebt haben. Weil ein Freund von ihnen, der Schauspieler James Hanlon, seit acht Jahren bei der New Yorker Feuerwehr arbeitet und ihnen immer wieder davon vorschwärmt, nehmen sie sich dieses Thema vor.

Ein Jahr dauern die Vorbereitungen. Feuerwehrleute sind verschlossene, skeptische Menschen, zum letzten Mal ließen sie sich in New York von der BBC bei der Arbeit zugucken. Das war vor 27 Jahren. Es soll ein Film über „Helden“ werden, über „gewöhnliche Menschen, die Außergewöhnliches tun“, wie sie sagen.

Ohne die Hollywood-Klischees vom Feuerwehrmann, der stolz als letzter aus dem brennenden Haus kommt, das Baby im Arm. Sie wollen einen jungen Auszubildenden während der neun Monate Probezeit begleiten, sehen, wann und wie ein Junge zum Mann wird – diese kitschige amerikanische Formulierung.

Es ist nicht so, daß die Welt auf so einen Film gewartet hätte. Alle Fernsehsender sagen dankend ab, die Naudets nehmen Kredite auf, um die Ausrüstung zu kaufen, und hoffen, daß sie mehr Glück haben, wenn sie erst einmal Bilder zeigen können, wie der Neuling seinen ersten Einsatz hat; James Hanlon soll mit einer speziellen Kamera hinter ihm ins Feuer gehen, so etwas hatte es noch nicht gegeben. Sie finden den perfekten Protagonisten: Tony, 21 Jahre alt, klug, völlig unerfahren. Einer mit der schlichten Mission: „Ich will Menschen helfen. Ich wollte etwas tun, womit ich leben kann. Hiermit kann ich leben.“

Im Nachhinein paßt alles zusammen, in fast beängstigendem Maße: Daß Tony in der Feuerwache Ladder 1 in der Douane Street arbeitet, nur ein paar Blocks vom World Trade Center entfernt, wo die beiden Türme den natürlichen Hintergrund bei den Aufnahmen vor dem 11. September bilden. Daß Tony monatelang auf sein erstes richtiges Feuer warten muß. Daß der Anschlag sein erster Einsatz überhaupt wird, er aber zunächst allein die Wache hüten muß, zurückgelassen, voller Unruhe, Wut, Frust und vor allem dem Drang, dahin zu gehen, wo die anderen sind.

Daß alle Mitglieder von Ladder 1 überleben und heil zurückkehren, nur Tony nicht. Daß er erst Stunden nach dem letzten Kollegen eintrudelt – er hat brav bis zum traditionellen Schichtwechsel ausgehalten. Im Hintergrund die Tragödie, davor das lang herausgezögerte Happy-End – „Wenn Hollywood sich das ausgedacht hätte, würde man ihnen vorwerfen, die Geschichte wäre völlig unglaubwürdig“, sagt Gédéon Naudet. Kein Zweifel.

Die Dramaturgie ist perfekt, nur die Helden sind anders als die aus Hollywood. Diese hier gehen niedergeschlagen nach Hause, am Tag nach dem Desaster, als sie nur einen Menschen lebend aus den Trümmern bergen konnten, und können nicht glauben, daß halb New York an den Straßen steht und ihnen zujubelt.

Gédéon und Jules Naudet hätten reich werden können mit ihren Aufnahmen. Sie haben nur einen Sekunden-Schnipsel von dem ersten Flugzeugangriff verkauft, um sich von dem Geld neue Videokassetten zu kaufen. Sie haben die besten Angebote abgelehnt, weil sie das Gefühl hatten, daß es den meisten nur auf das Sensationelle ankam, nicht auf „Respekt“. Sie wollten die Geschichten der Feuerwehrleute erzählen und nicht nur die Schlüsselszenen zeigen, in Zeitlupe, mit kitschiger Musik, immer und immer wieder.

Vorher stand die Aufgabe, alle Feuerwehrleute, die Jules in der Lobby gefilmt hat, die vielleicht nur für eine Sekunde halb verdeckt zu sehen sind, zu identifizieren und die Aufnahmen den Angehörigen zu zeigen. 74 der 343 Feuerwehrmänner, die an diesem Tag starben, waren auf seinem Film.

