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Mißbrauch

Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Bild“ rückt Oliver Pocher in die Nähe von Kinderschändern.

Am 8. Oktober war der Fernsehkomiker Oliver Pocher zu Gast in der Talkshow von Johannes B. Kerner. Man plauderte über dies und das, und nach gut zehn Minuten erkundigte sich Kerner, ob es auch ein Thema gebe, bei dem der Witzbold ernst wäre. Ja, sagte Pocher, beim Thema Kindesmißbrauch sei er „extrem sensibilisiert“. Der Sechsundzwanzigjährige berichtete dann von einem Fall, der sich in seiner Jugend in seinem Heimatort zugetragen habe. Was konkret passierte, ließ er offen, er habe es auch erst „viel später mitbekommen“. Man habe versucht, dem Mädchen zu helfen. Aber der Fall sei kompliziert, weil die Betroffene offensichtlich nicht bereit war, eine Aussage zu machen. „Man kann nicht einfach nur hingehen und sagen: Der macht das. Es ist schwieriger, das vor Gericht auch durchzubringen“, sagte er. Wütend mache ihn, daß der Verdächtige immer noch frei herumlaufe. Pocher sagte, auch aufgrund dieser Erfahrung engagiere er sich für ein Kinderhaus in Nepal, das ein Freund gegründet habe.

Gestern griff die „Bild“-Zeitung den Fall bundesweit auf. Sie zeigte auf ihrer ersten Seite ein Foto von Pocher mit der Schlagzeile: „Oliver Pocher – TV-Star schützt Kinder-Schänder“. Sie sprach von einem „Skandal“: „Der Komiker gab zu, von einem Kindesmißbrauch zu wissen. Den Täter zeigte er aber nicht an!“ Sein Zitat, daß man nicht einfach jemanden beschuldigen und damit vor Gericht Erfolg haben könne, wird von „Bild“ mit den Worten kommentiert: „Was denkt sich der TV-Star bloß bei solchen Aussagen – in Zeiten, wo fast täglich Kinder in Deutschland geschändet werden?“ Pocher müsse jetzt „zum Polizeiverhör“.

„Bild“ erwähnte nicht, daß es um keinen aktuellen Fall geht: Nach Angaben Pochers hat er als Vierzehnjähriger davon erfahren; der Mißbrauch liege noch weiter zurück. Der Artikel erweckt den Eindruck, Pocher decke einen Kinderschänder und verharmlose das Thema, obwohl Pochers Auftritt keinen Zweifel daran ließ, daß seine Absicht das Gegenteil war.

Pochers Managerin Nina Brkan sagte, man werde mit allen juristischen Mitteln gegen die „böswillige Verleumdung“ vorgehen. Weder Pocher noch sie seien vor der Veröffentlichung von der Zeitung angesprochen worden. Dafür habe sich gestern eine „Bild“-Redakteurin telefonisch bei ihr gemeldet und unverholen damit gedroht, weitere belastende Infos zu veröffentlichen, die sie recherchiert habe, wenn Pocher nicht bereit sei, mit „Bild“ zu reden. Tatsächlich sei Pocher von der Polizei als Zeuge vorgeladen worden, sagte Brkan. Auch das Opfer des Mißbrauchsfalls, über den Pocher berichtete, habe sich nun dazu durchgerungen, gegenüber einem Notar Angaben zu machen, um der Darstellung der Zeitung zu widersprechen. Warum „Bild“ in dieser Form gegen Pocher vorgeht, wisse sie nicht, sagte Brkan. Es gebe „keine Vorgeschichte“ – außer daß der Komiker grundsätzlich keine Boulevardgeschichten mache.

„Bild“-Sprecher Tobias Fröhlich sagte, die Zeitung habe die Fakten korrekt wiedergegeben. Daß Pocher nichts gegen den vermeintlichen Täter unternommen habe, sei ein Skandal, daß er dann noch bei Kerner darüber rede, ein weiterer. „Das ist doch nicht okay, da müssen wir doch drüber schreiben!“

Ich bin ein Nichts — bringt mich groß raus!

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Und wieder gehen Prominente in den Dschungel und lassen sich vorführen, verspotten und filmen. Aber warum?

Natürlich würde man sich wünschen, daß Nadja Abd el Farrag Freunde hätte. Daß es da jemanden gäbe, der sie in einer ruhigen Minute, vielleicht zwischen der Eröffnung von zwei Schlecker-Filialen, beiseite nähme und ihr sagte: Du, Naddel. Du hattest jetzt die Sache mit Dieter Bohlen. Du hattest die Affäre mit Ralph Siegel,der sich öffentlich Kinder von dir wünschte, bevor du mit ihm per SMS Schluß gemacht hast.

Du hast eine kostenpflichtige Naddel-SMS-Hotline gestartet. Du hast „peep!“ moderiert. Du hast im Fernsehen deine Brust wiegen lassen. Komm, Naddel, jetzt machen wir ’nen Sekt auf, gucken uns noch mal die Witze an, die über dich gerissen wurden, und überlegen, ob es wirklich so eine gute Idee ist, all dem jetzt noch folgende Bilder hinzuzufügen: Naddel schweißnaß unter einem Berg Brennholz. Naddel im Schlamm. Naddel mit Kakerlaken. Naddel mit Carsten Spengemann. Naddel?

Es gibt, andererseits, eine Denkschule, die sagt: Wer nichts zu verlieren hat, hat nichts zu verlieren. Irgendwie muß sie ja Geld verdienen, und in die RTL-Show „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ zu gehen, ist immer noch besser, als eine Bank zu überfallen — na ja, wenigstens ist es legal. Für zwei Wochen gibt es 20.000 bis 60.000 Euro, eine Business-Class-Reise für zwei Personen nach Australien, Unterkunft (vor und nach dem Camp) im besten Hotel. Die Frage, ob der „Trash“-Faktor ihrem Image schaden könnte, stellt sich nicht. Im Gegenteil: Es könnte der krönende Abschluß einer Karriere sein, die auf dem Nichts aufgebaut ist. Die Vollendung. Man könnte auch sagen: Der Todesstoß.

Warum machen Menschen da mit? Lassen sich auf fiese Krabbeltiere und demütigende Psychospiele ein, treten unausgeschlafen, ungeschminkt, ungewaschen vor die Kameras, während ein paar Hundert Meter weiter zwei Moderatoren im trockenen Witze auf ihre Kosten machen? Die zehn mehr oder weniger prominenten Menschen, die an diesem Dienstag nach Australien fliegen, um an der RTL-Dschungelshow teilzunehmen, können nicht sagen, sie wüßten nicht, worauf sie sich einlassen.

Beim ersten Schwung war das anders. Hochspringer Carlo Thränhardt zum Beispiel, der sagt, er mache gerne Dinge, „von denen man vorher nicht genau weiß, worauf man sich einläßt“. Er hatte sich eher eine Art Survival-Training vorgestellt. Er bekam dann ein Video vom britischen Original, sah diverse Kakerlakenspiele und sagte: „Das ist aber nicht so schön.“ — „Keine Sorge, es wird sportlich orientierter, weil das in Deutschland nicht so gerne gesehen wird“, lautete die Antwort.

„Ich war enttäuscht, daß es nichts mit Leistung zu tun hatte“, sagt Thränhardt. „Es war einfach langweilig und ging nur um Überwindung von Ekel.“ Er habe Brennholz geschleppt ohne Ende — was aber natürlich im Fernsehen nie gezeigt wurde. Nein, er bereue nicht, da mitgemacht zu haben haben. Obwohl er, der als Referent über „Eigenmotivation zur Spitzenleistung“ gebucht werden kann, anfangs weniger Anfragen für Seminare bekam, was schade sei, weil er doch trotz allem dort auch viele interessante Erfahrungen gemacht hat.

Für die Kabarettistin Lisa Fitz hatte die Show die sichtbarsten Folgen: Der Saarländische Rundfunk (SR) entzog ihr eine kleine Sendung, was unbedeutend wäre, wenn damit nicht die symbolische Aberkennung des Prädikats „seriöse Kabarettistin“ verbunden gewesen wäre: „Das Entreißen der Krone vom SR hat mir mehr geschadet als der Dschungel selbst“, erzählt Fitz. Die gesamten Öffentlich-Rechtlichen hätten sich verbündet und bei allen Talkshows blockiert — und statt dessen fröhlich Küblböck, Böhm, Cordalis eingeladen. Persönlich und privat würde sie wieder in den Dschungel gehen, in den sie einfach die „Abenteuerlust“ getrieben habe, „aber beruflich darf ich es leider nicht mehr. Kabarett- und andere Fans reagieren sehr mimosenhaft.“

Die Teilnahme hat ihr die Titelrolle in einer RTL-Serie eingebracht, vor allem aber Erfahrungen: „Ich habe die Niedertracht von Menschen erleben dürfen, die Häme von eitlen Kollegen und die maßlose Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude von ‚Daheimgebliebenen‘, den sinnlos aufgequirlten Medienhype um das geballte Nichts — und die Liebe von vielen Millionen Menschen, die mich, greislig, wie wir da drin ausgesehen haben, auf den zweiten Platz wählten. Das ist doch nett. Und ich weiß jetzt, daß ich im Wald überleben kann. Das wollte ich wissen.“ Eine Forsa-Umfrage habe ihr einen großen Zuwachs an Bekanntheit und Beliebtheit vor allem bei 14- bis 29jährigen bestätigt. Ihr entspanntes Fazit: „Die Guten werden durch den Dschungel nicht schlecht, und die Schlechten werden qualitativ nicht besser. Man verliert als Kabarettistin in zwölf Tagen Dschungel weder Substanz noch Verstand.“

Bei Caroline Beil waren es die Veranstalter von Events, die sich zunächst mit Anfragen zurückhielten, ob die Moderatorin nicht diese oder jene Gala moderieren möge, nachdem sie vor Millionen Zuschauern in fiese Schlammbäder gestiegen war, sich von Emus hatte zerpicken lassen und über ihre Mitstreiterin Susan Stahnke gelästert hatte. Inzwischen aber, sagt ihre Managerin Nicole Mattig-Fabian, hätten sich die Vorbehalte „komplett gelegt“.

Beil ist vermutlich diejenige Teilnehmerin, die die genaueste Vorstellung davon hatte, was die Show ihr bringen könnte. Mattig-Fabian bestreitet zwar, daß die ganze Inszenierung als Lästerkönigin (Lisa Fitz spricht von „strategischem Mobbing“) verabredet gewesen sei. Aber Beil wußte zweifellos, was zu tun war, um aus der Gruppe herauszuragen. Und sie wußte, daß sie hinterher nicht mehr, wie über vier Jahre zuvor, jeden Abend ein Boulevardmagazin moderieren wollte — immer präsent und unsichtbar.

„Wenn sie nicht in den Dschungel gegangen wäre“, sagt Mattig-Fabian, „wäre sie in den Augen der Öffentlichkeit eine sympathische, schöne Moderationspuppe geblieben. Durch ihren Auftritt in der Show polarisiert sie — sie ist eine schillernde Persönlichkeit geworden. Sie hat jetzt einen populären Namen, und es ist nun an ihr, den mit Inhalten zu füllen.“

Mattig-Fabian hat keine Zweifel, daß sich für „Hacke-Beil“ („Bild“-Zeitung) die Teilnahme gelohnt hat: „Es ist optimal gelaufen. Hochangesehene Journalisten, die sie vorher nicht mit dem Hintern angeguckt haben, haben dann lange Interviews mit Caroline Beil geführt.“ Sie moderiert seitdem Kabel-1-Reihen, sitzt im Panel von „Kenn ich — die witzige Serienshow“, hatte einen Auftritt beim „Red Nose Day“, war Beraterin bei „Hire or Fire“ und spielte in „Beauty Queen“. Viele weitere Projekte seien in Arbeit; zehn Moderationsangebote habe Beil im Lauf des Jahres abgelehnt, weil ihr die Sendungen zu trashig waren.

Na, da haben sich die blauen Flecken doch gelohnt. Oder? Gaby Allendorf, die Künstler wie Stefan Raab und Wigald Boning vertritt, ist anderer Meinung. „Caroline Beil hat sich mit der Teilnahme an der Show keinen Gefallen getan“, sagt die PR-Expertin. Den Job bei „Hire or Fire“, das grandios gefloppt ist, habe Beil erst bekommen, nachdem die Barbara Eligmanns dieser Welt alle abgesagt hätten. Allendorf glaubt nicht, daß öffentliche Aufmerksamkeit der Art, wie sie die Dschungelshow schafft, auf Dauer zu gutbezahlten Jobs führt.

