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Ein Geschenk

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Es gibt ja, zugegeben, nicht viele peinliche Momente in der „Tagesschau“ und den „Tagesthemen“. Aber wenn es im weitesten Sinne um die eigenen Belange der ARD geht, kann man meist gar nicht schnell genug umschalten, bevor das Fremdschämen einsetzt. Fröhlich wird da die Senderlinie in Beiträge gegossen und den eigenen Intendanten unterwürfig das Mikrophon hingehalten.

Man muß diese lange ARD-Tradition kennen und auch das Unverständnis, mit dem viele Verantwortliche beobachten, daß das NDR-Medienmagazin „Zapp“ tatsächlich gelegentlich glaubt, Mißstände im eigenen Haus nicht ausblenden zu können, um die Ungeheuerlichkeit würdigen zu können, die sich am vergangenen Mittwoch im WDR abspielte. Anläßlich seines 50. Geburtstages hatte der Sender seine Talkshow „Hart aber fair“ dem Thema Fernsehen gewidmet. Es ging um Qualität und Quote, Gebühren und Schleichwerbung, und Jürgen Doetz, der Oberlobbyist der Privatsender, der sich von der ersten Minute an routiniert in den ARD-Programmdirektor Günter Struve verbissen hatte, hielt bald für eine Minute inne, um verblüfft festzustellen, daß die Beiträge die Themen ja wirklich korrekt und unvoreingenommen auf den Punkt brächten. Moderator Frank Plasberg und sein Team zerlegten nach allen Regeln der Kunst die Scheinheiligkeit Struves, um kurz danach Doetz ähnlich schonungslos zu demontieren. Die Filmbeiträge enthielten nicht nur Alibispitzen gegen die ARD, sondern legten die Finger in die Wunden: Kommerzialisierung, Marathon- und Doppel-Berichterstattung von Königsfeiern, Schleichwerbung, Volksmusikwahn.

In den Feiern zum 50. Geburtstag war dieses kleine Kunststück das schönste Geschenk, das der WDR sich und seinen Zuschauern machte. Bevor man die Sendung an Journalistenschulen und Fernsehpreisjurys verschickt, müßte man nur noch das Gespräch mit dem Berufswahnsinnigen Henryk M. Broder herausschneiden.

ARD und ZDF

Mit den Dritten sieht man besser. Junge Leute meiden ARD und ZDF, und es spricht wenig dafür, daß sich das ändert, wenn sie älter werden.

Nicht, daß seine vorzeitige Wiederwahl zum ZDF-Intendanten in Frage gestanden hätte. Aber sicherheitshalber hatte Markus Schächter in den Tagen zuvor in mehreren Pressegesprächen dezent auf seine Erfolge hingewiesen. Und so las man in vielen Artikeln den Hinweis, daß es das ZDF in diesem Jahr vermutlich (wenn auch ganz knapp) schaffen werde, Marktführer zu sein.

Feine Sache. Wirklich wichtig sind diese Zahlen nicht. Wirklich wichtig wäre es für das ZDF, ein paar junge Zuschauer zu gewinnen. Das gelang dem Sender unter Schächter weniger denn je: Bei den 14- bis 49jährigen hat das ZDF nicht einmal mehr halb so viele Zuschauer wie RTL und liegt nur noch knapp vor RTL 2 und Vox. Bei Zuschauern, die jünger als dreißig sind, schrumpft das ZDF auf die Größe eines Spartensenders und liegt nur auf Platz acht – weit abgeschlagen hinter Kabel 1 und der ARD.

An dieser Stelle könnte Herr Schächter nun ein paar wohlklingende Worte gegen den Jugendwahn unserer Gesellschaft sprechen. Und natürlich ist nichts daran verwerflich, wenn das ZDF, wie es gerade geschieht, seine Dominanz bei den Alten weiter ausbaut. Die Frage ist nur, wer den Sender in zwanzig, dreißig Jahren schauen wird, wenn ein Großteil derer, die heute das ZDF einschalten, nicht mehr lebt.

Es gibt eine Hoffnung, an die sich die alternden öffentlich-rechtlichen Sender klammern: Vielleicht verändert sich die Motivation zum Fernsehen mit dem Lebensalter der Menschen. Vielleicht werden die Dreißigjährigen, die heute RTL und Pro Sieben schauen, die Vorzüge von ARD und ZDF entdecken, wenn sie erst einmal ihre wilden Jahre hinter sich und eine Familie gegründet haben. Vielleicht kommen auch die Jungen von heute irgendwann in das Alter, in dem sie erkennen, daß Fernsehen mehr sein kann als „Deutschland sucht den Superstar“. Dann wäre die Vergreisung für ARD und ZDF kein wachsendes Problem: Auch bei zukünftigen Generationen würden die Älteren öffentlich-rechtliche Programme schauen und die Jüngeren Private.

Leider gibt es auch die gegenteilige These. Was, wenn nicht das Lebensalter über den Fernsehkonsum entscheidet, sondern die Generationenzugehörigkeit? Wenn Menschen, die mit „RTL aktuell“ groß geworden sind, auch im Alter von vierzig, sechzig und achtzig Jahren die „Tagesschau“ verschmähen? Wenn sich herausstellt, daß manche Menschen nie des Ulrich-Meyer-Empörungsjournalismus überdrüssig werden und die Reife entwickeln, sich endlich gepflegt von „Monitor“ informieren zu lassen?

Die ARD wollte es endlich genauer wissen. Ihr oberster Medienforscher Camille Zubayr hat versucht, aus der Entwicklung der Quoten in den vergangenen zwanzig Jahren Prognosen über das zukünftige Zuschauerverhalten abzuleiten. Ein bißchen sei er sich dabei vorgekommen wie ein Klimaforscher, sagt er: Wirklich verläßliche Aussagen über die Zukunft ließen sich nicht treffen, aber alles spreche dafür, daß man jetzt handeln müsse, weil es in ein paar Jahren zum Reagieren zu spät sei.

Zubayr fand Belege für beide gegensätzlichen Effekte: Wenn die Menschen älter werden, ändert sich ihr Fernsehverhalten – hin zu ARD und ZDF. Andererseits bleiben sie dem treu, was sie bisher gesehen haben – die Dreißigjährigen von heute werden auch als Fünfzigjährige noch lieber RTL und Sat.1 schauen. Das ist auch nicht erstaunlich: „Die Angehörigen etwa der sogenannten ,Generation Golf‘ teilen viele Lebensentwürfe und Meinungen und legen die nicht einfach ab, wenn sie älter werden“, sagt Zubayr.

Das beunruhigende Ergebnis seiner Studie ist für ARD und ZDF, daß offenbar der Generationeneffekt sehr viel stärker ist als der Alterseffekt. Die zu erwartenden Zuschauerverluste werden nicht einmal annähernd durch die zu erwartenden Zuschauergewinne ausgeglichen. Wenn das stimmt, ergibt sich ein düsteres Bild für die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen. Für die nächste Zuschauergeneration läßt sich prognostizieren, daß die ARD selbst bei den Zuschauern, die sie am meisten einschalten, den Über-65jährigen, dann nur noch auf knapp zehn Prozent Marktanteil kommt. In der übernächsten Generation könnte die ARD ein Kleinstsender sein. Beim ZDF sieht es vermutlich noch düsterer aus – die Neigung der jüngeren Generationen, den Sender einzuschalten, ist noch geringer.

Verkompliziert wird die Lage dadurch, daß sich das wachsende Problem im Gesamtmarktanteil, den nicht nur Schächter so stolz errechnen läßt, vorläufig nicht bemerkbar macht: Dadurch, daß die älteren Menschen viel mehr Fernsehen schauen als jüngere, prägen sie den Durchschnittswert besonders stark. Und ein Mann, der heute fünfzig ist, kann damit rechnen, 86 Jahre alt zu werden. Eine gleichaltrige Frau hat sogar eine Lebenserwartung von noch vier Jahrzehnten. Die heute Über-Fünfzigjährigen werden in zehn Jahren (dann als Über-Sechzigjährige) immer noch vierzig Prozent des gesamten Fernsehkonsums ausmachen. Diese treuen ARD- und ZDF-Zuschauer prägen also noch lange die Statistik und überdecken das fortschreitende Fehlen jüngerer Generationen.

Erkennbar wird die Schieflage allerdings schon heute am Durchschnittsalter vieler öffentlich-rechtlicher Sendungen. Der ARD-„Presseclub“ am Sonntagmittag zum Beispiel hat zwar regelmäßig sehr anständige eineinhalb Millionen Zuschauer – die jedoch im Schnitt fast siebzig Jahre alt sind.

Zubayrs Prognosen sind nicht unumstritten. Aber auch wenn man das Szenario für realistisch hält, liegen die Konsequenzen, die man daraus zieht, keineswegs auf der Hand. „Ab wann und in welchem Ausmaß muß sich das Programm ändern?“ lautet die Kernfrage nach Meinung des Medienforschers. Er würde zum Beispiel nicht dazu raten, auf Volksmusik-Sendungen zu verzichten, nur weil die jungen Leute vor ihnen in Scharen flüchten. Wichtig sei es, „Inseln“ im Programm zu schaffen, die auch junge Leute einschalten, die die ARD sonst überhaupt nicht sehen – denn realistischerweise wird ein Zuschauer, wenn er älter wird, nur zu einem Programm wechseln, das er vorher überhaupt als Angebot wahrgenommen hat. Vor allem das ZDF scheint für viele junge Leute aber nicht einmal mehr als Programmalternative wahrgenommen zu werden.

Der gutgemeinte Versuch, gegenzusteuern, führt zu einigen erstaunlichen Reaktionen. So ließ das ZDF im Bemühen, seine Marke jüngeren Zuschauern ins Bewußtsein zu bringen, die halbe Republik mit Fotos der kolumbianischen Popsängerin Shakira (und dem ZDF-Logo) zuplakatieren – eine scheinbar absurde Investition angesichts einer einzigen Konzert-Übertragung nachts ab 0.30 Uhr. Auch die Ausstrahlung von „Bravo TV“ im ZDF stellt den Versuch dar, eine solche Insel zu schaffen – er wurde vergangenes Jahr nach zwei weitgehend erfolglosen Jahren abgebrochen.