„9/11“, wie der Film im Original heißt, wird am 11. September noch einmal auf CBS gezeigt – und auf 142 Sendern der Welt, darunter Al-Dschazira. Der Großteil der Einnahmen geht an eine Stiftung, die den Kindern von getöteten Feuerwehrleuten eine Zukunft ermöglichen will.

In Deutschland zeigt das Erste den Film. Der NDR hat den Brüdern angeboten, ihre nächsten beiden Projekte mitzufinanzieren – nicht nur das nächste, weil das nach der besonderen Aufmerksamkeit von „9/11“ schwierigem Druck ausgesetzt sei, sagt NDR-Kulturchef Thomas Schreiber.

„Alle werden vom nächsten Film enttäuscht sein“, sagt Gédéon Naudet. „Wir können es nicht erwarten, damit anzufangen. Und dann geraten wir langsam wieder in Vergessenheit.“ Es ist ihm unangenehm, seit Wochen durch die Welt zu reisen und im Mittelpunkt zu stehen.

Alles hat sich für sie am 11. September 2001 geändert. „Man überdenkt die Prioritäten im Leben“, sagt Jules Naudet. „Es sind nicht Geld, Ruhm, Macht. Es sind Familie, Freunde und etwas im Leben zu tun, worauf man stolz ist.“ Er hat kurz danach geheiratet, in der Feuerwache, seine Frau ist schwanger. Jules und Gédéon sind immer wieder bei Ladder 1. „Es fühlt sich wie ein sicherer Ort an“, sagt Jules. So wie die Anwesenheit und organisierte Routine der Feuerwehrleute ihm das Gefühl von Sicherheit gegeben haben, als er mit ihnen in der Lobby des Nordturms stand. Was eine Illusion war und doch die Wahrheit.

Sie geben den beiden am Tag danach Feuerwehruniformen und nehmen sie heimlich mit zum „Ground Zero“. Drei Wochen lang graben sie mit den anderen, mit bloßen Händen, Schaufeln und Plastikeimern, in Schutt, in dem das größte zusammenhängende Einzelteil, das einer herausfischt, eine halbe Telefontastatur ist. Zwischendurch filmen sie, vor allem, weil die Feuerwehrmänner darauf bestehen.

Dann treibt sie das Adrenalin, ihre Bänder noch einmal durchzusehen und mit der Arbeit am Film zu beginnen. Sie durchleben noch einmal die Todesangst oder bekommen die Wut, weil es so unfaßbar ist, in dieser Situation, auf der Straße, im Staub, hinter einem Auto, einen Feuerwehrmann auf und einen verschwindenden Wolkenkratzer neben sich, eine Kamera weiterlaufen zu lassen.

Es kostet alle Kraft, dann auch noch eine Version für DVD zu produzieren und die französische Synchronisation zu beaufsichtigen. Aber auch Therapie ist das, die Dämonen vertreiben, dadurch, daß man das Geschehene wieder und wieder erlebt. Inzwischen sind sie soweit, daß sie ihren Film nicht mehr sehen wollen und können. Aber „die Angst hat uns nie verlassen“, sagt Gédéon Naudet. Die schlaflosen Nächte, die Anspannung, die Schuldgefühle. Wann wurde ihnen klar, daß sie nicht nur riesiges Pech hatten, in diesem Moment an diesem Ort gewesen zu sein, sondern auch eine Art Glück, das Elend, den Einsatz, den Mut für die Nachwelt festhalten zu können? „Gar nicht. Ich wünschte bis heute, ich wäre nicht dabeigewesen.“ Am 11. September 2002 werden Gédéon und Jules Naudet in New York im Feuerwehrhaus sitzen, mit allen Brüdern aus der Wache.

Bild-Zeitung

Nichts zu danken. Die „Bild“-Zeitung wird fünfzig Jahre alt – und alle, alle gratulieren. Doch gibt es was zu feiern?

