Kategorie: artikel

Ein Talktraum

Eine andere Frau für den Sonntagabend: Sat.1 schenkt uns Bettina Rust.

Für eine Frau, die gerade vor dem größten Karrieresprung ihres Lebens steht, ist Bettina Rust erfrischend morbide. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn sie gleich beim Verlassen des Restaurants von einem Auto überfahren würde und die ganzen 183 Artikel, die über sie und ihren neuen „Talk der Woche“ erschienen sind (Stand letztes Wochenende), mit einem Mal für die Katz wären – „das ist so eine lustige virtuelle Welt“. Sie malt sich aus, daß sie heute abend in der Live-Sendung von einer spontanen Gesichtslähmung befallen wird, und überlegt sich, ob das die zu erwartenden Verrisse am Dienstag überhaupt noch negativ beeinflussen könnte. Und wenn man sie fragt, ob sie froh ist, daß in ihrer ersten Sendung neben den beiden Alpha-Männchen Harald Schmidt und Otto Schily auch der Frauenversteher Giovanni di Lorenzo zu Gast ist, antwortet sie: Ja, „weil der dann die Moderation übernehmen kann, wenn ich ohnmächtig werde. Mein Lieblingsszenario ist, daß ich ausrutsche, auf Schilys Schulter kippe und seine Personenschützer mich dann erschießen.“

Vielleicht ist Bettina Rust gleichzeitig der bestgelaunte und negativste Mensch der Welt. Fröhlich erzählt sie, wie sie das Angebot von Sat.1-Geschäftsführer Roger Schawinski, die neue Sonntags-Talkshow des Senders zu moderieren, immer wieder ablehnte, bis ihr Freunde sagten, „was läßt du dich denn so bitten, bist du bekloppt: Wenn man mit sie-ben-und-drei-ßig noch so ’ne Chance kriegt . . .“

Und obwohl sie das schon ein Dutzend Mal gefragt worden sein muß, hat sie immer noch keine richtige Antwort, warum sie dann doch ihre ganzen Bedenken über Bord geworfen hat (einmal abgesehen von dem Satz: „Ich hab‘ meine Anteile an einem Hundesalon verkauft und mich dann gefragt, wo kommt denn jetzt die Kohle her“). Aber auf die ernste Frage, worauf sie sich freut bei diesem Abenteuer, was das Tolle daran ist, folgt eine lange, lange Pause. „Ist doch klar“, sagt sie danach, und die Pause geht weiter. „Liegt doch auf der Hand.“ Pause. „Lustigerweise fällt mir nur ein, was andere sagen: Ist doch eine Chance! Ist doch eine Herausforderung! Wenn ich ein bißchen ehrgeiziger wäre, dann würde mir klar sein: Das ist der Job, den wollten ganz andere Leute haben, ganz tolle Journalisten.“

Und Ulrich Meyer. Man muß sich den „Akte“-Moderator vorstellen, der von neun getesteten Moderatoren der einzige war, der neben Rust in die engere Wahl kam, was er einem in diesem Moment alles erzählen würde: von seiner Kompetenz, seiner Erfahrung, davon, daß es für ihn Zeit war, diesen neuen Schritt zu gehen, den er sich zutraut, absolut. Und dann sitzt da statt dessen diese Frau, die in den vergangenen Jahren Texte für das Sat.1-Frühstücksfernsehen gesprochen und einmal die Woche eine Radiosendung moderiert hat, und sagt: „Das Leben war ganz gut so. Die Sprecherarbeit war in Kombination mit Radio Eins echt eine schöne Sache. Vorbei. — Jetzt bin ich Weltstar geworden.“

Nach dem letzten Satz hält sie dann inne und scheint die Sekunden zu zählen, bis ihre Gegenüber ihn begriffen haben. Auf die Frage, wie ihr Journalisten begegnen, antwortet sie: „Im Moment ist da eine gewisse Neugier. Die Leute glauben noch nicht hundertprozentig, daß ich es an die Wand fahre.“

Die selbstironischen Sprüche von Bettina Rust wirken auf eine merkwürdige Weise gar nicht kokett. Dazu scheint hinter ihnen zuviel ernsthafte Distanz zu liegen: zu sich selbst, ihrer Arbeit, der ganzen Branche. Sie traut dem Ganzen nicht. Es ist keine Unsicherheit, die sie ausstrahlt, ganz im Gegenteil: offensiv geht sie auf die Menschen zu. Aber die Gespräche mit ihr scheinen von einer elementaren Skepsis durchzogen: „Ich beneide Menschen, die ganz oft sagen: Ja, ist das toll! Die die totale Befriedigung und so einen Kick erleben. Den hatte ich noch nicht oft in meinem Leben. Ich war dankbar, als ich ihn in meinem Studium hatte, als ich einen Radioworkshop mitmachte und zum ersten Mal in meinem Leben dachte: Ja, Radio! Es könnte Radio sein! Ich wußte nie, was ich werden sollte. Andere wußten das schon mit zwölf.“

Seit ihrem 15. Lebensjahr hat sie in der Kneipe gearbeitet. Das kann man sich gut vorstellen, genau so ein Typ ist sie: auf eine burschikose Art attraktiv, ein bißchen taff, ein Profi im Spiel mit dem unbekannten Gegenüber, zwischen Frotzeln und Flirten.

Nun wird sie Talkmasterin. Sie war das schon einmal, vor zwölf Jahren, als sie auf Premiere die Sendung „0137 Night Talk“ moderierte und mit unbekannten Anrufern über Gott, Sex und die Welt plauderte. „Damals ist man mir mit viel Wohlwollen begegnet, wurde meine ,Authentizität‘ gelobt, wo ich schon dachte: Wie absurd ist das? Wo bin ich denn hier reingeraten? Das jetzt ist natürlich eine andere Liga. Manche sagen, das sei sogar erste Liga.“

Okay, das war jetzt kokett. Natürlich weiß sie, daß ihre Gesprächssendung eine der wichtigsten für Sat.1 in diesem Herbst ist, jedenfalls was das Image des Senders angeht, und daß sie ununterbrochen mit Sabine Christiansen verglichen werden wird, weil sich beide Sendungen ein bißchen überschneiden, auch wenn der „Talk der Woche“ ganz anders sein soll: schnell, unterhaltsam, eine Art gehobener Stammtisch, an dem drei Prominente über vier in weitestem Sinne gesellschaftspolitische Themen reden. Wenn alles gutgeht, wird sie bald das sein, was man „A-Promi“ nennt. Mit Folgen, die für jemanden wie sie vielleicht nicht nur angenehm sind. „Ich hoffe, daß ich von Anfang an gar nicht so reizvoll bin, daß man auf die Idee kommt, irgend so einen Paparazzo auf mich anzusetzen, der guckt, ob ich im Parkverbot stehe (ja, tue ich in der Regel!), ob ich bei H&M einkaufe (immer!), ob ich auf Flohmärkte gehe und damit gebrauchte Dinge in mein Leben lasse (ja!).“

An Fotoshootings hat sie sich noch nicht gewöhnt („der totale Horror. Ich pose nicht gut, und ich pose nicht gerne“). Und daran, sich im Fernsehen zu sehen. Vor der Kamera fühlt sie sich deshalb nicht unwohl, sagt sie, weil sie nicht sieht, was dabei herauskommt. „Ich möchte mir keine Sendung mit mir angucken“ – sonst würde sie nur jede Kleinigkeit an sich selbst und an ihrer Arbeit kritisieren. Viele Leute raten ihr in diesen Tagen, selbstbewußter aufzutreten, aber sie sagt: „Was ich tue, ist sehr selbstbewußt. Es ist vielleicht nicht einhundert Prozent selbstsicher. Mir ist sehr wohl bewußt, daß es auffliegt und daß ich mir keinen Gefallen tue, wenn ich mich verstelle und einen auf dicke Hose mache.“

Die Sendung „Hörbar Rust“ auf Radio Eins, die sie auch in Zukunft moderieren wird, nennt sie „ein Geschenk“. Zwei Stunden lang plaudert sie mit einem prominenten Gast und erfüllt seine Musikwünsche. Der Sendung fehlt alles Spektakuläre, außer daß sie – an guten Tagen – ganz außerordentlich entspannt und entspannend ist.

So unangestrengt muß sie auch im „Talk der Woche“ sein, wenn er gut werden soll. Gerade ihre unstrukturierte Art zu fragen, soll bei Schawinski angekommen sein, das Fehlen jeder wissenden Attitüde, das gut vorbereitete, aber dann einfach laufende Gespräch. Das wird vermutlich nicht auf Anhieb gelingen, drei, vier Sendungen brauche sie bestimmt, sagt Bettina Rust. Vorher sind da noch zu viele Erwartungen, zuviel Anspannung und, natürlich, zuviel Skepsis. „Ich muß da reinfinden. Ich muß das finden, was andere in mir sehen. Ich kann das nicht einfach aktivieren, sondern ich weiß, das kommt, wenn ich entspannt bin. Und ich hoffe, daß es dazu kommt.“

Und dann sagt sie noch den Satz: „Aber wenn die Sendung ,Talk der Woche‘ und Bettina Rust richtig gute Freunde werden, dann werde ich glühen wie eine Lampe.“

Das würde man gerne erleben. So eine wie sie hat dem Fernsehen gefehlt. Jetzt muß nur noch die Sendung gut werden, und wenn nicht die erste, vielleicht die dritte oder vierte. Einige Monate Durchhaltevermögen hat Schawinski versprochen. In die Testsendungen und Proben durfte man nicht reinschauen — die Nervosität beim Sender ist groß. Aber wenn er auf Nummer Sicher gehen wollte, hätte er gleich Ulrich Meyer nehmen können.

Wieso Keas Motorräder fressen

Die Welt

Wir waren gewarnt. Schon im Motorradverleih in Christchurch haben sie uns nicht eher mit einer Honda Transalp und einer BMW F650 GS vom Hof rollen lassen, ehe sie mit dickem Filzstift in einer Karte die Orte eingezeichnet hatten, an denen sich der Kea gerne herumtreibt. Wir bekamen Faltblätter, und an den Wänden hingen Steckbriefe, die zeigten, wie der Feind aussieht, vor dem wir uns in Acht zu nehmen hatten: ein grüngefiederter Bergpapagei. Ein bißchen stämmig vielleicht und mit beeindruckendem Schnabel, aber ein Vogel.

Ich habe in den vier Jahren, die ich Motorrad fahre, Respekt vor vielem gelernt: vor Öl und Schotter, vor Kurven und Ausfahrten, vor Autofahrern sowieso und in diesem vierwöchigen Motorradurlaub in Neuseeland ganz speziell vor deren Verkehrsregeln, die entgegenkommenden, abbiegenden Fahrzeugen, die die eigene Spur kreuzen, in bestimmten Fällen Vorfahrt einräumen, was für einen mitteleuropäischen Motorradfahrer ebenso unverständlich wie lebensgefährlich ist. Aber ein Vogel? Welcher Motorradfahrer hat Angst vor einem Vogel?

Unsere Überheblichkeit schwand, als wir uns den südlichen Alpen Neuseelands näherten und immer häufiger Leute trafen, die den Kea kannten. Die nicht nur um seine beunruhigende Leidenschaft für Gummi wußten und um seine Fähigkeit, Scheibenwischer von Autos in kürzester Zeit auf ein trauriges Metallgestänge zu reduzieren und komplette Sitzbänke von Motorrädern zu entfernen, sondern die ihn bei der Arbeit beobachtet hatten.

Effizient organisierte Arbeit, wie sie versicherten. In Gruppen lauere er auf den Parkplätzen den Touristen auf. Einmal, erzählte uns ein Neuseeländer, habe er beobachtet, wie drei, vier Keas mit ihren drolligen Hüpfbewegungen die Besitzer eines Autos abgelenkt hätten, während hintenrum ein einzelner sich unbemerkt am Wagen zu schaffen machte. Das klang beunruhigender als die Horrorgeschichten von neapolitanischen Taschendieben. Zum ersten Mal spielten wir mit dem Gedanken, den Besuch des grandiosen Franz-Josef-Gletschers abzusagen und die ganze Gegend weiträumig zu umfahren.

Natürlich sind wir doch hingefahren. Ich weiß nicht mehr, was wir zuerst gesehen haben, als wir den Parkplatz erreichten: Die Vögel, die Menschen, die sie fütterten, oder die großen Schilder, die die Menschen davor warnten, die Vögel zu füttern.

Schlagartig war uns klar, daß diese wohlgenährten Tiere auf das Gummi unserer Maschinen nicht aus Not aus waren, sondern aus reiner Bösartigkeit. Möglicherweise aus Langeweile. Wie eine Jugendgang, die auf dem Dorfplatz herumlungert und die Fremden vergrault, weil sie nichts besseres zu tun hat, und einfach: weil sie es kann.

Der Parkplatz war voll von intelligent aussehenden Flauschtieren, die mit den Autobesitzern Tänze veranstalteten: Du einen Schritt vor, ich einen Schritt zurück. Theoretisch waren sie niedlich. Aber wir sahen in ihnen nur noch die Hooligans, die unsere Motorräder fressen wollten.

Wir haben dann den Franz-Josef-Gletscher nicht richtig angeschaut. Wir waren nur zu zweit, und einer mußte ja immer bei den Maschinen bleiben.

ZDF.reporter

Tatütata, das ZDF ist da. Die “ZDF.reporter”, die nächste Woche ihre 150. Sendung feiern, kämpfen unermüdlich für Recht und Ordnung

Zu den wirklich drängenden Problemen unserer Zeit gehört der Mittelspurschleicher. Tag für Tag blockieren sie die Autobahn: junge Frauen, die Angst haben, die Spur zu wechseln; alte Männer, die glauben, die rechte Spur sei nur für Laster; blöde Mercedesfahrer, die meinen, sie hätten es nicht nötig. Egal, wie dicht wir auffahren oder wie knapp vor ihnen wir demonstrativ auf die rechte Spur ziehen, sie werden nicht weniger: die Mittelspurschleicher.