Auch die Strategie der ARD, in ihrem Werberahmenprogramm am Vorabend zu großen Teilen auf junge Zuschauer zu setzen, ist nicht frei von Rückschlägen. Theoretisch schien es eine so gute Idee zu sein, eine Serie rund um Yvonne Catterfeld zu bauen (und auch diese in außerordentlichem Maße zu bewerben). Catterfeld begann ihre Karriere als Star in der RTL-Seifenoper „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, und eigentlich hätte man sich vorstellen können, daß sie viele ihrer jungen Privatfernsehfans mit zur ARD ziehen könnte. Tatsächlich sind die Quoten mit einstelligen Marktanteilen bei den jungen Zuschauern „ernüchternd“, wie es Camille Zubayr formuliert. Und die älteren gucken „Sophie – Braut wider Willen“ auch nicht mit größerem Interesse. Die tägliche Serie läuft nur noch bis Anfang Februar.

Das ist das größte Risiko für ARD und ZDF: mit ihren Verjüngungsversuchen nicht nur die Jungen nicht zu gewinnen, sondern auch die Alten zu verschrecken. Und der Fernsehkonsum individualisiert sich – das große Familienprogramm, das sich alle Generationen gemeinsam ansehen, gibt es jenseits von „Wetten, daß…“ und „Wer wird Millionär?“ praktisch nicht mehr.

Wenn ARD und ZDF auch in Zukunft große Marken sein wollen, werden sie Strategien entwickeln müssen, die nicht nur über den Tag, sondern auch das Jahr hinausschauen. Markus Schächter hat immerhin nach der Wahl zum ZDF-Intendanten bis 2012 davon gesprochen, das Problem der fehlenden jungen Zuschauer jetzt verstärkt angehen zu wollen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

K11

Fernsehen für Menschen, die lieber bügeln. Mehr Redundanz wagen: Der unheimliche Erfolg der pseudodokumentarischen Serien “K11” und “Lenßen & Partner”

Es gibt „Tatort“-Folgen, die sind so dicht und komplex konstruiert, daß es reicht, einmal für zwei Minuten auf die Toilette gegangen zu sein, um die ganze Geschichte nicht zu verstehen. Na und? Es gibt Folgen von „Lenßen & Partner“, die sind so überschaubar gebaut, daß es reicht, zwei Minuten vor Schluß einzuschalten, um den ganzen Fall zu verstehen und nichts Wesentliches verpaßt zu haben.

Eine ganze Ausgabe von „Lenßen & Partner“ zu sehen lohnt sich eigentlich nur, wenn man nebenbei den Abwasch erledigt, telefoniert und versucht, Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie zu verstehen. Alles andere wäre Verschwendung. Diese Krimiserie ist für ein Publikum gemacht, das nur mit einem halben Ohr hinhört. Wir sehen eine junge Frau mit einer blutigen Kopfwunde auf der Straße liegen und fragen uns, ob sie nur gestürzt ist oder zusammengeschlagen wurde. Der Sprecher sagt aus dem Off: „Die junge Frau hat eine blutige Kopfverletzung. Ist sie unglücklich gestürzt oder brutal niedergeschlagen worden?“ Und schon beugt sich Ingo Lenßen über die Frau und sagt: „Sie bluten ja. Sind Sie gestürzt? Oder hat Sie jemand zusammengeschlagen?“

Es wäre falsch, deshalb die Zuschauer von „Lenßen & Partner“ für blöd zu halten. Sie haben halt Besseres zu tun, als auf den Fernseher zu achten, nur weil der gerade läuft. Das Bahnbrechende an der Serie ist, daß sie sich in einem nie gekannten Maß auf diese Fernsehhaltung eingestellt hat. Natürlich weiß jeder aufmerksame Zuschauer, daß der Detektiv jetzt eine Kamera vor der Wohnung installiert, um herauszufinden, ob sich darin ein Bordell befindet (und das nicht nur, weil er es vor drei Sekunden seiner Kollegin erklärt hat). Aber für unaufmerksame Zuschauer sagt der Off-Sprecher sicherheitshalber: „Betreibt der Mann in der Wohnung ein Bordell? Die Ermittler erhoffen sich, über eine Kamera Klarheit zu bekommen.“ Im Zweifel funktioniert die Fernsehserie problemlos auch als Hörspiel.

„Lenßen & Partner“ hat ein neues Fernsehgenre begründet. Erfunden wurde es von der Firma Constantin Entertainment, die sich als Produzent billiger Gerichtsshows einen Namen gemacht hatte und ahnte, daß man ihr hochwertige Serien nicht unbedingt abkaufen würde. Also holte sie statt dessen das Prinzip, echte Protagonisten in sehr abwegigen Geschichten, umgeben von hundsmiserablen Laiendarstellern, sich selbst spielen zu lassen, aus dem Gerichtssaal. Ingo Lenßen, ein echter Anwalt, der bislang als Verteidiger bei Fernsehrichterin Barbara Salesch aufgetreten war, eröffnete im Fernsehen eine Detektei und sucht seither nach entlaufenen Ehemännern, betrügerischen Huren, den Grenzen des guten Geschmacks und dem endgültigen Gegenteil von „Hochglanz“.

Und die Constantin stellte fest, daß billigste Herstellungsweisen einen Reiz darstellen können: Die verwackelten Bilder der Videokameras vermitteln ebenso wie der – wohlwollend formuliert – Verzicht auf Perfektion beim Aufsagen der Texte und beim Darstellen der Rollen ein Gefühl von Authentizität.

„Scripted reality“ nennen die Programmacher das pseudodokumentarische Genre, und das Verblüffende ist: Es macht nicht nur einen kostenfixierten Privatsender glücklich, sondern auch die Zuschauer. Neben „Lenßen & Partner“ um 18 Uhr laufen auf Sat.1 täglich „Niedrig & Kuhnt“ (17 Uhr) und „K11 – Kommissare ermitteln“ (19.45 Uhr). Daß Sat.1 seine größten Sorgen los ist, liegt weniger an Prestigeprojekten als an diesen Discount-Produkten: „Niedrig & Kuhnt“ hat sagenhafte Marktanteile von zwanzig Prozent in der Zielgruppe; „K11“ ist mit weit über vier Millionen Zuschauern oft die meistgesehene Sat.1-Sendung. Ein Exportschlager ist das Format auch: Nach Polen, China und Rußland hat es der Sender schon verkauft.

Die einfachste Erklärung für den Erfolg wäre natürlich, daß die Menschen regelmäßig vor dem Bildschirm erstarren, fassungslos angesichts des darstellerischen und erzählerischen Grauens. Aber so einfach ist es wohl nicht. Constantin-Chef Ulrich Brock sagt, es liege nicht zuletzt daran, daß die Polizistendarsteller in „K11“ echte Polizisten seien: „Die Zuschauer erleben die Hauptfiguren als überzeugend und authentisch, nicht als Schauspieler. Sie agieren aus der Kompetenz des Echten. Die Fälle haben alle etwas mit der Realität zu tun, sie sind der Realität entliehen.“ Brock räumt ein: „Nicht alle Geschichten sind plausibel und logisch bis ins letzte Detail.“ Aber gerade manche besonders absurden Fälle seien ähnlich passiert. Es zählt nicht die innere Logik, und ob der Schluß einer Geschichte mit dem Anfang zusammenpaßt, gilt als zweitrangig – Hauptsache, es gibt ein paar schöne Überraschungseffekte zwischendrin.

„K11“ hat etwas Holographisches. Auch im kleinsten Teil findet sich das Ganze wieder. In jeder Szene wird das bisher Geschehene zusammengefaßt. Bei „K11“ fragt niemand: „Wo waren Sie gestern abend?“ Ein „K11“-Verhör geht so: „Herr Meyer, Sie haben Frau Müller, die Tote, mit der Sie ein Verhältnis hatten, ja als letzter lebend gesehen. Wo waren Sie gestern abend, also zu dem Zeitpunkt, als sie ermordet wurde?“ Das Ermitteln ist nur eine Nebentätigkeit der Kommissare; vor allem sind sie damit beschäftigt, das Gesagte zu wiederholen und zu erklären. Wenn eine Frau sagt: „Ich bin nämlich mit Peter zusammen“, erwidern sie: „Ach so, der Geschäftspartner des Toten ist Ihr Freund?“ Wenn sie einen Zettel finden: „Wir treffen uns in der Fabrik“, sagen sie: „In der Fabrik, also am Tatort.“ Und wenn sie einen Laptop entdecken, auf dem eine Internetseite mit dem Wort „Chatroom“ zu sehen ist, müssen sie noch sagen: „Hm, sein Laptop ist ja noch hochgefahren. Hier, da ist noch eine Internetseite eingeloggt. Das ganze scheint über Chatrooms abzulaufen. Die Leute geben sich einen Nickname und können sich verabreden.“ Selbst auf die Verdächtigen färbt das mitunter ab, die auf die Frage: „Wo waren Sie um 19 Uhr“ dann erwidern: „Um sieben?“

Für einen Konkurrenten von Sat.1 hat das Kölner Institut Rheingold das Phänomen „Lenßen & Partner“ untersucht und festgestellt, daß ein wesentlicher Teil des Erfolgs gerade damit zusammenhängt, daß es so „trashig“ ist. „Auch regelmäßige Zuschauer dieser Sendungen haben eine diebische Freude, sie als schlecht zu kritisieren“, sagt der Psychologe und Medienforscher Frank Szymkowiak. „Denen ist klar, daß das nur eine Pseudoauthentizität ist und daß die Fälle an den Haaren herbeigezogen sind.“ (Besonders mag er die Folge, in der eine Frau mit gespaltener Persönlichkeit als Prostituierte arbeitet, dabei auf ihren Ehemann als Kunden trifft und danach den Verdacht nicht los wird, daß er sie mit sich selbst betrügt. Oder so ähnlich.)