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß einem Familienmitglieder wegsterben in einem furchtbaren Unfall und man am nächsten Tag nicht die paar Schritte von der Haustür zum Auto gehen kann, weil Fotografen und Reporter von der „Bild“-Zeitung am Grundstück lauern und einen verfolgen und fotografieren und wenig später anrufen und fragen, ob man sich wirklich ganz sicher sei, daß man nicht in einem Interview über die eigene Trauer reden wolle, weil man die Fotos von einem selbst und seinen Angehörigen veröffentlichen werde, so oder so, aber so wäre es vielleicht besser.

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man mit seinem Laster einen tragischen Unfall verursacht, der zwei Menschen das Leben kostet, um festzustellen, daß damit der Tiefpunkt noch nicht erreicht ist, sondern erst am nächsten Tag, als die „Bild“-Zeitung ein riesiges Foto von einem abdruckt und einen Pfeil und daneben die Schlagzeile: „Er hat gerade zwei Berliner totgefahren.“

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man vor Gericht steht, weil man möglicherweise als Handwerker einen Fehler gemacht hat und durch eine unglückliche Verkettung von Umständen ein Kind einen Stromstoß erleidet, der bleibende Schäden bei ihm auslöst, und am nächsten Tag sein eigenes Gesicht in der „Bild“-Zeitung sehen und daneben die Frage: „Hat der Elektriker Timmi auf dem Gewissen?“

Vielleicht würde es schon reichen, wenn man einmal erlebt hätte, wie das ist, als halbwegs prominenter Mensch von der Klatsch-Kolumnistin der „Bild“-Zeitung angerufen zu werden und sinngemäß gesagt zu bekommen: „Sag mir, mit wem du vögelst. Wenn du es mir nicht sagst, schreiben wir morgen, du vögelst mit XY.“

Wahrscheinlich wüßte man dann, daß die „Bild“-Zeitung lügt, wenn sie, wie gestern, schreibt: „,Bild‘ feiert Geburtstag. Ganz Deutschland freut sich, ganz Deutschland feiert mit.“ Wahrscheinlich würde man dann versuchen, die Jubiläumsfeierlichkeiten in der „Bild“-Zeitung weiträumig zu umfahren. Und wahrscheinlich würde man dann verzweifeln, weil man feststellen müßte, daß „Bild“ in diesen Tagen nicht nur Geburtstag hat, sondern heiliggesprochen wird, nicht nur von den angeschlossenen Springer-Blättern, nicht nur von den Konservativen und Staatstragenden, sondern auch von der halben liberalen Presse. Vor ein paar Jahren war es noch so, daß „Bild“ bäh war; alle lasen sie, aber wer sich bekannte, es gerne und interessiert zu tun, war in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter. Heute ist es so, daß „Bild“ cool ist; alle lesen sie, und wer sich bekennt, sie für ein entsetzliches menschenverachtendes Blatt zu halten, ist in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter.

Sie hat sich diese schillernde Oberfläche aus Nebensächlichem, Harmlosigkeiten und Selbstironie zugelegt, die Medienprofis und Intellektuellen gefällt. Die freuen sich über den Einfall, zum Fußball-Spiel am frühen Morgen die „Bild“-Zeitung mit zwei Titelseiten erscheinen zu lassen – je nach Sieg oder Niederlage. Sie interpretieren öffentlich, wie man das zu werten habe, daß die „Bild“-Zeitung, im kalkulierten Schein-Tabubruch, vor dem USA-Spiel schreibt: „Ami go home“, höhö. Sie sind süchtig nach dem täglichen Brief von Franz-Josef Wagner und neidisch auf seine Fähigkeit, den Wirrwarr in seinem Kopf ohne Umweg über Filter im Gehirn auf die Seiten fließen zu lassen. Sie schauen mit ein bißchen Abscheu und viel Faszination auf die Abgründe, die sich jeden Tag auf Seite eins auftun, auf die x-te Wendung im Uschi-Glas-Drama, staunen, wie „Bild“ es an guten Tagen schafft, wenn man glaubt, nun könnte ihnen dazu unmöglich noch etwas einfallen, sogar mehrere Dauer-Handlungsstränge zusammenlaufen zu lassen und die Schicksale von Klaus-Jürgen Wussow, Uschi Glas und Ireen Sheer unendlich kunstvoll ineinander zu verweben.