„Man kommt mit so einer Sache vielleicht ein Jahr über die Runden“, sagt sie. Für Schlagerstars wie Costa Cordalis zahle sich das aus: „Wenn man in dieser Branche einen Hit hat, kann man bei Auftritten die drei- oder vierfachen Gagen nehmen. Und Fernsehpräsenz ist wie ein Hit in den Charts.“ Allendorf würde trotzdem keinem ihrer Kunden empfehlen, an der RTL-Show teilzunehmen; es sei aber auch keiner ihrer Künstler von der Produktion angefragt worden: „Ich kenne niemanden, der ein Image zu verlieren hätte, der gefragt worden ist. Das ist wie ein Ausverkauf: Ich mache mich als Künstler billig und hänge mir noch ein Schild um: ‚Sonderangebot‘.“

Die Geschichte hat eine fast tragische psychologische Komponente. „Es gibt Leute, die werden nervös, wenn sie eine Woche lang nicht in den Medien auftauchen“, sagt Allendorf. Tatsächlich sind regelmäßige Partyberichte oder Privatgeschichten für viele Sternchen die einzige Chance, im Gespräch und im Geschäft zu bleiben — nur: die Hoffnung, durch diese Art von Präsenz morgen, spätestens nächstes Jahr ein richtig tolles Angebot zu bekommen, trügt halt meist.

Ein erfolgreicher PR-Mann erzählt von einer regelrechten Sucht nach dem Blitzlichtgewitter der Fotografen, das die eigene Bedeutung bestätigt — ganz egal, ob die entstandenen Fotos je eine Redaktion oder gar einen Leser erreichen. Für manche Promis scheint „Leben“ nur das zu sein, was von einem Publikum wahrgenommen wird. Wer beim Leben rund um die Uhr von Dutzenden Kameras beobachtet wird, glauben sie, muß doch prominent sein. Das Gegenteil ist eher der Fall.

Sandra Maischberger

Ich sehe was, was ihr nicht seht. Sandra Maischberger glaubt fest daran, daß ihre bislang eher erfolglose ARD-Talkshow noch in vielen Jahren läuft

Am einfachsten beschreibt man „Menschen bei Maischberger“ als eine endlose Serie von Niederlagen. Es sollte eine Talkshow werden, in der nicht die ewiggleichen Fernsehnasen sitzen, sondern immer mindestens ein Nicht-Prominenter mit einer spannenden Lebensgeschichte. Sandra Maischberger versprach vor einem Jahr einen „gewaltigen Anteil von nicht bekannten Gesichtern“ – am Ende verirrte sich höchstens einmal im Monat so jemand in die Sendung (die Mutter von Uwe Ochsenknecht mal nicht mitgerechnet).

Es sollte eine Talkshow werden, die all dem Abgesprochenen, dem Erwartbaren und Glatten anderer Sendungen die Möglichkeit des Unerwarteten entgegensetzt – heute muß Sandra Maischberger einräumen, daß alles, was dann tatsächlich ungeplant passierte, Kleinigkeiten waren, wie das eine Mal, als Fredi Bobic so sehr schwitzte und sie ihm den Schweiß von der Stirn tupfte.

Es sollte eine Talkshow mitten aus dem Leben werden, nicht aus einem sterilen Studio in einem Vorort von Köln oder Hamburg, weil „man in der künstlichen Atmosphäre Gespräche nicht lebendig machen kann“, wie Maischberger sagte, sondern aus dem Tränenpalast in Berlin-Mitte, einem Ort mit Geschichte, wo sich vor der Tür die Punks mit ihren Hunden treffen – doch was warm und lebendig wirken sollte, kam kalt und angestrengt herüber. Das Publikum saß unbeteiligt in der Gegend herum, und nachdem man es ganz aus dem Gebäude verdammt hatte, wurde die Atmosphäre zwar besser, der Ort aber machte gar keinen Sinn mehr – die neue Staffel wird aus einem WDR-Studio in Köln kommen.

Es sollte eine Talkshow werden, in der jeder Gast einzeln befragt wird, damit der Politiker nicht noch blöd herumsitzt, wenn der Volksmusiker kommt – dann merkte man, daß das Kommen und Gehen nicht funktioniert, und nun bildete sich auch hier im Lauf der Sendung eine aberwitzige Runde aus Menschen, die sich nichts zu sagen haben.

Ach, und überhaupt: Es sollte eine andere Talkshow werden, eine kluge, journalistische, unterhaltsame – und irgendwann saßen da die Sabine Wussows und Nino de Angelos und Sascha Hehns und Verona Feldbuschs dieser Welt und eben Uwe Ochsenknecht mit seiner Mutter, und man wußte nicht, warum die nun auch noch bei Frau Maischberger saßen, und Frau Maischberger wußte es allem Anschein nach auch nicht immer. Man mußte das nicht sehen, und die meisten Leute taten es auch nicht.

Andererseits: Es gibt sie noch, die Sendung. Die Quoten-Mindestvorgabe hieß zehn Prozent, und was hatte sie im Schnitt? „Zehn plus x“, sagt Maischberger und lacht. Übernächste Woche kommt „Menschen bei Maischberger“ aus der Sommerpause, vieles wird anders werden und alles gut. Sagt Sandra Maischberger.

Sie verbreitet bei diesem Gespräch vergangene Woche einen merkwürdigen Optimismus, der alles durchdringt und auf einem ebenso entspannten wie ausgeprägten Selbstbewußtsein zu beruhen scheint. Sie formuliert Sätze wie: „Ich glaube nicht, daß irgendein anderes Programm auf dem Sendeplatz mehr Zuschauer geholt hätte.“ Oder: „Es gibt jenseits des Erfolges wenig Loyalität im Fernsehen, dazu ist es eine zu teure Angelegenheit. Ich finde aber, daß ich gut zur ARD passe, und habe das Gefühl, daß die ARD das auch so sieht.“

Die Zuversicht sickert aus Nebensätzen, in denen sie fast beiläufig wie selbstverständlich davon ausgeht, daß ihre Sendung „ja ein Dauerbrenner wird“. Nicht, weil sie jetzt endlich den Stein der Weisen gefunden hat, sondern aus dem Glauben an eine schlichte Fernseh-Logik: Jede Sendung, die lange genug Zeit hat, sich zu finden, werde sich irgendwann finden und dann durchsetzen. Und dann habe der Zuschauer ein Grundvertrauen und schalte auch bei gewagte Sachen nicht gleich ab. Bei unbekannten Gästen zum Beispiel. „Nicht-Promis sind zunächst ein ,Quotenrisiko'“, sagt Maischberger. „Der Zuschauer bleibt beim Zappen dort hängen, wo er ein Gesicht erkennt. Noch ist die Sendung kein Klassiker wie meine Sendung bei n-tv. Irgendwann wird sie das sein, dann können Sie alles machen.“

Nun ja, bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und gelegentlich speist sich Maischbergers Optimismus auch nur aus einem tröstlichen Fatalismus: „Jetzt haben wir alle Fehler, die man so machen kann, gemacht.“ Daß „Menschen bei Maischberger“ sich noch nicht gefunden hat, steht auch für die Moderatorin außer Frage: „Im ersten Jahr haben wir natürlich sehr nach einer Linie gesucht.“ Vierzig Ausgaben gab es in dieser Zeit von „Menschen bei Maischberger“, nach vierzig Ausgaben ihrer täglichen Sendung auf n-tv waren gerade mal drei Monate rum, was im Vergleich die Evolution bei einer wöchentlichen Sendung natürlich sehr zäh wirken läßt. Viele Unstimmigkeiten hätten den Findungsprozeß außerdem verlangsamt und verhindert, daß die Sendung ein für den Zuschauer erkennbares Profil bekommen konnte, räumt Maischberger ein.

Zu den Unstimmigkeiten gehörten wohl nicht zuletzt Differenzen in der Redaktion. Michael Spreng, der frühere „Bild am Sonntag“-Chef und Stoiber-Trainer, verließ das Team bereits nach wenigen Monaten. Jetzt kommt schon der dritte Chef, aber der Neue ist ein Alter: Theo Lange, der bislang Redaktionsleiter von Maischbergers n-tv-Sendung war und den ARD-Sendeplatz am Dienstagabend von zwei Seiten kennt: Als Redakteur von „Friedman“ und von „Boulevard Bio“ – keine schlechte Voraussetzung eigentlich für den Spagat, den Maischberger immer noch machen will.

„Ich hatte schon bessere Jahre“, resümiert Sandra Maischberger und korrigiert sich: „Nein, das ist Jammern auf hohem Niveau. Ich dachte vielleicht, es würde leichter und vor allem schneller gehen, eine neue Marke zu setzen und zu etablieren. Das war manchmal ein bißchen mühsam, aber es gab auch Sendungen, die mir richtig gut gefallen haben.“

Natürlich habe das, womit Biolek über Jahre den Sendeplatz geprägt hat, bei den Zuschauern am besten funktioniert: der „gepflegte Boulevard“. „Aber auch Sendungen wie die mit Helmut Schmidt oder Gesine Schwan waren erfolgreich, vielleicht, weil diese Gespräche eben mit mir am besten funktionieren. Mein Ehrgeiz besteht schon darin, eine Sendung zu machen, die sowohl gut ist, als auch eine gute Quote hat. Anders geht es ohnehin nicht.“

Wo ihr Platz ist neben und zwischen Beckmann und Kerner mit ihren Sendungen und was ihre eigene Haltung sein kann, ist immer noch nicht ganz klar. Klar ist, daß es wenig Sinn hat, sich jemandem wie Verona Pooth, geborene Feldbusch, in der typischen Maischberger-Haltung gegenüberzusetzen: aufmerksam, lauernd, weit über den Tisch gebeugt. Für das neue Studio in Köln werden in der kommenden Woche deshalb zwei Sitzanordnungen ausprobiert: Neben dem jetzigen Riesen-Küchentisch-Ensemble eine Variante mit drei Sofas im Karree, eine Art helle Variante des legendären „Club 2“ im ORF. Zum Zurücklehnen. „Um 23 Uhr abends ist man allein schon der Tageszeit geschuldet viel mehr laid back. Penetrantes Insistieren ist da zu anstrengend.“

Überhaupt Verona Feldbusch: Maischberger betont, daß sie sich mit ihr nicht über das Brautkleid unterhalten habe, was vielleicht die Kollegen getan hätten, sondern darüber, wie das ist, wenn man einen etablierten Markennamen wie „Feldbusch“ aufgibt. Aber reicht das als Profil gegenüber Kollegen, deren Talks verläßlich zwischen locker-leichtem Boulevard und intensivem Seelenstriptease changieren? „Das Profil wird im Zweifelsfall meine Nase sein und meine Art, Menschen zu fragen“, sagt Maischberger. Sie beharrt darauf, daß sie für das ARD-Publikum ein unbeschriebenes Blatt gewesen sei. „Es ist in dieser Manege ja mein erster Auftritt. Man geht da hinein, zieht den Hut und sagt: Das bin ich, und stellt sich neu vor. Und das unter einem unglaublich starken Konkurrenzdruck, gegen den derzeitigen Marktführer.“ Sie meint Johannes B. Kerner. „Der sendet jeden Tag, fängt eine Viertelstunde früher an und ist ja einfach nett.“

Es ist leicht zu erklären, warum der neue Bundespräsident Kerner für seine Fernsehvorstellung gewählt hat. Aber das ändert nichts daran, daß es ein Problem für Maischberger ist, wenn er nicht zu ihr kommt. „Alle wollen die besten Gäste zuerst haben. Mal wird der gewinnen, mal der.“ Und wenn immer nur mal Beckmann gewinnt und mal Kerner? „Das ändert sich, keine Sorge. Wir sind die letzten, die in den Ring gestiegen sind, den Vorsprung der anderen mußten wir erst aufholen.“

Es wird also erst einmal noch weitergeschraubt an der Sendung. „Fernsehen ist nicht Konzept. Es ist learning by doing“, hat Maischberger gelernt. In Köln sind die Produktionskosten viel niedriger, das nimmt ein wenig den Druck. Jetzt wollen sie es vielleicht mit Sendungen probieren, in denen unterschiedliche Gäste – ähnlich wie bei „Bio“ – zu einem Thema ins Gespräch kommen, und sei das Thema noch so vage. Für die erste Sendung sind Hitler-Darsteller Bruno Ganz und Guido Westerwelle eingeladen.