Im Mai nahm sich „ZDF.reporter“ des heiklen Themas an. Ein Reporter fuhr mit zwei Polizisten auf der A5 und war erschüttert: „Schon nach kurzer Zeit haben sie einen Kleintransporter im Visier, der partout nicht wieder auf die rechte Spur einscheren will. Ein typischer Mittelspurschleicher.“ Wenig später: „Ein Mercedesfahrer blockiert seit sechs Kilometern die Mittelspur.“ Und dann: „Ein Golf bleibt stur in der Mitte, und das schon seit mehr als acht Kilometern. Ein notorischer Mittelspurschleicher.“ Alles doppelt auf Video festgehalten: von der Polizei und vom ZDF. Junge Frauen, alte Männer, blöde Mercedesfahrer. Neun Minuten Mittelspurschleicher pur.

So was sieht man ja sonst nicht im Fernsehen. Auch nicht bei „ZDF.reporter“. Sonst jagen die mit der Polizei Raser und Drängler, Motorradfahrer, böse Laster und betrunkene Jugendliche, wieder Raser und Drängler, noch mal Motorradfahrer und sicherheitshalber ein weiteres Mal Raser und Drängler. Kaum eine Ausgabe, in der die Reporter nicht mit der Polizei auf Streife gehen: im Videowagen oder zu Fuß, in Uniform oder in Zivil. Und wenn es keine Polizisten sind, die begleitet werden, dann andere Kontrolleure.

„ZDF.reporter“ ist das mit Abstand monotonste Magazin im deutschen Fernsehen. Es nimmt die Welt fast ausschließlich aus der Perspektive von Ordnungshütern wahr. Andere Menschen kommen nur als reuige Sünder oder uneinsichtige Missetäter vor, bestenfalls als Zeugen oder zu Unrecht Verdächtige. Es sind oft Bagatelldelikte, die im Mittelpunkt stehen, aber bei „ZDF.reporter“ ist klar, daß es keine Bagatelldelikte gibt: Es geht um Recht und Ordnung, im Kleinen wie im Großen, und wenn man genug Sendungen gesehen hat, beginnt man selbst zu glauben, daß der Unterschied zwischen einem Menschen, der achtlos eine Bananenschale wegwirft, und einem Terroristen möglicherweise nur in Nuancen besteht.

Die Reportage „Sommer, Sonne, Sittenwächter: Ordnung muß sein – auch beim Sommerspaß“ beginnt am Isarufer. „Grillen ist hier nur in ausgewiesenen Bereichen erlaubt, Lagerfeuer grundsätzlich verboten“, erklärt der Reporter. Er begleitet zwei Wachleute: „Ihnen entgeht nichts. Die Sicherheitsleute nähern sich vorsichtig. Pirschen sich im Schutze der Bäume an die illegalen Griller heran.“ Natürlich werden sie gestellt. Der Bericht endet mit den Worten: „Die Grill-Sheriffs aus München haben das Isarufer im Griff. Hier wird diesen Sommer wohl niemand ein illegales Feuer entfachen.“ Es gibt keinen Hauch von Distanz oder Ironie in den Kommentaren, auch nicht am Ende einer Reportage über Schwarze Nordsee-Sheriffs: „Die Leute vom Wachdienst übernehmen wieder. Ihr Strand soll schließlich sauber bleiben.“

Die Off-Texte klingen wie Sätze aus dreißig Jahre alten „Aktenzeichen XY“-Sendungen oder frühen „Derrick“-Folgen: In der Wohnung eines jungen Kriminellen riecht es „wie in einer Marihuana-Höhle“ (was immer das sein mag). Ein „Sozialschmarotzer“ schläft bis mittags und würde nie putzen, „nicht mal bei sich zu Hause“. Zwei Sechzehnjährige nachts um zwei weit von ihren Wohnungen, klarer Fall: Die müssen Böses im Schilde führen. „Lautes Hundegebell in der Wohnung, nicht gerade ein Zeichen für gute Erziehung.“ Immer heißt es: „Für die Beamten ist er kein Unbekannter“, „die Dunkelziffer ist hoch“ oder: „Frank ist kein Einzelfall“. Und wenn ein Ertappter sprachlos ist, reicht es den Reportern nicht, seine Sprachlosigkeit zu zeigen. Sie müssen sagen: „Er ist sprachlos.“

Die Reportagen übernehmen konsequent die Perspektive der Ordnungshüter. Wie zweifelhaft ihre Entscheidungen sein mögen, wie problematisch die Vorschriften, daran verschwendet „ZDF.reporter“ keinen Gedanken. Hintergründe oder Zusammenhänge gibt es nicht, nur das Hier und Jetzt.

Gejagt werden die Kleinen. Notfalls wird der ZDF-Reporter selbst zum Ordnungshüter: In einem Bericht über eine Gruppe polnischer Fliesenleger genügt es ihm nicht, durch eine Indizienkette zu belegen, daß sie wohl illegal arbeiten, nein, er muß sie auch noch persönlich befragen („Wir haben eigens eine eigene Dolmetscherin mitgebracht!“), was, wie zu erwarten, nichts bringt, außer die Polen noch einmal gründlich bloßzustellen. Das persönliche Elend eines Mannes, der im Supermarkt vier Gänsekeulen geklaut hat, weil er seine Familie kaum zu ernähren weiß, wird von „ZDF.reporter“ gnadenlos ausgestellt. Ein Familienvater und Hartz-IV-Empfänger, an dem es ausnahmsweise nichts zu kontrollieren gibt, putzt für einen Euro die Stunde im Zoo, und der Reporter behauptet, er sei für viele Besucher damit selbst eine merkwürdige Spezies, die man begafft, und filmt ihn in einer Art, daß ihn auch die Fernsehzuschauer so erleben müssen: als ganz armes Schwein.

Daß die Reportage einmal eine journalistische Form war, die den Menschen zeigte, was sie nicht kannten, die Neues erzählte, Überraschendes, Wichtiges, läßt sich bei „ZDF.reporter“ nicht mehr erahnen. Hier passiert nichts, was man nicht erwartet: Motorradfahrer rasen, österreichische Polizisten zocken deutsche Urlauber ab, in Kreuzberg lauert an jeder Ecke die Gefahr, Haschischraucher sind Verbrecher, Verbrecher rauchen Haschisch. Jeder zweite Satz aus dem Off ist wohlfeile Empörung und Verurteilung.

„ZDF.reporter“ ist eine öffentlich-rechtliche Kapitulation. Die Sendung fragt nicht mehr: „Welches Thema hatten wir noch nicht?“, sondern: „Welches Thema sollten wir noch einmal machen, weil es gute Quote brachte?“ Norbert Lehmann, der Redaktionsleiter und Moderator, nennt sein Magazin eine „Nahaufnahme Deutschland“ mit Reportagen „aus dem deutschen Alltag, aus der deutschen Lebenswirklichkeit“. Irgendwie hat er recht: „ZDF.reporter“ ist auf eine sehr kleinkarierte Art das deutscheste Fernsehmagazin. Vielleicht stimmt auch deshalb die Quote einigermaßen: Weil sich die Zuschauer in diesen ungewissen Zeiten zurücklehnen können in dem guten Gefühl, daß wenigstens noch Fahrkarten und Mittelspurschleicher kontrolliert werden.

Ein Thema der Jubiläumssendung am Mittwoch ist der angeblich massive Mißbrauch bei Hartz IV. Es fehle vor allem an: Kontrollen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Merkels Aschenputtel-Strategie

„Es geht um fiktionale Glaubwürdigkeit“: Kommunikationsberater Klaus Kocks über Inszenierungen im Wahlkampf.

· · ·

Herr Kocks, wäre es nicht das Beste, die nächsten zwei Monate Wahlkampf einfach zu überspringen? Was soll da schon Spannendes passieren?

Das glaube ich nicht. Solche Wahlprozesse haben zunehmend zwei verschiedene Ebenen. Die eine ist die politisch-programmatische, auf der wir eine gewisse Beliebigkeit erleben. Zum Beispiel beim Thema Mehrwertsteuer. Klassischerweise hätte man gesagt, die SPD ist die tax-and-spend-Partei: Wir heben die Steuern und geben sie schön aus. Wir erleben perplex, daß das jetzt das Konzept der Union ist. Ich finde aber eine andere Ebene des Wahlkampfes viel entscheidender: die fiktionale. Wo Politiker nicht programmatisch wahrgenommen werden, sondern wie Schauspieler als Rollenfiguren. Für diese fiktionale Wahrnehmung, die Hollywood-Ebene der Geschichte, brauche ich wie in einem guten Spielfilm Zeit, weil die Charaktere sich ausdifferenzieren müssen.

Diese Zeit ist jetzt vorgegeben: vermutlich bis 18. September.

Und sie wird unterschiedlich wahrgenommen. Von Schröder mit dem Mut der Verzweiflung mit einer gewissen Lust, weil er glaubt, auf dieser Ebene Punkte machen zu können. Das ist das, was wir halb kritisch und halb vernünftig mal „Medienkanzler“ genannt haben: seine Rollenfigur, sein Rollenkonzept. Da glaubt er, seine Stärken zu haben. Und Merkel glaubt, dort ihre Schwächen zu haben. Beide Annahmen sind richtig. Schröder ist ein Schauspielgenie, Merkel steht vor ihrer Bewährungsprobe. Die Nation hat diese Bewerberin in diesem Rollentest noch nicht gesehen. Merkel ist groß geworden in einer „Heckenschützenrolle“, das heißt, sie hat immer aus der dritten Reihe agieren können. Das ist das Konzept, das sie bei Kohl gelernt hat. Sie hat nie das machen müssen, was man „Rampensau“ nennt. Sie hat sehr geschickt aus dem Hintergrund – oder Hinterhalt, je nach politischer Betrachtung – agieren können. Sie muß jetzt nach vorn. Schröder ist der Meinung – deshalb seine Aufforderung zum Fernsehduell -, daß er seine größeren darstellerischen Fähigkeiten ihr gegenüber zum Vorteil nutzen kann. Auf politisch-programmatischer Ebene ist die Situation klar: 50 Prozent für die Union, 25 für die SPD. Die Zeit, die wir bis zur Wahl haben, wird mit der Ausdifferenzierung der Rollenkonzepte verbunden. Merkel wird versuchen, sich bedeckt zu halten, und Schröder wird versuchen, den Vorhang hochzuheben und ins Staatsschauspiel einzusteigen.

Das heißt, diese Inszenierungen sind auch dann wichtig, wenn scheinbar das Rennen gelaufen ist?

Ja, aus mehreren Gründen. Erstens begründen sie die Reputation der Betroffenen – das ist persönlich wichtig. Zweitens können sie in speziellen Situationen entscheidend sein. Schröder hat seine zweite Bundestagswahl gewonnen, weil dort ein bayerischer Provinzschauspieler und ein niedersächsischer Staatsschauspieler einander gegenüberstanden. Schröder gab zwei große Rollen: den Friedensfürst und den Retter vor der Sintflut, einmal Christophorus, einmal Moses. Wir sehen ihn ja auch immer noch im grünen Bundesgrenzschutzparka vor uns – zu einem Zeitpunkt, als Herr Stoiber, wie ich gehört habe, auf Norderney Urlaub gemacht hat und sich nach stundenlangen Überredungen durch Herrn Spreng entschlossen hat, nach Passau zu fliegen. Der hat gar nichts verstanden. Ein zweites Beispiel für die Rolleninszenierung: Als Schröder über weltpolitische Fragen, über Krieg und Frieden gesprochen hat, hat Stoiber die Arbeitslosenzahlen des Arbeitsamtes Freising referiert. Das ist die zweite Wahrnehmungsebene von Politik.

Und es lohnt sich auch in so aussichtslosen Situationen, daran zu arbeiten, weil Situationen eintreten können, die diese Ebene entscheidend werden lassen?

Um ein negatives Beispiel zu nennen: Der von manchen geschätzte Guido Westerwelle findet aus seiner Rolle des Kaspers nicht zurück. Der Mann hat sich durch ein Inszenierungskonzept ruiniert: Weil er nicht wußte, was heterosexuelle Männer denken, wenn sie Wohnmobile am Straßenrand sehen. Die denken dann nicht an Graf Lambsdorff. Das ist fatal. Westerwelle versucht verzweifelt, in eine seriöse Rolle zurückzukommen, und alle fragen sich, welche Nummer er heute unter dem Schühchen hat.

Im Moment ist er unsichtbar.

Weil er den Weg zurück nicht findet. Er ist ja seinen eigenen Wählern peinlich. Wohlgemerkt: Ich halte diesen kommunikativen Prozeß für einen ungerechten Prozeß, aber für den eigentlich wirksamen.

Schröder und Merkel schlüpfen gerade scheinbar naturgemäß in ihre Rollen hinein, die Sie beschreiben. Wieviel müssen da noch Berater im Hintergrund arbeiten, wieviel passiert von ganz alleine?

Naturgemäß haben Sie als Berater den Ton vorgegeben, den Sie modellieren müssen. Ob Sie daraus eine vernünftige Statue zusammenbringen oder nicht, hängt von einem verborgenen Zusammenspiel von Politik und Medien ab. Gute Politikberatung besteht darin, ein Konzept anzubieten, das die Medien wollen und dann multiplizieren. Ich beschreibe das mal am Aussehen Merkel: Nehmen wir arbeitshypothetisch an, ihr Aussehen hätte sich nicht wirklich geändert (und ich denke, das ist so) – in dem Moment, in dem sie als Kandidatin nominiert war, hat sich das Selektionsverhalten von Bildredakteuren gegenüber den tausend Fotos verändert, die ihnen von Frau Merkel angeboten werden. Früher haben sie unbewußt Bilder genommen, die sie unvorteilhaft zeigten, dann wählten sie Bilder, die an Margaret Thatcher erinnern lassen.