Sie lesen die „Bild“-Zeitung, kurz gesagt, als Fiktion. Und die „Bild“-Zeitung fördert das, indem sie – selbstbewußt und selbstreflexiv, fest verankert im postmodernen und postideologischen Zeitalter – ihre eigene Rolle im Blatt zum Thema macht und zum Beispiel das endlos weitergedrehte Wussow-Scheidungsdrama selbst zur Soap erklärt und mit eigenem Logo „Die Wussows“ samt Angabe der „Folge“ versieht.

„Kampagnen“ hat man dem Chefredakteur Kai Diekmann kurz nach seinem Amtsantritt vorgeworfen, und er hat das empört von sich gewiesen. So ein Unfug: Seit Diekmann Chefredakteur ist, finden auf der Seite eins der „Bild“-Zeitung fast ausschließlich Kampagnen statt – nur daß man sie, angesichts der Themen, eher „Fortsetzungsromane“ nennen müßte. Jedes Thema wird über Tage, Wochen, Monate gar weitergedreht, bis auch die letzte dramaturgische Wendung und irre Pointe herausgepreßt ist. Im Februar standen an vierzehn von vierundzwanzig Erscheinungstagen die privaten Sorgen von Uschi Glas und ihrer Familie auf der Titelseite der „Bild“. Ein Thema so ernst zu nehmen verlangt einen gewissen Unernst, ein Augenzwinkern. Das ist hohe Kunst. Da staunt die Branche. Und lacht.

Ob es auch dem durchschnittlichen Leser gefällt, ist eine andere Frage. Ausgerechnet im ersten Quartal, jenem mit den Uschi-Glas-Trennungs-Festspielen, sackte die Auflage der „Bild“-Zeitung um 200 000 Stück gegenüber dem Vorjahr ab, ein Rückgang um heftige fünf Prozent. Diekmann erklärt das damit, daß die Leser nicht mehr abgezählte Groschen rüberschieben konnten, sondern nach Cent kramen mußten. Frage: Würde die „Bild“-Zeitung einem Wirtschaftsboß oder Minister diese Erklärung durchgehen lassen?

In einer Lobhudelei attestierte die „Welt“ ihrem Schwesterblatt in der vergangenen Woche, daß „das heutige Blatt erheblich jünger und sexier wirkt als die Protestierenden von damals“ (was natürlich kein Kunststück ist, da es Menschen ein bißchen schwerer fällt als Zeitungen, den Alterungsprozeß durch den Austausch von Chefredakteuren aufzuhalten). Die „Welt“ weiter: „Die Intellektuellen haben aufgehört, sich über ,Bild‘ aufzuregen.“ Das Furchtbare an diesem Satz ist, daß er in doppelter Hinsicht stimmt. Er beinhaltet nämlich auch die Analyse, daß es nicht die „Bild“-Zeitung ist, die sich verändert hat, zahmer geworden sei etwa, sondern die Intellektuellen diejenigen sind, die sich geändert haben. Die Orientierungspunkte haben sich verschoben, die Medienwelt insgesamt, nur deshalb ist „Bild“ plötzlich kein Schmuddelkind mehr. Heute erzählt der nette Herr Röbel, der bis vor eineinhalb Jahren „Bild“-Chefredakteur war, im „Tagesspiegel“ ganz offen, wie das geht, dieses Witwenschütteln, das ihm sein Chef beigebracht hat, über den er „nichts Schlechtes sagen“ kann: „Hatte man etwa bei einem Unglück die Adresse von Hinterbliebenen herausgefunden, ist man sofort hingefahren, klar. Beim Abschied aber hat man die Klingelschilder an der Tür heimlich ausgetauscht, um die Konkurrenz zu verwirren. Ich war damals oft mit demselben Fotografen unterwegs, wir hatten eine perfekte Rollenaufteilung. Er hatte eine Stimme wie ein Pastor und begrüßte die Leute mit einem doppelten Händedruck, herzliches Beileid, Herr . . . Ich mußte dann nur noch zuhören. So kamen wir an die besten Fotos aus den Familienalben. . . . Es war einfach geil.“