An einer Stelle im Gespräch hat Sandra Maischberger den Satz gesagt: „Nicht jedes Experiment endet glücklich.“ Aber das ist nicht der Eindruck, der bleibt von dem Treffen mit ihr. Was bleibt, ist eine andere Stelle: „Ich habe keine Angst. Ich habe ein Bauchgefühl, und das sagt: venceremos.“ Venceremos heißt: Wir werden siegen.

Manchmal ist das Selbstbewußtsein von Sandra Maischberger ein bißchen beunruhigend.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Gisela Marx

Laien pflastern ihren Weg. Filme mit Anspruch und Trash für die Massen: Die erstaunliche Erfolgsgeschichte der Produzentin Gisela Marx.

Am Mittwoch stand eine Ärztin vor Gericht, weil sie einem Patienten Medikamente verschrieben hatte, deren Kombination lebensgefährlich ist. Im Gericht fiel dem Opfer auf, daß es die Ärztin von einer früheren Affäre kannte. Sie gestand, daß sie von ihm schwanger wurde und seit der Abtreibung unfruchtbar sei. Dann ergab sich, daß die Apothekerin die Kombination bewußt aushändigte, obwohl ihr die Gefahr klar war, weil sie in dem Patienten den Anwalt erkannte, der ihren Bruder in den Knast gebracht hatte (oder so, die Sache war kompliziert). Als die Beweisaufnahme abgeschlossen war, rief der Mann der angeklagten Ärztin, der eigentlich nicht aussagen wollte, „Halt, halt!“ und gab zu, daß er das Rezept gefälscht hatte. Aus Rache, weil er wußte, daß der Patient für die Unfruchtbarkeit seiner Frau verantwortlich war. An dieser Stelle fragte der Staatsanwalt: „Bin ich im Irrenhaus gelandet?“

Nein, hätte die Antwort gelautet, bei Richterin Barbara Salesch, aber, zugegeben, die Grenzen sind fließend. Es war eine typische Verhandlung dieser Serie: Im Getriebe des Plots knirscht es an jeder Stelle, und es wird nicht besser dadurch, daß keiner der Darsteller überhaupt weiß, wo die Kupplung ist, wenn sie laut Drehbuch einen neuen Gang einlegen sollen.

Es ist eine ganz und gar erstaunliche Erfolgsgeschichte. Die Rekordquoten von Barbara Salesch. Die Welle an Nachahmern. Die plötzliche Allgegenwart von Laiendarstellern im Nachmittagsprogramm. Das Interesse im Ausland an diesem in Deutschland erfundenen Genre. Aber das vielleicht erstaunlichste ist die Frau, die hinter diesem Erfolg steht und nun auf dem Weg zur größten unabhängigen Fernsehproduzentin Deutschlands ist: Gisela Marx.

Sie ist die ersten Jahrzehnte ihres Berufslebens als Prototyp der öffentlich-rechtlichen Medienfrau durchgegangen: WDR-Journalistin, tough, kritisch, im Zweifelsfall links. Sie hat den nordrhein-westfälischen Landesorden „für ihr politisches und gesellschaftliches Engagement“ und ihr „hohes Maß an Courage“ bekommen. Wenn sie Gäste in der legendären SFB-Talkshow „Leute“ befragte, lehnte sie sich zurück, schaute ihr Gegenüber etwas abschätzig von unten an und lockte ihn mit heiserer Stimme entspannt aus der Reserve. 1974 gründete sie die Firma Filmpool und produzierte unter anderem den „WWF-Club“ und Wolfgang Menges Serie „Motzki“.

Dann kamen die Laiendarsteller.

1997 stellte Filmpool für Sat.1 „Jetzt reicht’s“ mit Vera Int-Veen her. Ein Magazin, in dem sich Bürger, die sich von Nachbarn, Unternehmen oder Behörden „verarscht“ fühlten, mit ihren Kontrahenten zofften. In den Proben ersetzten Doubles die Kontrahenten – mit verblüffendem Effekt: „Wir fanden häufig, daß die Laiendarsteller besser waren als die eigentlichen Protagonisten“, erzählt Gisela Marx. „Die Generalproben liefen göttlich, und hinterher hakte es, weil die echten Protagonisten nicht so wollten, wie wir wollten.“

Und so wurden die Laiendarsteller, die sie ohne Ironie „wunderbare, gloriose Laiendarsteller“ nennt, zu ihrem Allzweckmittel gegen sinkende Quoten und taumelnde Konzepte. Richterin Salesch hatte anfangs über echte Menschen geurteilt, aber das konnten nach deutschem Recht nur Fälle eines Schiedsgerichts sein, entsprechend eintönig wurde die Angelegenheit. Bei der Psychologin Angelika Kallwass funktionierte der gleiche Trick, als sich herausstellte, daß die Idee, zwei Menschen bei ihren Beziehungskrisen zu beraten, nicht funktionierte, weil die Gäste und ihre Probleme geeignet waren, den Zuschauer depressiv zu machen. Mit Laiendarstellern dagegen ließen sich Themen variieren und Reaktionen dosieren, und nun wurde „Zwei bei Kallwass“ ein ähnlicher Erfolg wie Salesch und andere Filmpool-Serien: „Die Jugendrichterin“, „Das Strafgericht“ und die pseudo-dokumentarische Krimivariante „Niedrig & Kuhnt“.

Inzwischen hat Filmpool eine Datei mit 50 000 „Schauspielwilligen“. 9000 verbrauchen die Produktionen jährlich, die besten werden immer wieder eingesetzt. Das Geheimnis der guten Laiendarsteller sei es, sagt Marx, ihr eigenes Temperament, ihren Dialekt, ihre Klischees in die Geschichten zu bringen, die nur grob skizziert sind, ohne genaue Dialoge. So wie diese Leute sprechen, das könne kein Autor schreiben. Unschlagbar billig macht der Verzicht auf Profis die Sache natürlich auch.

Man kann diese Programme als „Trash“ bezeichnen oder als „Schmierentheater“. Man kann nüchtern konstatieren, daß Professionalität im klassischen Sinne und Plausibilität in jedem Sinne offenbar keine Kriterien sind, nach denen die vielen Zuschauer diese Sendungen beurteilen. Man kann sogar positiv feststellen, daß es ganz schön ist, daß die Abgründe der menschlichen Seele nun nachmittags im Privatfernsehen nicht mehr so oft am echten, lebenden Objekt gezeigt werden, das danach mit der Selbstentblößung in der Talkshow weiterleben muß. In jedem Fall ist alles weit davon entfernt, wie Gisela Marx diese Shows beschreibt: „Ich bekomme großartige Geschichten erzählt, voller Dramatik und voller Überraschungen. Das ist auf einem sehr kleinen, massenunterhaltsamen Niveau ein Fernsehspiel. Tja: Schöner kann man es nicht machen am Nachmittag.“

Sie sagt das nicht wie jemand, der resigniert, daß die Etats am Nachmittag so klein sind, daß man Fernsehen, auf das man stolz sein könnte, nicht machen kann. Sie sagt das wie jemand, der voll und ganz hinter dem steht, was er da macht. Sie mißt eine Sendung zwar an der Quote, an der Quote und an der Quote, aber wenn man sie fragt, warum sie Fernsehen macht und warum gerade diese Gerichtsshows, hat sie gute Antworten. Inhaltliche. Zum Beispiel die, daß Filmpool regelmäßig Schulklassen einlädt, Gericht nachspielen und Salesch mit ihnen über Recht und Gesetz diskutieren läßt. Oder auch diese: „Ich gucke mir äußerst gutgelaunt an, daß ich es geschafft habe, Frauen über fünfzig auf den Bildschirm am Nachmittag zu bringen. Und alle diese anderen Jugendwahnleute abzulösen. Ich sehe mich als subversive Kämpferin für die Gleichberechtigung von älteren Frauen.“

Das klingt nun wieder nach der WDR-Journalistin Marx, und ob diese Mission sie wirklich antreibt oder ob sie sich so nur ihre merkwürdigen Sendungen schönredet, weiß keiner außer ihr. Aber Filmpool produziert ja noch andere Sendungen. Nicht nur solche wie „Kämpf um deine Frau“, in der wir ab September täglich Männern in einem Camp dabei zusehen können, wie sie lernen, bessere Menschen und Partner zu werden. Sondern auch Fernsehspiele wie „Ich habe NEIN gesagt“ und „Angst“ über Gewalt in der Ehe, Filme, „die etwas wollen“, wie Marx sagt, demnächst auch die Verfilmung des Bestsellers von Wibke Bruhns‘ „Meines Vaters Land“.

Ist ihr das wichtig, neben dem nachmittäglichen Laienschauspiel auch solche Hochglanzproduktionen zu machen? „Erstens bin ich 62, zweitens war ich 30, 35 Jahre lang eine außerordentlich erfolgreiche Journalistin. Da muß ich mich nicht mehr daran messen, was andere Leute sagen.“ Okay, und wie wichtig ist es für die Firma Filmpool? „Die Prioritäten einer Produktionsfirma werden natürlich von der Chefin gesetzt, insofern ist schon wichtig, was für mich wichtig ist. So. Für mich ist wichtig, auch andere Sachen zu machen.“

So. Gisela Marx ist Filmpool. Sie hat ihre Wohnung ein paar Stockwerke über der Firmenzentrale, vielleicht ist aber auch nur die Firmenzentrale unten bei ihr im Haus. 400 Leute arbeiten für sie und erwirtschaften 50 Millionen Euro Umsatz im Jahr, aber wenn Gisela Marx erzählt, kommt keiner von ihnen namentlich vor. Sie sagt „ich“, kaum einmal „wir“. „Ich sage häufig Nein. Ich mache nicht alles, was ich machen könnte.“

Manche Leute sagen, daß sie sich verändert habe im Laufe der vergangenen Jahre. Aus dem angenehmen Fehlen jeder falschen Bescheidenheit sei eine anstrengende Selbstherrlichkeit geworden. Andererseits imponiert sie, wenn sie auftritt. So wie ihre Firma und deren Bilanz imponieren. Sendermitarbeiter schwärmen davon, wie außerordentlich professionell, verläßlich und schnell die Zusammenarbeit mit Filmpool sei. Aber es ist auch von Mitarbeitern der Firma zu hören, die über ein schlechtes Arbeitsklima, extreme Quotenangst und großen Druck klagen.

Vor ein paar Jahren hatte sie noch Pläne, sich quasi zur Ruhe zu setzen. Das ist Vergangenheit. Der Ehrgeiz von Gisela Marx ist noch lange nicht gestillt: „Wir wollen Marktführer auf dem Segment unabhängiger Produzenten werden“, sagt sie. Man soll, man wird an ihr nicht mehr vorbeigehen können. Vielleicht ist das gut, denn sie spricht davon, daß Programme eine Seele brauchen. Daß Filmpool-Sendungen „immer hochklassig“ seien und daß sie nie etwas Sexistisches machen würde und die Produktion der RTL-Steinzeit-Kuppelshow „The Bachelor“ genau darum abgelehnt habe. „Ich liebe Menschen“, sagt sie, „ich möchte, daß die Programme, die wir machen, etwas von dieser Zugewandtheit dem Menschen gegenüber widerspiegeln.“

Gestern um 17 Uhr bei „Niedrig & Kuhnt“: „Todeskampf in der Sauna! Eingesperrt auf engstem Raum sterben sechs blutjunge (halbnackte) Schülerinnen einen qualvollen Hitzetod. Die Kommissare ermitteln und stoßen auf heiße Geheimnisse und erhitzte Gemüter.“

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Schafe Kurven

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Das ganze Glück der Erde auf dem Rücken einer Enduro: Neuseeland mit dem Motorrad.

Der zweitgrößte Feind des Motorradfahrers in Neuseeland ist der Kea. Im Motorradverleih haben sie gleich neben der Kasse einen Steckbrief mit seinem Bild und seinen bevorzugten Aufenthaltsorten aufgehängt und warnen dringend davor, das Fahrzeug in diesen Gegenden unbeaufsichtigt zu lassen. Der Kea ist ein großer, braungrüner Bergpapagei und entweder ein hochbegabtes Tier mit zuviel Tagesfreizeit und krimineller Energie oder einfach ein Fetischist, jedenfalls liebt er nichts so sehr wie Gummi und scheut keine Mühen, es sich zu besorgen.

Wie eine Bande Dorf-Hooligans lungern die Vögel in kleinen Gruppen auf den Parkplätzen bei den Sehenswürdigkeiten in den Südlichen Alpen herum und warten auf eine Gelegenheit, ein parkendes Auto sauber von seinen Scheibenwischer-Blättern zu befreien. An Motorrädern sollen sie ganze Sitzbänke zerschreddert haben. Ein Einheimischer erzählte uns, daß er einmal beobachtet hat, wie vier Keas vor einem Auto herumgetänzelt sind und den Fahrer mit Kunststücken unterhielten, während der fünfte sich von hinten anschlich und unbeobachtet am Wagen zu schaffen machte.

Danach gingen wir einzeln den Franz-Josef-Gletscher besichtigen, einer bewachte immer die Maschinen vor den Keas.

Und damit zum größten Feind des Motorradfahrers in Neuseeland. Wir fuhren also mit 110 Stundenkilometern auf einer dieser schönen zweispurigen neuseeländischen Straßen, als uns ein Auto überholte. Mit geschätzt 111 Stundenkilometern. Zentimeter für Zentimeter schob es sich an unseren Motorrädern vorbei. Der Fahrer hatte es wohl nicht so eilig. Auch dann nicht, als ihm ein Wagen entgegenkam. Er trat nicht aufs Gas, er bremste nicht, er riß das Steuer nicht herum, er zog einfach ganz sachte und entspannt auf die linke Spur zurück. Dort fuhr ja nur ein Motorrad.

Natürlich sind nicht alle neuseeländischen Autofahrer so. Manche rasen auch wie bekloppt und versuchen einen beim Überholen vor unübersichtlichen Kurven unauffällig von der Straße zu schubsen.

Vielleicht fahren deshalb die Einheimischen nicht Motorrad. Vielleicht fehlt den neuseeländischen Autofahrern einfach die Erfahrung mit motorisierten Zweirädern auf ihren Straßen. Vielleicht wissen sie auch nur, daß auf dem Motorrad vor oder neben ihnen ohnehin nur irgend so ein Tourist sitzt, und geben sich deshalb besonders wenig Mühe. (Uns wurde ja auch dringend eingeschärft, bloß nicht die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h zu überschreiten, was uns zu einem echten Hindernis im Verkehrsstrom machte. Das einzige Auto, das lange mit der gleichen Geschwindigkeit hinter uns herfuhr, überholte dann mit 110 in der Baustelle, wo Tempo 30 galt.)

Ja, Horror. Und doch vollständig egal, weil Neuseeland bekanntermaßen zu weiten Teilen nicht von Neuseeländern bewohnt ist, sondern von Schafen, die nicht nur vom Autofahren Abstand nehmen, sondern auch vor Motorrädern einen Heidenrespekt haben. Wenn man als Motorradfahrer in eine Gruppe Schafe auf der Straße gerät, entsteht eine lustige Verwirrung, weil die erste Reihe stehenbleibt und so tut, als wollte sie gar nicht weiterlaufen, sondern das Gras am Wegesrand mal genauer in Augenschein nehmen, während die hinteren, die nicht wissen, was los ist, weiterschieben, bis schließlich alle hektisch im größtmöglichen Abstand vorbeigaloppieren.

Auf der Südinsel Neuseelands, die doppelt so groß ist wie Bayern, leben weniger als eine Million Menschen, aber mehrere Millionen Schafe, die sich dekorativ über die Hügel verteilen, bis sie aus der Ferne aussehen wie Sesamkörner auf Brötchen. Außer ihnen schauen einem beim Motorradfahren vor allem noch Rehe zu, die in erstaunlich kleinen Gattern an erstaunlich befahrenen Straßen untergebracht sind und sich von so einem direkt vor ihrer Haustür vorbeifahrenden Motorrad überhaupt nicht aus der Ruhe bringen lassen. Nervös werden die Tiere erst, wenn man anhält.

Die Frau von der Fluggesellschaft hatte vorher gesagt, wir sollten nicht allzu lange über den entsetzlich langen Flug klagen, diese mindestens 24 Stunden, je nach Anreiseweg. Erstens sei das nicht originell und zweitens: Läge Neuseeland gleich um die Ecke, sagen wir, im Mittelmeer, wäre es ja nicht Neuseeland. Da ist was dran, und doch ist das Argument beunruhigend: Heißt das, das Land ist möglicherweise nur ganz nett und alle finden es allein deshalb so großartig, weil sie vor sich und der Welt die gewaltige Anreise rechtfertigen müssen?

Wir brauchten nicht lange, die Antwort herauszufinden. Am Tag, nachdem wir in Christchurch angekommen sind, der größten Stadt der Südinsel, haben wir unsere Motorräder vom Verleih abgeholt und erst einmal einen kleinen Ausflug gemacht auf die Banks-Halbinsel, die vor den Toren der Stadt liegt. Sie ist durch einen Vulkanausbruch entstanden, eine Ansammlung zahlloser knubbeliger Hügel, von allen Seiten durch Dutzende Buchten angefressen, mal nur mit einem verfallenen Holzschuppen am Ufer, mal mit zwei, drei Booten im Wasser, mal mit einem traumhaften kleinen Hafen, von wo aus die Touristen zum Schwimmen mit den örtlichen Delphinen gebracht werden. Die Landschaft ist wild und einsam und blaß, als hätte jemand die Farbe aus dem Bild herausgedreht, was sie irreal aussehen läßt. Ein Netz von Straßen schlängelt sich in wilden Kurven und Serpentinen durch die Berge, und was wir lernen nach diesem ersten Tag ist: Ja, Neuseeland ist ganz etwas Besonderes, und: Wir brauchen bessere Karten. Es wäre schön gewesen, wenn wir vorher gewußt hätten, daß die Küstenstraße, die uns immer am Hang entlang an so einsamen Buchten wie Pigeon Bay vorbeiführte, über viele Kilometer nur eine steile, unbefestigte Schotterpiste ist.

Andererseits hatten wir ja extra Reise-Enduros ausgesucht, um auch solche Strecken zu überleben. Inzwischen sind allerdings fast alle Durchgangsstraßen in bestem Zustand, selbst die berüchtigte Crown Range Road über den 1100 Meter hohen Paß zwischen Queenstown und Wanaka, den man lange nicht mit Mietwagen befahren durfte, weil man sonst den Versicherungsschutz verlor, ist inzwischen geteert. Nur auf der „Southern Scenic Route“ gibt es noch ein längeres Stück Schotter, und auch das ist gerade in Arbeit. Es ist verblüffend, wieviel Geld und Mühe die Neuseeländer investiert haben, ein Netz von kleinen, feinen Straßen anzulegen, wo es vor allem auf der vor touristischen Highlights nur so strotzenden Südinsel offensichtlich kaum jemanden gibt, der darauf fährt.

Außer uns natürlich.

Man ist fast allein mit immer neuen Varianten atemberaubender Landschaft und hat viel Gelegenheit zu grübeln, welches nun wohl die schönste Motorradstrecke der Welt ist: Das Stück hinter Geraldine, wenn aus der Ebene sanfte grünbraune Hügel werden und dahinter die schneebedeckten Gipfel der Alpen glänzen? Die Anfahrt auf den Lake Tekapo, dessen Gletscherwasser ihn so gleißend türkis macht, als hätte ihn jemand mit einem Glitzer-Textmarker für Mädchen nachgemalt? Die schroffe Steinküste im Nordwesten hinter Greymouth, ein bizarres Panorama von immer blasser werdenden Grautönen? Oder die sanften Obstbaumtäler ganz im Norden der Südinsel, bevor man den Abel Tasman Nationalpark erreicht mit seinen dichten grünen Wäldern, die goldene Strände und klares Wasser einrahmen, als wäre es eine Südseeinselwerbung?

Selbst die größeren Orte, in denen sich die Touristenbusse vor den Hotelburgen und den Fast-Food-Ketten stauen, wie Queenstown, das sich ganz dem organisierten Abenteuerurlaub verschrieben hat, sind halbwegs erträglich, weil sie es nicht schaffen, die Magie der sie umgebenden Landschaft zu zerstören. Natürlich kann man diese Wunderwelt auch mit kleinen Blechkästen erfahren. Oder mit großen Blechkästen, in denen man gleich übernachtet. Aber das Motorrad ist das natürliche Fahrzeug, die Natur zu erleben, die Kurven und den Wind, der immer wieder versucht, einen mit unerwarteter Kraft von der Maschine zu pusten, und daran erinnert, daß dies ein wildes Land ist. Natürlich hätte es seinen Reiz gehabt, den berühmten Fjord Milford Sound in der Sonne zu erleben. Andererseits war das Unwetter, das über ihn und uns herniederging, irgendwie angemessen, der Niederschlag, der Tausende Wasserfälle entstehen ließ, und der Sturm, der sie sofort wieder nach oben blies, bis Wolken, Meer, Nebel, Wasserfälle nicht mehr zu unterscheiden waren.

Es regnete auch hinterher, als wir wieder auf den Motorrädern saßen, noch Stunden weiter, bis das Wasser sämtliche Kleidungsschichten durchdrungen und sich schließlich in den Stiefeln gesammelt hatte. Aber dann kam die Sonne und beschien eine neue majestätische Landschaft, und die netten Menschen in einem der Bed-&-Breakfast-Häuser hängten unsere Sachen auf und teilten frisch gebackene Bananenmuffins mit uns und alles war gut. Eigentlich, versicherte man uns, regnet es auch gar nicht so viel im Februar und März in Neuseeland, der vergangene Sommer war der schlechteste seit Menschengedenken. Auf der Nordinsel hatten Jahrhundertstürme schlimme Verwüstungen angerichtet. Als wir in einem kleinen Zoo in der Nähe von Mount Bruce, nördlich von Wellington, einen Kiwi sehen wollten, das Maskottchen des Landes, dessen Population mühsam in verschiedenen Programmen erhöht wird, empfing uns die Kassiererin mit einer schlechten Nachricht. Einer der beiden Kiwis sei bei den schlimmen Regenfällen in der vorigen Woche leider ertrunken.

Also regnet es sonst wirklich nicht so viel in Neuseeland. Andererseits: Ein Vogel, der nicht nur nicht fliegen, sondern auch nicht schwimmen kann? Womöglich trifft so ein Tier das Aussterben nicht ganz unverdient.

Angst essen Quote auf

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Orientierungslos dilettiert das Privatfernsehen vor sich hin – auf der Suche
nach den Zuschauern und sich selbst.

Als ob noch irgendwer die alte Leier hören wollte vom Fernsehen, das immer schlechter wird. Braucht kein Mensch.

Dies ist nicht so ein Text. Auf den nächsten knapp 300 Zeilen kommt Adorno nicht vor, wird Harald Schmidt nicht nachgeweint, werden weder die Dschungelshow noch „Big Brother 5“ als endgültiger Untergang des Abendlandes gegeißelt. Es ist nur so, daß einem gerade so wahnsinnig wenig gute Gründe zum Einschalten einfallen. Es muß ja keine mehrteilige Literaturverfilmung mit komplexer Verwebung verschiedener Zeitebenen sein, nicht einmal eine kontroverse Spielserie zu Fragen unserer Zeit. Gut gemachtes Alltagsfernsehen würde schon reichen, „gepflegte Unterhaltung“, wie man das früher nannte. Man muß nicht mit dem kulturpessimistischen Blick des Intellektuellen auf das Fernsehen hersehen, um festzustellen: Im Moment ist es besonders trostlos, und die Fehler, die gemacht werden, sind besonders unfaßbar.

Wie war das wohl bei der Sitzung, auf der RTL entschied, wer in der Jury von „Star Duell“ über die karaokesingenden Soapdarsteller urteilen soll? Nachdem die Namen „Caroline Beil“, „Daniel Küblböck“, „Nina Hagen“ und „Mike Krüger“ auf der Tafel standen, fragte vielleicht ein Teilnehmer: „Fehlt da nicht ein bißchen Kontrast?“, ein anderer fügte wortlos „Roberto Blanco“ hinzu, und die Runde nickte erleichtert. „Wir setzen die auf ein Ufo, das die ganze Zeit durch die Halle schwebt“, erläuterte ein Insider. Ah ja. Komisch, daß die Leute das nicht sehen wollten.

Ein denkwürdiges Ereignis war sicher auch die Konferenz, auf der es der Produktionsfirma Constantin Entertainment gelang, Sat.1 ein erfolgversprechendes Konzept für sechs Super-Samstagabendshows zu verkaufen: Zwölf Semiprominente buchstabieren Wörter um die Wette. B-U-C-H-S-T-. . .? Genau. Nein, sonst nichts. Gekauft. (Kandidaten, die früh ausscheiden, bleiben trotzdem auf der Bühne und also dreißig Minuten gelangweilt im Bild, und im Gegensatz zu der anderen Sendung, wo das so ist, nicht mal zwischen Robbie Williams und einem Saalkandidaten.)

Dutzendfach ließen sich Beispiele aufzählen, von unerklärlichen Sendeplatzentscheidungen, der Inflationierung ohnehin schwächelnder Formate, fahrlässigem Vergraulen treuer Serienfans bis hin zu Details wie dem, daß bei Kabel 1 offenbar jemand angeordnet hat, den Titel des laufenden Programms immer in einer Ecke einzublenden, damit der Zapper weiß, was läuft. Was mag sich der Zapper denken, wenn dort „Shooter“ steht? – Alles falsch. „Shooter“ ist kurz für „Troubleshooter“, eine 08/15-Dokureihe über Sozialarbeiter und andere Helfer und Kontrolleure. Darauf muß man erst einmal kommen.

Was dem Fernsehen im Moment fehlt, hat weniger mit Kultur und Anspruch zu tun als mit Kreativität und Handwerk. Lassen wir ARD und ZDF einmal außer acht, die nur den kommerziellen Trends hinterherhecheln; für das gegenwärtige Versagen der Privaten gibt es handfeste Gründe, und der wichtigste davon ist die Angst.

In München kursiert eine sehr knappe Erklärung dafür, warum Pro-Sieben-Geschäftsführer Nicolas Paalzow gefeuert wurde: Er habe einmal zu oft Einwände gegen von oben angeordnete Programmentscheidungen geäußert. Viele, denen ihr Job lieb ist, ziehen daraus die Lehre, Vorgaben am besten umzusetzen, ohne sie zu hinterfragen. So werden aus den „Vorschlägen“, die Haim Saban, der Besitzer von Pro-Sieben-Sat.1, aus Los Angeles macht, in München Anordnungen. Die Rede ist von der „Amerikanisierung“ der Fernsehfamilie. Dumm bloß, daß amerikanische Rezepte auf dem deutschen Markt ungefähr noch nie funktioniert haben.

Man muß schon sehr weit weg sein vom deutschen Fernsehalltag, um auf die Idee zu kommen, daß die Zukunft des braven Wiederholungs- und Plätscher-Senders Kabel 1 darin liegen könnte, so zu werden wie das junge Krawall- und Trash-Programm RTL 2, nur weil das viel mehr Gewinn abwirft. Aber auf solche Ideen kommt das neue Management von ProSieben-Sat.1, weshalb Kabel 1 so lustige Experimente machen durfte wie das „Judas-Game“ und „Opas letzter Wille“. Einmal dürfen Sie raten, wie erfolgreich das war.

Man könnte solche Entscheidungen mit Unerfahrenheit erklären. Oder damit, daß jemand nur den kurzfristigen Erfolg sucht. Oder damit, daß man nur aufs Geldverdienen achtet und nicht aufs Programm-Machen. All diese Punkte träfen ganz gut das Dilemma des Privatfernsehens. Pro Sieben hat seit Anfang Mai einen 31 Jahre alten Geschäftsführer namens Dejan Jocic, den die Pressestelle ein „außergewöhnliches Managementtalent“ nennt mit „mehr als zehn Jahren Erfahrung im Programm- und Produktionsbereich“. Böse Menschen sagen, damit sei sein Praktikum beim Deutschen Sportfernsehen gemeint. Zu seinen ersten Amtshandlungen gehörte es, alle Entscheidungen seines Vorgängers vorläufig auf Eis zu legen. Das macht man so als neuer Chef.

In einer zutiefst verunsicherten Branche, in der man weder von den Chefs noch von den Zuschauern mehr weiß, was sie wollen, flüchten sich die Sender ins Nicht-Entscheiden. Da kommt also eine Produktionsfirma und bietet ein neues Format an. Kaufen? Womöglich wird es ein Flop! Nicht kaufen? Herrje, womöglich läuft es dann bei der Konkurrenz und wird ein Hit! Also: erst mal reservieren, aber nicht zusagen, verzögern, hinhalten, wird schon. Hätte die Produktionsfirma nicht noch ein paar Ideen, wie man das umsetzen könnte? Wo man das ausstrahlen sollte? Das muß aber doch billiger zu produzieren sein! Können wir nicht die Zuschauer teuer anrufen lassen, um jemanden rauszuwählen? Ach, das geht nicht, weil es gar keine Live-Sendung ist? Hm. Soso.

Tempo kommt ins Spiel, wenn dann doch eine Entscheidung gefallen ist, womöglich bei einem Konkurrenten. Fast ein Jahr lang hatten die RTL-Leute einigermaßen überzeugend erklärt, der Erfolg von „Star Search“ im vergangenen Sommer beruhe nur auf einer Ausnahmesituation und werde sich nicht wiederholen, doch als Sat.1 dann mit der zweiten Staffel begann, schoß RTL dagegen, als müsse man die Entstehung eines zweiten „Wetten daß . . .?“ verhindern: Drei Folgen der Erfolgsserie „Alarm für Cobra 11“ liefen gegen die Premiere und auf dem Schwestersender Vox noch „Titanic“. Ein absurder Overkill, nur um ganz sicherzugehen, daß „Star Search“ auch garantiert nicht vom Start wegkommt.

In den USA lief erfolgreich die Show „Simple Life“, in der sich zwei Großstadtgören auf dem Land durchschlagen müssen, RTL kündigt für den Herbst eine deutsche Variante an, aber Pro Sieben schickt schon im Juli sieben „Prominente“ auf „Die Alm“. Man kann ja die RTL-Dschungelshow als Trash bezeichnen, aber sie war langfristig geplant, geschickt gecastet, liebevoll, aufwendig, teuer produziert. Nichts spricht dafür, daß der Schnellschuß von Pro Sieben ähnlichen Kriterien genügen wird, in der Kürze der Zeit überhaupt genügen kann. Er ist – wie viele andere – nur die Antwort auf die Frage des Vorgesetzten: „Und was machen wir in dieser Richtung?“

Dahinter steckt eine tiefe Sinn- und Identitätskrise. Die sogenannten Spartensender sind längst ein Witz, weil sich mit ihrer jeweiligen Spezialität kein Geld mehr verdienen läßt. Auf den Musiksendern laufen kaum noch Musiksendungen, auf den Nachrichtensendern immer seltener Nachrichten, im Sportfernsehen DSF nur noch zufällig mal Sport. Es ist noch nicht lange her, da lehnte Pro Sieben „Big Brother“ ab, weil die billige Optik der Überwachungskameras nicht zum „Premium“-Anspruch des Spielfilm- und Seriensenders paßte. Heute kann es gar nicht grobkörnig genug sein, jeder muß auf jeden Trend aufspringen, und am Ende wundern sich alle, daß der Zuschauer keine Lieblingssendungen und -sender mehr hat, denen er treu ist. Wer kann sie auch noch unterscheiden, die Laienschauspiele, die Schnipsel mit C-Klasse-Stars, die ein paar Sätze zu den Achtzigern / den Neunzigern / „Sex and the City“ sagen, die Sendungen, in denen Oliver Geissen mit drei Kollegen auf einem halbrunden Sofa sitzt?

Bislang wußte man wenigstens bei RTL immer noch, wer man ist (Marktführer), was für Sendungen man macht (die erfolgreichen). Plötzlich bröckeln die Quoten, sämtliche Erfolgsformate haben ihren Höhepunkt überschritten, in wenigen Wochen floppten drei Shows atemberaubend („Star Duell“, „Fear Factor“, „Goxx“). Bei Sat.1 haben die Leute Erfahrung mit Niederlagen, RTL aber ist zutiefst verunsichert. Und quasi führungslos, denn Chef Gerhard Zeiler ist überwiegend in Luxemburg, um die Geschäfte der europäischen RTL-Group zu leiten, was vielleicht in Zeiten, wo alles lief, unproblematisch war. Seinem Stellvertreter Frank Berners sagt man ein gutes Gespür fürs Programm nach, nicht aber Entscheidungsfreude. Gelinde gesagt.

Der einzige Privatsender, der in der vergangenen Saison nennenswert Zuschauer gewinnen konnte, ist RTL 2. Dessen Geschäftsführer Josef Andorfer ist auch der einzige mit einer klaren Vision von dem Programm, das er machen will. Man muß die nicht mögen. Aber man darf sich über den Erfolg nicht wundern.

Es kommt so einiges zusammen. Die Geschwindigkeit, mit der die Sender Talkshows aus dem Programm warfen und durch geschriebene Gerichts- und Pseudo-Doku-Formate ersetzten, bedeutete schlicht, daß aus erfahrenen Talkshow-Redakteuren unerfahrene Drehbuchautoren wurden, Laien, wie die Darsteller. Und am anderen Ende der Hierarchie, auf den verantwortlichen Positionen, sitzen immer mehr Menschen, die das Fernsehen nicht gucken, geschweige denn lieben.

In den neunziger Jahren hieß es, daß das Privatfernsehen die Branche professionalisiert habe. Heute sorgt es für eine rasante Amateurisierung. Sat.1-Geschäftsführer Roger Schawinski bekannte diese Woche in einem Interview: „Ich sage zu mir drei Mal am Tag, daß ich den geilsten, spannendsten Job der Welt machen darf.“

Das ist doch was.

Arabella Kiesbauer

Arabella wird abmoderiert. Die frühere Starmoderatorin muß zusehen, wie ihr Sender ohne sie plant.

Es ist ja nicht so, daß es an Kandidaten mangeln würde für den Titel des traurigsten Menschen des deutschen Fernsehens. Wolfgang Lippert, der sich kurz einmal die Moderation von „Wetten, daß . . .?“ von Thomas Gottschalk ausleihen durfte und dann selbst im Baumarkt eine Zange auslieh, ist sicher in den Top Ten. Peter Imhof, der einmal 24 Stunden am Stück talkte, um ins „Guinness-Buch der Rekorde“ zu kommen und heute im MDR die Sendung „Hier ab vier“ wegmoderiert, hätte Chancen. Ach, und Thomas Ohrner natürlich, der als „Thommi“ ein Talent war, dann die abgelegten Formate „Dingsda“ und „Glücksrad“ bis zur Einstellung moderierte und heute vom ZDF regelmäßig an die Abgründe der volkstümlichen Fernsehmusik geschickt wird.

Vielleicht muß man alles, was Arabella Kiesbauer in den vergangenen zwei Jahren gemacht hat, vor dem Hintergrund dieser Karrieren sehen. Als Versuch, nicht zur traurigsten Frau im deutschen Fernsehen zu werden, wobei ihr bewußt sein muß, wie nahe sie diesem Titel schon gekommen ist. Vielleicht merkt sie gerade, daß sie den Zeitpunkt verpaßt hat, an dem sie noch als unangefochtene „Talk Queen“ hätte abtreten können. Vielleicht versucht sie verzweifelt, sich ein bißchen Würde zu bewahren, bei dem Abstieg, auf dem sie sich gerade befindet. Das ist ja schon vielen nicht gelungen.

Seit zwei Jahren ist ihre tägliche Talkshow „Arabella“ auf Pro Sieben eine offene Baustelle. Nachdem die Zeit des großen Schmuddels, an dem auch sie mitwirkte, vorbei war, versuchte sie es mit ernsthafterem Talk, mit Ballermannvarianten und Kuppelshows, Service und IQ-Tests. Als sie sich öffentlich noch über die Konkurrenz mit ihren Laiendarstellern statt echten Gästen empörte, hatte sie selbst schon eine eigene, besonders dreiste Variante im Programm: Die „Abschlußklasse“, bei der Schüler sich selbst beim Leben filmten – ein Fake, leider erfolgreicher als ihr vermeintlich echter, ehrlicher Talk.

Zuletzt bestand eine Hälfte ihrer Sendung aus „Das Geständnis“, einer irren Variante der fiktiven, schlecht geschriebenen und schlecht gespielten Geschichten, die das deutsche Fernsehen gerade überfluten (siehe unten) und euphemistisch „scripted reality“ genannt werden. Ab dem Herbst wird Arabella nur noch dieses Format moderieren – oder genauer: die Moderatorin darin spielen -. Die letzte neue Ausgabe der Talkshow „Arabella“ läuft schon Anfang Juni, zum zehnjährigen Jubiläum.

Kiesbauer sagt, sie selbst habe am vergangenen Wochenende den Beschluß gefaßt, mit dem Herumgedoktere aufzuhören und sich nicht mehr gegen den Trend zur Fiktion zu stemmen: „Man kann eine Frisur nicht jahrelang gegen den Scheitel kämmen.“ Es soll so klingen, als hätte sie das Heft noch in der Hand, aber wie wenig freiwillig der Schritt ist, hört man aus jedem Satz: „Ob die Sendung ,Arabella – Das Geständnis‘ des Rätsels Lösung für meine Zukunft auf dem Bildschirm ist, wage ich im Moment nicht einzuschätzen. Ich habe da meine eigene Meinung dazu. Aber ich ergebe mich mal in den Lauf der Dinge und schaue, was dabei herauskommt. Ich habe lange gegen den Strom gekämpft. Jetzt schwimm‘ ich mal kurz mit, schau‘ mir das an und werde mir dann im Herbst ein Bild machen.“

So etwas hat vermutlich noch nie jemand gesagt, der seinen Zuschauern eigentlich voll Überzeugung seine neue Sendung ans Herz legen müßte. Vielleicht ist das eben Arabellas Versuch, sich einen Rest von Glaubwürdigkeit zu bewahren und nicht zu werden wie Thomas Ohrner, der – kaum hatte das ZDF ihn für seine Volksmusik-Sendungen engagiert – brav seine Liebe zu der Szene bekundete. Arabella dagegen trauert: „Ich hab‘ den Talk geliebt – da blüh‘ ich auf! Es wird sich zeigen, ob ich mit Mit ,Das Geständnis‘ warm werden kann. Früher habe ich Anteil genommen an den Geschichten und Gästen, dann nehme ich natürlich keinen Anteil mehr an den Gästen, weil sie ja nur Rollen spielen.“

Nun fragt man sich, warum sie sich das dann überhaupt antut, diese neue Sendung, wenn sie ihr so gegen den Strich geht. Die Antwort ist bitter: Weil sie darauf hofft, daß sie auch in Deutschland einmal erfolgreich den Sprung ins Abendprogramm schaffen könnte, wie es ihr in Österreich gelungen ist. Die bisherigen Versuche waren Flops, und neue Chancen gibt es garantiert nicht, wenn sie einmal nicht mehr auf dem Bildschirm ist. Im Grunde wird Arabella „Das Geständnis“ moderieren, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.

Ist das nicht traurig?

Gut, daß in solchen Zeiten wenigstens der Sender und die Produktionsfirma zu einem stehen. Oder? Die Geschäftsführer der Constantin Entertainment, die „Arabella“ und „Das Geständnis“ produziert, haben vergangene Woche dem Branchendienst „Kress“ ein Interview gegeben. Ulrich Brock und Otto Steiner hatten die Idee, einfach mal ungefragt zu erzählen, daß sie für Arabellas Sendeplatz „für 2005 etwas Neues“ entwickeln: „Da gibt’s einige Ideen.“ Auf die Frage „Ohne Arabella Kiesbauer?“ antwortete Steiner: „Arabella hat natürlich eine gewisse Tradition auf dem Sendeplatz. Daher überlegen wir uns auch Ideen, in denen Arabella eine Rolle spielt.“

Ah, „auch“. Na, da wird Arabella sich aber gefreut haben.

Zur Schadensbegrenzung schoben Brock und Steiner am Freitag eine lustige Erklärung nach, daß der Sender und sie „mit der Quotenentwicklung von ,Arabella‘ sehr zufrieden“ seien (was gelogen ist) und „keinen Anlaß sehen, an der erfolgreichen Zusammenarbeit zu zweifeln“ (was offensichtlich auch nicht stimmt). Arabella kontert, sie sei „nicht an die Constantin, sondern an Pro Sieben gebunden“, und der Vertrag laufe bis Ende des Jahres. Danach werde der Sender prüfen, ob und wie es weitergeht, nicht die Constantin.

Der Sender. Noch am Mittwoch wollte man in der dortigen Pressestelle nichts von dem längst beschlossenen Aus für den Talk wissen, am Freitag sah man sich auch dort veranlaßt, Selbstverständlichkeiten zu veröffentlichen. „In zehn Jahren hat Arabella Kiesbauer unseren Sender und die Fernsehlandschaft geprägt wie kaum ein anderer, was wir im Juni ausgiebig feiern“, erklärte Unterhaltungschef Jobst Benthues. Zu allem Unglück nannte ein Sprecher als Beispiel für den „neuen, hoffentlich ebenso erfolgreichen Weg“, den man mit „Das Geständnis“ gehen werde, das Thema: „Ich habe den Hund meiner Freundin verscharrt“. Arabellas Manager sagt, das Beispiel sei erst nach seiner Intervention widerrufen worden.

Vielleicht ist Arabella für ihren Sender längst eine Last geworden. Sie hat vieles mitgemacht, was von ihr erwartet wurde, aber nicht alles. Ohne sie ließen sich für den 14-Uhr-Sendeplatz sicher leichter Sendungen entwickeln, die noch billiger sind, noch trashiger, noch sinnloser. „Heute regieren Zicken und Deppen den Bildschirm mit programmlichen Inhalten, die eigentlich keine sind“, hatte Arabella vor drei Wochen in der „Abendzeitung“ gesagt. Vermutlich war das schon im Verteidigungskampf.

Alles zu spät. Wenn die Leute erst einmal Mitleid haben mit ihr, hat sie verloren. Wolfgang Lippert kennt das.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Anke Engelke

Sie wird uns enttäuschen. Auch Anke Engelkes Late-Night-Show wird Deutschland nicht retten. Aber vielleicht ein paar Fernsehabende.

„Was dürfen wir erwarten von der Show, Frau Engelke?“

„Ich werde Sie unterhalten.“

„Mehr nicht?“

„Ich finde das eine ganze Menge!“

Wie süß. Ja, nein, Frau Engelke, das reicht natürlich nicht. Es ist ein bißchen schwierig, in all den Veröffentlichungen vor dem Start von „Anke Late Night“, den Kommentaren und Essays, Warnungen und Ratschlägen den Überblick zu behalten, aber eines erwarten sie alle: Bedeutung. „Sie soll so witzig sein wie Harald Schmidt und zugleich so bedeutsam werden“, hat die Zeitschrift „Cicero“, jener neue selbsterklärte Hort der elitären Debatte, formuliert. (Und natürlich hinzugefügt, daß ihr das nicht gelingen wird, denn für Schmidts Strategie sei sie weder gebildet noch geistreich genug.) Das „Amt des Hofnarren“ sei seit Schmidts Abschied verwaist, jenes „unersetzliche Regulativ zum tauben Ernst der politischen Klasse“. Grundgütiger: Mit Deutschland geht es bergab, und nun ist auch noch ein unersetzliches Regulativ-Amt verwaist, und die einzige Kandidatin für die Nachfolge ist offensichtlich ungeeignet.

Der Kölner Medienprofi Lutz Hachmeister hat gesagt, „Engelke ist keine Leitfigur für Halb-Intellektuelle“, was zweifellos stimmt, von der Nachrichtenagentur dpa aber als Kritik an der Wahl der Entertainerin interpretiert und von Kollegen gleich abgeschrieben wurde. Wenn es etwas gibt, das wir wirklich ganz besonders dringend brauchen in diesem Land, ist es ja eine Leitfigur für Halb-Intellektuelle.

Sat.1 darf sich über die verquaste Debatte nicht beklagen: Der Sender beteiligt sich munter am Spiel und belastet die Show mit Gewicht. „Anke Late Night“ werde das Forum, in dem Angela Merkel ihre Kanzlerkandidatur bekanntgeben könnte, träumte der frisch gekürte Geschäftsführer Roger Schawinski. Seine Sprecherin beharrt auf Nachfrage darauf: Nein, es reiche eben nicht, viermal die Woche am späten Abend eine Sendung zu machen, die so unterhaltsam sei, wie es Engelkes Sketchshow „Ladykracher“ war. „Anke Late Night“ müsse – gerade in der ersten Zeit – Schlagzeilen machen, brisant sein, Agenturmeldungen produzieren.

Jawohl: Bedeutung haben.

Da ist es kein Wunder, daß am vergangenen Freitag zwei Stunden lang die Journalisten, denen Anke Engelke im Zehn-Minuten-Takt Telefoninterviews gibt, alle die gleichen Fragen stellen (bis auf den einen, der fragt, was sie gerade anhat): Ist sie nervös? Wie kommt sie mit dem Druck klar? Sind die Erwartungen nicht zu hoch, die Fußstapfen zu groß? Anke Engelke wird nicht müde, falsch: sie wird müde, zu wiederholen, sie sei überhaupt nicht nervös, wirklich nicht, sie spüre diesen Druck nicht, das sei nicht ihr Druck, sie freue sich einfach auf die Sendung. Politik? Bedeutung? Hallo? – „Es soll eine unterhaltsame Stunde werden.“

Seit Wochen planen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich, was für eine Sendung sie machen würden, wenn sie schon eine Sendung machen würden, auf dem Papier und am Telefon, weil die Engelke noch in Griechenland war, um mit Dietl einen Film zu drehen. Vergangene Woche haben sie dann drei Sendungen produziert, zur Probe, aber mit Publikum und prominenten Gästen, wie eine richtige Sendung, in den Studios der Firma Brainpool in Köln-Mühlheim, nicht weit von dem Ort, an dem auch Sie-wissen-schon-wer jeden Tag Sie-wissen-schon-was aufgenommen hat. Und was herrscht da? Atemlose Spannung? Fiebrige Ruhe? Nervöse Hektik? Nichts von alledem. Ausgerechnet dieser Ort, an dem diese wichtige Sendung entsteht, scheint der einzige zu sein in Deutschland, wo sich die Menschen nachts nicht schlaflos im Bett wälzen und grübeln: Ob das was wird?

Bei der dritten Probesendung sitzen Dutzende Fotografen und die gesamte Medienjournalistenmeute im Publikum, der Senderchef ist da und der Unterhaltungschef, aber das Gefühl, einem Event beizuwohnen, verliert sich, sobald man den Blick auf die eigentlichen Macher richtet. Wenn hier Geschichte geschrieben würde, müßte sich das anders anfühlen. Ja, Gott, das hat es noch nie gegeben, weltweit nicht, daß eine Frau eine Late-Night-Show moderiert, aber erstens kann „die Anke“ das, und zweitens ist das ja nicht die erste Late-Night-Show, die wir hier auf die Beine stellen (die Geschichte reicht zurück bis zur selig vergessenen „RTL Nachtshow“ mit Thomas Koschwitz vor zehn Jahren).

Das fast kuschelige Wohlgefühl hier ist der denkbar größte Gegensatz zu der Hysterie draußen, und interessanterweise trifft das auf den Inhalt der Show genauso zu. Zunächst einmal ist man überhaupt verblüfft, festzustellen, daß es sich nur um eine Fernsehsendung handelt und nicht die Weltrevolution und daß es sich bei der Moderatorin nicht um eine obskure Frau Engelke handelt, die gerade vom Himmel gefallen oder aus einem Offenen Kanal gekrabbelt ist und deshalb den Lesern in Dutzenden Portraits erst mal vorgestellt werden mußte, sondern tatsächlich um jene Frau Engelke, die einst im Kinderprogramm neben einem Hund und einem Vorstadtrocker als altkluges dickliches Mädchen (unangenehm) auffiel und auch in den 25 Jahren darauf dem ein oder anderen Zuschauer schon begegnet sein könnte.

Sie hat eine klassische Late-Night-Show-Dekoration mit einer Skyline, die von Klinkern und Stahlträgern eingerahmt wird. Sie hat eine klassische Late-Night-Show-Band (mit ihrem Lebensgefährten als Bandleader und persönlichem Beistand, der aber, wie sie sagt, wenn es erst mal gut läuft, gegen einen richtigen Musiker ausgetauscht wird). Und sie hat einen nicht ganz so klassischen Schreibtisch, stylisch, „funky“, wie ihr Produzent sagt, geschwungen in weiß und orange, ein bißchen, als wäre er von Apple, und daneben ein hellgraues Sofa, das flauschig aussieht, aber nicht sehr gemütlich.

Sie tritt auf als Anke Engelke, was ganz schön ist im Vergleich zu Harald Schmidt, der erst als David Letterman auftrat und später als „Harald Schmidt“, sagt „Hallo zu Hause“ und muß sich dann leider als erstes in ein altes Korsett zwängen, das ihr nicht paßt, das zwickt und kratzt: Die obligatorische Stand-up-Nummer, mit naheliegenden Einzeilern zu dem, was heute so passiert ist, auch Politischem. Sat.1-Chef Schawinski ist darauf besonders stolz, schwärmt von der wichtigen „Tagesaktualität“ und hat das Wort „Bedeutung“ schon wieder groß auf der Stirn stehen, dabei kann man diesen Teil, zumindest in den ersten Wochen, bis sie eine eigene Haltung gefunden haben wird, getrost verpassen.

Einige Einspielfilme gibt es, mal mit Puppen, mal mit den Schwarz-Weiß-Frauen aus „Ladykracher“, mal mit mittellustigen Straßenumfragen, mal mit Engelke, die sich in Charlotte Roche verwandelt und dann Charlotte Roche interviewt, was so gut ist, daß es nicht nur für Charlotte Roche beunruhigend wirkt.

Aber das eigentliche Gefühl, daß diese Show eine werden könnte, auf die man sich freut, entwickelt sich, wenn man Anke Engelke im Talk sieht. Außer dem Talent, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, hat sie das Talent, mit Menschen zu reden. Sie ist aufmerksam, achtet auf Stimmungen, reagiert spontan auf das Publikum, läßt Situationen eskalieren und in ungeahnte Richtungen entwickeln und holt sie mit einem Witz, einem Themenwechsel oder auch einer Pause vom Abgrund zurück. Das Geheimnis dieser Gespräche ist es, gerade nicht bedeutungsvoll sein zu wollen. „Sabine Christiansen“ ist bedeutungsvoll, „Beckmann“ ist ein Bedeutungsvampir, der alles Gewichtige aus seinen Gästen heraussaugt, bei Johannes B. Kerner strotzen sogar die Präpositionen in den Sätzen, mit denen er seine Gäste vorstellt, vor Relevanz. Und was will Anke Engelke? Scheinbar fast nichts. Die Leute sollen sich wohl fühlen, nicht nervös sein. „Das Unverstellte will ich sehen. Es gibt in jeder Minute drei, vier Momente, die spontan sind und schön.“

Die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn etwa habe in der Pilotsendung nichts „bekanntgegeben“, sagt Engelke. „Die war am Anfang total verkrampft; dann haben wir erst mal ein paar Erdbeeren zusammen gegessen.“ Danach haben sie über ihre „Ex“-Männer gesprochen, den Wolfgang Clement und den Johannes Rau, und die Höhn hat erzählt, daß der Clement schon mal mit Aktenordnern geworfen hat.

Der Hockeyspieler Florian Kunz ist in einer Pilotsendung zu Gast, ein Mann, der nicht vor Witz sprüht, ein Thema, das keinen besonderen aktuellen Anlaß hat, ein Sport, den Frau Engelke zeitweise mit Eishockey verwechselt und auch danach noch vom „Puck“ spricht. Es ist, so gesehen, das bedeutungsloseste Gespräch der Welt, aber zuzusehen, wie sie ihn nach der „albernen“ Laufposition befragt, nach Rückenschmerzen und daß er dann ja wohl gut staubsaugen könne, und er allmählich auftaut und davon erzählt, daß er frisch gewonnene Pokale mit ins Bett nimmt, ist angenehm – weil man das Gefühl hat, daß das Gespräch offen ist, ohne Fragenkärtchen, die abgearbeitet werden, ohne Zwang, nachher was an die Agenturen geben zu können. (Roger Schawinski hat den Reiz leider nicht verstanden und hinterher erklärt, unter echten Bedingungen hätte man so einen Gast natürlich nur eingeladen, wenn er gerade die Goldmedaille gewonnen hätte.)

Wenn alles gutgeht, könnte „Anke Late Night“ diese kleinen Momente des Fernsehglücks zaubern, wie man sie gelegentlich bei ihren Kolleginnen Barbara Schöneberger, Christine Westermann oder Charlotte Roche und auch bei Wigald Boning erlebt. Momente, in denen es scheinbar um nichts geht, die aber auch kein sinnloses Geblubber sind, weil der Zuschauer für einen Augenblick das Gefühl bekommt, nicht einem Ritual beizuwohnen, sondern Menschen zuzusehen, zwischen denen etwas passiert. Die sich öffnen und selbst nicht wissen, wohin sich das entwickelt. Wenn dann wirklich die Merkel vorbeikäme, wüßte man zwar hinterher wahrscheinlich immer noch nicht, ob sie Kanzlerkandidatin wird, hätte aber vielleicht ein Gefühl dafür bekommen, ob sie Humor hat und wie sie reagiert, wenn ihr ihre eigene Parodie gegenübersteht.

Vielleicht sehnen sich ja die Zuschauer nach solchen Augenblicken: nach so was wie Ehrlichkeit oder auch nur Unberechenbarkeit in einem Fernsehprogramm, das so vollständig erstarrt ist, daß man selbst bei Live-Sendungen die Texte mitsprechen kann. Aber um dieses Bedürfnis befriedigen zu können, muß eine Sendung leise sein, fast unscheinbar und kuschelig wie „Blondes Gift“ oder „Zimmer frei“. „Anke Late Night“ könnte uns womöglich viermal die Woche für eine Stunde mit dem Fernsehen versöhnen. Aber dafür müßte die große Show klein sein dürfen.

Daß man sie läßt, ist kaum zu erwarten.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Eine Frage der Ehre

Vor dem Grand Prix wagt Stefan Raab den offenen Konflikt mit der „Bild“-Zeitung. Er ist nicht der einzige Prominente, der sich wehrt.

Irgendwann wird es klappen. Eines Tages wird beim Eurovision Song Contest eine junge Frau strahlend die Bühne betreten und nicht nur „für Deutschland“ singen, sondern auch für die „Bild“-Zeitung. Weil die sie ausgesucht und ihre Vorzüge so gründlich auf der ersten Seite ausgebreitet hat, daß das Volk gar nicht anders konnte, als sie zu wählen. Das wird passieren, ganz bestimmt. Vielleicht nicht die nächsten fünf, zehn Jahre, aber dann. Wäre doch gelacht.

An Versuchen hat es nicht gemangelt seit Guildo Horns Grand-Prix-Putsch 1998, der nicht denkbar gewesen wäre ohne die Schlagzeile: „Darf dieser Mann für Deutschland singen?“. Im Jahr darauf schickte „Bild“ die damals noch unbekannte Jeanette Biedermann ins Rennen, 2002 die heute noch unbekannte Isabel Soares, 2003 die „Gerd-Show“ – alles ohne Erfolg. Diesmal schaffte es die inoffizielle „Bild“-Kandidatin Masha nicht einmal, sich für den Vorentscheid zu qualifizieren.

Irgendwie kann man den verbissenen Ehrgeiz verstehen: Es ist doch zum Verrücktwerden, daß die vermeintlich mächtigste Zeitung Deutschlands es nicht schafft, einen eigenen Teilnehmer zu diesem lächerlichen Song Contest hinzuschreiben!

Eine gewisse Unentspanntheit darf man also schon voraussetzen; in diesem Jahr aber ist die Situation besonders verkorkst: Am Samstag wird Deutschland ausgerechnet von einem Mann vertreten, dessen Kür in Stefan Raabs „TV Total“ über Wochen von der „Bild“-Zeitung mit Mißachtung gestraft wurde – angeblich, weil die nötige Relevanz fehlte, möglicherweise aber auch nur, weil Thomas Anders in der Jury saß, der Intimfeind von Dieter Bohlen, dem besten Freund der „Bild“-Zeitung.

Als sich der erstaunliche Erfolg von Max nicht länger ignorieren ließ, brachte „Bild“ schließlich doch ein größeres Stück über den gerade noch unbekannten Schüler. Überschrift: „Grand-Prix-Max als Zechpreller überführt“. Der Sänger werde in Istanbul „von Geldeintreibern“ erwartet, hieß es. Ein türkischer Hotelier, bei dem er seine Rechnung trotz Mahnungen nicht bezahlt habe, erhebe „schwere Vorwürfe“.

Die erhob der Mann dann allerdings gegen „Bild“. Er ließ ausrichten, er habe sich nie so geäußert, sei stolz, einen plötzlich so berühmten Gast beherbergt zu haben, und hätte ihm das Geld bis zum nächsten Besuch gestundet. Der Internetableger von „Bild“ brachte kurz darauf eine Gegendarstellung von Max, die Zeitung aber weigerte sich. Raabs Managerin Gaby Allendorf bestätigt, daß „Bild“ einen Vergleich angeboten habe: 5000 Euro und freundliche Berichterstattung. Max lehnte ab. Raab sagte, es gehe ihm nicht um Geld, sondern darum, Max‘ Ehre wiederherzustellen. Vergangene Woche urteilte ein Richter: „Bild“ muß die Gegendarstellung bringen.

Klingt nach einem Standardfall im Boulevardzeitungsalltag, ist aber unerhört. Man lehnt ein Vergleichsangebot von „Bild“ nicht einfach so ab, und man legt sich nicht ungestraft mit „Bild“ an. Offen mit „Krieg“ habe die Zeitung gedroht, empört sich Jörg Grabosch, Chef der Firma Brainpool, die „TV Total“ produziert. Stefan Raab sagt: „Ich habe nichts gegen Boulevardjournalismus; ich sehe das sportlich. Aber Sportlichkeit ist nur so lange vertretbar, wie keiner foult oder unanständig wird, und das ist hier leider der Fall.“

Hinter der Eskalation steckt nicht nur Wut, sondern auch Kalkül: Daß Max trotz Quasi-Boykott durch „Bild“ zu einem Massenphänomen wurde, zeigt nach Ansicht der Brainpool-Leute, daß man das Blatt nicht mehr braucht, um junge Leute zu erreichen. Die Regel, daß sich ohne oder gar gegen die „Bild“-Zeitung der ganz große PR-Erfolg nicht erreichen läßt, sei widerlegt. Dafür spricht auch die hervorragende Quote, die der deutsche Grand-Prix-Vorentscheid in diesem Jahr bei jungen Zuschauern hatte, obwohl die „Bild“-Zentrale kurzfristig beschlossen hatte, keinen Reporter zu entsenden, und deshalb nicht wie sonst täglich öffentlichkeitswirksame Skandale hinter den Kulissen beschreiben konnte. Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer glaubt deshalb auch nicht, daß der Streit zwischen „Bild“ und Raab ihn um seine Quoten fürs Finale sorgen lassen müßte.

Anscheinend hatte sich die Zeitung vorübergehend sogar überlegt, niemanden nach Istanbul zu schicken, was angesichts des mangelnden Zugangs zu den deutschen Hauptakteuren konsequent, aber natürlich auch riskant gewesen wäre. Inzwischen heißt es aber, Europas größte Zeitung könne sich diesem Ereignis nicht entziehen. Weitere Auskünfte zu dem Thema Raab sind nicht zu bekommen; der „Bild“-Unterhaltungschef und stellvertretende Chefredakteur Martin Heidemanns will sich nicht zitieren lassen.

Jörg Grabosch wird um so deutlicher: „Es ist ,Bild‘ nicht gelungen, Stoiber zum Kanzler zu schreiben, und es wird ihr nicht gelingen, Max zum Zechpreller zu schreiben.“ Er könne gut auf die Berichterstattung einer Zeitung verzichten, die ohnehin nie über die Inhalte oder Produkte schreibe, sondern nur an privaten Skandalgeschichten interessiert sei.

Darin liegt ohnehin der eigentliche Konflikt zwischen Raab und „Bild“: So skrupellos der Entertainer in seiner Sendung mit Bildern anderer umgeht, so kompromißlos ist er beim Schutz der eigenen Privatsphäre. Radikaler als die meisten schirmt er seine Familie von der Öffentlichkeit ab, da versteht er keinen Spaß. Die „Bild“-Zeitung aber lebt davon, daß ihr Prominente wie Bohlen Zugang zu ihren intimsten Lebensbereichen verschaffen, und versteht ihrerseits keinen Spaß, wenn ihr der verweigert wird.

In der Branche weiß man Artikel entsprechend zu deuten. Etwa als vor einigen Wochen in „Bild“ ein Bericht über die sinkenden Zuschauerzahlen von „TV Total“ erschien. „Total ungewöhnlich, sogar mit Quotengrafik“, staunte man in der PR-Abteilung eines Fernsehsenders. „Wir haben uns das damit erklärt, daß Raab sich bestimmt gerade geweigert hatte, mit ,Bild‘ über sein neugeborenes Kind zu reden. Der Artikel war dann anscheinend die Strafe.“

Pop-Moderatorin Charlotte Roche beschreibt dieses Prinzip in der Musikzeitschrift „ulysses big“ so: „Die haben mich eisenhart erpreßt, als ich gerade meine drei Brüder verloren hatte. Bei vielen dieser Promi-Geschichten, die in der ,Bild‘-Zeitung stehen, kannst du davon ausgehen, daß die durch Erpressung oder aus Angst vor Erpressung entstanden sind. Die können sagen, wir möchten eine Geschichte mit dir machen, du arbeitest mit und gibst uns ein Interview, das wie freiwillig aussieht, oder du kriegst zehn negative Schlagzeilen. Und das heißt, du bist am Ende in Deutschland.“

Vielleicht ist das gar nicht mehr so, jedenfalls bei Stars aus der ersten Reihe. „Die Angst hört endlich auf“, sagt PR-Frau Gaby Allendorf. Medienanwalt Christian Schertz, der viele Stars vertritt, glaubt, daß bei bestimmten Prominenten seit einiger Zeit die Bereitschaft zunehme, sich von dem Blatt nicht einspannen und nicht alles gefallen zu lassen – auch um den Preis, ignoriert zu werden. Herbert Grönemeyer ist so ein Fall. Seine Kontakte zu „Bild“ beschränken sich heute fast ausschließlich auf Klagen; seiner Popularität und seinen Plattenverkäufen scheint das nicht zu schaden.

Für andere ist es schwieriger, auf Distanz zu dem großen Boulevardblatt zu gehen. Die Abneigung von Anke Engelke gegen „Bild“ ist bekannt, aber vor dem Start ihrer Late-Night-Show ausgerechnet auf Sat.1, an dem der Springer-Verlag beteiligt ist, wird sie zur Gratwanderung. Zumindest mit großen Interviews im Werktagsblatt (die „Bild am Sonntag“ ist ein anderer Fall) ist nicht zu rechnen – was man ihr in der Redaktion, wenn man will, schon als unfreundlichen Akt auslegen kann.

Aber was ist dran an dem Gefühl, das verschiedene Medienleute und PR-Experten artikulieren, daß „Bild“ bei jungen Leuten ohnehin kaum Themen setzt? An den Leserzahlen kann es nicht liegen: Laut Media-Analyse steigt die Zahl junger „Bild“-Leser seit einigen Jahren an. Fast 17 Prozent aller 14- bis 29jährigen werden aktuell von dem Blatt erreicht.

Es sei, sagt ein ehemaliger „Bild“-Redakteur, ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die Zeitung sei unbestrittener Meister darin, frühzeitig zu erkennen, was das Volk bewege, was die Leute interessieren und aufregen könne. In den vergangenen Jahren sei die Themensetzung aber zunehmend nicht von diesen Leser-, sondern von anderen Interessen bestimmt. Das Ausblenden des Hypes um Max ist ein Beispiel dafür, aber auch das Werben für Sendungen von ProSieben-Sat.1: Die weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindende Sat.1-Castingshow „Star Search 2“ wird von „Bild“ unermüdlich Ausgabe für Ausgabe angepriesen. Solche abweichenden Tagesordnungen, so der Kollege weiter, schadeten langfristig der Glaubwürdigkeit der Zeitung.

Dann kann „Bild“ zwar immer noch verstärkende Wirkung haben – Fernsehsender verzeichnen bei Sendungen wie „Wer wird Millionär“ nach einem „Bild“-Bericht steigende Quoten. Die Zeitung demonstriert aber auch regelmäßig ihre Ohnmacht. Trotz größter „Bild“-Schlagzeilen wollten die Menschen partout nicht „Star Search“ oder „Fear Factor“ einschalten – oder eben die „Bild“-Kandidaten zum Grand Prix wählen.

Ein Problem wird für die Zeitung dann daraus, wenn gerade die großen, etablierten Stars wie Raab, Engelke oder Grönemeyer (oder von ihnen geförderte Newcomer wie Max) „Bild“ die Zusammenarbeit verweigern. Dann bleiben ihr für ihre Titelgeschichten nämlich nur die Caroline Beils dieser Welt.

Und was macht die „Bild“-Zeitung nun zum Grand Prix? Beim Finale vor vier Jahren in Stockholm veröffentlichte sie ein Interview mit Raab, von dem der Moderator sagt, es sei frei erfunden gewesen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

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Es wird nie mehr aufhören: Wie „Big Brother“ vom Auslaufmodell zum Fernsehformat der Zukunft wurde.

Es gab neulich — Sie haben das sicher verpaßt — eine total bewegende Geschichte bei „Big Brother“. Mark hatte geklagt, daß er schon viel zu lange Single sei, und die Produktionsfirma beschloß, ihm zu helfen. Sie rief die Zuschauerinnen dazu auf, sich für ein Date mit Mark zu bewerben. Zwei davon durfte er treffen und mit ihnen ein paar Minuten plaudern, danach sollte er sich entscheiden, mit welcher von ihnen er einen Tag verbringen wollte — bei Kerzenlicht und Champagner, nur er und sie. Und wir Zuschauer natürlich.

Was machte Mark? Schüchtern gestand er den Kandidatinnen, daß er sich für keine entscheiden könne, das hätte nichts mit ihnen zu tun, er könne das einfach nicht, jetzt, so spontan und überhaupt. Und die Mädchen verließen das Containerdorf, und Mark ging zurück in die Gemeinschaftsräume, und die Mitarbeiter konnten das ganze Schäferstündchen-Arrangement abräumen und mußten nicht einmal die Bettwäsche reinigen lassen, und es war ganz merkwürdig traurig und aufregend. Oder hat es das bei „Herzblatt“ schon einmal gegeben, daß ein Kandidat sagt, nö, die drei waren mir jetzt alle zu blöd, dann bleib‘ ich lieber Single?

Bei „Big Brother“ passieren Sachen, mit denen niemand rechnet, nicht einmal die Macher, und nicht alles ist so, daß man sich dafür schämt. Aus einer Sendung, die die große Fernsehrevolution versprach und vor allem entsetzliche Langeweile verbreitete, ist eine geworden, die tatsächlich regelmäßig die Gesetze des Fernsehens auf den Kopf stellt.

Das fängt damit an, daß es sie überhaupt noch gibt und daß sie ein Erfolg ist. Die tägliche Show um 19 Uhr schafft bei jungen Zuschauern im Schnitt 13,5 Prozent Marktanteil — RTL 2 hat sonst 7,8 Prozent. Das Publikum wird des Zusehens nicht müde; die Quoten sind ziemlich konstant. „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und „Explosiv“, jahrelang die RTL-Vorabend-Bastion, leiden heftig und mußten die Werbepreise senken.

Der kommende Mittwoch ist der einhundertste Tag der fünften Staffel. Wäre alles wie früher, würden dann die letzten den Container verlassen und für ein paar hektische Wochen durch „TV Total“ tingeln, Singles aufnehmen und sich bei Neun Live bewerben, bevor sie in Vergessenheit geraten. Doch diesmal geht die Strecke über ein ganzes Jahr, und die Frage, ob das ein Mensch aushält, selbst einer dieser tätowierten, gepiercten Arbeitslosen, die überwiegend das Haus bewohnen, ist offen. Fünfzehn Kandidaten sind bis heute ausgeschieden, viele freiwillig, das sind mehr, als überhaupt aktuell im Spiel sind. Doch die gewaltige Fluktuation scheint niemanden zu stören. Nur ein paar zentrale Charaktere, die lange dabei sind, brauchen die Produzenten, um ihre Soap zu modellieren.

Denn anstatt wie früher die Fremden einfach einzusperren und zu sehen, was passiert, funktioniert „Big Brother“ heute mehr denn je wie eine „richtige“ Seifenoper, bei der die einzelnen Rollen in maßgeschneiderte Situationen gebracht werden. „Wir gehen offener und direkter mit den einzelnen Charakteren der Kandidaten um“, sagt Produzent Rainer Laux. „Wir manipulieren nicht, aber wir lösen Reaktionen aus.“ Nun ja, die Fäden, an denen die Kandidaten geführt werden, sind noch sichtbarer als früher, vor allem „Bestrafungen“ sind ein praktisches Regulativ: Als unter der Zahl der Glatzenträger im Haus die Übersichtlichkeit litt, bestand die Strafe für einen Regelverstoß für einen darin, sich nicht den Kopf rasieren zu dürfen.

Auch die Erzählweise hat sich längst aus der Strenge des dokumentarischen „Real Life“ verabschiedet. Wenn sich im Gespräch einer auf Vergangenes bezieht, zeigt „Big Brother“, wovon er redet, schwarzweiß, als Rückblende. Und wenn zwei mal wieder so endlos voreinander hinreden, nimmt der Regisseur regelmäßig den Impuls des Zuschauers vorweg und spult vor, mit lustigem Micky-Mouse-Stimmeffekt. Obwohl die Endlosdialoge nach den Worten von Laux immer noch das sind, was die Zuschauer am meisten fesselt, mehr noch als der Geschlechtsakt unter der Bettdecke. „Wenn es Sex gibt, ist das natürlich super, aber das ist nur ein kurzer Moment.“

„Big Brother“ ist trotz der Monotonie des Containerlebens zu einem der flexibelsten und vielfältigsten Fernsehformate geworden. Die „taz“ hat dafür den Ausdruck „Platzhalterfernsehen“ gefunden, was Laux gefällt. Mal wird aus der Soap ein Quiz, in dem die Bewohner gegeneinander oder sogar gegen einzelne Zuschauer antreten, mal eine Action-Show, mal eine Langzeitdoku, in der ein Bewohner auf den Marathon vorbereitet wird, mal eine Sitcom, in der die Zusammenfassungen mit Lachspur unterlegt sind. Wenn RTL ein „Promiboxen“ veranstaltet, läßt „Big Brother“ einen Bewohner schon ein paar Tage vorher gegen einen abgehalfterten Boxer antreten; zur Europawahl kommt der Bruder vom Kanzler, und alle plaudern über Politik. Die Sendung tauge auch als Labor für neue Programme, die man erst einmal günstig im festen Rahmen von „Big Brother“ teste, meint Laux.

Einmal hat „Big Brother“ den Bewohnern ein Auto in den Hof gestellt und „Touch the car“ gespielt: Alle müssen den Wagen anfassen, wer zuletzt die Hand vom Blech nimmt, gewinnt ihn. Das ist unendlich stumpf und hat doch eine merkwürdige Anziehungskraft, weil es selbst den Rahmen einer Außenwette von „Wetten daß?“ sprengt: Hier ist völlig offen, ob der letzte nach neunzig Minuten die Lust verliert oder nach dreieinhalb Tagen vor Erschöpfung unter dem Kotflügel zusammenbricht und wie groß die Opfer sind, die man dafür zu bringen bereit ist (Mark hat sich sogar in die Hosen gemacht; er hat trotzdem nicht gewonnen). Nein, das ist nicht immer schön anzusehen, meistens sogar nicht, und Produzent Laux sagt auch, daß es mit harmloser Spielroutine auf Dauer nicht getan ist: „Die Reizschwelle der Zuschauer hat sich gesteigert, da müssen wir natürlich kreativ bleiben und neue Trends setzen. Natürlich werden wir immer wieder an die Grenzen gehen. Wir verlegen mit dem Format die Schienen immer ein Stück weiter.“ Das heißt zum Beispiel, daß vor der für den Herbst angekündigten Welle von Dokusoaps über Schönheitsoperationen im deutschen Fernsehen mit Sicherheit ein Chirurg im Container auftauchen und einem Bewohner ein Angebot machen wird. Laux sagt, daß das durchaus pädagogisch sein könnte, der jungen Zielgruppe so zu zeigen, mit wieviel Unwägbarkeiten und Belastungen etwa eine Brustvergrößerung verbunden ist — der erste Aufbau eines Operationstisches im Haus ist aber dankenswerterweise vorerst abgeblasen worden.

Nicht weniger als 250 Mitarbeiter arbeiten in drei Schichten rund um den Container, und doch ist die Sendung ganz außerordentlich lukrativ. Jeden Montag rufen hunderttausend Zuschauer kostenpflichtig an, um jemanden rauszuwählen, es gibt teure Hotlines, Spiele, Logos und Klingeltöne. 50 000 Menschen geben 15 Euro im Monat allein dafür aus, bei Premiere rund um die Uhr in den Container schauen zu dürfen, macht allein schon einen Umsatz von 750 000 Euro. Den Werbekunden kann RTL 2 dann mit einiger Plausibilität erzählen, daß „Big Brother“-Zuschauer gute Konsumenten sind, die nicht zweimal überlegen, bevor sie etwas kaufen.

Bei der Produktionsfirma Endemol plant man schon für die Zeit nach dem Ende dieser Staffel im Mai 2005. Die naheliegendste Lösung liegt auf der Hand: „Big Brother 6“ könnte nicht hundert Tage dauern, nicht ein Jahr, sondern so lange, wie es sich rechnet. Also womöglich für immer.