Wo ist dabei das Zutun von Medienberatern oder Spin-Doctors?

In der Biologie heißt das Appetenzverhalten: Man muß einen Reiz für die Medien schaffen, darauf einzugehen. Wenn die Medien Merkel als künftige deutsche Maggie Thatcher wahrnehmen und nicht länger als Pressesprecherin von Lothar de Maizière, muß diese Wahrnehmung vorbereitet werden. Und das darf nicht zu plump geschehen. Wenn der Westerwelle sich einen neuen Anzug kauft, ist er sein Problem damit nicht los.

Das heißt: Ich muß den Gedanken an Thatcher in die Welt setzen, damit die Journalisten scheinbar von selbst darauf kommen.

Richtig. Schönheit liegt in den Augen des Betrachters – also richtet sich PR auf die Augen des Betrachters.

Auffallend oft trat Merkel in den vergangenen Wochen als Enkelin Ludwig Erhards auf.

Gute Politiker-Rollenbilder sind wie Eisberge: Da guckt oben was raus, aber er muß auch unten breit und groß sein, wenn es funktionieren soll. Es sind vor allem die großen mythischen Rollen, die funktionieren. John F. Kennedy hat sich als König Arthus inszeniert. Ludwig Erhard gilt als Sinnbild der Marktwirtschaft und soll hier als Resonanzboden genutzt werden.

Bei Merkel sprechen Sie von einer „Aschenputtel-Strategie“.

Die Wahrnehmung von Politik orientiert sich an den kulturellen Handlungsabläufen, die wir aus Shakespeare-Dramen oder Fernsehfilmen gelernt haben. „The higher they stand – the harder they fall“ oder: „What goes up must come down“. Das klassische Drama. Geschult an Hollywood, nimmt das Publikum auch Politik wahr. Wenn da nun jemand ist, der nicht wie eine Bombe aussieht – und ich meine das nicht despektierlich -, dann kann das Publikum an den Mythos vom Aschenputtel anknüpfen, denn da geht es ja um eine Frau, die schafft, was keiner ihr zugetraut hätte.

Das heißt, wenn Angela Merkel jetzt als durchsetzungsstarke Person rüberkommt, nimmt das Publikum sie nicht als jemanden wahr, der gewaltsam eine Macht durchsetzt, sondern als jemanden, dem das längst zugestanden hätte.

Ja, in unserer kulturellen Erfahrung ist der plausible Verlauf dieser Geschichte, daß ihr das Amt schon gehört. Und darin liegt das Geniale solcher Konzepte.

Wer entwickelt die? Vor drei Jahren waren die Strategen hinter den Kulissen ständig sichtbar: Ex-„BamS“-Chef Spreng als Berater von Stoiber, die Kampa der SPD. Diesmal läuft das unsichtbar.

Die Selbstthematisierung von PR bringt PR sofort um. Es war damals ein Fehler, Stoiber so offensichtlich einen Berater zur Seite zu stellen: Die Leute denken dann, wenn der Berater so gut ist, warum tauschen die beiden dann nicht die Rollen? Sie haben ja im Theater auch nicht neben dem Schauspieler, der den Hamlet spielt, auch noch den Regisseur auf der Bühne.

Die Tatsache, daß neben Angela Merkel nicht erkennbar ein Berater steht, heißt nicht, daß es keinen gibt?

Ganz im Gegenteil. Das spricht für hohe Professionalität. Ich kann mir Merkel als Kanzlerin nicht vorstellen, aber die macht das gut.

Können Merkel und ihre Berater in der jetzigen Situation überhaupt etwas falsch machen?

Jede Menge. Wir alle haben, wie bei jedem Schauspiel, den schwelenden Verdacht, daß das, was wir auf der Bühne sehen, nicht die Wahrheit ist. Wir wollen die Helden immer auch straucheln sehen. Das ist die Spannung bei einem Fernsehduell, bei öffentlichen Auftritten. Frau Merkel zeigt als „gesamtdeutsche Kanzlerin der sozialen Marktwirtschaft“ eine Rolle, die sie in ihrem Leben relativ spät gelernt hat. Das ist eine fragile Geschichte. In dem Moment, wo wir in ihr wieder die Pfarrerstochter aus MeckPomm sehen, würden große Teile der westdeutschen Wählerschaft fremdeln. Ein Fehler ist heute schnell passiert – wie leicht ist bei Christiansen ein dummer Satz gesagt, den man nicht mehr los wird. Deswegen sind alle gerade so furchtbar nervös. Das Wählerverhalten hat sich durch den Einfluß der Medien verändert. Einen Strauß hätte es nicht ruiniert, wenn der mal besoffen die Treppe runterfiel. Aber einen Stoiber würde das ruinieren.

Erstaunlich in diesem Wahlkampf ist, daß es scheinbar nicht um die größeren Versprechen geht, sondern die CDU sich dadurch zu profilieren sucht, daß sie gleich sagt, daß alles noch viel schlimmer wird. Eine Art Ehrlichkeitswettrennen. Ist das eine inhaltliche Auseinandersetzung? Oder Inszenierung?

Es gibt keine Politik ohne Inszenierung. Die einzige Frage ist, ob man sie charismatisch betreibt oder planmäßig. Und Ehrlichkeit ist kein relevantes Kriterium für Politik. Wenn Sie die Menschen fragen, ob sie glauben, daß Politiker die Wahrheit sagen, sagen weit über siebzig Prozent nein. Die eigentliche Frage ist: Wird das Rollenkonzept der Politik und des Werbens um die Gunst des Wählers stringent durchgeführt – oder ist es so brüchig, daß ich als Zuschauer dieses Schauspiels das Gefühl habe, ich werde verschaukelt. Es ist also vielmehr eine Frage der Glaubwürdigkeit der Rolle, nicht des Politikers selbst. Beispiel Schröder und die Cohiba: Für Schröder und sein damaliges Umfeld ging von einer kubanischen Zigarre eine leichte sozialistische Romantik aus, Che-Guevara-Assoziation, es schien zur Rolle zu passen. In dem Moment aber, in dem eine Zigarre als kapitalistisch wahrgenommen wird, paßt sie gar nicht, und ein Bruch entsteht.

Das heißt, die Erwartung der Wähler ist im Grunde nur: Wenn die mich schon verschaukeln, dann bitte so, daß ich es nicht merke?

Richtig. Sie dürfen erstens nicht langweilen. Und dürfen zweitens nicht ein brüchiges Konzept anbieten, das die Leute nicht verstehen. Ich behaupte, die Fiktionalität ist umfassend. Was beurteilt wird, ist die Plausibilität oder Brüchigkeit einer Rolle. Es geht um fiktionale Glaubwürdigkeit.

Die Journalisten werden bei alldem zu Komplizen der PR. Haben Journalisten überhaupt eine Möglichkeit, sich solchen Inszenierungen zu entziehen?

Ich frage mich immer, woher eigentlich diese Wut über Spin-Doctors oder den „Medienkanzler“ kommt. Ist das die Wut der alten Interpretationsmonopolisten, nämlich der Journalisten, darüber, daß sie das Monopol verloren haben? Aber: Wenn die Medienmeinung abweicht von dem, was an PR-Angebot da ist, ist PR ohne jede Aussicht. Unter uns: das ist der Normalfall, das andere die Ausnahme.

Spricht das gegen die PR oder für die Journalisten?

Das spricht dafür, daß wir ein demokratisches Gemeinwesen haben. PR kann nicht alles, und das ist auch gut so.

Der Aschenputtel-Mythos von Merkel aber hat funktioniert. Da stand überall groß: Schaut nur, wie gut sie jetzt aussieht! Und nur ganz am Rande wurde vielleicht der Mechanismus offengelegt.

Unsere Wahrnehmung wird für uns selbst sofort zur Realität. Wir finden, die sieht jetzt richtig gut aus. Wir fanden auch Schröder richtig klasse, als er noch Hans im Glück war. Aber es kann auch schnell ein Entzauberungsprozeß einsetzen. Fischer zum Beispiel, der war der beliebteste Politiker, den wir je hatten – er war in drei, vier Wochen entzaubert. Große Fallhöhe, Shakespeare. Jetzt läuft er wieder, er nimmt ab. Er versucht, den Prozeß wieder umzukehren.

Wird Angela Merkel Ihrer Meinung nach in einem Fernsehduell gegen Schröder antreten?

Sie wird müssen. Wenn sie dazu nicht den Schneid hat, wird die Nation ihr das nicht verzeihen. Ich glaube, dem kann überhaupt gar kein Kandidat mehr entgehen. Und es ist nicht sicher, daß Schröder es gewinnt. Denn es ist ein schmaler Grat zwischen Souveränität und Arroganz. Ich glaube nicht, daß Schröder durchkommen wird mit der Haltung: Schickt mir das Mädchen mal vorbei.

· · ·

Klaus Kocks ist selbständiger PR-Berater. Der promovierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und Germanist besitzt und führt die „Sozietät für Kommunikationsberatung“ CATO und das Meinungsforschungsinstitut Vox Populi und ist Professor für Kommunikationsmanagement. Bis Ende 2001 war er mächtiger Kommunikationschef bei Volkswagen und galt dabei selbst als besonders schillernder und polarisierender Kommunikator: Einerseits half er, das Image des damaligen Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch vom erratischen Finsterling zum weisen Patriarchen zu drehen; andererseits galt er als prätentiös und unberechenbar.

Kocks hat in fünf Wahlkämpfen fünf Kandidaten beraten, einen aus der FDP, einen von den Grünen und drei aus der SPD – darunter Sigmar Gabriel, was angesichts von dessen aktuellem Karriereverlauf wohl auch die Grenzen der Kommunikationsberatung demonstriert.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

BILDblog

Vom Glück, BILDblog zu machen.

Am 7. Januar erschien in „Bild“ eine kleine Meldung auf der letzten Seite. Eine portugiesische Familie habe bei einem Picknick in Pamplona Fleischspieße grillen wollen, stand darin. Die 93-jährige Oma sei, während die anderen Holz suchten, auf einem Klappstuhl zurückgelassen worden, ins Feuer gefallen und verbrannt. „Bild“ hatte eine vermutlich lustig gemeinte Überschrift darüber gesetzt: „Großmutter aus Versehen gegrillt“.

Die Geschichte war nicht nur eklig. Sie klang auch irgendwie unwahrscheinlich. Sie war sonst nirgends zu finden, jedenfalls nicht in deutsch- oder englischsprachigen Medien. Und mit unserem Spanisch ist es nicht so weit her. Wir konnten nicht beweisen, dass der Artikel falsch war. Aber wir wollten ihn auch nicht auf sich beruhen lassen. Dann hatten wir eine Idee, die uns revolutionär vorkam: Wir fragten in einem Eintrag unsere Leser, ob jemand vielleicht die Originalquelle für den „Bild“-Artikel ausfindig machen könnte. Innerhalb kürzester Zeit schrieben uns vier Leute und bestätigten mit Links und Übersetzungen unseren Verdacht: „Bild“ hatte die Familien-Picknick-Geschichte erfunden. Es gab keine Grillspieße und keine Holzsuche. Die „gegrillte Großmutter“ war eine obdachlose Frau, die schrecklich verbrannte, als sie sich an einem Feuer in einer Blechtonne wärmen wollte und sich die Decken entzündeten, in die sie sich gehüllt hatte.

Für langjährige Blogger mag das eine banale Anekdote sein; für einen klassischen Journalisten ist die Erkenntnis ein Kulturschock: Wir können ja unsere Leser fragen. Unter den vielen Tausend Unbekannten, die täglich auf BILDblog.de vorbeikommen, sind nicht nur Menschen, die spanisch sprechen, sondern auch Experten für Steuerrecht, für Astronomie und für die Feinheiten beim Rangieren von Eisenbahnen. Unsere Leser wissen alles. Wir müssen sie nur fragen. Und manchmal schreiben sie uns auch so.

Wir bekommen am Tag ungefähr zwanzig „sachdienliche Hinweise“. Manche davon sind Lappalien. Manche unbrauchbar, weil der Leser irgendetwas missverstanden hat. Manche genau richtig, aber zu speziell, als dass man daraus einen Eintrag machen könnte. Aber ohne die Mitarbeit unserer Leser könnten wir BILDblog nicht machen. Ein paar sind regelmäßige Lieferanten, so etwas wie Hilfs-BILDblogger, die mit großer Ausdauer und Energie „Bild“ nach Bedenklichem und Falschem durchforsten. Andere melden sich, wenn ein „Bild“-Bericht in ihr eigenes persönliches oder fachliches Umfeld berührt.

Diese Nähe, die Kommunikation löst bei einem Journalisten, der sonst, wenn es hoch kommt, in der Woche einen Leserbrief, aber siebzehn „sachdienliche Hinweise“ von PR-Agenturen bekommt, ein ungeahntes Glücksgefühl aus. Viele machen unser BILDblog zu ihrem BILDblog und zeigen uns das durch Beteiligung – und Kritik. Unsere Leser wissen nicht nur alles, sie wollen auch alles. Sie wollen einen RSS-Feed (selbstverständlich!), aber am liebsten auch einen Newsletter; sie wollen, dass die Seite auch im Ganzbildmodus von Opera 8.0 gut aussieht und dass sie auch als reine Feed-Leser informiert werden, wenn sich in der Link-Liste etwas tut; sie wollen, dass man einzelne Einträge auch ausdrucken kann (wörtlich: „Ich will ab morgen eine Funktion zum Ausdrucken implementiert haben aufstampf“), und wehe, man nimmt das Angebot wegen technischer Probleme wieder zurück.