Schwer zu sagen, ob all die Intellektuellen, die sich nicht mehr aufregen, all die liberalen Journalisten mit ihren Eigentlich-ist-sie-doch-gut-Artikeln zum Geburtstag, ob sie diese Methoden auch geil finden oder ob sich ihre „Bild“-Lektüre auf die witzigen, schrägen, spannenden ersten beiden Seiten, den Sport und den Klatsch am Schluß beschränkt. Dazwischen nämlich, vor allem in den Lokalteilen, läuft das Blut wie eh und je. Es vergeht kein Tag, ohne daß zum Beispiel „Bild Berlin“ der Leserschaft die Beteiligten eines Unfalls, eines Prozesses, irgendeiner Tragödie mit großen Fotos zum Fraß vorwirft. Eine Viertelseite füllt das Foto von Christian S. neben der Schlagzeile: „Ich habe eine nette Oma totgefahren. Was ist mein Leben jetzt noch wert?“ Verdächtige werden nicht dann zu Mördern, wenn sie verurteilt sind, sondern wenn „Bild“ sie dazu erklärt: „Anna (7) in Schultoilette vergewaltigt. Er war’s“ steht dann da und ein Pfeil und ein Bild, und im Text ist schon vom „Beweis seiner Schuld“ die Rede.

Jeder Beteiligte wird abgebildet und trotz eines Alibi-Balkens über seinen Augen (den auch nicht alle bekommen) mit Vornamen, abgekürztem Nachnamen und Ortsangabe für sein Umfeld eindeutig identifizierbar. „Weil sie sich mit ihrem Freund amüsierte – diese Berliner Mutter ließ ihren Sohn verhungern“, „Dominik (15) erhängte sich auf dem Dachboden“ – sie alle dürfen wir sehen. Es reicht schon, eine blinde Hündin ausgesetzt haben zu sollen, um mit Foto an den „Bild“-Pranger gestellt zu werden.

Das Blatt Axel C. Springers kämpft immer noch jeden Tag die alten Kämpfe. Wenn die PDS mitregiert in Berlin, schreibt „Bild“: „PDS krallt sich drei Senatoren-Posten“. Wenn Gregor Gysi Wirtschaftssenator wird, steht da an einem Tag die Frage: „Was wird jetzt aus Berlin“ und an einem anderen Tag die Antwort: „Gute Nacht, Berlin“ und nur ganz klein darunter in Klammern: “ . . . sagt Edmund Stoiber“. „Neue Stasi-Akten über Gysi gefunden“, heißt die Überschrift neben einem Bild, auf dem man ihm den bösen Spitzel schon anzusehen glaubt, doch im Text sagt ein Sprecher der Gauck-Behörde nur: „Hier und da wurde noch ein Blatt über ihn gefunden“ und der Autor ergänzt: „Ob brisant, dazu wurden keine Angaben gemacht“. Wenn es sein muß, wie vor einigen Monaten in Bremen, wird täglich neu gegen „Schein-Asylanten“ gehetzt. Sexualstraftätern wird konsequent das Mensch-Sein abgesprochen; sie sind „Monster“, deren Leben „im Knast schöner“ wird, „beinahe wie im Hotel“. Die Leser verstehen, ohne daß „Bild“ es hinschreiben müßte: Ihre Zeitung kämpft täglich für die Todesstrafe für Kinderschänder und -mörder.

Nein, neu ist das alles nicht. Das ist es ja: Im Kern ist die „Bild“-Zeitung die alte. Ein entsetzliches, menschenverachtendes Blatt.