In fast allen Fällen tun sich hinter kleinbürgerlichen Fassaden Abgründe auf. „Es geht um sehr schmuddelige, unsaubere Verhältnisse“, sagt Szymkowiak. „Wenn man sich da als Zuschauer wirklich involvieren würde, müßte man sich ekeln und entrüsten.“ Doch das verhindert die billige Gesamtanmutung, die gebrochene Dramatisierung – kurz: die Tatsache, daß es sich erkennbar um Trash handelt. „Auf diese Art kann man mit der Nase tief in den größten Schmuddel hinein, ohne sich selbst schmutzig zu machen.“ Ingo Lenßen sei mit seinem akkuraten Zwirbelbart das beste Symbol dafür: Selbst nach einer Entführung und Flucht war er nicht schmutzig. „Wasch mich, aber mach mich nicht naß“ – dieses Kunststück schafft auch das Publikum. „Die Geschichten gehen spurlos an dem Zuschauer vorüber; er wird nicht gepackt oder angerührt.“ Gerade am Vorabend sei das genau die Funktion, die das Fernsehen für viele erfüllen soll.

Ein guter „Tatort“ zwingt die Zuschauer, sich zu dem Geschehen zu verhalten. Eine gut funktionierende Scripted-Reality-Folge schafft es, sie auf Distanz zu halten. „Alle eventuellen Ambivalenzen werden spätestens durch den Off-Sprecher geglättet“, sagt Szymkowiak. Noch bevor die Zuschauer sich entscheiden müßten, ob sie das in Ordnung finden, was zwei da miteinander treiben, beschreibt der das Geschehen schon als „perverse Sexspiele“. Und vollkommen wird das Gefühl, daß alles klar und nichts offen ist, dadurch, daß alle Formate mit dem Verlesen der Urteile und Schicksale enden; Menschen, die schuldig, aber nicht straffällig geworden sind, bringen sich gerne um.

Szymkowiak rät davon ab, die Geschichten hochwertiger zu produzieren (nicht daß die Gefahr wirklich bestünde), und er glaubt nicht, daß sie in der Hauptsendezeit funktionieren könnten, in der das Zuschauerverhalten ein anderes ist. Aber vielleicht ändert sich das auch gerade. Ulli Brock sagt: „Der nächste Schritt ist es, das Genre aus den Kinderschuhen herauszuführen und in der Prime-Time auszuprobieren. Die Zeit ist jetzt reif dafür.“ Im übrigen wartet er darauf, daß die günstigen, aber vergleichsweise teuren Telenovelas an ihre Grenzen stoßen, um dann in die Lücke zu stoßen: „Dieses Gefäß, das wir entwickelt haben, das schnelle Produktionen ohne großen Aufwand mit dem notwendigen authentischen Look erlaubt, läßt sich auch mit anderen Inhalten füllen – es müssen nicht unbedingt Detektiv-, sondern können auch Liebesgeschichten sein. Wir sind überzeugt, daß es mehr solcher Sendungen geben wird.“

Große Gefühle im Fernsehen sehen dann so aus wie am Ende von „K11“. Vor der Werbepause sagt der Sprecher: „Wird die minderjährige Tochter die traumatischen Erlebnisse verkraften?“ Hinterher sagt er: „Das Opfer hat die Tat nicht verkraftet und befindet sich in psychiatrischer Therapie.“ Und die Schauspielerin kommt nicht mal mehr ins Bild.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

„Sophie“

Das Mädchen mit den Schokowaffeln. Yvonne Catterfeld trüge gern mal einen Kartoffelsack: “Sophie – Braut wider Willen”

Man hat sich das ja immer schon gefragt, was diese Lindt-Herren mit ihren gestärkten weißen Mützen und Kitteln eigentlich machen, wenn sie abends oder sonntags einmal kurz den endlosen Rührprozeß unterbrechen, mit dem sie unsere Schokoladen herstellen. Wohin die edlen Ritter reiten, wenn sie genügend Brennholz gesammelt haben, damit das schöne Hanuta-Mädchen ihre Nußwaffel-Täfelchen weiter von Hand für uns backen kann. Und wie die Landliebe-Sennerin nach getaner Butterproduktion ihre Abende in den Alpen verbringt. Denn daß alle diese Menschen, die im Werbefernsehen liebevoll Lebensmittel für uns veredeln, tatsächlich unter uns sind, daß man sie abends in der Kneipe treffen könnte oder morgens in der S-Bahn auf dem Weg zu ihren Back-, Rühr- und Puppenstuben, war immer schon sehr unwahrscheinlich.

Von heute an erfahren wir endlich, daß auch für die Hanuta-Mädchen das Leben kein Zuckerschlecken ist. Daß das nicht immer so reibungslos klappt mit ihnen und den Rittern. Und daß es böse Menschen gibt, die ihnen ihre kleine Waffelproduktion neiden. Denn auch wenn die ARD behauptet, daß ihre neue Serie „Sophie – Braut wider Willen“ im ausgehenden 19. Jahrhundert spielt, lebt Sophie doch eigentlich in einer Welt, die uns viel vertrauter ist: in diesem fiktiven Früher der Werbefernsehfiktion, in der es noch echte Märkte, urige Wohnstuben und ehrliches Handwerk gibt, in der die Kleider seidig sind, die Gesichter makellos und die Gefühle rein. Und bei aller behaupteten Liebe zum historischen Detail fehlt auf den herrschaftlichen Tischen im Gutshof von Ahlen doch eigentlich der Teller mit den Rocher-Kugeln, um das Szenenbild wirklich authentisch zu machen.

Die Szenen sind fast komplett in edles Königsblau und warmes Gold getaucht; es ist eine seriengewordene Pralinenpackung. Das perfekte Porzellangesicht von Yvonne Catterfeld strahlt inmitten dieser Puppenhausszenerie, die manchmal jemand zu schütteln scheint, und dann geraten zwar die Leben der kleinen Figuren heftig durcheinander, aber dafür schneit es auch in dicken, großen, falschen Flocken.

Keine zehn Minuten dauert es, bis Sophie, die junge Gräfin, zum ersten Mal Max, den einfachen Schneidersohn, sieht. Es ist, natürlich, Liebe auf den ersten Blick – einen ersten Blick, der nicht enden will, während die Streicher einen spannungsreichen Ton in die Ewigkeit dehnen und das Klavier perlt, und alle wissen, daß beide nun nicht mehr voneinander lassen können, egal was ihre standesbewußte Umgebung sagt, egal welche Prüfungen und Umwege das Schicksal ihnen auferlegen wird, egal ob der Weg zum Glück dreißig Folgen lang sein wird oder (wenn die Quoten stimmen) hundertzwanzig.

Sie trifft ihn auf einer Bauernhochzeit in der Gastwirtschaft, ein Ort, an dem sie als Gräfin natürlich überhaupt nichts zu suchen hat, in den sie sich aber geschlichen hat, weil ihr eigenes reiches Leben so leer und langweilig ist im Vergleich zu dem Spaß, den die Dienstboten haben. „Sag mal, wird da heute abend auch getanzt?“ fragt Sophie, und ihre Zofe Rike antwortet: „Jaja, auch auf den Tischen. Was wäre das sonst für eine Hochzeit?“ Und Sissi, nein: Sophie schnappt sich den kleinen Bruder von Rike, dem sie gerade freundlicherweise einen Saft vom Markt mitgebracht hat gegen seinen bösen Husten, und tanzt mit ihm schon mal, heißa, probeweise durch die Küche. „Aber du bist die Gräfin von Ahlen“, wendet Rike noch ein, und Sophie sagt: „Kein Mensch wird mich erkennen.“ Und Rike sagt: „Selbst in einem Kartoffelsack siehst du noch aus wie eine Gräfin“, und der Zuschauer sagt: „Hach!“, und die Kartoffelsäcke dieser Welt sagen: „Was würden wir darum geben, einmal von Yvonne Catterfeld getragen zu werden.“

So perfekt zerbrechlich und trotzig und lebenshungrig und verzweifelt spielt Yvonne Catterfeld die Sophie, als hätte sie die letzten Jahre nur deshalb in den Seifenopern und den Charts verbracht, um heute diese Rolle geben zu dürfen. Es scheint, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht, als den Kopf effektvoll zur Kamera zu drehen, wie sie es gleich im Vorspann zweimal machen darf, einmal trotzig und einmal schmachtend. Und während sich alle um sie herum mit ihren großen Koteletten und wallenden Kleidern steif und fremd in dieser künstlichen Welt bewegen, die in jeder einzelnen Sekunde nach einem Fernsehstudio aussieht, wirkt Catterfeld, als sei das ihr natürlicher Lebensraum. (Allerdings ist schwer zu sagen, ob das dieses Vorabendmärchen als einziges erträglich oder vollends unerträglich macht.)

Die ARD meidet den Begriff „Telenovela“ für ihre neue „Vorabendserie im historischen Gewand“. Vielleicht liegt das daran, daß der gerade erst ausgerufene Trend der nächsten Jahre schon ein wenig schwächelt: Nach dem großen Erfolg von „Bianca – Wege zum Glück“ (ZDF) und „Verliebt in Berlin“ (Sat.1) kommen die deutschen Telenovelas drei („Julia“, ZDF) und vier („Sturm der Liebe“, ARD) beim jungen Publikum längst nicht mehr so gut an. Und von „Sturm der Liebe“, das die Qualitätsgrenzen des neuentdeckten Genres nach unten auslotet, trennen den Edelkitsch von „Sophie“ tatsächlich Welten.

Wer mag, kann in „Sophie“ auch Parallelen zu unserer Zeit finden. Wie große Ausrufezeichen stehen Sätze wie der von Sophies Vater in der Gegend herum, der über einen konkurrierenden Geschäftsmann sagt: „Er gehört zu denen, die wie eine Heuschreckenplage in das Land einfallen und sich ohne Rücksicht nehmen, was sie wollen. Mag sein, daß ich altmodisch bin, aber es geht mir um mehr als Geld in meinem Leben.“ Eigentlich aber funktioniert „Sophie“ ganz gut ohne Ton. Besser sogar, so muß man den Besitzer eines Weingutes nicht mit sorgenvollem Blick aus dem Fenster Sätze sagen hören wie: „Manchmal wünschte ich mir ein Geschäft, das weniger wetterabhängig ist.“ Aber sicher kommt spätestens morgen eine Frau vorbei, die die Qualität seiner Piemontkirschen prüft und mit ihm im güldenen Abendlicht die ersten Byzantiner Königsnüsse probiert, und dann wird auch für ihn alles gut.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Vom Glück, Jacky Dreksler zu sein

Der erfahrene Comedy-Produzent hat es sich in den Kopf gesetzt, wieder eine komische Sendung zu machen.

Man muß den Zinnober erlebt haben, den Fernsehsender sonst veranstalten, wenn sie sichergehen wollen, daß die Presse ein neues Programm zur Kenntnis nimmt, die abgefahrenen Locations, die PR-Show, die Luxus-Schnittchen, um die Geräuschlosigkeit würdigen zu können, mit der RTL das Konzept von „Samstag Nacht“ wiederbelebt hat. Kein Event, keine Pressekonferenz, keine Hochglanzmappe. Es ist einfach wieder da, schon seit drei Wochen, und heißt diesmal „Comedy Nacht“. Und weil das so ungewöhnlich ist, dieses sachte Pffft statt des großen Kawong, könnte man auf den Gedanken kommen, daß RTL nicht an das Konzept glaubt.

Wahrscheinlicher ist das Gegenteil: Der Sender hat erkannt, daß es diesem Format ganz gut tut, langsam entdeckt statt schnell verkauft zu werden, und daß es den jungen Komikern nicht hilft, gleich mit großen Worten aufs Podest gestellt zu werden.

Jedenfalls scheint alles viel schwieriger als 1993, als RTL zum ersten Mal jungen, unbekannten Menschen die Gelegenheit gab, sich in einem Randbereich seines Programmes auszuprobieren. Es war viel mehr Geld da, RTL war noch der ungestüme Angreifer und nicht der bräsige Titelverteidiger, und es gab noch keine frühere deutsche Version der legendären amerikanischen Talentschmiede „Saturday Night Live“, mit der man alles vergleichen konnte. „Das sind die Schatten der Vergangenheit: eine Folge von ‚RTL Comedy Nacht‘ wird mit dem Besten aus fünf Jahren ‚RTL Samstag Nacht‘ verglichen werden“, sagt Jacky Dreksler, der als Produzent hinter beiden Sendungen steht. Es sind tödliche Vergleiche mit den grimmepreisgekrönten Auftritten von Olli Dittrich und Wigald Boning in „Zwei Stühle – eine Meinung“, mit dem absurdesten Slapstickklamauk von Mirco Nontschew, mit „Kentucky schreit ficken“, „Margarethe Schreinemakers ihre Schwester“ oder dem ewig sterbenden Karl Ranseier.

An den langen Weg dahin erinnert sich natürlich niemand mehr. Der RTL-Pressemann hat extra die Quoten von damals mitgebracht, um zu zeigen, wie mühsam er war. Und Dreksler droht, die ersten Sendungen von „Samstag Nacht“ aus dem Archiv zu holen. Zur Abschreckung. Dann erzählt er, wie er Esther Schweins entdeckte, die die Kandidaten bei einer kleinen Gameshow betreute, eigentlich Schauspielerin werden wollte und auf gar keinen Fall Komikerin und vor allem gut aussah, und wie er die anderen auf irgendwelchen Geburtstagen oder über gemeinsame Freunde kennenlernte und sie vor allem auflas, weil sie irgendwie wahnsinnig waren. Und plötzlich wirkt „Samstag Nacht“ rückblickend nicht mehr wie ein Geniestreich, sondern wie ein grandios glücklicher Zufall.

Dreksler behauptet natürlich, daß der Zufall Methode hat. Als er jetzt wieder für die „Comedy Nacht“ nach Talenten suchte, wählte er nicht unbedingt Schauspieler oder Komiker. „Ich möchte einfach Charaktere haben, ungewöhnliche Menschen.“ Von „Großen Versprechungen in der Luft“ spricht er, halb im Scherz, und, sehr im Ernst, davon daß Menschen plötzlich ganz neue Talente an sich entdecken, wenn man sie einfach machen läßt. Ausdauer und Freiheit braucht es dafür.

Am Ende ist „Samstag Nacht“ für fast alle ein Sprungbrett geworden, für Esther Schweins sogar doch noch in die ernste Schauspielerei. Kein Wunder, sagt Dreksler, „das Schwierigste haben sie ja gepackt: Das Komische zu spielen.“

Der 59jährige scheint ein beneidenswerter Mensch zu sein. Als er 1990 seine eigene Firma gründete, nannte er sie Pacific Productions – weil der Plan war, damit genug Geld zu verdienen, um sich und seiner Frau einen entspannten verlängerten Lebensabend in der Südsee zu ermöglichen. Und wenn man ihm sagt, daß der Plan ja offensichtlich nicht aufgegangen ist, sonst hätte er die Firma ja nicht gerade nach sieben Jahren Pause reaktiviert, dann lächelt er nur wissend.

Sein Lebenswerk ist gleichermaßen eindrucksvoll wie abschreckend. An vielen Dutzend Sendungen war er in den achtziger und neunziger Jahren als Autor oder Moderatoren-Coach beteiligt, Shows wie „Bananas“, „Volkstümliche Hitparade“, „Vier gegen Willy“ und „Alles nichts oder“ und zu Recht vergessene Sendungen wie „Tele-As“ und „Bistro Bistro“. Er erfand „Schreinemakers live“ und produzierte mit Hugo Egon Balder 150 Folgen von „RTL Samstag Nacht“. Nach dessen Ende, das ein bißchen später kam, als gut gewesen wäre, und einigen gescheiterten Versuchen mit ähnlichen Formaten verabschiedete er sich 1998 vom Fernsehen, um sich seiner Familie zu widmen und zu lesen („Lieblingsthemen: Erkenntnistheorie, Sozialpsychologie und Evolutionsbiologie“).

Irgendwann sei er aus der „Festung des Nichtstuns“ wieder aufgetaucht, weil ihm aufgefallen sei, daß ihn seine kleine Tochter noch nie arbeiten gesehen habe. Da paßte es gut, daß RTL merkte, wie groß das Humordefizit inzwischen geworden war, und sich entschied, das nicht durch den Ankauf von Stars zu lösen, sondern durch die Talentpflege – und also durch die „Comedy Nacht“.

Er ist der Meister der sinnlosen Unterhaltung, die nichts weiter will, als lustig sein, und was ihn von anderen Produzenten unterscheidet, sind nicht nur die Erfahrung und der unbedingte Wille zum Spaß bei der Arbeit („Der Hauptzweck dieser Sendung ist es, Jacky Dreksler glücklich zu machen“), sondern auch seine Unabhängigkeit. Er könne Aikido, sagt Dreksler grinsend: die Kunst, Druck von außen gegen den Angreifer selbst zu richten. Er ist das Gegenteil der marktforschungsgläubigen Auf-Nummer-Sicher-Geher und sagt, er liebe den Sprung ins Unbekannte, „im Vertrauen darauf, daß uns im Fallen Flügel wachsen“.

Gut, dafür ist es wichtig, daß der freie Fall nicht zu früh durch den Aufprall gebremst wird, und die ersten Quoten lassen ahnen, daß die Geduld von RTL ernsthaft getestet wird. Sehr viel Ausschuß ist noch in den Shows, auch unglaublich lange und überflüssige Auftritte von Comedy-Gaststars. Aber zwischendurch gibt es in den Fernseh- und Werbeparodien, Sketchen und Stand-ups schon ein bißchen was zu entdecken: Die Duette von Carolin Kebekus und Rüdiger Brans zum Beispiel, das traurige Gesicht und die Mini-Cartoons von Attik Kargar oder die Stimmenvielfalt von Jürgen Bangert. Die Dokureihe über die Society-Ladies „Pute und Schnute Pohofen“ darf seit der zweiten Folge aus naheliegenden Gründen nicht mehr so heißen, aber zum Glück kann man an den Schlauchbootlippen auch so gut erkennen, wer gemeint ist.

Und selbst wenn sich herausstellen sollte, daß sich diese Art von Nummernrevue überlebt hat: Jacky Dreksler ist wieder da. Und wenn man ihn läßt, wird er noch eine Menge albernen Unsinn auf den Bildschirm bringen, von dem ein kleiner Prozentsatz dann Jahre später als „wegweisend“, „Kult“ oder „Talentschmiede“ bezeichnet werden wird.

LiebesLeben

Diese Serie hat eine Seele. So sind sie, die jungen, modernen Großstadtmenschen: „LiebesLeben“ bei Sat.1.

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„Kannst du dir zum Beispiel vorstellen“, fragt die liierte junge Frau in Torschlußpanik kurz vor dem drohenden Heiratsantrag ihre beste Freundin, „von jetzt an bis ans Ende deines Lebens nur noch Sex mit einem einzigen Partner zu haben?“ Und die partnerlose Freundin antwortet: „Sex, ja, das wär toll.“

So sind sie, die jungen, modernen Großstadtmenschen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und wie es ist, ist es verkehrt.

Auf der nach oben offenen Weltproblemskala sind die Sorgen dieser jungen, modernen Großstadtmenschen in einem kaum meßbaren Bereich. Aber es sind ihre Sorgen, und das macht sie zu den wichtigsten der Welt. Sicher, Malte könnte froh sein, so wie er aussieht und die Frauen auf ihn fliegen. Und Caren und Björn, als junges Paar, das gerade zusammengezogen ist. Und Edwin hat ja seine süße Tochter, die „Prinzessin“, die ihn bedingungslos liebt. Und Verena ist Paketfahrerin von Beruf, da klingelt sie täglich bei so vielen fremden Männern an der Tür, da muß doch irgendwann der richtige dabeisein.

Andererseits hat es Malte so satt, daß diese attraktiven jungen Dinger sich ihm alle vor die Füße werfen und nur auf sein Äußeres abfahren, wo er sich doch eigentlich nur wünscht, daß ihm seine Ex-Freundin noch eine letzte Chance geben würde (leider weiß genau die am besten, daß der Sex mit ihm gut funktioniert, sonst aber auch nichts). Caren und Björn merken, daß das mit dem Zusammenziehen zwar theoretisch eine gute Idee war, aber die ganzen Unterschiede zwischen den beiden, die vorher so spannend schienen, sich dadurch plötzlich in echte Beziehungskiller verwandeln. Edwin leidet wie ein Hund, daß die Frauen dauernd auf seinen Kumpel Malte abfahren und nie auf ihn, und fragt sich, ob es dem Pech nicht irgendwann langweilig wird, immer nur ihn zu verfolgen. Und Verena hängt sich so verkrampft an jede nur halbwegs aussichtsreich erscheinende Beziehung, daß sie jeden Bewerber schon dadurch in die Flucht schlägt.

„LiebesLeben“ erzählt die Geschichten dieser fünf, ihre endlose Suche nach dem kleinen bißchen Glück, das dann aber bitteschön perfekt sein soll, weil es sonst doch nur eine andere Form von Elend ist. Und daß daraus so eine wunderbare leichte, aber nicht flache Serie geworden ist, liegt nicht zuletzt daran, daß ihr das Kunststück gelingt, diese Dreißigjährigen in ihrem subjektiven Unglück ernst zu nehmen und sich gleichzeitig über die Absurdität dieser Probleme lustig zu machen. Seinen Witz zieht das Buch von Tommy Jaud vor allem daraus, daß die Angehörigen dieser Generation ja tatsächlich viele Probleme haben, die ihre Eltern und Großeltern nicht kannten. Daß es viele Situationen gibt, die zu ihrem Alltag gehören, für die es aber keine Verhaltensknigge irgendeiner Art gibt.

Wie geht man mit dem neuen Mann der Ex-Freundin um, der offenbar sehr viel Geld hat und ein arrogantes Arschloch ist, mit dem sich aber ein Zusammentreffen nicht vermeiden läßt, weil die kleine Tochter in seinem Haus wohnt? Wie teilt man ihm mit, daß es schön wäre, wenn er die Tochter nicht mit siebentausend Stofftieren in zwei Spielzimmern bestechen würde, wenn man sich selbst finanziell gerade mal so durchschlagen kann? Oder was ist die sozial akzeptable Art, einem One-night-Stand am nächsten Morgen zu sagen, daß eigentlich nicht nur eine Wiederholung ausgeschlossen ist, sondern auch ein gemeinsames Frühstück? Unter welchen Voraussetzungen darf man sich als Mensch in glücklicher Partnerschaft mit einem früheren Partner treffen, einfach nur so? Und wie kriegt man raus, ob die Table-Tänzerin wirklich Interesse an einem hat oder nur ihren Job richtig gut macht? (Okay, das letzte ist eine Spezialfrage.)

„LiebesLeben“ erzählt die Versuche der Frauen und Männer, diese und andere Fragen zu beantworten, teils fortlaufend, teils episodenhaft. Und auch wenn die Serie meist den kürzesten Weg zur nächsten trockenen Pointe ansteuert, geht sie doch auf eine ungewohnt zärtliche Art mit ihren Protagonisten um und gibt ihnen Tiefe und Aufrichtigkeit. Ihre Beziehungsgeschichten sind nicht nur lustig und bizarr, sondern auch wahr. Sat.1 hat diese Mischung offenbar aus Verlegenheit auf der Suche nach einem passenden Genrebegriff mit „Romantic Comedy“ bezeichnet, doch sie hat nichts von dem Süßlichen, das man mit diesem Begriff verbinden kann, sondern eher eine abgründige Komponente.

Es ist eine der innovativsten Comedyserien seit langem. Nicht nur, weil sie diese zweite, ernste Ebene hat. Sondern auch durch die Art, wie sie erzählt ist. Die Protagonisten sprechen mit dem Zuschauer aus dem Off und in die Kamera, in Einschüben wird Vergangenes, Erhofftes und Befürchtetes visualisiert, und wenn eine fast vergessene Nebenfigur am Ende einer Folge plötzlich wiederauftaucht, kann es sein, daß sie sagt, sie sei der Mann „vom Anfang der Folge“. Die Macher hatten offenkundig Spaß an kleinen Gags und daran, mit der Erwartung des Publikums zu spielen.

Und man muß zum Beispiel nur sehen, wie liebevoll der Stadtalbtraum Köln in Szene gesetzt wurde, mal kalt und großstädtisch, mal romantisch und attraktiv, um zu erkennen: Dieses Programm hat eine Seele. Vorspann, Musikauswahl, Schnitt, Regie (Tobi Baumann) – alles strahlt Leidenschaft aus. Und in den besten Momenten schaffen es die Schauspieler, ihre Charaktere von Comedyfiguren zu echten Menschen werden zu lassen, mit denen man fühlt. Allen voran Michael Lott als depressives Knautschgesicht Edwin, der zwischen Witzfigur und tieftraurigem Loser changiert. Julia Stinshoff als Caren darf endlich mehr als süß gucken, Florian David Fitz mehr als ein Serienschönling sein, und Bettina Lamprecht macht als schroffe Barfrau Sanne aus einer Nebenrolle ein Highlight.

Und dann steht Edwin samstags morgens wieder unter der nicht eingeschalteten Dusche und fragt sich, warum er sich überhaupt die Mühe macht aufzustehen, an einem Tag, von dem er doch nichts zu erwarten hat. Weil er doch wieder keine Frau treffen wird, die ihn akzeptiert, so wie er ist: ungeduscht und depressiv. Und entscheidet sich dann, sich trotzdem zu waschen, „denn wenn ein Mann schon abends allein und traurig nach Hause kommt, soll er dabei wenigstens gut riechen“.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Deutscher Fernsehpreis

Das große Schweigen. Warum der Deutsche Fernsehpreis so wenig Bedeutung hat.

Ein gutes halbes Jahr lang haben wir so getan, als sei der Deutsche Fernsehpreis wichtig. Wir haben uns, jeder für sich, durch immer neue Postpakete mit Videokassetten und DVDs gearbeitet. Haben uns an die Geschäftsordnung gehalten, die es Jurymitgliedern untersagt, sich bei Abstimmungen zu enthalten, selbst dann, wenn sie wirklich, wirklich nicht entscheiden wollen, ob nun „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ oder „Unter uns“ es verdient hätte, als „beste tägliche Sendung“ nominiert zu werden. Haben ausführlich und mit großer Ernsthaftigkeit darüber diskutiert, ob es überhaupt vorstellbar ist, „Speer und Er“ nur für die „Beste Ausstattung“ zu nominieren, und was die Konsequenzen wären. Haben neue Kategorien erfunden, alte abgeschafft, Probeabstimmungen veranstaltet, durchgezählt, welche Sender nun auf wie viele Nominierungen kommen, erneut abgestimmt und uns ununterbrochen gefragt, wie unsere jeweiligen Signale von der Branche interpretiert werden würden. Die ehrliche Antwort hätte wohl gelautet: gar nicht.

Eine Diskussion fand nicht statt. Nicht über die Frage, ob es richtig war, das vermeintliche Fernsehereignis des Jahres, „Speer und Er“, bis auf einen Preis für Sebastian Koch durchrasseln zu lassen. Nicht darüber, wie sinnvoll es war, quasi eine eigene Telenovela-Kategorie zu schaffen – grundsätzlich und insbesondere, wenn es zum Stichtag überhaupt nur zwei Telenovelas gibt. Nicht über unsere Entscheidung, für die „Königskategorie“ des besten Fernsehfilms auch eine leichte Sat.1-Familienkomödie („Das Gespenst von Canterville“) zu nominieren – und dabei hatten wir das öffentliche Raunen über diese scheinbar mutige Entscheidung fast schon im Ohr, den Beifall, die Empörung. Statt dessen: Schweigen.

Der Deutsche Fernsehpreis ist offenbar nicht halb so wichtig, wie er glaubt. Und wie er sein müßte als einer von nur zwei echten Fernsehpreisen in Deutschland und einziger, der sich ausdrücklich als nichtelitärer Branchenpreis versteht. Daß das so ist, liegt an den Medien, am Fernsehen – und am Fernsehpreis selbst.

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat in diesem Jahr über den Deutschen Fernsehpreis weniger berichtet als über den Comedypreis und fand nicht einmal Platz, die wichtigsten Preisträger zu nennen. Aber auch die meisten anderen Kollegen beschränkten sich darauf, das Showritual zu kritisieren und als gesellschaftliches Ereignis zu würdigen. Eine Medienkritik, die den Preis zum Anlaß nähme, auf das Fernsehjahr zurückzuschauen, Glanzlichter und Fehlentwicklungen auszumachen, darüber zu streiten, was preiswürdig wäre und was nicht, gibt es offenkundig nicht. Aber was sonst – abgesehen von der persönlichen Freude der Ausgezeichneten – wäre der Sinn eines solchen Preises? In der Selbstbeschreibung heißt es, sein Ziel sei es, „die Qualität des deutschen Fernsehprogrammes zu fördern“. Das kann nur gelingen, wenn der Preis öffentliche, zumindest brancheninterne Debatten darüber anstößt, wie „Qualität“ zu definieren ist. Wenn er nicht ausschließlich als Anlaß genommen wird, über die trostlose Gewerbegebietslage des Veranstaltungsortes, die ermüdende Länge der Zeremonie und die Qualität des Buffets zu schreiben.

Bei den berichtenden Journalisten scheint der Preis trotz seines jungen Alters von sieben Jahren nur Langeweile auszulösen. In den wenigen Zeilen, die sich inhaltlich mit den Entscheidungen auseinandersetzen, kann man gelegentlich ein Flehen herauslesen: Überrascht uns! Das ist nicht leicht, denn auch nach vielen pflichtbewußten Abenden vor dem Videorecorder entdeckt man wenig Überraschendes, Neues, Frisches, Gewagtes, Unentdecktes im deutschen Fernsehen. Man sieht viele herausragende Krimis, eine Reihe bewegender Fernsehspiele, eine Handvoll vorbildlicher Dokumentationen. Doch im Alltagsgeschäft des Fernsehens, bei Serien, Comedy, Show, Reality, Magazin, gibt es kaum etwas zu entdecken. Diese Genres sind im Fernsehpreis eigentlich ohnehin unterrepräsentiert – und trotzdem lassen sich in manchen Kategorien kaum überhaupt genügend nominierungswürdige Programme finden. Zählen Sie mal mehr als drei gute Sitcoms auf. Oder Serien. Oder Shows. Wie viele junge Moderations- oder Comedy-Talente fallen Ihnen ein, die dringend einen Fernsehpreis bräuchten, der ihnen einen kleinen, verdienten Karriereschub verleiht?

Und doch ist letztlich vor allem der Fernsehpreis selbst schuld daran, daß er so bedeutungslos ist. Paradoxerweise auch deshalb, weil er sich so wichtig nimmt. Man muß das erlebt haben, wie in den vielen Jurysitzungen jede mögliche Entscheidung darauf hin abgeklopft wird, ob man sie irgendwie mißverstehen könnte. Wie groß die Sorge ist, daß am Ende zu viele Preise an einen Sender gehen könnten. Die schlimme, aber logische Konsequenz daraus ist, daß die Jury so sehr unter dem Verdacht steht, durch Proporzdenken geleitet zu sein, daß auch gut begründbare und begründete Entscheidungen (wie etwa die gegen „Stromberg“ und für „Nikola“ als beste Sitcom) oft nur noch als Zugeständnisse an diesen Proporz interpretiert werden.

Nach welchen Gesetzen der Fernsehpreis funktioniert, läßt sich vielleicht am Beispiel des Mainzer Trainers Jürgen Klopp erzählen, der als ungewöhnlich angenehmer Fußball-Experte im ZDF ins Gespräch kam. Eine Nominierung konnte daraus nur im Paket mit dem Moderator, dem Kommentator und sämtlichen Experten einer Fußball-Übertragung werden – und so wurde ausgerechnet auch der gewöhnlich unangenehme Franz Beckenbauer für den Deutschen Fernsehpreis vorgeschlagen. Und abgesehen davon: Wem ist mit einer solchen Sammelnominierung gedient? Was würdigt man damit? War der Kommentator so gut, weil ihn die Experten mitgerissen haben? Oder umgekehrt? Nicht im Ernst.

Der deutsche Fernsehpreis leidet unter seinen vielen Kategorien, die man selbst als Juror kaum unterscheiden kann. Anke Engelke sprach von einer Kategorie „Beste Impro-Comedy“, dabei handelte es sich nur um die ganz normale Rubrik „Comedy“, die allerdings zugegebenermaßen schwer von „Sitcom“ und „Unterhaltungssendung“ abzugrenzen waren. Wer erklärt dem Zuschauer (und den Juroren), wie sich die „beste Reportage“ von der „besten Dokumentation“ unterscheidet? Die Sitcom von der Serie? Was von dem Gemischtwarenladen „beste tägliche Sendung“ zu halten ist, in dem schon Qualitätssendungen wie „Lenßen & Partner“ und „Barbara Salesch“ nominiert waren und aus dem in diesem Jahr die „beste tägliche Serie“ wurde, damit – welche Überraschung! – „Verliebt in Berlin“ ausgezeichnet werden konnte, ohne mit „richtigen“ Serien konkurrieren zu müssen.

Wenn der Deutsche Fernsehpreis wirklich relevant sein will, muß er aufhören zu versuchen, die vermeintlichen Erwartungen an ihn zu erfüllen. Vielleicht fangen dann die Leute an, wieder welche zu haben.

Der Autor war in diesem Jahr erstmals Mitglied der Jury des Deutschen Fernsehpreises, der Preis wurde am vergangenen Samstag in Köln verliehen (F.A.Z. vom 17. Oktober).

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Dahin, wo’s weh tut

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wie sehen moderne deutsche Fernsehserien aus, die das Publikum nicht unterschätzen? Die Sender probieren das jetzt einmal aus.

Frank ist ein Verlierer. Der einzige Lichtblick ist der Scheck vom Amt. Seine Frau ist vor drei Jahren verschwunden: spurlos, aber nicht grundlos. Mit seinen sechs Kindern lebt er in einer engen Sozialwohnung — wobei es leben nicht ganz trifft. Sie ist der Ort, an dem ihn die Kinder auf dem Fußboden in die stabile Seitenlage bringen, wenn die Polizei ihn von der Kneipe geholt hat. Es ist eine Welt voller Müll und Drogen, unbezahlten Rechnungen und Kleinkriminalität. Und die Fernsehserie, die die Geschichten dieser gleichermaßen kaputten wie unzerstörbaren Familie erzählt, ist auf eine Art warmherzig und sentimental, kraß und komisch, originell und authentisch, provokativ und versöhnlich, daß es einem den Atem raubt.

Die Serie heißt „Shameless“ und läuft im britischen Channel 4. Bis das deutsche Fernsehen solche Serien hervorbringt, ist es noch ein weiter Weg. Aber immerhin scheint es sich gerade mal in die richtige Richtung zu bewegen.

Was natürlich daran liegt, daß die anderen Wege sich als Sackgasse herausgestellt haben. Programmmacher wie die stellvertretende Sat.1-Chefin Alicia Remirez sprechen offen von einer „Krise“ der deutschen Serie. Die schnell zusammengeklöppelten Varianten amerikanischer Formate versagten, die endlos ratternde Erfolgskopiermaschine machte das Publikum müde und satt, die Erfolgsserien von gestern haben ihre besten Zeiten meist hinter sich.

Diese Krise ist ein Glücksfall für das Publikum (das sie ja überhaupt erst ausgelöst hat), insbesondere, seit die Massenbegeisterung vor allem junger Zuschauer für „C.S.I.“ oder „Desperate Housewives“ zeigt, daß sie keineswegs der fiktionalen Serie an sich müde sind – nur ihrer traurigen, anspruchslosen deutschen Erscheinungsform.

„Das ist der beste Zeitpunkt, eine moderne Serie zu machen“, sagt Remirez. „Es hatte nicht die Lust und den Mut gegeben, neue Serien anzugehen.“ Inzwischen würde aber viel mehr Mut dazugehören, das weiterzuführen, was nur mittelmäßig gelaufen ist. Der Begriff „Qualität“ taucht plötzlich wieder in Gesprächen mit Privatfernsehleuten auf — und anscheinend nicht nur als PR-Floskel, sondern als Synonym dafür, gute Drehbuchautoren zu beschäftigen, sich Zeit zu nehmen, Figuren zu erschaffen, die eine Tiefe haben, und Konflikte zu erzählen, die nicht nur Scheinkonflikte mit eingebautem Happy-End sind.

Für den Anfang hat Sat.1 eine Abkürzung gewählt. Die Serie „Bis in die Spitzen“, die morgen beginnt, ist eine Adaption der BBC-Serie „Cutting it“ – allerdings eine offizielle, kein heimlicher Abklatsch mit den damit verbundenen Kompromissen. Es ist die Geschichte der schicksalhaften Verbindungen zwischen zwei Paaren, die konkurrierende Edel-Friseursalons in Berlin betreiben. Der Stoff ist der, aus dem Seifenopern sind: sexsüchtige Männer, überehrgeizige und doch verletzliche Frauen, fiese Intrigen und überraschend auftauchende Kinder. Erst Inszenierung und Besetzung machen daraus eine außergewöhnliche dramatische Serie, die sich ernst nimmt und eine erstaunliche Sogwirkung entfaltet.

„‚Bis in die Spitzen‘ ist eine Serie, wie sie Sat.1 noch nicht gehabt hat“, sagt Remirez. „Es gab selten eine solche Wucht an Schauspielern in einer Serie.“ Die Hauptrollen spielen Jeanette Hain und Muriel Baumeister, Tobias Oertel und Ralph Herforth. Für gute Serienkonzepte, das sagen alle, kann man inzwischen die erste Garde deutscher Schauspieler gewinnen – das sei vor ein paar Jahren noch ganz anders gewesen. Auch insofern half es „Bis in die Spitzen“ wohl, daß es ein Original zum Vorzeigen gab. Dann mußten Sender und Produzent nur noch die Wunschschauspieler und -regisseure überzeugen, daß man das in der gleichen Qualität umsetzen wolle.

Der Sender Sat.1 entwickelt zur Zeit nach eigenen Angaben mehr Serien als je zuvor. Ungefähr zehn neue Formate sind in Arbeit. Mit der x-ten Variante eines odd couples soll Fiction-Chefin Remirez dabei keiner kommen; als Erfolgsrezept gilt auch, dem Zuschauer möglichst wenig Anlaß zu dem Gefühl zu geben, daß ihm die Konstellation irgendwie bekannt vorkommen könnte. Und es darf durchaus so etwas geben wie Relevanz, Ernsthaftigkeit, Fallhöhe. Remirez formuliert es vorsichtig so: „Es gibt zwei Fernsehtrends zur Zeit. Der eine ist der totale Eskapismus. Aber der andere ist, im Gegenteil, einen Hauch von dem aufzunehmen, was um uns passiert.“

Christiane Ruff, Chefin der Sony-Pictures-Fernsehproduktion, sagt es deutlicher: „Die Zuschauer wollen auch dahin gehen, wo es weh tut.“ Ruff war bislang Spezialistin für Comedyserien wie „Ritas Welt“, aber heute stellt sie fest: „Die Leute sind des Lachens müde geworden.“ Der Eskapismus habe neue Formen gefunden, vor allem die Telenovelas. Doch daneben gebe es ein wachsendes Bedürfnis, die Abgründe des Lebens im Fernsehen wiederzufinden. „Die Menschen haben kein Problem mehr, sich die krasse Realität im Fernsehen anzusehen. Sie ertragen ein Abbild der Wirklichkeit, auch wenn es Schläge in die Magengrube sind.“ Was sie nicht ertragen, seien Seichtigkeit und Mischkost.

Sony produziert für RTL gerade „Die Familienanwältin“, eine oft unbequeme, beklemmende Serie, unübersehbar im Hier und Jetzt verankert. „Sie zwingt den Zuschauer permanent dazu, eine moralische Haltung einzunehmen“, erklärt Ruff, „befriedigt ihn darin aber nicht unbedingt immer.“ Ob das Publikum den Mut honoriert, auf leichte Lösungen und ein tröstliches Happy-End zu verzichten, weiß natürlich niemand. „Die Bereitschaft, etwas auszuprobieren, ist in den Sendern da“, sagt Ruff, „aber auch Angst: Können wir das den Zuschauern zumuten?“

In Barbara Thielen haben Produzenten, die das Düstere und Tiefe nicht fürchten, neuerdings eine Komplizin bei RTL. Die Produzentin der bestechenden Sat.1-Krimireihe „Der Elefant“ ist seit einem Monat Fiction-Chefin bei dem Kölner Sender. „Es geht nicht unbedingt um ernste Serien“, sagt sie, „aber es geht darum, das Publikum ernst zu nehmen.“ Und: „Wir müssen durch alle Genres gehen und nach modernen Formen der Umsetzung suchen.“ Daß sie nun bei RTL verantwortlich ist, wird man erst später im Programm sehen können. Aber viel spricht dafür: Man wird es sehen können.

Sogar an Pro Sieben geht der Trend zur eigenproduzierten Serie nicht vorbei. „Nach dem vorübergehenden Boom spekulativer Reality-Formate ist wieder ein großes Bedürfnis nach starken fiktionalen Inhalten zu spüren“, sagt Christian Balz, Leiter „Deutsche Fiction“. Angesichts „neuer, erzählerisch aufregender Formate“ hätten viele deutsche Serien plötzlich „völlig verstaubt“ gewirkt: „Ein Innovationsschub in der deutschen Serienlandschaft war also überfällig.“ Die punktuellen Pro-Sieben-Eigenentwicklungen sollen aus der Lebenswelt der Zuschauer erzählt sein und den Sender „anfaßbarer machen“: „Das Tempo unserer Serien ist flotter als üblich, und der Look muß hochwertig sein und darf gegenüber den Standards der US-Serien nicht abfallen.“ Ob die gewünschte „emotionale Sogwirkung“ allerdings ausgerechnet mit der „Sex and the City“-Kopie namens „Alles außer Sex“ erreicht wird, bezweifeln viele.

Und doch: Von vielen Seiten sickert neues Leben in die deutsche Serienwelt, und sogar gelegentlich das wahre Leben. Nur die Öffentlich-Rechtlichen, für die Begriffe wie „Qualität“ und „Innovation“ doch eine Bedeutung haben müßten, scheinen merkwürdig unbeteiligt. ARD und ZDF fahren mit ihren herkömmlichen, hausbackenen Familienserien zu gut, als daß sie große Experimente wagen würden. Im Ersten gibt es immerhin eine Aufgabenteilung: Auf dem Serienplatz am Hauptabend laufen die biederen „Dr. Kleist“ und „Um Himmels Willen“ – am Vorabend, ermuntert durch den wunderbaren Erfolg „Berlin, Berlin“, moderne, junge Formate.

Nur das ZDF traut sich jenseits der inflationären „Soko“-Reihen selten, sich mehr als einen halben Schritt vom „Landarzt“ wegzubewegen. Erfolge feiert der Sender ausschließlich im Konventionellen – um den Preis, ein Serienpublikum, das „Six Feet Under“ liebt, unbefriedigt zu lassen. In dieser Woche begann man mit der Ausstrahlung einer sehr egalen Hotelserie (!) mit Ralf Bauer (!), der man nicht anmerkte, ob sie nicht vor zehn Jahren schon gelaufen ist. In zehn Jahren wird sie garantiert nicht mehr laufen.

Kuscheln mit Politikern ist nicht

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Sie will nicht im Salon kellnern, sondern hart an der Wirklichkeit arbeiten: Maybrit Illner fragt sich für das ZDF durch.

Sie hat diese unangemessen gute Laune. Sitzt da zwischen alten Männern, die miteinander über Renten, Reformen und Regierungskoalitionen streiten, und ihre funkelnden Augen und ihre Körperhaltung zeigen: Sie vergnügt sich. Nicht daß sie die Probleme, um die es geht, nicht ernst nähme. Sie weiß einfach: Dies ist eine Fernsehsendung. Hier geht es nicht nur darum, daß sich Menschen unterhalten, sondern auch darum, daß Menschen unterhalten werden. Sie selbst eingeschlossen. Fast erinnert Maybrit Illner darin an Michel Friedman, von dessen Aggression sie nichts hat, aber dem man auch immer die Lust am Streit ansieht, an politischen und rhetorischen Auseinandersetzungen.

Schelmisch ist ihr Lächeln in der Sendung – der größtmögliche Gegensatz zum abgeklärten, wissenden Lächeln von Sabine Christiansen. Die Talkmasterin der ARD, deren Sendung aus unerfindlichen Gründen immer noch viel mehr Zuschauer erreicht, strahlt in ihren Männerrunden das Gefühl aus: Hey, wir hier oben wissen längst, wie Deutschland zu retten wäre, aber kauen wir den Stoff einfach noch einmal durch. Maybrit Illner strahlt in „Berlin Mitte“ das Gefühl aus: Gut, vermutlich werden wir Deutschland mit dieser Gesprächsrunde nicht retten, aber laß uns wenigstens ein paar ketzerische Fragen stellen, zusehen, daß wir den einen oder anderen Teilnehmer aus der Reserve locken und uns und die Welt nicht langweilen.

Während Sabine Christiansen mit jeder Pore und Party demonstriert, daß sie Teil des politischen Establishments ist, strengt sich Maybrit Illner an, das Gegenteil zu vermitteln. Inzwischen ist sie viel zu wichtig, als daß sie tatsächlich den politischen Betrieb wirklich noch von außen betrachten könnte und nicht von innen. Und Menschen aus ihrer Umgebung berichten, daß sie keineswegs gefeit ist vor den Veränderungen, die Leute durchmachen, wenn sie prominent werden; vor der Gefahr, sich zu wichtig zu nehmen. Aber trotz allem scheint sie mehr Wert als andere auf einen gewissen Abstand zu legen. Und sei es durch gute Laune und Ironie.

Sie kann aber auch staatstragende Sätze zum Thema formulieren: „Es besteht ja grundsätzlich die Gefahr, daß der Zuschauer politische Talkshows nur als einen Salon wahrnimmt, in dem sich die politische Elite zum Plaudern trifft. Diesem Eindruck muß man entgegenwirken, mit jeder Sendung, jeder Frage. Wir verstehen uns nicht als Programmkellner, die auf silbernen Tabletts nette Fragen servieren. Und wir laden nie nur Politiker ein. Diese Gratwanderung müssen wir hinbekommen: einerseits mit den Verantwortungsträgern über ihre Entscheidungen zu diskutieren, andererseits dem politischen Souverän das Wort zu geben – in Gestalt von Fachleuten, Freidenkern und Querdenkern. Das kann nur hinhauen, wenn man sich eben nicht als politischer Salon versteht, sondern als Werkstatt, in der wirklich gearbeitet wird.“

Und was die Nähe zwischen Politikern und Berichterstattern angeht: „Es gibt Kollegen, die schreiben Politikern ihre Biografien, tummeln sich auf deren Privatfeten und coachen sie für Wahlkampfauftritte. Und am nächsten Tag tun sie dann in ihren Blättern so, als wären sie unbestechliche Kritiker. Das sollten deutsche Journalisten endlich mal diskutieren. Wir brauchten einen Verhaltenskodex, wie es ihn bei der ,New York Times‘ gibt. Kuscheln mit Politikern verstößt dort gegen die Hausordnung.“

Maybrit Illner ist 1965 in (Ost-)Berlin geboren und arbeitete nach dem Journalistik-Studium in Leipzig als Sportjournalistin im DDR-Fernsehen. Nach der Wende moderierte sie dort ein Reisemagazin und das „Abendjournal“. Schließlich wurde sie Reporterin im ZDF-Morgenmagazin und 1998 dessen Leiterin, vertrat Ulrich Kienzle in „Frontal“ und bekam 1999, als der Sender beschloß, das Feld der politischen Talkshow nicht mehr allein der ARD zu überlassen, überraschend die Moderation von „Berlin Mitte“. Das ist nicht gerade der typische Werdegang eines politischen Journalisten, und es ist ein großes Glück für Illner, daß ihr dieser ungewöhnliche Hintergrund einerseits hilft, positiv aufzufallen, und sie andererseits nicht als „Dreifachquote“, wie sie sagt, wahrgenommen wird: „Jung, aus dem Osten und auch noch Frau.“

Sie hat gerade ein Buch herausgegeben über „Frauen an der Macht“. Dabei war das eigentlich gar nicht ihr Thema. „In der DDR war es für gewöhnlich kein Drama, nicht als Mann auf die Welt zu kommen. Mein Bruder und ich hatten eine sehr selbstbewußte Mama, die uns immer das Gefühl gegeben hat, daß wir zwar ihre Augäpfel sind, aber daß sie neben uns schon noch andere Hobbys hat. Sie hat uns vorgelebt, was Emanzipation im Alltag bedeutet. Insofern war meine Weltsicht nicht geprägt durch die Erfahrung von trotziger Selbstbehauptung und Geschlechterkampf. Nach der Wende kamen dann — mit einem gewissen Erfolg — ständig Fragen nach meiner spezifisch weiblichen Sicht auf die Dinge. Die ich eigentlich gar nicht hatte. Also habe ich meinen Blick scharf gestellt und mich umgesehen. Und die gesellschaftliche Realität hierzulande sieht immer noch so aus: zu wenig Professorinnen, Politikerinnen in Spitzenpositionen, viel zuwenig Frauen in Vorständen und überhaupt in politisch und gesellschaftlich relevanten Positionen. Und da das so ist, denke ich mittlerweile über meine ’spezifisch weibliche Sicht‘ öfter mal nach.“

Daß es auf dem Fernsehschirm inzwischen keinen Mangel an Frauen mehr gibt, erklärt sie mit typischem Spott: „Ende der Neunziger gab es so eine Art Aufholjagd. Frauen waren plötzlich nicht mehr nur auf die weichen Themen abonniert. Sie durften Männer-Domänen besetzen und Wirtschaftsmagazine und Nachrichtensendungen und sogar Polit-Talks moderieren. Das Pendel schlug kurzzeitig heftig in die entgegengesetzte Richtung aus und ist jetzt in der Mitte zur Ruhe gekommen. Also kein Grund zur Panik!“

Natürlich hat ihre kokette Art, die meist männlichen Gesprächsteilnehmer aus der Reserve zu locken, viel damit zu tun, daß sie eine Frau ist. Aber als prägend für ihr Berufsverständnis empfindet sie weniger ihr Geschlecht als ihr Alter: „Die Journalisten meiner Generation sind vielleicht einfach pragmatisch. Sie dienen sich keiner Partei an, sind keine verkappten Missionare, sondern verstehen sich als Beobachter, als Informations-Staubsauger und Analytiker. Diese Sorte Journalisten ist schwer erpreßbar.“

Auf über 250 Sendungen hat es „Berlin Mitte“ gebracht, und was die Talkshow im Gegensatz zu ihrem ARD-Gegenstück auch auszeichnet, ist, daß sie nicht erstarrt ist. Seit einem Jahr nutzt sie die Möglichkeit, die Diskutanten mit Zitaten, Zahlen und kleinen Erklärstücken zu konfrontieren, und immer häufiger ist sie Interviewerin von nur einem Gesprächspartner statt Moderatorin von fünf „Quälgeistern“ (Illner). „Wir lehnen uns nicht zufrieden zurück“, sagt sie, „sondern fragen uns: Wie können wir aus unserem spröden Werkstoff – der Politik – ein möglichst ansehnliches Format bauen. Auch eine Talkshow braucht, wenn sie bleiben will, ständige Veränderung.“

Ihre Kollegen stöhnen manchmal über die Besessenheit, mit der sie alles Politische verfolgt, und manchmal ahnt man, daß die Entspanntheit, die sie in ihrer Sendung zeigt, hart erarbeitet ist und eine sehr unentspannte Kehrseite jenseits des Bildschirms hat. Aber vor allem ist Maybrit Illner wohl ein glücklicher Mensch. Spricht man sie auf ihre Entspanntheit an, sagt sie: „Ich glaube, ich habe auch allen Grund dazu. Wovor sollte ich mich fürchten? wäre die Gegenfrage. So elend sich das vielleicht anhört: Es gibt wirklich nichts, worunter ich leide.“

Sie werde immer wieder danach gefragt, was nach „Berlin Mitte“ kommen könnte. „Aber ich finde den Job, den ich momentan mache, überhaupt nicht langweilig. Ich muß mich zu nichts überreden, mich nicht zwingen, Politik aufregend zu finden. Und offensichtlich merkt man mir das auch an. Wie lange das so bleibt, kann ich natürlich nicht sagen. Ich weiß, daß Fernsehen nicht mein ganzes Leben ist“, sagt Maybrit Illner. „Vielleicht nicht mal mein halbes. Und ich bin trotzdem fasziniert von diesem Medium, von seiner Schnelligkeit, Authentizität und Emotionalität.“

Und wenn sie eines Tages doch niemand mehr auf dem Schirm sehen wollte, werde sie das auch verkraften, sagt sie. Dann werde sie das als Wink des Schicksals verstehen und neue Pfade einschlagen, vielleicht mit ihrem Mann Krimis schreiben oder nach London gehen. „Das Leben — vor allem im ZDF ist bekanntlich eine Telenovela. Das gilt auch für ‚Maybrit – Wege zum Glück‘.“

Martin Reinl

Der Herr der Monster. Wiwaldi & die Kassler-Zwillinge: Martin Reinl läßt seine Puppen herrlich schlechte Witze machen

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Wer kann das schon sagen, als Dreißigjähriger, daß er nun wirklich lange genug die anspruchsvollen Rollen gespielt hat?

Martin Reinl kann das sagen. Drei Jahre lang hat er sie gespielt: die zickige Küchenrolle, die grummelige Klopapierrolle, die langweilige Nackenrolle und den unterschätzten kleinen Rollmops. Auf einem Putzwagen saßen sie und unterhielten sich mit den Gästen in der WDR-Show „Zimmer frei“, immer bereit, durch angemessen schlechte Laune zu demonstrieren, daß das alles hier eigentlich unter ihrem Niveau ist. Die Küchenrolle gestand Katja Riemann, daß sie ihr ganz, ganz großes Vorbild sei, schon seit ihrem Auftritt damals als „Das Superweib“, und als Riemann schüchtern darauf hinwies, daß sie das gar nicht gewesen sei, erwiderte die Küchenrolle: „Ach. Dann sind Sie auch gar nicht mein Vorbild.“ Sie pöbelten Udo Jürgens an, weil der nicht sofort begriff, daß er zum Klavier gehen sollte („Wer hat den denn hier reingelassen?“), und brachten Alice und Ellen Kessler dazu, für sie zu tanzen. Aber im vergangenen Jahr haben sich die vier Rollen dann doch tränenreich verabschiedet und das Angebot angenommen, zu diesem Lars Vegas in die Vereinigten Staaten zu ziehen.

Seitdem hat Wiwaldi ihren Platz eingenommen, ein brummiger Hundeflokati, der die Gäste blöde von der Seite anmacht, und Martin Reinl versteckt sich nicht mehr hinter dem Putzwagen, sondern hinter dem Sofa, vor sich einen Monitor, auf dem er verfolgt, was seine Hände oben machen. (Einmal, als er sich da verrenkte, raunte ihm Moderatorin Christine Westermann gut gelaunt zu, daß er den Job ja in zehn Jahren wohl auch nicht mehr machen könne.) Dieser Wiwaldi jedenfalls hat dem unrasierten Thomas Fritsch erzählt, daß er häufig mit ihm verwechselt werde. Dem Fernsehkoch Tim Mälzer wollte er ein lustiges Gespräch über den Hang der Chinesen aufdrücken, Hunde zu kochen. Mälzer ließ keinen Zweifel, daß das kein Thema war, über das er scherzen wollte, aber das bremste Wiwaldi kaum. Doch, doch, sagt Martin Reinl später, er habe Mälzers Unwillen gleich bemerkt. Aber er hätte halt unterm Sofa einen ganzen Din-A4-Zettel voller wunderbarer Hunde-im-Essen-Kalauer bereitliegen gehabt…

Ein „Kalauer-Fetischist“ sei er, sagt Reinl. „Sobald mir was einfällt, schreibe ich es auf.“ Er müßte das eigentlich nicht erklären – man muß nur ein paar Minuten einen seiner Auftritte gesehen haben, um ähnliches zu ahnen, etwa wenn Wiwaldi von den befreundeten Schweinen auf dem Bauernhof erzählt: den „Kassler-Zwillingen“. Schon daher ist es ein großes Glück, daß Reinl nicht einfach Komiker geworden ist, sondern auch Puppenspieler. Ein menschlicher Erzähler wäre längst von der Witzpolizei verhaftet worden, aber einem orangeflauschigen „Haselhörnchen“, einem schmutzigbeigen „Jammerlappen“ oder gar einem violetten Riesenmonster, das als Fernsehprogramme fressender „Serienkiller“ eigentlich ein eigenes Theaterstück bekommen sollte, verzeiht man vieles. So wie die Prominenten in „Zimmer frei“ ihm auch die Pöbeleien nie wirklich übel genommen hätten, erzählt Reinl. „Das warst doch nicht du“, hat er häufiger gehört, wenn er nach der Sendung kam, um sich zu entschuldigen.

Seine Monster baut er alle selbst. Schon als Kind hat er seine Teddybären aufgeschlitzt, um nachzusehen, was für ein Material darinsteckt, und auszuprobieren, wie die Schnauze verstärkt sein muß, damit man das Tier mit der Hand zum Sprechen bringen kann. Später hat er sogar die Original-Muppets von Jim Henson begutachten dürfen, die den Stil seiner eigenen Kreaturen unübersehbar prägen, und festgestellt, daß die aus ganz normalen Alltagsgegenständen hergestellt werden – und sich selbst an die Arbeit gemacht. Fortan bastelte er aus Schaumstoff, auf links gezogenen Pullovern und Tischtennisbällen eigene Puppen, kaufte sich eine alte Kamera und drehte kleine Filme. Alle Projekte, die er während seines Studiums an der Kölner Hochschule für Medien machte, hatten mit Puppen zu tun. Und als die Redaktion von „Zimmer frei“ jemanden suchte, der mit lustiger Stimme das Bilderrätsel der „anspruchsvollen Rollen“ sprechen sollte, nutzte er natürlich die Gelegenheit und baute – was eigentlich gar nicht verlangt war – gleich entsprechende Puppen. Nach und nach integrierte er die vielen Monster dann auch in sein Stand-up-Bühnenprogramm.

Vor drei Jahren hat Reinl für Super-RTL das Haselhörnchen als Maskottchen für dessen Kinderprogramm „Toggo TV“ entworfen. Die Haselhörnchen-Szenen sind anders als ähnliche Figuren im Kinderfernsehen: Es sind keine statischen Puppe-hinter-Schreibtisch-Situationen, sondern Szenen voller Aktion, inszeniert nicht wie kindische Pausenfüller, sondern als Miniaturfilme – und natürlich voller Mut zum Wahnsinn. „Wir denken nicht darüber nach, worüber Kinder lachen würden, sondern machen, worüber wir lachen“, sagt Reinl. Das ist für die besorgten Kinderprogramm-Menschen von Super-RTL manchmal ein bißchen beunruhigend, und es gibt eine klare Regel: „Nichts darf einzeln abgefressen werden.“ Ganz gefressen zu werden, geht aber in Ordnung, am liebsten natürlich so, daß man das Haselhörnchen hinterher noch aus dem Bauch so etwas sagen hört wie: „Mensch, hier muß ich erst mal ein paar Bilder aufhängen.“

Wenn man mit Martin Reinl spricht und er gerade zufällig eine seiner Puppen auf dem Arm hat, ist es schwer, sich nicht mit ihr statt ihm zu unterhalten. Sie gucken einen mit leicht wirrem Silberblick direkt an, und auch wenn Reinl als er selbst redet, und nicht als das Monster auf seinem Arm, werden sie nicht leblos: Er läßt sie den Kopf ein kleines bißchen schieflegen oder den Mundwinkel kaum merklich zucken, und es ist unmöglich, sich ihrem Charme und ihrer Lebendigkeit zu entziehen. Dazu kommt sein Talent, verschiedenste Stimmen zu modulieren, und seine Improvisationsfähigkeit, und man fragt sich plötzlich, warum er (oder Wiwaldi oder die Spaßbremse oder eine seiner Dutzenden anderen Figuren) nicht längst eine Abendshow im deutschen Fernsehen hat. Er selbst fragt sich das auch und klappert seit Monaten die Sender ab, „aber die haben immer noch Schiß“, sagt er. Und es hilft nicht, wenn er darauf hinweist, daß die „Muppet Show“ ein weltweiter Erfolg war und überall außer in Deutschland im Abendprogramm lief. Nach dem Erfolg von internationalen Puppensendungen für Erwachsene wie „Crank Yankers“ gab es eine gewisse Bereitschaft, Puppen ins Fernsehen zu bringen, die kiffen oder Sex haben, aber das ist eigentlich nicht, was er meint. „Mir geht es um Puppen, die sich wie Menschen aufführen, mit echten Gefühlen und Konflikten.“

Vielleicht klappt es ja mit nicht ganz so echten Gefühlen und Konflikten: Im Angebot hat Reinl auch die überfällige erste Puppen-Telenovela.

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