Aber dafür schicken Sie uns auch hundertfach Entwürfe, wenn wir sie bitten, uns eine Gratis-Werbepostkarte zu gestalten. Als wir so unvorsichtig waren, sie um Erklärungen für eine besonders unerklärliche „Bild“-Formulierung zu bitten, hatten wir nach drei Minuten fünf E-Mail-Antworten und nach drei Stunden 170. Die meisten mit klugen Gedanken, und einige mit wunderbar abwegigen Theorien. Die Lust, mitzuwirken an BILDblog, scheint grenzenlos.

Und führt gelegentlich zu beunruhigenden Auswüchsen. Als wir einmal einen Beitrag über Hauke Brost brachten, einen „Bild“-Kolumnisten, der zu seinen Artikeln voller Klischees über Frauen und Ausländer nur stehen kann, indem er sie als Satire verstanden wissen will, war darin auch ein Link zu seiner Homepage enthalten. In kürzester Zeit hatten unsere Leser dem Mann sein Gästebuch, man kann es nicht anders sagen: vollgekotzt. Eine offenbar jahrelang aufgestaute Wut brach sich Bahn. Erschrocken verfolgten wir, wie sich – trotz unserer Bitten um Zurückhaltung – die Schreiber in immer groteskeren und abstoßenderen Beschimpfungen überboten. Ein Mitarbeiter von „Bild“ sagte später: Da sehe man mal, wir sollten von unserem hohen moralischen Ross runterkommen. Unter unseren Lesern sei genauso ein „Mob“ wie unter denen der Zeitung, für die er arbeitet. Wir hätten ihm den vermeintlichen Beweis für diese Illusion lieber nicht geliefert.

Als wir vor gut einem Jahr anfingen, ein paar Notizen über die „Bild“-Zeitung in einem Blog zu sammeln, hatten wir keinen Plan, wohin das einmal führen sollte. Wir hatten keine Vorstellung, wie viele Leute das lesen wollen würden, sondern nur das Bedürfnis, all das, was uns täglich in „Bild“ begegnete, festzuhalten. Für uns. Und jeden, den es interessiert. Wir haben bis heute keine Werbung gemacht, es gibt nach über einem Jahr immer noch kein offizielles BILDblog-Banner (weshalb viele Leser sich rührenderweise selbst welche basteln), und trotzdem schauen an Werktagen inzwischen deutlich über 20.000 verschiedene Menschen vorbei, ob es etwas Neues bei uns gibt. Fast jede Woche kommen neue hinzu, und erstaunlicherweise bleiben die meisten.

Fast vom ersten Tag an bekamen wir Mails mit der Frage, ob wir Unterstützung gebrauchen könnten, Spenden oder so. Als wir dann endlich eine Kontonummer eingerichtet hatten, gaben uns viele Geld. Es kam nicht ganz so viel zusammen, wie wir uns erhofft hatten. Denn die, die etwas spendeten, gaben meistens kleine und kleinste Beträge – gelegentlich mit dem Hinweis, mehr sei leider nicht drin. Wir hatten gehofft, dass sich noch mehr Menschen mit kleinen Beträgen beteiligen, dass sich vielleicht ein paar Großspender finden würden, und vor allem: dass das Geld regelmäßiger fließen würde. Nachdem die erste Welle vorbei war und die Einnahmen nur noch tröpfelten, waren wir etwas ernüchtert. Aber dass überhaupt so viele Leute es Wert fanden, uns Geld zu geben, bleibt eine wunderbare Erfahrung.

Die meisten Leser stellen uns (und anscheinend auch sich) nicht die Frage, ob das etwas bringt, was wir da machen. Ob man an „Bild“ etwas ändern kann, an ihrer Skrupellosigkeit, ihrer Fahrlässigkeit, ihrer Parteilichkeit, ihren Lügen– oder wenigstens an der Art, wie „Bild“ wahrgenommen wird. Wir haben BILDblog nicht gegründet in der festen Annahme, damit bei anderen etwas bewirken zu können. Wir hätten uns nicht erträumt, eines Tages zu erfahren, dass viele „Bild“-Redakteure morgens im Büro als erstes mit mulmigem Gefühl bei uns nachsehen, ob es sie heute „erwischt“ hat.

Nach einem Jahr BILDblog fühle ich mich gegenüber der größten und einflussreichsten deutschen Zeitung weniger ohnmächtig denn je. Es fängt damit an, dass ich mich früher nicht getraut hätte, der „Bild“- Zeitung „Lügen“ zu unterstellen – aus Furcht vor juristischen Konsequenzen und aus dem Gefühl, das möglicherweise nicht beweisen zu können: dass „Bild“ wissentlich Fakten falsch darstellt. Heute weiß ich: Mit dem Archiv, das BILDblog darstellt, kann ich es beweisen, wenn ich muss. Und jeder andere, der es will, kann es auch.

Viele Skeptiker nehmen an, dass wir mit unserem Projekt nur die Leute erreichen, die sich ohnehin keine Illusionen machen, was die Qualitäten von „Bild“ angeht. Ich glaube, das ist doppelt falsch: Erstens liefern wir denen, die immer schon das Gefühl hatten, dass „Bild“ häufig nicht die Wahrheit schreibt, erstmals aktuelle Argumente und Beweise. Und zweitens erreichen wir auch ganz andere Leute als die vielleicht anzunehmende Zielgruppe von Linken und Intellektuellen. Seit wir über ein paar grobe Schnitzer in der Fußballberichterstattung geschrieben haben, lesen uns zum Beispiel nachweislich viele Mitglieder von Fanclubs. Und zum Tollsten gehört es, in Internetforen zu beliebigen Themen die Kraft der Aufklärung am Werk zu sehen. Wenn irgendjemand eine „Tatsache“ gepostet hat und auf „Bild“ als Quelle verweist, findet sich oft schnell ein anderer, der mit einem dezenten Hinweis auf uns die Glaubwürdigkeit dieser Quelle in Frage stellt – und im Idealfall sogar auf einen Eintrag bei uns verlinken kann, der den Sachverhalt in ein anderes Licht rückt.

Auch das ist eine Form unmittelbarer Wirkung, von der ich als klassischer Journalist immer geträumt habe und als BILDblogger am Anfang nicht zu träumen gewagt hätte.

Harald Schmidt

Harald Schmidt? Welcher Harald Schmidt? Wie es passieren konnte, dass dem großen Satiriker Wichtigeres verlorenging als Erfolg: Bedeutung

Die Arbeiter waren Demoliseure; Niederreißen war ihr Beruf, für Aufbauen kamen sie niemals in Betracht. „Und das ist recht so”, sagten sie. „Jedem sein Beruf und jedem sein Verdienst! Dies ist der König der Demolierer”, sagte der jüngere. Der ältere lächelte. So heiteren Sinnes waren die Zerstörer; und ich mit ihnen. (Joseph Roth)

Diesen Mittwoch war da fünf Minuten vor Schluß wieder dieses Gefühl: Er ist durch. Am Ende des Stoffs, den er sich vorgenommen hatte, war noch etwas Sendung übrig. Natürlich ist er Profi genug, die Reste zu strecken, zu improvisieren, die Leere zu verplappern. Aber die Spannung war dahin.

Vor allem war die Gewißheit dahin, daß die ein, zwei Sendungen, die Harald Schmidt pro Woche noch macht, vor Ideen platzen müßten. Daß sich in der Woche so viel Material angestaut haben würde, das von ihm abgehandelt gehört, einsortiert, relativiert, lächerlich gemacht, ernst gemacht, daß man mit ihm nach einer halben Stunde sagen würde: Die Sendung kann jetzt einfach noch nicht vorbei sein. Harald Schmidt rettet sich über die Runden. Nicht mühsam, sondern routiniert, aber er rettet sich über die Runden. Das wollte ich eigentlich nicht sehen.

Es gab eine Zeit, da hatten viele Menschen das Gefühl: Die „Harald Schmidt Show” muß man sehen. Wer sie verpaßt, verpaßt etwas. Natürlich stimmte das nicht immer. Natürlich gab es Sendungen, die langweilig waren, uninspiriert, mißlungen. Aber oft genug stimmte es. Heute ist dieses Gefühl nicht mehr da. Wenn ich Schmidts ARD-Show sehe, zufällig, aus alter Gewohnheit, aus naiver Neugier, gehe ich hinterher nicht mit einem Grinsen ins Bett über eine grandiose Idee und wache morgens nicht mehr auf mit dem Gedanken, irgend etwas daraus nachher den Kollegen erzählen zu müssen.

Man kann sich Harald Schmidt immer noch angucken. Aber man muß nicht. Manchmal denke ich mir nach einer Sendung, daß sie vielleicht nicht fünf Minuten früher hätte zu Ende sein sollen, sondern eineinhalb Jahre.

Vielleicht gibt es einen psychologischen Effekt, wie bei einer Beziehung. Schmidt hat sich uns ein Jahr lang entzogen, und nach so einer Trennung ist nichts wie vorher. Man kann nicht einfach dort weitermachen, wo man die Beziehung unterbrochen hatte, die Natürlichkeit ist dahin. Selbst Schmidts größte Fans, die Redakteure des „Spiegels”, haben irgendwann gelernt, sich an das Undenkbare zu gewöhnen: Ein Leben ohne Schmidt. Jetzt ist er wieder da, aber das Beste daran scheint zu sein, daß der Phantomschmerz weg ist.

Würde man den Fehler machen, seinen Begriff von der „Kreativpause” wörtlich zu nehmen, welche Ideen hätte er aus dem Jahr mitgebracht? Nur eine: Schmidt genügt.

Alles, was nicht Schmidt ist, hat er abgeschafft: Natali, Suzana und Zerlett, Dr. Udo Brömme, Bernd Zeller und all die Ansprechpartner, Stichwortgeber und Nebenfiguren. Übriggeblieben ist nur der bräsige Jeansjackenträger Andrack. Auf Studiogäste glaubt Schmidt auch verzichten zu können. Klar: Viele der Gespräche mit den vorbeischauenden Viva-Moderatorinnen waren unwichtig. Aber sie zwangen ihn in interessante Konflikte zwischen den Pflichten eines Gastgebers und dem natürlichen Desinteresse des Satirikers. Und sie konfrontierten Schmidt mit etwas anderem als sich selbst.

Der Titel seiner ARD-Show nennt nicht nur den Namen des Moderators; er ist eine fast vollständige Inhaltsangabe. In „Harald Schmidt” redet Harald Schmidt über Harald Schmidt. Jede Geste ein Zitat. Wie zu Sat.1-Zeiten fährt die Kamera immer noch auf Schmidt zu, wenn er einen Schluck Wasser trinkt. Schmidt macht Anspielungen auf sein Gehalt, die früheren Werbepausen, die ehemaligen Gäste, die Diskussion um die geringe Zahl der Sendungen. Selbst der Begriff „Unterschichtenfernsehen”, den er in die Welt gebracht hat, war ein Verweis auf seine eigene Vergangenheit.

Harald Schmidt war nie Fernsehmoderator, er war Fernsehmoderatoren-Darsteller. Er hat Karriere gemacht, indem er bekannte Fernsehrollen gespielt und gebrochen hat, und das Revolutionäre daran war, daß er diese Parodien nicht in irgendeiner Kabarettsendung oder Comedyshow aufgeführt hat, sondern an der Stelle, an der eigentlich das Original erwartet wurde.

Als Moderator der kleinen Quizshow „Maz ab!” karikierte er 1988 die Gattung der Kleinen-Quizshow-Moderatoren, indem er das Gegenteil dessen tat, was von einem Kleinen-Quizshow-Moderator erwartet wurde. Wahllos warf er mit Punkten, ließ vorsagen, zerstörte lustvoll die Rituale des Genres. Mit den gleichen Mitteln gab er als Moderator von „Verstehen Sie Spaß?” ab 1992 die Travestie eines Moderators einer großen Samstagabendshow.

In der „Harald Schmidt Show” auf Sat.1 spielte er nacheinander einen schlechten deutschen Nachahmer von David Letterman, einen erfolglosen Moderator, der mit Tabubrüchen Quote oder wenigstens schlechte Presse bekommen will, einen intellektuellen Missionar, der gemeinsam mit dem deutschen Feuilleton gegen die allgemeine Unbildung kämpft. Schillernd wurden all diese Rollen dadurch, daß Schmidt sie abwechselnd spielte und brach. Wenn man wollte, konnte man in den Tabubrüchen von „Dirty Harry” ebenso eine Kritik an Tabubrüchen wie eine Lust an Tabubrüchen sehen.

Inzwischen hat er alle Rollen durch. Geblieben ist die des Harald Schmidt. Harald Schmidt spielt, parodiert, konterkariert Harald Schmidt. Er hat seine eigene Person so kunstvoll in immer neuen Varianten seiner „Schmidt”-Persönlichkeit verschachtelt, daß alles, was er sagt, immer auch das Gegenteil bedeuten kann. Oder das Gegenteil des Gegenteils, was möglicherweise nicht identisch ist mit der Ursprungsaussage.

Die „Welt am Sonntag” hat Schmidt in einem langen Interview scheinbar ernsthaft gefragt, warum er seiner ersten ARD-Sendung das Motto „Es geht aufwärts in Deutschland” gegeben habe. Schmidt antwortete: „Das ist das Motto, unter dem die ganzen zwei Jahre, die der Vertrag läuft, stehen werden. Jede Sendung! Es boomt, es brummt, es ist phantastisch. Willkommen im Jahr der Entschlossenheit. Aus dieser positiven Grundhaltung wird gejammert.” So. Und jetzt versuchen Sie mal, diesen Sätzen die ganzen Wollmäntel und Kostüme aus Pathos und Ironie auszuziehen, bis nur noch die nackten Worte dastehen, und zu erklären, was uns Herr Schmidt wirklich sagen wollte. Meine Vermutung: nichts.

Schmidt hat sich so oft gewendet, daß man sich die Mühe sparen kann, zu versuchen, ihn zu entziffern. Spricht da Harald Schmidt, „Harald Schmidt” oder gar „,Harald Schmidt’”? Für Schmidt sind die Vielschichtigkeit und die ironische Brechung kein satirisches Mittel mehr, die Dinge klarer zu sehen, sondern Selbstzweck. Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob Schmidt den Satz „Willkommen im Jahr der Entschlossenheit” sagt, weil alle das sagen oder keiner das sagt oder niemand das sagen sollte oder alle es denken und keiner es sagt. Schmidt hätte auch sagen können: „Willkommen im Jahr der fliegenden Meerschweine”, es hätte den gleichen „Höhö”-Effekt ohne weitere Bedeutung – nur ohne den falschen Anschein von Relevanz.

Schmidt hat jegliche denkbare Haltung schon eingenommen. Er hat Satire aus der Position des Quotenkillers gemacht, den man eigentlich sofort aus dem Programm nehmen müßte, und aus der Position des schließlich doch Erfolgreichen, der seinem Sender Ansehen bringt wie nichts sonst. Heute in der ARD ist er dort angekommen, wo er hingehört, kein Feigenblatt im Privatfernsehen mehr, sondern ein überbezahlter Fernsehstar, „Grundversorgung” für die Öffentlich-Rechtlichen. Er ist, in jeder Hinsicht, etabliert. Subversiv ist an seinen Sendungen nichts mehr, kann es auch nicht sein. Selbst wenn er das gleiche macht wie vor zwei, drei Jahren bei Sat.1 – es ist nicht mehr dasselbe.

Und aus welcher Position macht er in der ARD Witze über „Maischberger”, „Scheibenwischer”, „Polylux”? Seine Quoten sind kaum besser als die von „Maischberger”, seine Witze kaum origineller als die vom „Scheibenwischer”, und bei allem, was man am Lifestylemagazin „Polylux” aussetzen kann – daß dort Menschen arbeiten, die offensichtlich Lust haben, so Fernsehen zu machen, wie sie es tun, wirkt wahnsinnig sympathisch und entspannt gegenüber einem Harald Schmidt, der sich ununterbrochen von seinem eigenen Tun, seinem Sender, sich selbst distanzieren muß.

Alles, was er tun kann, hat er getan. Man sieht, wie er mit einem blauen ARD-Schal hantiert, und weiß: Das wird jetzt wieder so ein Running Gag wie mit den BSE-Schleifen. Man sieht, wie er in einer Parodie auf den Visa-Untersuchungsausschuß endlos langsam in einem Ordner blättert, und erinnert sich: Ja, das war toll bei „Verstehen Sie Spaß”, als er ein Metronom aufgestellt und minutenlang für viel Geld nichts gemacht hat.

Und alles, alles steht in Anführungszeichen. Schmidt erzählt einen mittelschlechten Witz in Dialekt, weil er weiß, daß man mit Dialekt auch schlechte Witze retten kann, und dann sagt er, daß er das im Dialekt erzählt, weil man damit auch schlechte Witze erzählen kann. Schmidt weiß, daß man auch schlechte Sendungen damit retten kann, daß man damit kokettiert, wie schlecht sie sind. Aber vielleicht weiß er nicht, daß dieser Trick nur eine begrenzte Zeit lang funktioniert. Er hat schon bei der vierstündigen Rheinfahrt nicht mehr funktioniert, im Sommer 2003 auf Sat.1, eine unfaßbar langweilige Fernsehsendung, die kein Stück weniger langweilig dadurch wurde, daß Schmidt während der Sendung immer wieder sagte, wie langweilig sie doch sei.

Die Zuschauerzahlen der ARD-Show sinken, aber das ist nicht das entscheidende. Die Bedeutung von Harald Schmidt hat sich nie an Quoten bemessen, aber seine Bedeutung geht gegen null. Hilfsweise wird dies damit erklärt, daß Schmidt besser wäre, wenn er häufiger käme. Wie absurd: Als Stefan Raab nur einmal die Woche auf Sendung ging, war „TV Total” regelmäßig ein Feuerwerk guter Ideen. Schmidt aber macht seine ein bis zwei Sendungen pro Woche nicht aus dem Gefühl heraus, eine Art Best-of einer imaginären täglichen Sendung zu produzieren, sondern als liefe morgen und übermorgen und überübermorgen noch eine Show von ihm, da komme es ja nicht so drauf an, ob diese heute wirklich so gelungen sei.

Vielleicht ist die Antwort auf die Frage, warum Harald Schmidt so egal geworden ist, also eine ganz einfache. Die Leute haben so lange applaudiert, egal, was er gemacht hat, daß er denkt, er muß gar nichts machen. Er gibt sich einfach keine Mühe mehr.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

„Ehrwürdige Institutionen müssen sich unterstützen“

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Deshalb unterstützt „Bild“ den Papst. Chefredakteur Kai Diekmann über den erstaunlichen neuen Katholizismus einer Boulevardzeitung.

Im November vergangenen Jahres reist eine Delegation der „Bild“-Zeitung nach Rom. Chefredakteur Kai Diekmann überreicht Papst Johannes Paul II. im Rahmen einer Privataudienz eine Bibel — ein Exemplar der sogenannten „Volksbibel“, die das Blatt zusammen mit dem Weltbild-Verlag eine Viertelmillion Mal verkaufen wird. Diekmann verspricht dem Oberhaupt der katholischen Kirche: „Mit über zwölf Millionen Lesern täglich ist uns auch die Verbreitung der christlichen Glaubensbotschaft ein ernstes Anliegen.“

Ungefähr seit diesem Tag versucht „Bild“, sich als papsttreueste Zeitung der Welt zu positionieren. Sie feiert Worte und Werke Johannes Pauls II., sie hängt an seinen Lippen, sie berichtet in großer Detailtreue (wenn auch nicht immer zutreffend) über jede neue Wendung in seiner Krankengeschichte. Als andere davon ausgehen, daß der Papst vorübergehend nicht sprechen kann, befürchtet sie, er sei für immer stumm. Als er dann doch wieder ein paar Worte sagen kann, nennt sie es ein Wunder. Wer die Politik des Vatikans kritisiert, zum Beispiel das strikte Verbot, im Kampf gegen Aids auch Kondome benutzen zu dürfen, wird von „Bild“ als durchgeknallt dargestellt und in der Rubrik „Verlierer des Tages“ oder der Kolumne von Franz Josef Wagner abgewatscht.

Die „Bild“-Zeitung hat einen Mitarbeiter in Rom, der eine Biographie über den Papst verfaßt hat und den sie ihren „Vatikan-Korrespondenten“ nennt. Wenn er schreibt, zeigt sie häufig ein Bild von ihm, in dem er vor dem Papst kniet. Als der Papst stirbt, tritt dieser Vatikan-Korrespondent in verschiedenen Fernsehsendungen auf und weint mehrfach. Auch noch Tage nach dem Tod des Papstes übermannen ihn seine Gefühle. Seine Zeitung führt unterdessen die „Wunder“ auf, die Papst Johannes Paul II. angeblich bewirkt habe, und fordert quasi seine sofortige Heiligsprechung.

Als Kardinal Ratzinger gewählt wird, titelt „Bild“: „Wir sind Papst“. Die Zeitung berichtet, daß Ratzingers Eltern Joseph und Maria „waren“. Sie kritisiert, daß der neue Papst „in keinem Land der Welt so unerbittlich kritisiert“ werde wie in Deutschland und daß britische Zeitungen übel gegen ihn „hetzten“, die seine Jugend im Dritten Reich unangemessen groß in den Mittelpunkt rücken. Daß diese Blätter über die Mitgliedschaft Ratzingers in der Hitler-Jugend berichten, nennt „Bild“ einerseits eine „Beleidigung“, betont aber andererseits, niemand müsse sich dafür „schämen“, Hitler-Junge gewesen zu sein. In ihrem Eifer verleugnet „Bild“ sogar die Existenz eines KZ in der Nähe von Ratzingers Heimat Traunstein.

Der strenge Katholizismus wirkt sich auch auf die Berichterstattung jenseits des Vatikans aus. Massiv kämpft „Bild“ gegen den Beschluß der Berliner SPD, konfessionsungebundenen Werteunterricht an den Schulen einzuführen, und veröffentlicht „Zehn ‚Bild‘-Gebote für alle Politiker“, in denen es unter anderem heißt: „Du sollst deinen Amtseid auf Gott schwören“ und: „Du sollst das Gottvertrauen, das Kinder haben, nicht aus ihren Seelen vertreiben.“ Sie kommentiert eine Demonstration von deutschen Moslems gegen Gewalt mit den Worten: „Schön, daß das auch andere, die in unserer freiheitlichen Gesellschaft mit uns leben, genau so sehen.“ Sie illustriert Überlegungen, einen islamischen Feiertag in Deutschland einzuführen, mit einer Fotomontage, in der Tausende Moslems vor dem Reichstag beten.

Nicht verändert hat sich die Position von „Bild“ in anderen Fragen. Gegner der „Bild“-Zeitung werden weiter mit heiligem Zorn und nicht selten falschen Anschuldigungen verfolgt, Unschuldige zu Tätern gemacht und Schwache zu Witzfiguren, und weder die sexsüchtigen halbnackten Frauen von Seite eins noch die Prostituiertenanzeigen hinten im Blatt traf bisher ein Bannstrahl.

Über die neue Religiosität von „Bild“ wollten wir mit Chefredakteur Kai Diekmann reden. Ein persönliches oder telefonisches Interview lehnte er „aus Zeitgründen“ ab. Möglich war nur, ihm Fragen zu schicken, die er schriftlich beantwortete. Nachfragen konnten nicht gestellt werden.

Die „Süddeutsche“ nannte „Bild“ am Freitag einen „Osservatore Tedesco“. Fühlen Sie sich wohl oder unwohl mit dieser Beschreibung?

Das ist ein Kompliment: Der „Osservatore Romano“, die Zeitung des Vatikans, hat in seiner Heimat eine Reichweite von einhundert Prozent. So weit sind wir leider noch nicht.

„Wir sind Papst“, hat „Bild“ am Mittwoch getitelt. Wer sind „wir“? Wir Deutschen? Wir deutschen Katholiken? Die „Bild“-Redaktion?

Wir alle. Und ich bin mir ganz sicher: Sie von der „Sonntagszeitung“ doch hoffentlich auch?

Wem ist diese Schlagzeile eingefallen?

Meinem Kollegen Georg Streiter. Er ist Politikchef bei „Bild“.

Die „Bild“-Zeitung hat sich in den vergangenen Monaten als besonders papsttreue Zeitung positioniert. Warum?

Weil ehrwürdige Institutionen sich unterstützen müssen.

Welche Bedeutung hatte die Audienz der „Bild“-Führungsriege beim Papst für Sie?

Eine große Ehre, eine sehr bewegende Begegnung.

Glauben Sie an Gott? Sind Sie katholisch?

Ja.

In den Grundsätzen und Leitlinien von Axel Springer fehlt ein Bezug auf das Christentum. Glauben Sie, daß eine Ergänzung sinnvoll wäre? Oder versteht es sich ohnehin von selbst, daß die Medien der Axel Springer AG sich den abendländisch-christlichen Werten verpflichtet fühlen?

Anima naturaliter Christiana*.

Die „Bild“-Zeitung berichtet seit einigen Monaten viel stärker als früher über kirchliche Themen, betrachtet auch gesellschaftliche Fragen häufiger aus religiöser, insbesondere katholischer Sicht. Nehmen Sie damit eine Stimmung in der Bevölkerung auf? Oder versuchen Sie umgekehrt, die Bevölkerung zu beeinflussen, quasi zu missionieren?

Jeden Montag heißt unsere Mission „Bundesliga“, im Sommer sind wir auf der Mission „Bikini“, und 365 Tage im Jahr missionieren wir für besseres Wetter. Im Ernst: Wir missionieren nicht, wir berichten, was ist.

Ist der „Bild“-Leser katholisch?

Die „Bild“-Leser sind Katholiken, Protestanten, Moslems, Juden, Atheisten und so weiter. Frei nach dem Neuen Testament: In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.

Sie haben sich im vergangenen Jahr ausdrücklich zu Kampagnen als legitimem und positivem Mittel einer Boulevardzeitung bekannt. Ist der Katholizismus nur die aktuelle Kampagne der „Bild“-Zeitung, die in wenigen Monaten durch eine andere abgelöst wird?

Große Ereignisse verdienen große Schlagzeilen, wie nach der erfolgreichen Landung von Apollo 11: „Der Mond ist jetzt ein Ami“.

Im ersten Quartal 2005, das schon von vielen Berichten über Johannes Paul II. geprägt war, ist die Auflage der „Bild“-Zeitung weiter gefallen. Läßt sich mit dem Papst und Themen der katholischen Kirche womöglich gar keine Auflage machen? Würden Sie das in Kauf nehmen als Preis dafür, eine im Sinne der katholischen Kirche und ihrer Werte bessere Zeitung zu machen?

Ich kann Ihre Frage nur mit einem eindeutigen „je nachdem“ beantworten.

Ihr Kolumnist Franz Josef Wagner hat in seiner Kolumne in dieser Woche gemutmaßt, Gott habe den Deutschen „diesen Papst geschenkt, damit wir endlich aufhören, an falsche Götter zu glauben“. Glauben Sie das auch?

Jeder Kolumnist soll nach seiner Fasson selig werden.

Für die Kirche, nicht nur die katholische, ist Keuschheit eine Tugend. Für die „Bild“-Zeitung offensichtlich nicht. Müßte eine Zeitung, die nicht nur in ihrer Berichterstattung über den Papst, sondern auch in der Bewertung aktueller politischer Streitfragen die Prinzipien der Kirche und des christlichen Glaubens als Maßstab anlegt, aufhören, jede versehentlich herausgerutschte weibliche Brustwarze überlebensgroß abzubilden und zu feiern?

Ich glaube, wir müssen uns mal zusammen in der Sixtinischen Kapelle Michelangelos Deckenfresko anschauen. Nackt kommst du auf Erden, nackt wirst du von ihr gehen.

Wie christlich kann eine Boulevardzeitung überhaupt sein? Sehen Sie nicht die Gefahr, je mehr Sie sich als papsttreueste Zeitung positionieren, desto pharisäerhafter zu erscheinen?

Wir alle sind Sünder, ausgenommen natürlich die Kollegen von der Sonntagspresse: Wer am Tag des Herrn das Wort verkündet, tut dies natürlich mit reiner Seele.

Glauben Sie, daß sich Kritik am (neuen) Papst per se verbietet?

Ach, Bruder Niggemeier . . .

Mißbraucht „Bild“ das Pathos der katholischen Kirche und letztlich den Glauben nicht, um in einer Zeit, in der alles beliebig erscheint, sich mit scheinbarer Bedeutung aufzuladen?

Jetzt werden Sie mir etwas zu protestantisch.

Welches ist Ihr Lieblings-Gebot?

Bei dieser Frage möchte ich das Beichtgeheimnis in Anspruch nehmen.

Welches christliche Gebot ist für eine Boulevardzeitung am schwierigsten in der Praxis zu beherzigen?

Du sollst nicht stehlen. Eine alte Journalistenweisheit besagt nämlich: Besser gut geklaut, als schlecht erfunden . . .

Welche christlichen Werte sind Ihrer Meinung nach heute besonders wichtig?

Glaube, Liebe, Hoffnung.

Was antworten Sie gläubigen Christen, die sich daran stoßen, daß „Bild“ Anzeigen von Prostituierten veröffentlicht?

„Bild“-Volksbibel, Seite 1046. Für alle anderen: Johannes-Evangelium, Kapitel 8, Vers 7.**

*) „Die Seele ist natürlicherweise christlich“, mit anderen Worten: das Christentum ist genau das, was der Mensch im Innersten sucht. Wort des Kirchenführers Tertullian, 197 nach Christus.

**) „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Günther Jauch

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Müssen Sie eigentlich alles machen, Herr Jauch? Der Fernsehmoderator über Geld, Werbung, Ehrgeiz und den Luxus, sich nicht alles leisten zu müssen, was man sich leisten kann.

· · ·

Herr Jauch, warum locken die Lotterien und Fernsehshows mit immer höheren Jackpots, die immer weniger Menschen gewinnen?

Aber das ist doch das sinnvolle Prinzip einer jeden Lotterie. Wenn Sie früher auf die Kirmes gegangen sind, hätten alle einen Plastikkugelschreiber gewinnen können oder einer den zwei Quadratmeter großen rosa Bären. Und Sie wollten, obwohl Ihr Kinderzimmer schon voll war, doch unbedingt den bescheuerten Bären haben, oder?

Aber können Sie erklären, warum mit immer größeren Summen gelockt wird, aber die Menschen, die sie gewinnen, schwärmen hinterher, daß sich nichts in ihrem Leben verändert hat?

Na ja, verändert hat sich, daß sie finanziell sorgenfrei sind. Die Abwesenheit von Angst ist ein Riesenwert. Unterschätzen Sie auch nicht die Erleichterung vieler Spieler, erstmals nach Jahrzehnten mal wieder auf plus/minus Null zu kommen. Man sollte sich keine Illusion machen, wie viele Leute richtig tief im Schuldensumpf stecken oder durch Hypothekenzinsen immer kurz vorm Tremens sind. Wenn die schuldenfrei sind, fällt von ihnen erst mal alles ab.

Dafür müßten es ja keine fünf Millionen Euro sein. Ist es vielleicht wichtiger, Millionen zu gewinnen, als Millionen zu haben?

Nein, es ist einfach eine Frage der Perspektive. Es gibt eine Erwartungshaltung gegenüber Menschen, die viel Geld haben oder gewinnen. Ich werde auch damit konfrontiert: Wenn ich mit meinem Opel zur Waschanlage fahre, wird immer gefragt: „Den Porsche haben Sie aber heute zu Hause gelassen, was?“ Daß ich in meinem Auftreten und Konsumverhalten nicht meinem möglichen Kontostand entspreche, irritiert viele Leute. Mir persönlich geht es schlicht um die Unabhängigkeit, monatelang auf Kreuzfahrt zu sein oder es mir zu leisten, gerade das nicht zu tun. Ich erlaube mir die Freiheit, ein Leben zu führen, das nicht den Erwartungen anderer und schon gar nicht meinen eigentlichen materiellen Möglichkeiten entsprechen muß.

Sie haben die Wahl.

Richtig. Interessanterweise geht es „Neureichen“ gelegentlich ganz genauso. Vor kurzem habe ich einem Gewinner einen Scheck über eine Million Euro überreicht. Der lebt mit seiner Frau in einem Plattenbau in Berlin-Hellersdorf. Drei Zimmer, siebzig Quadratmeter. Er ist bei der Stadtreinigung und fährt jeden Morgen um vier mit einem dieser Bürstenautos raus. Die Frau war arbeitslos. Er sagt: Selbstverständlich wird er seine Arbeit weitermachen. Die Frau sucht weiter nach Arbeit. Sie wollen in der Plattenbauwohnung bleiben, weil es die Kinder nur zehn Meter bis zum Spielplatz und achtzig bis zur Schule haben. Ein bißchen Geld wollen sie in ihre kleine Datsche in Schweden stecken, da können sie jetzt den Balkon endlich reparieren. So eine Reaktion auf Millionengewinne begegnet mir ganz oft.

Sie sind ja dann der ideale Moderator für solche Shows. Sie sind, vermute ich mal, Millionär. Aber Sie arbeiten, als müßten Sie einen Schuldenberg abarbeiten und endlich mal sehen, daß Sie ein bißchen bekannt werden.

Ich arbeite sicher nicht mehr, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Was wiederum nicht heißt, daß ich gratis tätig bin. Was und wer speziell beim Fernsehen nichts kostet, ist da auch ganz schnell nichts mehr wert. Und kommen Sie mir bitte nicht mit der Mallorca-Variante: Alles hinschmeißen und morgens um zehn den ersten Rotwein auf der Luxus-Finca entkorken. Das ist vier Wochen schön, danach öde und langfristig tödlich.

Wenn man so viel verdient hat wie Sie, funktionieren dann noch so Mechanismen wie bei Normalverdienern? Kann man Sie mit Geld überreden zu Dingen, die Sie eigentlich nicht machen wollen?

Sie können mich nicht mehr zu allem überreden. Etwas arrogant formuliert: Weil ich nicht billig bin, bin ich nicht käuflich.

Was meinen Sie damit?

Ich differenziere einfach rechtzeitig, was ich will. Inhaltlich und dann auch finanziell. Wem das nicht zusagt, dem bin ich nicht gram. Dabei verstehe ich, wenn jemand fragt: „Hast du es eigentlich nötig, Werbung zu machen?“ Dann sage ich wahrheitsgemäß: Nein, das habe ich finanziell nicht nötig. Aber das hat von den Leuten, denen Sie da häufiger im Fernsehen begegnen, vermutlich keiner. Es geht da zum Teil auch schlichtweg um die Fragen: Habe ich Lust dazu? Schmeichelt einem die Tatsache, überhaupt gefragt zu werden? Zeigt sich nicht auch auf eine gewisse Weise die gesellschaftliche und ökonomische Wertschätzung, die einem mit einem Werbevertrag entgegengebracht wird? Nehmen Sie die Bundesbank. Die haben in einem halben Jahrhundert nur einmal mit einem Menschen anläßlich des Wechsels zum Euro eine Kampagne gemacht. Ich habe mich gefreut, als die mich gefragt haben. Außerdem sah ich auf dem Schlafmünzenfoto endlich mal halbwegs vernünftig aus.

Aber ist die Werbung nicht eine ständige Bedrohung der eigenen Glaubwürdigkeit?

Ach, Werbung ist Werbung ist Werbung. Manchmal wird ja so geraunt: Meinen Sie nicht, daß es da Vermischungen gibt? Daß man durcheinanderbringt, ob Sie in der Rolle des Moderators oder einer Werbefigur agieren? Ich bin der Meinung, daß die Leute das sehr genau unterscheiden können. Wenn Harald Schmidt für Hexal Werbung macht und sagt, daß ihm das Kreuz weh tut, dann realisieren die Leute, daß Harald Schmidt gerade erzählt, daß ihm das Kreuz weh tut, weil er Werbung für Hexal macht. Das merkt und weiß nun mittlerweile wirklich jeder.

Anfangs haben Sie besondere Werbung gemacht. Mit Krombacher für den Regenwald, mit der Beton-Industrie für das Potsdamer Stadtschloß. Das war clever.

Das war aber auch ganz normale Werbung.

Aber der gute Zweck war schon eingebaut. Das ist er bei der Werbung, die Sie heute machen, nicht.

Das stimmt deshalb nicht, weil ich das Geld, das ich mit der Werbung verdiene, sowieso komplett nicht behalte.

Wonach entscheiden Sie, für welches Unternehmen Sie werben?

Es sollten Firmen oder Institutionen sein, die eine gewisse Größe haben. T-Com ist ein Weltkonzern, Quelle ein angesehenes Traditionsunternehmen und die SKL eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, für die sich fünf süddeutsche Bundesländer verbürgen.

Entscheiden Sie auch danach, wie genau die Werbeidee aussieht?

Ich rede mit und habe immer ein Vetorecht.

Finden Sie es nicht selbst nervig, wenn Sie durch Deutschland fahren, daß Sie sich selbst an jeder Ecke aus einer riesigen magentafarbenen Null anlachen?

Das passiert mir doch aber schon morgens beim Rasieren, daß mich eine Null anlacht . . .

Gucken Sie bei der Werbung mit sich selbst gar nicht hin?

Doch, aber da gibt’s wirklich größere Strafen. Es gibt ja auch diese Umfragen, welche bekannten Gesichter in der Werbung nerven und welche nicht. Mein Ergebnis ist da ziemlich eindeutig.

Lassen Sie mich raten.

Genau. Da habe ich noch einen fünfzigprozentigen Vorsprung vor dem Kollegen Gottschalk auf Platz zwei. Also, damit kann ich leben.

Entscheiden Sie so was wie die Frage, wieviel und für wen Sie werben, selber? Oder haben Sie eine Armada von Beratern?

Nein, hab‘ ich nicht, brauch‘ ich nicht. Mein persönlicher Eindruck: Neunzig Prozent der sogenannten Berater sind echte Landplagen und halten einfach nur den Betrieb auf. Sich auch um Details zu kümmern kann nervig sein, aber dafür weiß ich dann wenigstens selbst, worum es überhaupt geht. Die Leute sind überrascht, daß sie mich am Telefon haben, wenn ich irgendwo zu- oder absage. Aber es geht einfach viel schneller.

Das ist ein Geheimnis Ihres Erfolges: Daß Sie bei „Wer wird Millionär?“ sitzen und jeder ahnt, was Sie verdienen, aber Sie sind in der Lage, mit Kandidaten darüber zu reden, was eine Tiefkühlpizza kostet. Daß Sie ausstrahlen, in der gleichen Lebenswelt zu leben wie die Leute vor dem Bildschirm.

Zum Teil ist die Lebenswelt identisch, zum Teil zugegebenermaßen nicht. Aber wenn Sie dieser Lebenswelt komplett entrückt wären, würde das auffallen. Wenn Sie sich ersparen, zumindest alle paar Wochen mal durch den Baumarkt zu gehen, „Autobild“ zu lesen, oder wenn Sie sich weigern, beim Aldi an der Kasse anzustehen und lieber den „Käfer-Service“ nach Hause liefern lassen – dann haben Sie in meinem Beruf ganz schnell ein richtiges Problem.

Machen Sie das gezielt: Ich muß mal wieder in den Baumarkt wegen der Zuschauernähe? Oder gehen Sie eh lieber in den Supermarkt, als bei Käfer zu bestellen?

Letzteres, wobei das eine das andere nicht ausschließt. Ich habe zum Beispiel eine kleine Automeise. Im Klartext: Ich habe ein großes und schönes Auto. Aber zum normalen Rumfahren habe ich einen Opel. Der ist praktisch. Variable Sitze, übersichtliche Karosserie, Automatikgetriebe. Kann auch das Au-Pair-Mädchen fahren. Ich bin, ich gebe es zu, da etwas konventionell und vielleicht auch ein bißchen sehr deutsch. Mit positiven und negativen Begleiterscheinungen. Aber es wäre mir wirklich zu anstrengend, krampfhaft darauf bedacht zu sein, einen möglichst volksnahen Eindruck zu machen.

Stellen Sie sich eigentlich nie bei einem Fernseh- oder Werbeangebot die Frage: Muß ich das jetzt auch noch machen?

Es ist ja gar nicht so viel. Ich habe zweieinhalb Werbeverträge. Ich mache „Stern TV“ seit 15 Jahren. Na schön, und natürlich „Wer wird Millionär“, das gebe ich noch zu.

Und die „SKL-Show“.

Ja.

Und Skispringen.

Das wächst sich ja zu einer medienpolitischen Betriebsprüfung mit Verhörcharakter aus. Also bitte: Ja, ich bekenne, auch Skispringen seit fünf Jahren gerne zu moderieren.

Und den Jahresrückblick und die Uri-Geller-Show und alles.

Wenn Sie jetzt nicht aufhören, übernehme ich in diesem Jahr noch ein paar Formate, nur, um Sie noch besorgter zu machen. Und überhaupt: Johannes B. Kerner ist viel öfter im Fernsehen!

Das Fernsehen ist eine Branche, wo alles plötzlich zu Ende sein kann. Sind Sie da frei von Angst?

Ich habe festgestellt, daß speziell Leute, die sehr gut verdienen, nicht angstfrei sind, im Gegenteil. Die leben auf einem materiell hohen Niveau und haben immer mehr Angst, weil sie viel mehr zu verlieren haben. Andere fürchten im wahrsten Sinne des Wortes den Ansehensverlust, wenn sie nicht mehr auf dem Schirm sind. Da muß ich sagen, daß ich mit mir meinen Frieden gemacht habe. Ich habe in dieser Richtung absolut keine Ängste. Das empfinde ich als sehr befreiend. Es ändert allerdings nichts an Gefühlen wie Ehrgeiz oder Lust am Wettbewerb. Es könnte ja theoretisch sein, daß man viele Dinge nicht mehr so konzentriert angeht, wie man es vor fünfzehn Jahren gemacht hat. Aber da habe ich das Michael-Schumacher-Syndrom. Sich anzustrengen und sich immer wieder mit anderen zu messen ist das eigentlich reizvolle. Es gibt aber etwas, das sich im Vergleich zu früher geändert hat. Ich war bis vor vier Jahren im Grunde nur für meine Familie und mich verantwortlich. Seit ich eine eigene Produktionsfirma habe, hängen viele Existenzen, direkt oder indirekt, vom Wohl und Wehe des Betriebes ab. Das ist eine gewisse Belastung.

Warum haben Sie die Firma gegründet?

Vorher war die programmliche Flexibilität nicht mehr vollständig gesichert. Die Redaktion geriet durch wirtschaftliche Vorgaben inhaltlich so unter Druck, daß insbesondere „Stern TV“ unter Umständen ein Qualitätsproblem bekommen hätte. Das wollte ich nicht und strebte nach einer Konstruktion, die uns sogar die Möglichkeit gibt, Geld in Projekte zu stecken, die sich vielleicht nicht sofort rechnen, die aber entweder Spaß machen oder uns aus anderen Gründen wichtig sind. Diese Freiheit haben wir jetzt.

Aber damit sind Sie eine große Ausnahme im Fernsehen.

Es gibt eine Entwicklung, der zumindest ARD, ZDF, RTL, Sat.1 und Pro Sieben nicht folgen sollten. Es funktioniert so: „Wir holen eine alte Krimiserie aus dem Keller oder produzieren zu absoluten Billigpreisen irgendein neues Schrottprogramm nach amerikanischem Vorbild. Selbst wenn wir damit nur eine schwache Quote schaffen, bleibt letztlich mehr in der Kasse, als wenn wir ein Qualitätsprogramm mit Quote produzieren.“ Dann wäre die Quote sogar im kommerziellen Fernsehen nicht mehr so wichtig. An ihre Stelle tritt die Rendite — oder bei den Öffentlich-Rechtlichen die möglichst billige Produktion. Wenn keiner mehr den Ehrgeiz hat, Qualität zu machen, oder Quote — oder Qualität mit Quote zu verbinden, was durchaus geht –, dann krieg‘ ich als Journalist und Moderator, aber auch als Produzent ein Problem. Denn dann wird das Fernsehen richtig freudlos. Bisher war alles ganz einfach: „Mach ’ne schöne Quote“, das war das wichtigste, „und ’ne schöne Sendung haste auch noch gemacht, prima.“ Danach wurde man bewertet. Da droht gerade ein Paradigmenwechsel, der für Leute, die auf Quote und Qualität setzen, zum Problem werden kann. Aber wissen Sie, was mich hoffen läßt? Ich kenne einen Senderchef, der das inzwischen erkannt und mir versprochen hat: „Da halten wir dagegen!“ Mit dem werde ich mich jetzt öfter unterhalten.

Super, Sie wollen keinen Namen nennen. Kennen wir den Herrn?

Aber sicher.

Eject

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Sterben für die Tagesdurchschnittsquote: Charlotte Roche über die Einstellung ihrer Viva-Sendung „Fast Forward“.

Zum Ende des Jahres stellt der Musiksender Viva seine beiden letzten musikjournalistischen Sendungen ein. „Mixery Raw Deluxe“ war die einzige redaktionell betreute Hip-Hop-Sendung im deutschen Fernsehen, „Fast Forward“ eine einzigartige Plattform für Musik, die sonst nirgends läuft, weil sie nicht kommerziell genug ist. „Fast Forward“, ein Überbleibsel des vor drei Jahren eingestellten ambitionierten Senders Viva 2, wurde von wenigen gesehen, aber von vielen geliebt. Charlotte Roche, die die Sendung seit fünf Jahren machte und moderierte, wurde durch sie zu einer Art Schutzheiligen der Independent-Szene. „Queen of German Pop Television“ nannte Harald Schmidt die 26jährige, die in diesem Jahr den Grimme-Preis erhielt.

Wie haben Sie vom Ende von „Fast Forward“ erfahren?

Letzte Woche wurde im Haus das Programmschema für alle Musiksender Deutschlands vorgestellt. Einmal, once in a lifetime, haben sie aus Freundlichkeit den Mitarbeitern etwas über die Zukunft gesagt, bevor sie an die Presse gegangen sind. Ich war nicht im Haus. Mir haben sie nach der Veröffentlichung gesagt: Charlotte, nur daß du das weißt, „Fast Forward“ ist ab Ende Dezember nicht mehr vorgesehen.

Gab es vorher keine Gespräche mit Ihnen: Wie sollen wir weitermachen?

Nein, gar nicht. Aber das ist für mich kein großer Schock. Ich führe seit letztem Jahr diesen Kampf mit den Viva-Chefs und anderen, die dahingesetzt wurden. Solange es noch den Kampf zwischen MTV und Viva gab, ging es ständig um diesen bekloppten Tagesquotendurchschnitt. MTV war jeden Tag Sieger. Die Verantwortlichen bei Viva haben mir dann immer erzählt, wie die eine Stunde „Fast Forward“ jeden Tag die Durchschnittsquote in den Keller haut. Anfang des Jahres kamen Mitarbeiter von mir plötzlich mit der Nachricht an: Bald gibt es „Fast Forward“ nur noch eine Viertelstunde lang! Ich war ständig bei den Viva-Chefs, immer am Kämpfen, habe immer gedroht, zu kündigen: Das ist ja wohl der Witz des Jahrhunderts, man kann doch keine Stundensendung auf eine Viertelstunde kürzen! Jetzt ist es vorbei.

Eine Stunde lang war „Fast Forward“ in diesem Jahr nur selten.

Ja, das wurde immer heimlich gegen meinen und aller Willen gekürzt, einfach so. Ich hab‘ schon „Fast Forward“-Sendungen mitgestoppt, die achtzehn Minuten lang waren, und die Verantwortlichen behaupteten immer noch, es sei eine Stunde gewesen.

Nicht im Ernst.

Das ist wirklich wahr. Es geht um jede Minute für ihre bescheuerte Durchschnittsquote für den Tag.

Gab es Versuche, etwas am Konzept zu ändern?

Ich bin da sehr bockig, weil ich sage: Ihr habt mich eingestellt, und „Fast Forward“ ist dazu da, daß die Leute, die daran arbeiten, machen, was sie wollen. „Fast Forward“ ist ganz klar nicht dazu da, das „Interaktiv“-Publikum glücklich zu machen und eine Superquote zu haben. Ich habe gesagt, auf keinen Fall fangt ihr jetzt an, bei „Fast Forward“ rumzupfuschen, weil ihr denkt, dann kann man mehr Quote machen. So funktioniert es nicht.

Es heißt, Sie wollten jetzt eh verstärkt als Schauspielerin arbeiten, vermutlich ist es Ihnen also gar nicht so unrecht, daß die Sendung eingestellt wird.

Das ist überhaupt nicht so. Alles, was in „Fast Forward“ steckt, ist das, was ich mir gerade ausdenke. Deshalb werde ich der Sendung nicht müde, weil sie sich ganz natürlich mitentwickelt mit mir. Was allerdings wirklich stimmt, ist, daß ich Kraft verloren habe. Dieses Kämpfen dafür, daß es die Sendung weiter gibt, das war sehr ermüdend die letzten Monate. Jeder im Haus sagt dir: Das soll weg. Und man selber steht alleine da und denkt: Nee, das soll nicht weg. Aber ich habe immer großen, großen Spaß an der Sendung gehabt, auch aus der Bockigkeit heraus, daß die die absetzen wollten. Aber jetzt habe ich verloren.

Gibt es bei den Verantwortlichen nicht das Gefühl, daß es für einen Sender wie Viva wichtig sein könnte, sich ein Programm wie „Fast Forward“ zu leisten?

Die Viacoms dieser Welt verstehen nicht, warum man eine kulturelle Sendung haben soll oder irgendwas, das kommerziell scheinbar unerfolgreich ist. Es wird immer schwerer, Leuten das zu erklären. Wenn man diesen ganzen Chefs gegenübersitzt, guckt man in blanke Gesichter. Man muß ihnen erklären, warum das Sinn hat, wenigstens in einer von vierundzwanzig Stunden etwas Spezielles zu zeigen, etwas Unbekanntes, auch wenn man damit nicht die Massen erreicht. Die sitzen dann da und sagen: Ja, aber da könnten wir doch Geld verdienen in der Zeit. Gegen solche Argumente ist man machtlos.

Vielleicht war „Fast Forward“ zu teuer?

Wir sind zu dritt. Die anderen beiden sind gleichzeitig die Kameramänner. Produziert wird ohne Beleuchtung und alles. Da ist einfach nur eine Kamera, in die ein Mikrophon reingesteckt wird. So wie zu Hause, wenn man ein Familienvideo dreht.

Und wie ging das, als Sie jetzt die Hauptrolle in „Eden“ gespielt haben, einen Film von Michael Hofmann, der 2005 ins Kino kommt?

Ich habe neun Wochen gedreht und wollte nicht, daß die Sendung neun Wochen lang ausfällt. Ich habe dann halt in Bad Herrenalb im Park gestanden und dort die Sendung gemacht. Ich bekomme die Videos zugeschickt. Ich kann „Fast Forward“ überall drehen und dann die Bänder nach Köln schicken, und die schneiden das dann.

Was für Auswirkungen, meinen Sie, wird das Ende von „Fast Forward“ für die Musikbranche haben?

„Fast Forward“ stand schon immer dafür, eine Plattform für kaum oder gar nicht gespielte Videos zu sein, vor allem für deutsche Sachen. Leute wie Rocko Schamoni oder Thees Uhlmann zum Beispiel rufen mich an und sagen, Charlotte, zu diesem Song haben wir diese Idee, lohnt es sich, 2000 Euro in die Produktion eines Videos zu stecken, spielst du das? Und dann sage ich „Ja“ oder „Nein“, und dann drehen die das oder nicht. Wenn es „Fast Forward“ nicht mehr gibt, gibt es auch diese Videos nicht mehr.

Hat die sonst keiner gespielt?

Nein, es gibt sonst nur Markus Kavka auf MTV mit „Spin“, aber das läuft nur einmal die Woche. Die beschäftigen sich mit Independent-Sachen, die meistens schon erfolgreicher sind, spielen etwa „The Hives“. „Fast Forward“ dagegen läuft jeden Tag eine Stunde, da kann man die ganze Woche unbekanntes Zeug aus Hamburg spielen, wenn man will.

Und Sie wollten.

Genau. Um die letzten Zuschauer auch noch zu vergraulen.

Haben Sie schon Reaktionen auf die Nachricht von der Einstellung bekommen?

Ich bekomme jetzt SMS von Leuten aus dem „Spex“-Umfeld, die ganz bestürzt sind. Die sagen, „Scheiße, das darf doch nicht wegfallen! Das hat es jetzt über fünf Jahre gegeben.“

Wie geht es für Sie weiter?

Die Bedingung für „Fast Forward“ war, daß ich da machen kann, was ich will. Offensichtlich können sich die Chefs von Viva und MTV damit nicht mehr arrangieren. Die lassen das lieber wegfallen, als mich da weiter Faxen machen zu lassen. Ich will nicht um jeden Preis irgendeinen Job machen. Nachdem man „Fast Forward“ gemacht hat, geht das nicht. Aber so ist das gerade bei Viva: Fast jede Redaktion ist panisch und hat Zukunftsangst. Und wenn die Leute im Büro anrufen, um mit ihren Chefs Termine zu kriegen, bekommen sie zu hören, wartet mal, ich weiß selber nicht, ob ich noch einen Job habe. Alle warten. Deshalb kann ich jetzt keine Pläne schmieden. Ich warte erst mal. Wenn mich jemand will, soll mich jemand fragen.

Die gab es also noch nicht, die Anrufe von anderen Sendern?

Nein.

Sie klingen trotzdem ganz gefaßt.

Ach, panisch war ich schon vor Monaten. Man kann diese Panik nicht aufrechterhalten. Ich habe es, ehrlich gesagt, auch noch gar nicht richtig kapiert, daß es diese Sendung bald nicht mehr gibt. Das ist schon heftig, aber ich hab’s noch nicht richtig kapiert.

Die Dschungelkönigin

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die Moderatorin Sonja Zietlow hat gezeigt, wie lustig sie sein kann. Sie will das aber nicht immer zeigen müssen.

Frau Zietlow, wir müssen über diese dicke weiße Made sprechen, die sich von Willi Herren erst noch mehrmals stupsen und quetschen lassen mußte, bevor er ihr dann endlich den Kopf abgebissen hat.

Ja, der Dirk Bach stand auch sehr betrübt daneben. Ich habe hinterher zu ihm gesagt: Ich finde das zwar auch nicht toll, aber letztlich kennen wir Willi, der Willi war immer nur so. Ich habe hinterher zu Dirk gesagt: Du mußt dir doch im klaren darüber sein, wenn wir diese Sendung machen, gehört auch dazu, einer Made den Kopf abzubeißen. Sie tat mir dann letztendlich auch leid, als dann die zweite Made allein auf dem Teller war, und das abgebissene Köpfchen von der ersten lag noch da, und die Made robbte sich zu diesem Köpfchen – aber dann denke ich mir, meine Güte, es ist ’ne Made, Herrgottnochmal!

Dirk Bach hatte sich in den Vertrag schreiben lassen, daß die Tiere nicht gequält werden.

Ach, wir haben schon immer aufgepaßt. In der ersten Staffel sollte der Sarg, in den sich Daniel Küblböck dann legte, eigentlich mit Ratten gefüllt sein. Und dann würde der mit Wasser gefüllt, so daß die Ratten sich auf den Menschen als Insel retten. Aber dann haben wir diese ganzen Ratten gesehen, und die taten mir wirklich leid: Die haben einen so angeguckt und mit ihren Füßchen an den Glaskasten gekratzt, und dann haben wir gesagt: Nein, das geht nicht. Das war dann meine Idee zu sagen: Laßt uns doch statt dessen ganz viele Kakerlaken nehmen!

Daniel Küblböck kann sich bei Ihnen also persönlich bedanken für die Kakerlaken.

Die Ratten können sich bei mir bedanken!

Diese Neuigkeit ist natürlich prima für Ihr Image als RTL-Domina.

Ich glaube, bei Ratten kann man sich theoretisch noch mehr Infektionen holen. Die können ganz schön heftig beißen. Man könnte also auch sagen: Ich hab‘ ihn gerettet vor den Ratten.

Kriegen Sie jetzt gezielte Angebote?

Als Domina?

Ja, in der Werbung und so was.

Ach, die ganze zweite Staffel war ich eigentlich schon nicht mehr die „Domina“, bis hinterher „Bild“ das noch mal geschrieben hat. Aber die anderen haben es, glaube ich, begriffen, von daher hab‘ ich in der Medienlandschaft nicht dieses Image. Das ist schon mal ganz gut.

Die „Bild“-Zeitung fragt: „Was hat diese Frau so hart gemacht?“

Ja, Dirk Bach ist das lustige Gummibärchen, und ich bin die Harte. Da denke ich auch manchmal: Wo haben die das her? Sicherlich, ich habe nicht soviel Furcht vor Dingen. Wenn der Tiertrainer mit einer Schlange ankommt und sie mir gibt, dann denke ich: Das wird schon nichts sein. Und wenn sie mich jetzt doch beißt, was soll denn dann passieren? Ich bin sicherlich auf manchen Gebieten tougher. Ich weiß ziemlich genau, was ich will. Ich vergleiche das immer mit einem Fußballtrainer. Wenn der seine Jungs anschreit, ist das ein Fußballtrainer, und jetzt stellen Sie sich mal vor, wenn das eine Frau machen würde! Bei den Dschungelprüfungen mit Willi zum Beispiel habe ich mir gedacht: Ich weiß, wenn er das jetzt macht, dann ist er hinterher stolz auf sich. Wenn ich ihn anschreie: „Mach es!“ Eine Domina erniedrigt Menschen, so was würde ich nie tun.

Wann wird Sonja Zietlow weich?

Gestern habe ich die Wiederholung von „The Swan“ geguckt, und als sich dann die Kandidatinnen nach den Schönheitsoperationen das erste Mal im Spiegel gesehen haben, dachte ich: Gib dir nicht die Blöße und wein!

Aber das ist doch eine schreckliche Sendung.

Also, ich bin da völlig der Otto Normalzuschauer, ich mag das sehen. Die meisten sind hinterher glücklich oder auch nicht. Aber ich denke mir, die wissen schon, was sie machen. Die machen das freiwillig. Ich verstehe nicht, wenn die Kritiker sagen: Muß man nicht die Leute vor sich selbst schützen? Die Leute leben ja auch sonst und wählen unseren Bundeskanzler und arbeiten und so weiter. Warum soll ich denn einen erwachsenen Menschen vor sich selbst schützen, das wäre ja anmaßend! Und wer schützt mich vor den Menschen, die meinen Bundeskanzler wählen? Das wäre doch das gleiche, zu sagen: Du gehst jetzt mal lieber nicht wählen, denn du weißt nicht, was du da tust.

Das Besondere an der Dschungelshow war, daß man den beiden Moderatoren anmerkte, wieviel Spaß sie dabei hatten.

Ja, wir hatten Riesenspaß, zumal die Pointen von Autoren geschrieben wurden, die einen sehr feinen Sinn für Humor haben. Manchmal waren die Witze so gut, daß ich die Pointen erst in der Sendung verstanden habe, obwohl ich sie vorher schon zweimal in den Proben gelesen hatte.

Das würde allerdings die gute Laune in der Sendung erklären.

Genau, nach dem Motto: Ha ha ha, was hab‘ ich gerade gesagt!

Sie konnten auch ganz neue Seiten von sich zeigen.

Ja, jetzt heißt es, bei mir wären neue Talente entdeckt worden, ich könnte Leute und Stimmen nachmachen. Dabei konnte ich das schon immer.

Haben Sie aber nie gezeigt.

Doch, in der Talkshow habe ich häufiger gesächselt oder so. Da kann sich nur keiner mehr dran erinnern, weil ich zwischendurch einfach nur eine seriöse Quizshowmoderatorin war, weil es das Konzept so verlangt hat. Als ich „Deutschlands klügste Kinder“ gemacht habe, hieß es zwischendurch: Ich peitsche die Kinder da durch. Da denke ich auch: Puh. Ich muß denen halt Fragen stellen, was soll ich denn machen? Soll ich sie dabei in den Arm nehmen?

Na, Sie müßten ja so eine merkwürdige Show gar nicht machen.

Aber es war toll!

Jedenfalls zwingt Sie keiner, solche Rollen zu übernehmen.

Natürlich nicht. Aber mir machen unterschiedliche Sachen Spaß. Ich möchte jetzt auch nicht immer nur das Dschungelcamp moderieren. Ich bin halt jemand, der ein Breitbandinteresse hat. Und jetzt gibt’s Angebote, etwas zu machen, was ein bißchen ins Komödiantischere geht. Aber das ist noch nicht spruchreif.

In der ersten Staffel waren Sie noch nicht so mit Parodien und Dialekten aufgefallen. Sie sind jetzt mehr aus sich herausgegangen?

Ja, ich bin niemand, der sich – das hört sich jetzt komisch an – unbedingt so in den Vordergrund spielen will.

Hört sich wirklich komisch an.

Das mit den Parodien war eigentlich auch nicht vorgesehen für mich. Ich kann ja nicht sagen: Ich kann das aber toll, und nachher ist das gar nicht toll. Man weiß das ja selber nicht, ob man Leute nachmachen kann oder nicht. Das fing eigentlich mit dem Dustin Semmelrogge an, der Kandidat in der ersten Staffel war. Die Autoren hatten in der zweiten Staffel als Regieanweisung einmal geschrieben: „Dirk gibt uns den Semmelrogge.“ Und Dirk sagte: Ich kann das überhaupt nicht. Und dann habe ich das mal vorgemacht, wie Dustin immer war, so: „Hey“ und „Voll cool“. Dann hieß es: Ja, dann mach du das doch. Und dann hab‘ ick det irgendwann auch mal mit der Désirée so gemacht, das ergab sich einfach so, als ich erzählt habe, was passiert ist, und alle haben sich kaputtgelacht.

Und vorher wußte keiner, daß Sie dieses Talent haben?

Ich habe mit der Kindersendung „Bim Bam Bino“ angefangen. Da habe ich schon ein paar Stories geschrieben, und wenn man die mal rauskramen würde, würde man sehen: Da habe ich schon verschiedene Dialekte gesprochen, mich verkleidet, habe eine Türkin gespielt mit Kopftuch und „Muß isch putzen, war isch türkische Putzfrau“ . . .

Aber irgendwie hat es keinen interessiert.

Nein.

Aber jetzt, und jetzt machen Sie was draus.

Weiß ich nicht. Weiß ich wirklich nicht!

Aber wäre Ihnen das egal?

Ob man was draus macht oder nicht? Ja. Ich glaube, daß ich lustig sein kann. Ich glaube nicht, daß ich immer lustig bin auf Abruf. Und ich hätte Angst davor, immer lustig sein zu müssen.

Also werden Sie jetzt wieder langweilige Standard-Shows wegmoderieren? Mein Arbeitstitel für diesen Artikel lautete: „Warum ist sie sonst nicht so toll?“

Eine Anke Engelke war sehr lange relativ unkomisch im Fernsehbusineß, bevor sie in der „Wochenshow“ entdeckt wurde. Da wächst man ja auch erst mal rein. Und jetzt ist sie „die Komikerin“. Stellen Sie sich mal vor, die Leute würden sagen: Die Sonja ist immer so lustig, und dann moderiere ich demnächst eine Sendung, die einfach kein komödiantisches Talent fordert, und dann sagen alle: Och, jetzt war sie aber nicht lustig. Ich fände das schon bedrückend, immer komisch sein zu müssen.

Was für Shows würden Sie gerne moderieren?

Ich habe einen Exklusiv-Vertrag mit RTL. Ich bin schon immer RTL-Gucker und -Fan gewesen. Ich kann mir unheimlich viele unterschiedliche Sachen vorstellen. Nächstes Jahr kommt eine Sendung, da kann ich noch mal ein anderes Talent zeigen, wo alle nur gestaunt haben, was ich mich alles traue, was ich aushalte und mitmache. Das war auch toll.

Ihre Texte in der Dschungelshow schrieb Ihr Mann Jens Oliver Haas. Muß man mit der Moderatorin verheiratet sein, um so gute Texte zu schreiben? Muß man mit dem Autor verheiratet sein, um so flockig moderieren zu können?

Nee, muß man nicht. Mein Mann war schon, bevor er mich geheiratet hat, ein wunderbarer Autor. Ich habe ihn bei „Der Schwächste fliegt“ kennengelernt. Er war aber selber nie auf die Idee gekommen, mir lustige Texte zu schreiben. Weil er sagt, Comedy ist sehr schwierig, da gehört viel Timing dazu. Eigentlich war für die Dschungelshow auch geplant, daß Dirk Bach der Lustige ist und ich die Seriöse, die das Heft in der Hand hält. Ich moderiere, und er hat die Pointen. So war das in der ersten Staffel ja auch eher. Diesmal habe ich gesagt: Ich fänd’s ganz schön, wenn auch mal ein Lacher bei mir wäre . . . Und so haben wir uns das getraut und haben gesehen, hey, das geht ja auch.

Und jetzt schreibt Ihnen Ihr Mann eine Sitcom.

Neee. Aber so was wie improvisierte Comedy wollte ich schon immer mal machen. Ich würde gern wissen, ob ich so was auch könnte. Ich glaube, ich habe eine relativ gute Einschätzung von mir, was ich kann und was nicht. Wobei mein Mann sagte: Oh, das ist aber ganz schwer, nach dem Motto: Übernimm dich da mal nicht. Und vielleicht hat er recht.

Ein bißchen auf den Geschmack gekommen sind Sie also.

Ich habe schon vor zwei Jahren gesagt, RTL soll mich mal für Comedy-Sendungen casten, aber es kam halt noch keine. Was soll man machen.

Aber jetzt.

Weiß man nicht.

Doch, wenn die Leute diesen Artikel gelesen haben.

Hm. Mit der Überschrift „Warum ist sie sonst nicht toll“!?

Ist es nicht schwer, nach der Dschungelshow wieder eine ganz normale Show zu moderieren? Der Unterschied muß doch riesengroß sein.

Der ist auch riesengroß. Es gibt eigentlich keine Produktion, wo wir soviel ausprobieren konnten. Ab und zu haben wir uns auch über die Merchandising-Produkte lustig gemacht. Die CD zur Sendung haben wir beim ersten Mal ins Tischaquarium geworfen. Dann kam natürlich sofort von irgendwo ein Anruf: Das könnt ihr doch nicht machen! Und wir so: Na gut, machen wir nicht.

Das nächste Mal haben Sie die CD als Bumerang benutzt.

Und beim dritten Mal haben wir sie sogar in den Kuchen gesteckt. Zum Glück hatten wir einen entspannten Redakteur von RTL, der auch mal ein Auge zugedrückt hat. Es half sehr, daß die Sendung live war. Daß es keine Zeit gab, alles mit allen bis ins letzte Detail abzustimmen. Die Beschwerden kamen dann hinterher.

Als Sie die Leute aufriefen, Carsten Spengemann in die Dschungelprüfungen zu wählen.

Genau. Den haben wir da ja eigentlich reingetextet – auch um für mehr Abwechslung bei den Prüfungen zu sorgen. Das fanden nicht alle Verantwortlichen toll. „Das darf man nicht machen“, hieß es. Da haben wir gesagt: Okay . . .

Und statt dessen eine freundliche Empfehlung für Willi abgegeben.

Stimmt.

Das war fast ein Experiment: Stimmen die Zuschauer wirklich für jemanden, wenn zwei lustige Moderatoren ihnen das ans Herz legen?

Ja, in diesem Fall hat es sogar geklappt — das hat mir fast Angst gemacht. Aber die Zuschauer wissen eben auch, was gut ist.