Bitter daran, daß dies von weiten Teilen der veröffentlichten Meinung nicht mehr so gesehen wird, ist auch, daß es Kai Diekmann ermuntert, ein Bild von seiner Arbeit und seiner Zeitung zu zeichnen, das höchstens in einem Springerschen Paralleluniversum Berührungspunkte zu dem hat, was täglich nachzulesen ist. Der Mann, dessen Zeitung vom Presserat immer wieder wegen der immer gleichen Verstöße gerügt wird, dieser Mann sagt gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur: Die Grenzen des Boulevards seien dort, „wo Menschen verletzt werden könnten“ – daher messe sich die Zeitung regelmäßig an den journalistischen Leitlinien des Deutschen Presserats. Messen schon, nur verfehlt sie sie regelmäßig.

Der „Frankfurter Rundschau“ erzählt Diekmann: „Ich bin ein Streiter für journalistische Sorgfalt, gegen die Verluderung der Sitten.“ Jeder Reporter müsse selbst entscheiden, wo die Grenzen sind, aber er sage ihnen: „,Lieber haben wir dreimal das Bild nicht, als daß wir den Angehörigen der Opfer zu nahe treten.‘ Schließlich sind das Menschen, die ohne eigenes Zutun ins Licht der Öffentlichkeit gerückt sind.“ Das ist ein Satz, der so atemberaubend ist, daß er in jedes Schulbuch gehört. Und daneben der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Maurer, der in seinem Dachstuhl verbrannt ist. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem dreizehnjährigen Unfallopfer: „Tot, weil er eine Sekunde nicht aufgepaßt hat“. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Vizebürgermeister, der sich „in Pfütze totgefahren“ hat. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Achtzehnjährigen, der nach einem Unfall auf regennasser Straße im Auto seines besten Freundes starb.

Dann sagt Kai Diekmann der „Frankfurter Rundschau“ noch dies: „Ganz im Ernst: Wer wirklich privat sein will, kann das selbstverständlich sein. Es gibt Menschen, Politiker, die setzen bewußt ihre Familie ein. Und andere, wie Günther Jauch oder Harald Schmidt, tun’s nicht. Die haben unbedingten Anspruch auf Schutz ihrer Privatsphäre.“ Wirklich privat wollte, nach eigenen Angaben, Alfred Biolek mit seinem Partner sein. Kai Diekmanns „Bild“-Zeitung gewährte ihm diese Ehre nicht. Zwei Tage lang zelebrierte sie eine Home-Story, die auch noch den Eindruck erweckte, sie sei von Biolek selbst initiiert. Wirklich privat wollte auch Anke S. sein, die Geliebte des Ehemanns von Uschi Glas. Anders als die „Luder“-Fraktion wollte sie entschieden nicht in die Presse, ging gegen die Veröffentlichung ihrer Bilder vor, doch im Februar gab es Zeiten, in denen sie Tag für Tag auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung nackt abgebildet war, einen schwarzen Balken nicht über den Augen, sondern ihrem Busen, als wäre der das Merkmal, an dem sie zu erkennen wäre. Biolek und Anke S. gehen juristisch gegen die „Bild“-Zeitung vor, wie Hunderte Prominente vor ihnen. Einige bekommen vor Gericht recht, die meisten einigen sich irgendwie mit der Zeitung, weil Recht eine Sache ist, die Feindschaft der „Bild“-Zeitung eine andere.

Selbst einige von jenen, denen die „Bild“-Zeitung übel mitgespielt hat, haben ihre Einwilligung gegeben, daß der Verlag ihr Foto für die Jubiläums-Kampagne benutzen darf, die auf geschickte Weise offenläßt, ob „Bild“ ihnen dankt oder sie „Bild“ danken. Öffentlich nicht mitfeiern wollen nur die Wallraffs dieser Welt, die man leicht als Ewiggestrige, Miesepeter, Spielverderber darstellen kann. Ach, und vielleicht der ein oder andere Mensch, dessen privates Unglück so ungleich unerträglicher dadurch wurde, daß die „Bild“-Zeitung davon lebt, es der ganzen Nation zu zeigen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Time to say goodbye

Lettland gewinnt den Grand Prix, und Deutschland muß sich nach dem 21. Platz etwas Neues überlegen.

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TALLINN, 26. Mai. Ein Radioreporter schaffte es, die ganze Verzweiflung in eine Frage zu stecken. „Was ist los in Europa, daß ihr kleinen Länder immer gewinnt“, fragte er die siegreiche Lettin. „Was machen wir Deutschen falsch?“ Und Marija Naumova hatte eine erstaunlich konkrete Antwort: „Ihr müßt Wärme ausstrahlen. Ihr müßt auf die Bühne gehen und vergessen, was ihr macht, vergessen, daß ihr Deutsche seid, den ersten Platz vergessen und einfach eine warmherzige Show abliefern.“

Wer sagt noch, der Song Contest sei eine bedeutungslose Veranstaltung? Im vergangenen Jahr bot der deutsche Vorentscheid die Bühne für die öffentliche Hinrichtung der Medienfigur „Zlatko“, in diesem Jahr war das Finale der Rahmen für die endgültige Demontage des Mythos Ralph Siegel. Wenn er es an diesem Samstag nicht gemerkt hat, wird er es nie merken. Diesmal hat ihm die gesamte europäische Fernsehgemeinde mitgeteilt, daß die Zeit seiner bis zur Unkenntlichkeit auf Sieg getrimmten Produkte vorbei ist. Aus keinem Land gab es mehr als vier Punkte, aus den meisten Ländern überhaupt keinen Punkt, Corinna May kam in Tallinn auf den viertletzten Platz. Nachdem selbst einige seiner Mitarbeiter schon begonnen hatten, sich von ihm abzuwenden, entzog ihm gestern auch noch die „Bild“-Zeitung die Unterstützung: „Noch eine gute Nachricht gibt es seit der Grand-Prix-Katastrophe gestern Abend“, formulierte sie mit böser Ironie. „Ralph Siegel wird nie mehr beim großen Schlager-Wettstreit für Deutschland antreten.“

Die ersten Verschwörungstheorien machten am Samstag abend im fassungslosen Fantroß die Runde, der bereits Sieges-T-Shirts gedruckt und getragen hatte: Der Sieg der Lettin, die mit fünf Tänzerinnen und Tänzern eine große lateinamerikanische Show auf der Bühne zeigte und dabei mehrfach ihr Kleid wechselte, zeige, daß nicht das beste Lied gewinne, sondern die auffälligste Show. Hätten sie recht, wären allerdings nicht die unprätentios, aber eindringlich vorgetragenen Balladen von Großbritannien und Frankreich so weit nach vorne gekommen. Marija Naumova, die im vergangenen Jahr mit modernen Versionen französischer Chansons auffiel und am Entstehen ihres Liedes „I Wanna“ selbst mitwirkte, hält dagegen ihre auffällige Show für einen wesentlichen Grund für den Sieg. „Dieser Wettbewerb heißt zwar Song Contest, aber wenn er wirklich einer wäre, würde er im Radio stattfinden. Dies hier ist Fernsehen. Es geht nicht darum, was man hat, sondern wie man es präsentiert.“

Sie hatte eine nette Ricky-Martin-Nummer, trat auf voller Leichtigkeit und Lebensfreude und bekam aus ganz Europa dafür Punkte, von Spanien bis Israel. Und weil Ähnliches schon in den vergangenen Jahren passiert war, ist das katastrophale Abschneiden Deutschlands für den ARD-Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer ein positives Signal: „Die Esten haben den Song Contest wie noch nie zuvor als eine moderne Popshow inszeniert“, sagte er. „Auf dieser Bühne sah der deutsche Beitrag besonders altbacken aus. Die eindeutige Niederlage gibt mir die Möglichkeit, jetzt auch in Deutschland endgültig vom alten Grand-Prix-Image wegzukommen.“ Deutschland habe in den vergangenen Jahren entweder traditionelle, konservative Schlager ins Rennen geschickt oder – mit Stefan Raab und Guildo Horn – die schräge Parodie darauf. Am meisten Erfolg, das zeigten die Siege der vergangenen Jahre, verspreche aber moderner Pop, der Leichtigkeit ausstrahle. Er hat sich zum Ziel gesetzt, im kommenden Jahr einen Vorentscheid zu organisieren, der einen Gewinner mit solch unverkrampfter Leichtigkeit produziert.

Die Letten dürfen sich unterdessen an die ungleich größere Aufgabe machen, den Song Contest auszurichten und sich einen Platz im öffentlichen europäischen Bewußtsein zu sichern. Der lettische Ministerpräsident sagte bereits zu, daß seine Regierung es halten werde wie die Esten im vergangenen Jahr: Die mehreren Millionen Euro Kosten, die dem ausrichtenden Sender trotz Erlösen aus Sponsoring und Kartenverkauf entstehen, sollen aus dem Staatshaushalt bezahlt werden. In Estland sind diese Ausgaben angeblich allein durch zusätzliche Steuereinnahmen und das Geld, das die angereisten Fans und Delegierten im Land ließen, wieder hereingekommen, hinzu kommt ein unschätzbarer Imagegewinn. Das Land, unter dem sich die meisten im Ausland bisher ein Brachland kurz vor Sibirien vorstellten, präsentierte sich Hunderten Millionen Zuschauern – allein fast zehn Millionen in Deutschland – als modernen, kreativen und ehrgeizigen Teil Europas. Erstmals in der Geschichte des Gesangswettbewerbs gab es ein Thema, „ein modernes Märchen“, aus dem Design, Bühnenbild, alle Elemente der Show entwickelt wurden. Und weil man so eine scheinbar harmlose Gelegenheit nicht ungenutzt lassen sollte, waren die kleinen Postkarten-Filme vor den einzelnen Beiträgen voll bedeutungsschwangerer Anspielungen. In einem verglich sich Estland mit Dornröschen, das jahrhundertelang erstarrt war – unschwer als Metapher auf die russische Besatzung zu verstehen. Und ausgerechnet vor dem Titel der verhaßten Russen stand ein Film, der mit dem Wort „Freiheit“ endete. Den Finnen wiederum machten die Esten die Erfindung der Sauna streitig. Daß jedoch ausgerechnet vor dem Auftritt der blinden Corinna May ein holzgeschnitzter Pinocchio zum Behinderten wurde, indem ihm die Nase abfiel, soll unglücklicher Zufall gewesen sein.

Fast alle Favoriten fielen bei der Abstimmung durch. Anders als Deutschland, das als einer der größten Geldgeber der Eurovision gesetzt ist, müssen viele Länder, die sich noch Stunden zuvor Hoffnung auf einen Triumph gemacht hatten, im nächsten Jahr aussetzen. Doch so überraschend das Ergebnis war, so übereinstimmend war das Votum aus den unterschiedlichsten Ländern. Auch das macht die Faszination dieses Wettbewerbs aus: Es gibt ganz offensichtlich ein gemeinsames europäisches Bewußtsein – nur kennt es niemand.

Die Esten feierten den Song Contest mit einer Party auf dem mittelalterlichen Marktplatz ihrer Hauptstadt Tallinn. Unter dem in dieser Jahreszeit nie ganz dunkel werdenden Himmel und im gelben Schein der Laternen standen Esten, Russen und internationale Fans zu Tausenden in gefährlicher Enge, um bei ihren Beiträgen in Ekstase zu geraten. Als sich abzeichnete, daß Estland nicht mehr als einen hervorragenden dritten Platz erringen könnte, verlagerten sich die Sympathien zu den sonst nur bedingt geschätzten Nachbarn aus Lettland, die sich bis zum Schluß ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Malta lieferten. Daß deren glatter ultrakommerzieller Pop, der vor allem bei den Ländern ankam, die nicht die Zuschauer, sondern Jurys abstimmen ließen, dank des Votums der Nachbarn aus Litauen vom entspannten Latinosound aus Lettland überrundet wurde, rief auf den Straßen Freudenfeste hervor.

Ralph Siegel aber hielt es, wie Corinna May, tapfer und pflichtbewußt eine gute Weile auf der Aftershow-Party aus. Er wünschte seinen Nachfolgern ein glücklicheres Händchen und sagte, es gebe Wichtigeres als den Grand Prix. Er wird nur noch herausfinden müssen, was es ist.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung