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Thure Riefenstein

„So“, sagt der Chef, als die Mitglieder der Vox-Hauptabteilung „Kochen III“ endlich zur Ruhe gekommen sind, „wen haben wir dann in der ersten Woche der Prominenten-Version unseres Erfolgsformates ‚Das perfekte Dinner‘ dabei?“ Ein junger Redakteur meldet sich und antwortet stolz: „Thure Riefenstein.“ — „Neinnein, ich meine in der ersten Woche mit Prominenten.“ – „Ja, äh, Thure Riefenstein.“ — „Ach, ihr macht das so mit sanftem Übergang? Mischt prominente und nichtprominente Kandidaten?“ — Der junge Redakteur rollt mit den Augen, sucht das Memo der PR-Abteilung und liest triumphierend: „Der Schauspieler hat schon jede Menge Theaterluft geschnuppert: Er spielte auf Bühnen in New York, Los Angeles, Hamburg und Berlin. Aber auch im Filmgeschäft hat er sich neben bekannten Schauspielgrößen in Deutschland und im Ausland einen Namen gemacht.“ Stille im Konferenzraum. „Was für einen Namen?“ — „Thure Riefenstein.“ Der Chef resigniert. „Okay, schreib auf für die Anmoderation: ‚Thure Riefenstein, Charakterdarsteller‘.“

Es gab Zeiten, da war Reiz von solchen Sendungen mit Prominenten, mal einen anderen, halbprivaten Blick auf Menschen werfen zu können, die uns seit vielen Jahren aus Funk und Fernsehen bekannt sind. Heute schaut man sich diese Promi-Specials gerne an, um Menschen kennenzulernen, von denen man noch nie in seinem Leben gehört hat.

Und Herr Riefenstein, in dessen Biographie auf seiner Homepage unter „Theater“ unter anderem „Schauspielhaus Hamburg“, „Berliner Ensemble“ und „New York City, USA“ stehen, hatte beschlossen, die Chance zu nutzen, sich einem Millionenpublikum bekannt zu machen. Eigentlich gehört zum Repertoire dieser Show zwar nur, einzukaufen, füreinander zu kochen und miteinander zu essen, und oft spürte man, daß Thure sich viel lieber in Maden gebadet, in Schlamm gewälzt und unter Killer-Emus gemischt hätte, aber, hey, um sich zum Affen zu machen, braucht man keinen Dschungel. Und so nutzte Thure die Wohn- und Esszimmer als Bühne und gab den aufgedrehten Alleinunterhalter (auch wenn Moderatorin Andrea Kiewel meinte, es sei wie beim Kindergeburtstag: Thore wird drei). Aber gelohnt hat sich seine lustige Verkleidung als Pirat mit Augenklappe, Kopftuch, Make-Up und zerrissenen Hosen schon für den Augenblick, als seine Gäste ihn das erste Mal so sahen und versuchten, ihn zu begrüßen, ohne prustend zusammenzubrechen.

Als sie wieder weg waren, formulierte er als vorsichtiges Fazit: „Ich glaube, wenn die anderen so drüber nachdenken, könnte es schon sein, daß sie sagen, im Nachhinein: Irgendwie paßt das schon zu Thure. Weil: Irgendwie war das ein Thure-Abend. Vielleicht, ähm, das war ein Thure-Abend.“ Immer wieder schön zu sehen, wenn Menschen es schaffen, trotz ihrer Berühmtheit auf dem Teppich zu bleiben.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

D!

In der Schule hätte man den Detlef längst gefragt, ob er nicht mal mit Gleichaltrigen spielen will, statt immer mit den Kleinen von der Unterstufe. Man hätte sich das eine Weile angesehen, wie er die Mädchen provoziert und sich daran aufgeilt, daß die ihm nicht gewachsen sind, und dann hätte man ihn beiseite genommen und ihm erklärt, daß sein kleines Repertoire von Psychotricks zwar ganz nett ist, man tolle Kerle aber nicht daran erkennt, daß sie kleine Mädchen zum Heulen bringen können und es auch tun. Aber das hier ist keine Schule, das ist „Popstars“, die Pro-Sieben-Castingshow. Hier wird der dickhosige Typ, der sich auf dem Pausenhof stark fühlt, weil er oft genug sitzen geblieben ist, um doppelt so alt zu sein wie alle anderen, am Ende tatsächlich Chef.

Und so darf Detlef „D!“ Soost, der bekannte Berliner Demotivationstrainer, vor einem Millionenpublikum das zitternde Etwas vor ihm anmachen: „Wer sagt denn, daß du dran bist?“ Und wenn eine Vorsängerin versucht, tapfer zu sein und meint, das sei schon okay, daß sie rausgeflogen ist, sagt er ihr: „Du sagst, das sei okay, aber du findest das nicht okay. Hast du mal was von Body Language gehört?“, geht und nimmt ihr kleines Stückchen Selbstachtung als Trophäe mit.

Noch schlimmer ist „D!“, wenn er die Mädchen nicht runter macht, sondern mit ihnen redet wie mit Erwachsenen – also: wie mit kleinen, etwas behinderten, irgendwie kostbaren Erwachsenen. Er sagt dann Sätze wie: „Vielleicht bist du noch wie ein junger Wein, wo noch ein bißchen Zeit ins Land gehen muß, bis deine Zeit gekommen ist.“ Vor dem Casting gibt er den Hunderten Mädchen noch etwas mit, das ihm „persönlich ganz wichtig“ sei. Pause. Achtung, jetzt kommt’s: „Nutzt Eure Chance“.

Einmal, da ist der „D!“ richtig böse geworden. Er hat gemerkt, daß einige Mädchen gar nicht ihre Seele verkaufen würden, um Popstars zu werden, sondern nur einen lustigen Nachmittag verbringen wollten. „Spinnst Du?“, hat er eine angeschrien, „überleg’ Dir, wessen Zeit du verschwendest“ (als ob sie nicht offenbar genau das getan hatte). Dann stellte er sich vor die versammelten Kandidatinnen und donnerte: „Mädels: Eine Sache! Wer von euch vorhat, sich hier statt ins Kino zu gehen, einfach ein bißchen lustig zu machen, der sollte JETZT rausgehen. Weil, sonst gibt’s RICHTIG Ärger.“

Ist aber keine gegangen. Spätestestens nächstes Jahr sind die ersten 16-jährigen „Mädels“ soweit, daß sie an dieser Stelle aufstehen, lachen und anfangen, ihn mit seinen CDs zu bewerfen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Markus Kavka

Herrschaften, vielleicht ist das mit der Ironie auf Dauer nichts. Vielleicht muß man sich am Ende doch entscheiden, eine Sache entweder mit ganzem Herzen oder mit großer Gleichgültigkeit zu betreiben, und alle Mischformen, die beim Fernsehen so beliebt sind, sich von dem, was man tut, gleichzeitig zu distanzieren, sind doch nur ein Selbst- und Publikums-Betrug.

In der Woche seines 25. Geburtstags zeigte MTV zum letzten Mal die Show von Sarah Kuttner. Und sie weinte. Sie hatte vorher so schön ironische Abschiedsvideos gedreht, aber am Ende waren da nur ehrliche Tränen der Trauer und der Wut auf all die, die sie mal „am Arsch lecken können“, und dann war es vorbei. Jetzt sind beim früheren Musiksender nur noch Profizyniker und Komplettdistanzierer wie Christian Ulmen und die üblichen Allesmoderierer.

Und Markus Kavka. Und eigentlich sollte das hier eine Eloge auf ihn werden. In den Jubiläumsfeierlichkeiten gibt der 39jährige gerade wieder den Opa, der vom Krieg erzählt: von den frühen Achtzigern, als ihm der „Haarfärbeunfall“ passierte beim Versuch, die Frisur von Dave Gahan zu imitieren, als er ohne Särge an den Ohren und Rouge und Kajal im Gesicht das Haus nicht verließ, als er sich eine Nagellacktrockenmaschine mit seiner Mutter teilte. „Das hat mir gern auch die ein oder andere Tracht Prügel beschert“, erzählt er. „Nicht von meinen Eltern, von der Jugend im Dorf.“

Seine Moderationen sind nicht diese modischen Demonstrationen der Selbstironie – er nimmt sich nur einfach selbst nicht so ernst. Und nicht die Stars mit ihren Macken. Und nicht die PR-Filme, den Nachrichtenersatz, die Dokureste, die er da ansagt. Eigentlich ist das bewundernswert, diese Haltung, dieser Professionalismus, das kleine Augenzwinkern statt der großen Ironie-Keule. Aber eigentlich möchte ich nicht mehr, daß er diesem Mist eine glaubwürdige Fassade gibt. In einem Interview hat Kavka neulich gesagt: „Gott sei Dank muß ich mein Leben nicht über die Arbeit definieren.” Ja. Und doch wär’s schön, wenn ein paar Fernsehmacher es notfalls könnten.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Mirja Boes

Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass an einem Abend im September 2043 eine Gala im Fernsehen laufen wird, die die Entertainerin Mirja Boes zu ihrem 70. Geburtstag hochleben läßt und auf ihre schönsten Erfolge zurückblickt (mit einer bewegenden Live-Schaltung zur 102jährigen Heidelinde Weis auf dem „Traumschiff“) und in der Freunde und Kollegen an das Jahr erinnern, in dem diese erstaunliche Karriere begann: an den Sommer 2006, als RTL beschloss, Mirja Boes ganz groß rauszubringen.

Ausgeschlossen ist das nicht. Wahrscheinlicher ist, dass dieses Jahr in Erinnerung bleiben wird als das, in dem Mirja Boes nahtlos den Übergang schaffte von einer mittelbekannten, derben, aber nicht unlustigen Sketch-Komikerin zu einer dieser allgegenwärtigen Scheinprominenten, die, wo man auch hinzappt, immer schon da sind und „lustige“ Sachen sagen. Und das, ohne den früher üblichen Umweg genommen zu haben, zwischendurch ein echter Publikumsliebling gewesen zu sein.

Das kann man Mirja Boes nicht einmal vorwerfen. Und bestimmt hat es auch RTL gut gemeint. Boes spielt für den Sender in einer neuen Sitcom namens „Angie“ eine „chaotische Parfümerie-Angestellte mit Pech in der Liebe“, und offenbar fand jemand, dass die Frau viel zu lustig ist, um nur eine Sendung zu machen. Oder dass auch bei Talentförderung „viel hilft viel“ gilt. Oder auch nur, dass man dem Publikum, das Boes vor allem aus der Sat.1-Sketch-Show „Die dreisten Drei“ kennt, massiv zeigen muss, wo sie jetzt zuhause ist. Jedenfalls saß Mirja Boes am Freitag schon in drei RTL-Sendungen herum: Sie moderierte nüchtern eine Besoffenen-Gröl-Show namens „Karaoke-Showdown“ weg. Sie ist fester Gast bei der Bekifften-Rateshow „5 gegen 100“. Und sie kam im Countdown der „10 größten Showmaster“ zu Wort und sagte, glaube ich, dass Rudi Carrell Holländer war. Sie saß da also neben Menschen wie Ingo Appelt, die sich in diesen Sendungen ihr Gnadenbrot verdienen, und ist jetzt schon dort angekommen, wo Aleksandra Bechtel seit Jahren nicht mehr wegkommt.

Der Sender nennt Boes „Schauspielerin, Sängerin, Musikerin und Moderatorin“ und „vielseitig talentiert“. Komische Logik: Jetzt, wo RTL sie ganz groß raus bringt, wird sie weniger denn je davon zeigen können. Wenn sich jemand neben ihr im Karaoke verausgabt, darf sie „großartig“ sagen. Das ist es schon.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Elisabeth Volkmann

Als erstes würde ich das Wort „Ulknudel“ verbieten. Dafür wenigstens muß man dem Privatfernsehen dankbar sein, dass es das Wort „Komikerin“ endgültig in der deutschen Sprache etabliert hat und vielleicht künftige Generationen von Unterhalterinnen nicht auch noch in ihren Nachrufen das Wort „Ulknudel“ lesen müssen.

Für mich war Elisabeth Volkmann nicht kalkweiß. Für mich ist sie sattgelb. Sie trägt einen Turm aus blauen Haaren, eine Kette aus roten Perlen, die sich tief in ihren Hals eingedrückt haben, und ein trägerloses hellgrünes Kleid. Für mich ist Elisabeth Volkmann seit 15 Jahren Marge Simpson. Sie ist vielleicht der einzige Grund, warum man sich die „Simpsons“ gelegentlich auch auf Deutsch ansehen sollte, trotz der grotesken Übersetzungsfehler.

Man braucht nur drei Wörter von dieser Marge zu hören, um Elisabeth Volkmann für diese Rolle zu verehren. Am Anfang einer Folge würzt Marge die Koteletts für ihren Ehemann Homer und sagt: „Ein bisschen Rooosmarin, eine Prise Thyyymian, eine Prise Maaajoran“, und wie sie die Vokale gleichzeitig brüchig und heiser macht und sie dennoch schwingen und tanzen läßt, das macht ihr keiner nach. Im Gegensatz zu den Knallchargen aus „Klimbim“ war ausgerechnet Marge Simpson keine Comicfigur, und Elisabeth Volkmann sprach sie auch nicht so. Sie verlieh dieser Marge mit ihrer Stimme eine ungeschliffene Bodenständigkeit, durch die jederzeit die Fähigkeit zur Hysterie und Extravaganz durchschimmert. Elisabeth Volkmann schien mir in der Öffentlichkeit ganz ähnlich und genau umgekehrt: Ihre äußere Schicht war das Überkandidelte, aber das Solide, Bodenständige, In-sich-Ruhende schimmerte immer durch.

Volkmann gab Marge Simpson in Deutschland eine Seele, und daß ihr das gelang, obwohl sie dafür in einem dunklen Studio mehrere hundert kleinste Szenenschnipsel an einem Tag aufnehmen mußte, macht es noch erstaunlicher. Pro Sieben zeigte gestern eine Folge der „Simpsons“, in der Marge fast nicht vorkam. Der Gedanke, zur Ehre von Elisabeth Volkmann einfach die selbstironische Folge zu zeigen, in der Marge gegen die Gewalt im Fernsehen kämpft, oder die wunderbar romantische Geschichte, wie sie beinahe dem Charme eines französischen Verehrers erliegt, dieser Gedanke ist bei Pro Sieben natürlich niemandem gekommen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Gabi Bauer

Gabi Bauer spricht nicht mehr mit mir. Nicht, dass sie neuerdings immer die Mailbox drangehen lässt oder nicht mehr zum Grillen vorbeikommt — wir kennen uns gar nicht. Aber früher hat sie mir fast jeden Tag erzählt, was so passiert ist. Sie hat hinter ihrem „Tagesthemen“-Schreibtisch gesessen und das Weltgeschehen für mich in kurze Hauptsätze zerlegt. Das Erstaunliche war, dass ich das Gefühl hatte, sie erzählt da nichts einer Fernsehnation — sie erklärt das nur mir. So natürlich und entspannt saß sie da und lehnte sich nach vorn und schaute mich an.

Wenn Gabi Bauer heute das „Nachtmagazin“ moderiert, tritt sie erst einmal auf. Das bedeutet, dass sie erst hinten im Studio steht, dann vier Schritte macht und dann vorne im Studio steht. Und dann geht die Sendung los. Und dann steht sie also da. Ohne irgendeinen Tisch zum Aufstützen, ohne eine Wand zum Anlehnen, ohne ein Pult zum Einfach-mal-die-Beine-dahinter-Kreuzen. Zum Festhalten hat sie nur einen kleinen Packen Karten, die sie im Lauf der Sendung immer mehr rollt. Gabi Bauer erklärt immer noch, statt Nachrichten vorzulesen, aber weil sie so haltlos frei im Raum steht, das Gewicht auf einem Fuß, macht sie dazu ausladende Bewegungen. Beschreibt sie etwas Großes, breitet sie die Arme aus. Beschreibt sie etwas Kleines, zeigt sie mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand, wie groß ein Zentimeter ist. Oft gehen ihre Hände synchron nach links, nach rechts, beschreiben ein Einerseits-Andererseits, selbst wenn Gabi Bauer gerade gar nichts erklärt, das zwei Seiten hat. Ihre Haltung ist so entspannt wie die eines Party-Gastes, der nun schon zehn Minuten fern jedes Cocktail-Tischchens in ein Gespräch mit Fremden verwickelt ist und noch nicht mal ein Glas Sekt bekommen hat, an dem er sich festhalten könnte.

Wer denkt sich so was aus? Wer glaubt, dass es die beste Haltung für eine Nachrichtenmoderatorin ist, unentspannt und tischlos mitten im Raum herumzustehen? Und wenn sie da schon stehen muss, warum kann sie da nicht schon vor der Sendung stehen? Warum muss sie am Anfang noch diese lächerlichen vier Schritte aus dem Dunkel eines Studios machen, das so aussieht, als sei es überhaupt nur fünf Schritte lang? Was kommt als nächstes? Eine Showtreppe?

Am Montag sprach Gabi Bauer in der Sendung mit einem Mann, der — wie sie — in Hamburg war und — jede Wette: zwei Meter von ihr entfernt ungefähr an ihrem alten Platz saß. Aber Gabi Bauer schaute nicht zu ihm, sondern starr nach vorn in die Kamera. Und er erschien auf der Multivisionswand hinter ihr und schaute auch starr nach vorn in die Kamera. Aber zwischendurch, wenn sie sprach, guckte er ein paar Mal zur Seite, dorthin, wo anscheinend die echte Gabi Bauer war, der er in die Augen hätte schauen können, wenn sie nicht von ihrem Stehplatz aus nach vorn in die Kamera hätte gucken müssen. Es war sehr verwirrend.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

WM-Fernsehen

Die Welt und ihre Freunde zu Gast bei mir. Mit Beginn der WM fallen bei den Fernsehsendern alle Hemmungen. Ein Selbstversuch.

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Es ist nur ein Gerücht, daß schon alles gesagt sei, aber noch nicht von allen. Im „Frühstücksfernsehen“ am Freitagmorgen sitzt die Sat.1-Hausastrologin und sagt mit der ihrer Berufsgruppe eigenen Ernsthaftigkeit Dinge, die vorher sicher noch nie jemand gesagt hat: „Egal wie es ausgeht, am Wochenende wird erst mal gefeiert“ — eine Prognose, die wir bei einer, sagen wir, 1:5-Niederlage der Deutschen doch gerne überprüft hätten. „Der Klinsmann ist ein Doppellöwe“, sagt sie noch. Und über Miroslav Klose: „Von dem werden wir hören.“ Da lacht sogar die Moderatorin.

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Freitagmorgen. Der Countdown im ZDF zählt schon die Sekunden runter. Es ist der Tag, an dem kein Moderator, kein Experte, kein Studiogast um den Satz herumkommt, daß es nun endlich losgeht. Also, „nun“ im Sinne von: in ein paar Stunden, bald, nicht mehr lange, noch genau: 12 Stunden, 25 Minuten und 4 Sekunden. Dann wird sogar das Endlich-Sagen endlich ein Ende haben. Endlich.

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Bei n-tv läuft um diese Zeit noch ein anderer, interner Countdown. Der, bis man wieder anfängt, frisches Programm zu produzieren. Hier laufen Nachrichtenattrappen, die man offenbar irgendwann kurz vor Mitternacht aufgenommen hat, um sie bis in den Morgen zu wiederholen. Die Wetterfrau sagt immer wieder schönes Wetter für den „morgigen“ Eröffnungsspieltag voraus. Die Nachrichtensprecherin sieht munterer aus als die Kollegin, die seit 5.30 Uhr das ZDF-Morgenmagazin moderiert. Aber sie verabschiedet sich noch um kurz vor sieben mit den Worten: „Kommen Sie gut durch die Nacht!“

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Bei der Konkurrenz von N24 hat man dagegen schon am frühen Morgen einen fast ungesunden Ehrgeiz entwickelt und reiht besinnungslos eine Live-Schaltung an die nächste. Reporter Ulli Köhler steht offenbar schon länger in Sichtweite des Stadions in München und muss dort abwechselnd für N24 und Sat.1 berichten. „Die Sonne, der Planet, scheint auch schon“, sagt er glücklich und erklärt freundlicherweise, die deutsche Nationalmannschaft habe ihr Hotel „im Englischen Garten, das ist ein großer Park mitten in München“.

Alexandra Karle steht für N24 zwischen Reichstag und Brandenburger Tor. „Alex, wie ist die Stimmung“, fragen die Moderatoren ihre Korrespondentin, hinter der ein paar Absperrgitter und ein Grüppchen gelangweilter Sicherheitsleute zu sehen sind. „Ehrlich gesagt“, antwortet Alex, „ist das schwer zu sagen, morgens um sieben.“ Sie berichtet dann immerhin noch, daß die Sicherheitskontrollen schon jetzt total streng seien. Hinter ihr fährt ein Fahrradfahrer unbehelligt durch die Absperrung. Dann ein Bus.

Weiter nach Gelsenkirchen zum N24-Reporter, der aus einem Jugendcamp berichtet. Bis vier Uhr morgens sei hier noch gefeiert worden, sagt er. Deshalb würden jetzt wohl auch noch alle in ihren Zelten schlafen. Aber schön, das mal live gesehen zu haben: Zelte.

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Auch n-tv hat inzwischen jemanden live auf dem Berg gegenüber der „FIFA-WM-Arena München“, wie erstaunlicherweise alle sagen. Frage vom Studio auf den Hügel: „Wieviel Spannung liegt in der Luft, Britta?“

Bei N24 informiert ein Laufband über Neues aus der Politik: Mehrere Politiker wollen an der Warschauer Schwulendemonstration teilnehmen: „Volker Beck und Claudio Roth“.

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Fernsehtechnisch gesehen ist das Schlimmste an so einer WM ja nicht, daß nichts anderes mehr läuft, sondern daß die Sender glauben, sie können uns nun alles zumuten. Das ZDF veranstaltete am Donnerstagabend eine „Fifa-WM-Ticket-Show“. Sie wäre deutlich unterhaltsamer und weniger chaotisch gewesen wäre, wenn man die Menschen einfach vor einen einzelnen Ticketcounter gestellt und den ersten 2000 eine Karte in die Hand gedrückt hätte.

Am Freitagnachmittag strahlte das ZDF eine Sendung aus, die als „Wir warten auf den Anpfiff“ angekündigt war, dann aber doch ohne das „Wir“ am Anfang auskam — vermutlich hatte noch irgendjemand im Sender genug Sinne beisammen, zu erkennen, wie peinlich treffend die Nähe zum Weihnachtsritual „Wir warten auf das Christkind“ war. Der „ZDF-Showtruck“ hatte am Marienplatz in München haltgemacht, und auf der „ZDF-Showbühne“ standen zwei Menschen, die es (ähnlich wie die Zuschauer) nicht fassen konnten, daß sie diese Sendung moderieren durften. Gelegentlich fragten sie jemanden, wer Weltmeister wird, und wenn die Antwort „Deutschland“ lautete, juchzte Moderatorin Yvonne Ransbach. Stargäste der Sendung waren Sibylle Weischenberg, die sonst im Sat.1-Frühstücksfernsehen lebt, Verona Pooth sowie Ramona und Jürgen Drews. Es ist nicht völlig auszuschließen, daß Frau Ransbach noch heute auf dem Marienplatz steht und „großartig, Wahnsinn, Wahnsinn“ ruft.

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Eröffnungsgottesdienst, live. Stellvertretend für die Kinder Afrikas sagt ein Junge: „Wir spielen lieber mit Bällen als mit Waffen.“ Bischof Wolfgang Huber predigt. Seine zentrale These: „Fußball ist ein starkes Stück Leben.“

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ZDF-Moderatorin Babette Einstmann trägt eine niedliche Kette mit drei Fußbällen und droht, wenn ich es richtig verstanden habe, für jede Niederlage der Deutschen einen davon aufzuessen. Zunächst aber schaltet sie ins „ADAC WM-Verkehrsstudio“ und fragt: „Worauf sollte man achten?“ Die Expertin antwortet: „Also, man sollte auf jeden Fall darauf achten: Wie komme ich hin? Das wichtigste ist: öffentliche Verkehrsmittel nutzen.“

Ins Gard-Haarstudio hat das ZDF, soweit ich gesehen habe, nicht geschaltet. Ausschließen möchte ich es aber nicht.

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Thomas Gottschalk hat die Gesprächstechnik des Multiple-Choice-Fragens in Deutschland etabliert: Gästen, die auf dem „Wetten daß“-Sofa Platznehmen, gibt er in einem längeren Monolog mindestens zwei ausführliche Antwortmöglichkeiten vor, zwischen denen sie sich nur noch entscheiden müssen. So bekommt der Zuschauer insbesondere bei maulfaulen internationalen Gästen die Illusion eines flüssigen Gesprächs, auch es wenn natürlich fast ausschließlich der Moderator redet.

Man ahnt also, was Johannes B. Kerner an dieser Fragetechnik gefallen könnte. Am Freitagnachmittag unternahm er einen ersten Versuch, Gottschalks Meisterschaft in dieser Disziplin streitig zu machen und gleichzeitig den als unverwüstlich geltenden Franz Beckenbauer ins Koma zu reden. Er fragte ihn: „Franz, so kurz vor dem Eröffnungsspiel, so kurz vor der Eröffnungsfeier: Kehrt bei Ihnen jetzt Ruhe ein? Daß Sie sagen, Kinder, ab sofort kann ich sowieso nix mehr machen? Freuen Sie sich über diesen Tag? Kommt jetzt die Gelassenheit? Ist jetzt sozusagen die kindliche Naivität eingekehrt in den Körper des Franz Beckenbauer? Oder gibt’s immer noch was zu tun? Und ist immer noch irgendein Stress?“

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Warum können Zeitungen trotz allen Freudentaumels immer noch berichten, dass die Hotelzimmer in München nur gut zur Hälfte ausgebucht sind, während das Fernsehen ununterbrochen den Eindruck erwecken muß, das nächste freie Bett befinde sich ungefähr in Südtirol?

Natürlich ist so ein WM-Eröffnungstag nicht der ideale Tag für kritische Nachfragen. Aber vielleicht hätten die enthusiasmierten Mittagsmoderatoren auf Michael Steinbrechers Thesen zum Zerwürfnis zwischen Ballack und Klinsmann nicht jedes Mal mit der Frage antworten müssen: „Und ist der Bus noch da?“

Und wer eine ZDF-Dokumentation über Beckenbauers Rundreise durch die Teilnehmerstaaten stolz damit beginnt, wie er als letzte Station auch den eigenen Sender besucht, vergibt sich ohne Not noch den letzten Mikrometer mögliche Distanz zu dieser Heilsgestalt.

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Humor könnte eine Möglichkeit sein, die Spannung aufzulösen und aus dem Zwiespalt der Fernsehleute herauszukommen, gleichzeitig als Animateure und Berichterstatter auftreten zu wollen. Oder, wie Kerner es formulierte: mit „journalistischer Distanz und emotionaler Nähe“ zu berichten. Aber Humor geht mit dieser Art Großereignis gar nicht.

Kerner versuchte es tapfer. Als er seine Gesprächsrunde unterbrechen mußte, damit das ZDF zeigen konnte, wie der Mannschaftsbus vom Hotel losfuhr, sagte er: „Das sind natürlich zeitgeschichtliche Ereignisse: Ein Bus fährt durch Deutschland. Da vergißt man, daß wir schon auf den Mond geflogen sind.“ Doch solche Ironie verpufft, wenn der Sender tatsächlich einen Hubschrauber gechartert hat und damit den ganzen Tag schon die „9,6 Kilometer“ zwischen Hotel und WM-Arena abgeflogen ist, gelegentlich auch mit Umweg über das Olympia-Stadion, „in dem Deutschland zum letzten Mal Weltmeister geworden ist — zumindest auf heimischen Boden“, wie der ZDF-Mann im Hubschrauber sagte. Manchmal filmten die Kameraleute vom Hubschrauber aus die Kameraleute auf dem Boden, und die vom Boden filmten zurück, und es war ein großes Hallo.

Die ARD, die gestern Vormittag übernahm, hat als Humorbeauftragten den Kabarettisten Fritz Eckenga in die eigene WM-„Wohngemeinschaft“ einziehen lassen, aber der setzte gegen das allgegenwärtige Zu-Wichtig-Nehmen auch keine Lockerheit, sondern Griesgrämigkeit, die auch nicht halt.

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Das große Talent von Johannes B. Kerner ist es, aus dem Stehgreif scheinbar druckreife Sätze formulieren zu können. Als Füllwörter fügt er nicht „äh“ oder „öhm“ ein, sondern Begriffe wie „sehr herzlich“ oder „ganz außerordentlich“. Wie Stuck kleben wichtigtuerische Substantivkonstruktionen in seinen Sätzen. Das Nichts ist mit eindrucksvollen, kompetenzheischenden Ornamenten dekoriert.

Das große Talent von Jürgen Klopp ist es, dass er es merkt. Der Mainzer Trainer ist nicht nur deshalb so ein Glücksgriff für das ZDF, weil es schafft, Kompetenz und Verständlichkeit zu kombinieren, sondern auch, weil er der ideale Sidekick für Kerner ist. Mit einem einzigen Laut kann er die Luft aus einer Kerner-Frage herauslassen. Wenn der fragt, ob es nicht ein Fehler war, daß die Nationalmannschaft noch nie in der neuen Münchner Arena gespielt hat, macht Klopp ein Geräusch wie „öapf“, was klingt wie: „Ja, Gott, man kann natürlich in alles etwas hineininterpretieren, aber für diesen Kindergartenkram sucht Euch bitte jemand anderen.“ Als Kerner eine lange Reihe von Statistiken zitiert und nach der „Magie“ von Eröffnungsspielen fragt, sagt Klopp: „Mir ist das scheißegal, wie die alle gespielt hatten“, und das Publikum in der „ZDF-Arena“ applaudiert.

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Es gibt Ideen, die sind nur theoretisch gut. Wie die von RTL, sein WM-Studio im Berliner Fernsehturm einzurichten. Klingt toll — bedeutet aber in der Praxis nur, daß die RTL-Leute bei ihren nächtlichen Zusammenfassungen vor zwei dunklen Fenstern mit Neonröhren stehen. Billiger sieht nur das Studio der Tochter n-tv aus, wo der Sportmoderator in eine Art Abstellkammer umziehen mußte.

Die Zeiten, in denen die Privatsender den Öffentlich-Rechtlichen zeigten, wie man eine Fernsehsendung state of the art inszeniert, sind ohnehin vorbei. Ich möchte lieber nicht wissen, was die „ZDF-Arena“ im Sony-Center am Potsdamer Platz gekostet hat — aber genau so muß heute ein WM-Studio aussehen und genau so muß man das Studio, die Spiele und die Analysen in Szene setzen.

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Und zu Ingolf Lücks witzig gemeinter Sendung „Nachgetreten“, in der Karl Dall sagte, er hätte gedacht, Ecuador würde als Hauptexporteur von Guano auch „Scheiße spielen“, und selbst das hoffentlich alkoholisierte Publikum auf mehrere Holländerwitze mit Totenstille reagierte, nur soviel: Ich habe mir die Namen aus dem Abspann notiert. Die merk ich mir. Alle.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

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Zeitungen erforschen ihre Leser und erfahren, daß sie sich ändern müssen.

Zeitungsleser sind merkwürdig. Sie mögen es, wenn in einem Artikel ein Kasten mit einem Zitat steht. Aber wenn sie dann den Text lesen, hören sie gerne exakt an der Stelle, an der das Zitat im Artikel auftaucht, wieder auf zu lesen. Ein schlauer Redakteur, der solche Erkenntnisse ernst nimmt, wählt deshalb als Zitat für den Kasten eines, das erst weit hinten in seinem Artikel auftaucht. Oder, ganz pfiffig, eines, das gar nicht vorkommt.

Zeitungsjournalisten sind auch merkwürdig. Am liebsten würden sie das gar nicht so genau wissen. Zu abschreckend ist das Beispiel des Fernsehens, das in der Illusion lebt, sekundengenau nachvollziehen zu können, wann gutverdienende 19- bis 39jährige Frauen zur Kochshow umgeschaltet haben. Und man sieht ja, was aus dem Fernsehen geworden ist, das nur noch auf diese Zahlen starrt und sich nicht mehr fragt, was es eigentlich erzählen will. Da ist es kuscheliger als Zeitungsmacher, der kaum weiß, ob seine Artikel nur von Kollegen zur Kenntnis genommen werden oder von vielen Lesern. Im Zweifelsfall glaubt er, ohnehin selbst am besten zu wissen, was der Leser lesen sollte – und wenn der es dann nicht tut, ist es nun wirklich seine eigene Schuld.

Die Vorstellung von Quoten im Zeitungsalltag ist ein Kulturschock für Printjournalisten. Umfragen, was die Menschen lesen wollen, gab es immer schon – aber da gaben dann auch Boulevardzeitungsleser an, daß sie auf Sex & Crime gut verzichten könnten, aber Kultur und Leitartikel: ein Muß! Tagesaktuelle Daten, was die Leute wirklich lesen, welche Artikel und bis zu welcher Zeile, gibt es erst seit wenigen Jahren. „ReaderScan“ heißt die Methode, die der Schweizer Carlo Imboden vertreibt und bei der rund einhundert Menschen stellvertretend für die tatsächliche oder gewünschte Leserschaft mit einem elektronischen Stift markieren, was sie gelesen haben. Angeblich sind ihre Angaben nach einer Eingewöhnungszeit recht realistisch. Imboden ist überzeugt, daß die Daten die Zeitungslandschaft dramatisch verändern werden.

Knapp dreißig deutsche Zeitungen hat er inzwischen als Kunden, darunter „Berliner Zeitung“, „Kölner Stadt-Anzeiger“, „Die Zeit“, „Main Post“. Auch die „Bild“-Zeitung gehört dazu, obwohl deren „Sprecher“ das nicht bestätigt. Gerüchten zufolge wird in der Frankfurter „Bild“-Ausgabe mit ReaderScan getestet, welche Überschriften am besten funktionieren. Über mehrere Wochen erhalten die Zeitungen täglich detaillierteste Angaben über Lesequoten jedes Artikels und können versuchen, Zusammenhänge mit dem Thema, der Aufmachung oder der Länge herzustellen. Die Ergebnisse sind nicht immer die, die man sich als ambitionierter Journalist wünscht. Bei der „Berliner Zeitung“ zum Beispiel kam heraus, daß jeder Versuch einer feuilletonistischen Überschrift die Leser abschreckt, selbst wenn es in der Unterzeile um so sachlicher zugeht. Andererseits stellten die Redakteure verblüfft fest, daß man die Lesequote schon mit kleinen handwerklichen Tricks erheblich steigern konnte.

Aus den Daten lassen sich nicht die vielleicht zu erwartenden Argumente für eine Verflachung der Inhalte ablesen. Die Leute werden zwar gerne unterhalten, aber sie lesen Zeitung vor allem, um solide und hintergründig informiert zu werden. Die „Berliner Zeitung“ merkte, daß die vermeintlich so angesagten kleinteiligen Serviceseiten viel schlechter ankamen als gute durchgeschriebene Texte. Bei der „Zeit“ sollen ausgerechnet die Artikelriesen im „Dossier“ besonders gut gelesen worden sein, beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ kamen die großen Politiktexte auf den Seiten zwei und drei gut an. „Es gibt einen Bedarf nach langen und ausführlichen Texten“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Joachim Frank. „Allerdings: Sobald so ein Artikel schlecht geschrieben oder schlecht gestaltet ist, steigen die Leser in Scharen aus.“

Auch beim „Berliner Kurier“, der die Methode als erste Boulevardzeitung eingesetzt hat, staunte man, wie gut politische Themen ankamen. Bei größeren Ereignissen sei der „Kurier“ nun eher bereit, den Seitenumfang für die Politik auch zu verdoppeln, sagt Chefredakteur Hans-Peter Buschheuer. Verblüfft registrierte die Redaktion auch, daß ein eher versteckter Artikel über Breitbandangebote hervorragende Leserzahlen hatte, versuchte erfolgreich, das Ergebnis zu reproduzieren, und weiß nun, daß die „Kurier“-Leser sich heftig für „Digital Lifestyle“ interessieren.

Natürlich gibt es Ressorts, die unter der Betrachtung nach Quoten leiden. Die Feuilletons zum Beispiel. Sie müssen feststellen, daß die Leserzahl klassischer Rezensionen gegen null geht. Während die Kulturjournalisten nicht überrascht gewesen sein dürften, trifft es ihre Kollegen aus dem Sport eher unvermutet: Viel weniger Menschen als vermutet lesen Sportteile, und bei der verschwindend geringen Zahl von Lesern der Lokalsport-Seiten wäre es vermutlich günstiger, die Spielberichte einzeln durchzutelefonieren. Andererseits sind die örtlichen Lokalsportler und Kulturschaffenden trotz ihrer überschaubaren Zahl nicht ganz unwichtige und notfalls lautstarke Leser, wie die „Main Post“ erleben mußte, als sie ihren Kulturteil nach einer ReaderScan-Welle radikal umbaute und einen Sturm der Empörung auslöste.

Schon die Existenz der Zahlen ist brisant. Sie lassen sich als Machtinstrument gegen vermeintliche Luxus-Angebote einsetzen. Man kann mit ihnen Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellen, in denen die gesellschaftliche Funktion der Tageszeitungen keine Größe ist. Ist ein Ressort als Quotenkiller ausgemacht, kann es unter erheblichen Rechtfertigungsdruck geraten – auch wenn Verleger großer Regionalzeitungen sich beeilen, sich zum Wert solcher Minderheitenangebote zu bekennen. „Das Abschaffen oder Zusammendampfen des Kulturteils wäre für eine Zeitung unseres Zuschnitts undenkbar“, sagt Joachim Frank für den „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Aber wir versuchen jetzt, einen Kulturteil zu machen, der einen weiteren Kulturbegriff hat und mehr Leute anspricht.“

Aber wie ist das, wenn — wie bei der „Berliner Zeitung“ — plötzlich kein klassischer Verleger mehr hinter dem Titel steht, sondern renditeorientierte Investoren und ein erklärter Hochkulturverächter? Da wünschte man sich vielleicht, ihm nicht ganz so viele Argumente in die Hand geliefert zu haben. „ReaderScan-Ergebnisse eins zu eins umzusetzen wäre blanker Selbstmord“, warnt ein Redakteur.

Die Quote ist ein zweischneidiges Instrument: Einerseits bringt sie bestimmte Ressorts in die Defensive, andererseits liefert sie ihnen Anhaltspunkte, mit welchen handwerklichen Mitteln sich die Leserzahl eines Artikels erhöhen läßt — so daß gerade die eher schwierigen, aber wichtigen Themen ihr Publikum finden. „Wichtig ist, nicht die Quoten vom Panorama-Ressort mit denen des Kulturteils zu vergleichen“, sagt Joachim Frank.

Viele Schlußfolgerungen, die sich aus den Zahlen ziehen lassen, entsprechen klassischen Journalistenregeln: Gute Texte werden mehr gelesen als schlechte, es hilft, wenn Text und Bild nicht auseinanderklaffen, wenn überhaupt ein Bild da ist. Um das zu wissen, müßte man natürlich nicht einem Schweizer Geschäftsmann einen sechsstelligen Betrag für das aufwendige ReaderScan-Verfahren zahlen. Aber es scheint einen Unterschied zu machen, diese Regeln theoretisch vorgebetet zu bekommen oder ihre Auswirkungen täglich in der Praxis zu sehen.

Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ hat sich gerade einen recht radikalen neuen Anstrich gegeben — auf der Grundlage von klassischen Umfragen und ReaderScan. „Ich weiß nicht, ob wir ohne Reader-Scan so weit gegangen wären“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Berthold Hamelmann. Im neuen Blatt erkennt man an vielen Stellen typische ReaderScan-Lehren wieder: So stehen die Kommentare nicht mehr geballt an einem Platz, sondern neben dem zugehörigen Artikel, und der Kommentator ist immer mit Bild zu sehen. In zwei weiteren Forschungswellen wird nun überprüft, ob diese und andere Umstellungen die Lesequote erhöhen.

Buschheuer vom „Berliner Kurier“ ist schon einen Schritt weiter. Gegen den Trend gewinnt seine Zeitung seit kurzer Zeit Auflage. Er führt das zu einem wesentlichen Teil darauf zurück, daß man Lehren aus den Quoten gezogen habe. „Durch die über Jahre sinkenden Verkaufszahlen gab es eine latente Verunsicherung in der Redaktion“, sagt Buschheuer. Nun habe sie die „Erdung“ wiedergefunden. „Das ist ein Hilfsmittel, um nicht gegen das Leserinteresse zu arbeiten.“ Es geht bei seiner Zeitung darum, den knappen Platz optimal zu nutzen und die Lesedauer zu erhöhen. Auch er warnt davor, alles rauszuwerfen, was nicht genug Quote bringt. Auch im Supermarkt würden die meisten Leute nur eine kleine Auswahl der angebotenen Produkte je kaufen, aber sie würden erwarten, daß er mehr Produkte anbietet. „Ein ähnliches Sortimentsbedürfnis müssen sie auch als Zeitung befriedigen.“

ReaderScan-Erfinder Imboden glaubt, daß Zeitungen die Ansprache von Minderheiten zum Beispiel im Sport- oder Kulturbereich radikal überdenken müssen. Andererseits sei die Angst vor den Quoten oft unbegründet: „Was die Leser von ihrer Zeitung erwarten, deckt sich stark mit dem, was der Journalist für wichtig hält — da gibt es keinen Widerspruch zu der wichtigen Rolle, die der Tageszeitung von der Gesellschaft in der Demokratie zugeschrieben wird.“ Letztlich bedeute der Einsatz der Quote auch eine Rückbesinnung auf den Kern einer Zeitung: „Sie können eine Zeitung nicht auf Dauer dadurch im Markt halten, daß sie den Lesern Kaffeemaschinen schenken, sondern nur dadurch, daß ihre Inhalte den Leserbedürfnissen entsprechen. Das Geld muß zurück ins Produkt.“

Wenn die Zeitung im härter werdenden Kampf um Aufmerksamkeit überleben will, wird sie auf Dauer nicht darum herumkommen, die Interessen und Verhaltensweisen ihrer Leser besser kennenzulernen und auf sie zu reagieren. Und auch wenn alle ReaderScan-erfahrenen Zeitungsmacher betonen, daß die Quote nicht die Erfahrung, das „Bauchgefühl“ und die Kreativität des Journalisten ersetzt, wünschen sich viele schon den nächsten Schritt, an dessen Umsetzung Imboden gerade arbeitet: ReaderScan als Dauerinstrument, an dem man jeden Tag ablesen kann, von welchem Thema die Leser genug haben und von welchem sie gar nicht genug kriegen können.

Und so verführerisch der Gedanke ist, so sehr klingt das nach der Quotenabhängigkeit, durch die das Fernsehen seine Relevanz verloren hat.

Digitale Revolution

Das Publikum an der Macht. Die digitale Revolution kommt gerade erst richtig in Schwung: Die Tage, in denen eine Handvoll Leute bestimmen konnte, was wir hören, sehen, lesen, sind gezählt. In naher Zukunft werden wir alle Programmdirektoren und Chefredakteure sein.

Trotz fünfzig Jahren Berufserfahrung hätte Deborah Howell nicht damit gerechnet, je in dem Maße beschimpft und beleidigt zu werden, wie es vorletzte Woche tausendfach geschah. Die Ombudsfrau der „Washington Post“ hatte sich mit einer Kolumne den Zorn vieler Leser zugezogen, die sich im Internet zu einer Art Mob formierten. Ihre Haßtiraden füllten die Kommentare in einem Weblog der „Post“, in dem Redakteure mit Lesern über ihr Blatt diskutieren, weshalb man sich schließlich entschloß, die Kommentarmöglichkeit für unbestimmte Zeit abzuschalten.

Mindestens so lehrreich wie diese kleine Episode über die Abgründe der offenen Diskussionskultur im Internet ist, wie sie in deutschen Medien aufgenommen wurde. Bei Spiegel Online erschien eine (bis heute unkorrigierte) Falschmeldung, wonach die „Post“ „ihr Experiment, Leser unter dem Dach der Zeitung bloggen zu lassen, beendet“ habe. Der Autor behauptete, die Zeitung habe ihr Blog geschlossen – was nicht stimmt und zudem verschweigt, daß sie Dutzende Blogs betreibt, fast alle nach wie vor mit offener Kommentarfunktion. Tage später erschien im „Tagesspiegel“ ein noch ahnungsloserer Artikel, der alte Fehler durch neue ersetzte und nebenbei Blogs als „prinzipiell kontrollfrei“ deklarierte, was wohl warnend gemeint war.

Der Subtext der Berichterstattung war unmißverständlich: Hätte man sich ja gleich denken können, daß das nicht gutgehen kann, wenn man das Publizieren und öffentliche Kommentieren nicht den Profis überläßt, Journalisten also. Experiment gescheitert. In Zukunft hört ihr wieder schön zu, was wir zu sagen haben, dann gibt es auch keinen Ärger.

Das wird nicht passieren. Die Zeiten, in denen Medieninhalte von einer kleinen, relativ homogenen Gruppe von Leuten produziert wurden und dem großen Rest nur das Rezipieren blieb, diese Zeiten sind bald endgültig vorbei. Das Publikum wird in Zukunft bestimmen, wann und in welcher Form es Medieninhalte konsumiert, es wird in einen viel stärkeren und öffentlicheren Dialog über diese Inhalte eintreten, und es wird selbst zum Produzenten von Inhalten.

Und je schneller sich Journalisten und Medien darauf einstellen, um so größer ist die Chance, daß sie auch unter diesen Bedingungen noch besonderes Gehör finden werden.

Es wird nicht damit getan sein, die neuen Kommunikationstechnologien als schöne Attrappen in das eigene Angebot zu stellen. Einige Versuche von Zeitungen, den Hype um Blogs nicht zu verpassen, sind Zeugen eines großes Mißverständnisses. Das Neue an dieser Technik ist nicht, daß Journalisten nun auch unter der modischen Rubrik „Blog“ Artikel schreiben können, die dann statt in der Zeitung im Internet erscheinen. Neu ist die Möglichkeit, ungefiltert, mutig und schnell zu schreiben, Nicht-Journalisten eine Stimme zu geben, in einen echten Dialog mit Lesern einzutreten, auf andere Seiten zu verlinken und zu reagieren. Die „Süddeutsche Zeitung“ (um nur ein Beispiel zu nennen) nutzt diese Möglichkeiten ungefähr so gut wie jemand, der in ein Flugzeug steigt, um damit schön über die Autobahn zu rollen. Vierzehn Blogs hat die „SZ“, die meisten Autoren schreiben einmal im Monat etwas rein und ignorieren dann, was andere dazu schreiben. Das Medium, das dafür besser geeignet wäre, ist schon erfunden und heißt „Buch“.

Diese Blogs sollen Interaktivität suggerieren und demonstrieren das Gegenteil. Echte Interaktivität wäre aber auch ein wahrhaft revolutionäres Konzept. Der amerikanische Journalist und Vordenker Jeff Jarvis, der unter anderem die Online-Ausgabe der „New York Times“ berät, beschreibt es so: „Das Problem mit der Art, wie die Medien Interaktivität definieren, ist, daß es immer um kontrollierte Reaktionen auf die Tagesordnung des Mediums geht: Kommt und redet über unser Zeug. Sie wird gestaltet wie ein Museum für Kinder, mit Knöpfen, die man drücken kann und die einen beschäftigen sollen. Das ist die Botschaft, die alle Foren und Chats und Blogs vermitteln, die sich mit den Veröffentlichungen der Medien beschäftigen. Bei Interaktivität geht es um mehr als ums Reagieren. Es geht ums Gestalten. Es geht nicht um kontrollierte Autorität. Es geht um geteilte Autorität.“

Kontrollverlust? Autoritätsverlust? Kein Wunder, daß vielen Journalisten sogenannter etablierter Medien vor der digitalen Zukunft (um nicht zu sagen: Gegenwart) graust. Wenn sie daran denken, daß das Publikum mitredet, sehen sie dumpfe Gestalten, die sich einen eskalierenden Brüllwettbewerb liefern, wie scheinbar in jenen Online-Kommentaren bei der „Washington Post“ (obwohl auch hier von den tausend Kommentierern nur eine Minderheit die Regeln verletzte). Was sie meist nicht sehen, ist die Chance, stärker, besser, klüger zu werden, wenn sie auf ihr Publikum hören. Der Journalist Dan Gillmor, der den Begriff citizen journalism geprägt hat, sagt im notebook-onlinejournalismus.de: „Etwas, das ich vor langer Zeit gelernt habe, als ich im Silicon Valley über Technologie geschrieben habe: Die Gesamtheit meiner Leser weiß viel mehr als ich! Das war eine großartige Chance, besseren Journalismus zu produzieren.“

Man fühlt sich einigermaßen albern, über solche Konzepte zu diskutieren, wenn man sich die Online-Realität deutscher Medien ansieht. Zu deren Standard gehört es, Foren einzurichten. Hier kann jeder seine Wünsche, Beschwerden, Anregungen, Fragen loswerden – er könnte sie alternativ aber auch auf ein Stück Papier schreiben und verbrennen, mit ungefähr derselben Wirkung. Meist sind diese Foren kleine verwahrloste Interaktivitätsattrappen. Nicht selten wird der Online-Nutzer wie ein Idiot behandelt. Wenn „Bild“ hundert Gründe aufschreibt, warum Mozart toll ist, macht Bild-Online daraus ein Pop-up mit je einem Grund, so daß man hundert Mal klicken muß, was kurzfristig gut ist für die Statistik – und jeden halbwegs intelligenten Leser auf Dauer vertreibt. Wer auf bravo.de die Titelgeschichte anklickt, kommt nicht zum zugehörigen Artikel, sondern muß sich noch ein halbes Dutzend Mal durch verschachtelte Menüs klicken.

Dahinter steckt der Versuch, dem Publikum den Abschied von den etablierten Vertriebswegen so unattraktiv wie möglich zu machen. Und die Sorge, daß Leser, Zuschauer und Nutzer sich tatsächlich nur noch das angucken, was ihnen gefällt. Genau diese Möglichkeit bietet das Internet, und man könnte nun annehmen, daß die Medien versuchen, dadurch eine besonders gute Ausgangsposition zu erreichen, daß sie ihren Lesern diesen Wunsch erfüllen. Häufiger ist das Gegenteil der Fall: Die Angst, daß das Publikum das Gesamtpaket aufschnürt und sich nur noch heraussucht, was ihm gefällt, ist so groß, daß man ihm das Aufschnüren so schwer wie möglich macht.

In ein paar Jahren wird man auf eine Zeit, in der voraufgezeichnete Fernsehprogramme nur zu einer einzigen, bestimmten Zeit anzusehen waren (und auch dann erschwert durch Werbeunterbrechungen), ähnlich mitleidig zurückschauen wie heute auf Stummfilme oder Fernsehgeräte, die nur ein Programm zeigten. Welchen Grund gibt es, auf die nächste Folge von „Desperate Housewives“ eine Woche zu warten? Oder zu verzweifeln, daß man die letzte Folge verpaßt hat? Keinen – in Zeiten von Breitband und verschmelzender Technik von Fernsehern und Computern.

Die Zeichen dafür sind unübersehbar: Die BBC experimentiert mit einem eigenen Media-Player, über den das riesige Archiv zugänglich gemacht wird. Nutzer können die Clips herunterladen und austauschen, und jeder, der die BBC-Rundfunkgebühr bezahlt hat, soll sie kostenlos sehen können. Vor drei Monaten gab das amerikanische Network ABC bekannt, seine Serien auch über den Apple-downloaddienst iTunes verfügbar zu machen. Für 1,99 Dollar kann man eine Folge von „Lost“ oder „Desperate Housewives“ auf den Computer oder den iPod herunterladen. Konkurrent NBC („Law & Order“) folgte im Dezember, diese Woche schloß MTV Networks („Spongebob Schwammkopf“, „South Park“) einen entsprechenden Vertrag ab.

Solche Plattformen eröffnen den Produzenten und Sendern nicht nur neue Erlöswege jenseits der Werbung; sie helfen ihnen auch, neue Zielgruppen zu erobern. Verblüfft stellte NBC fest, daß sich die Quoten für die Comedyserie „The Office“ dramatisch verbesserten, nachdem das Network Folgen davon bei iTunes zum kostenpflichtigen Runterladen angeboten hatte. Vertriebschef Frederick Huntsberry glaubt, daß durch iTunes neue Zuschauerschichten auf die Show aufmerksam wurden: „Konsumenten haben die Wahl, und wir erreichen nicht alle Konsumenten mit nur einer Technologie.“ Vor allem ein sehr junges Publikum werde so erstmals erreicht. Und Jeff Jarvis fügt hinzu, man möge sich nur vorstellen, um wieviel größer die Wirkung gewesen wäre, wenn NBC eine Folge von „The Office“ kostenlos (aber mit Werbung) zum grenzenlosen Download und Weiterreichen zur Verfügung gestellt hätte.

Zweifellos werden Menschen in absehbarer Zeit selbst entscheiden, wann und wie sie ihre Lieblingsprogramme sehen. Selbst ohne Breitband-Angebote kann man einen Vorboten davon in Deutschland schon erkennen: die explodierenden Umsätze mit Fernseh-DVDs. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Art der Programme, die produziert werden. Das kommerzielle Fernsehen von heute fährt ganz gut damit, Sendungen herzustellen, die eine große Zahl von Leuten gerade so wenig langweilt, daß sie nicht ausschalten. Zu den Gewinnern der Zukunft werden Produzenten gehören, die es schaffen, Inhalte herzustellen, die eine bestimmte Zahl von Leuten wirklich sehen will – und deshalb bereit ist, dafür Zeit oder Geld zu investieren.

Und es wird nicht mehr nötig sein, das Okay von mutlosen Senderverantwortlichen zu bekommen. In Großbritannien produziert der Komiker Ricky Gervais, Hauptdarsteller und Miterfinder von „The Office“ (dem Vorbild für „Stromberg“), eine wöchentliche Radioshow als Podcast. In den ersten sieben Wochen ist sie über zwei Millionen Mal heruntergeladen worden. „Normalerweise muß man eine Show auf BBC Radio 1 oder Radio 2 machen, um von Millionen Leuten gehört zu werden“, sagt Gervais. „Das Problem ist, daß diese Sender von einem erwarten, kompetent und professionell zu sein. Wir mußten einen Weg finden, das zu umgehen.“

Das kann man schon wieder als eine alarmierende Aussage und das Ende aller professionellen Standards sehen. Doch im deutschen Fernsehen sind professionelle Standards längst gleichbedeutend mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner, unbedingter Massentauglichkeit und Innovationsfeindlichkeit. Je mehr das Fernsehen dadurch zu einem durchformatierten Medium wie dem Radio wird, das eigentlich nur nebenbei zu konsumieren ist, um so größer ist der Bedarf an aufregenden Alternativen. Das Internet wird sie bieten.

Der amerikanische Sender Comedy Central hat im November ein Breitband-Portal namens „Motherload“ eröffnet. Dort kann man sich nicht nur viele hundert Clips aus bekannten Programmen des Fernsehkanals ansehen, sondern auch eigens für das Internet hergestellte Produktionen. Es soll ein Ort für experimentellere Programme sein, nichttraditionelle Stimmen, Formate jenseits der üblichen dreißig Minuten – kurz: ein „Brutkasten“ für neue Ideen.

Daß nur eine kleine Gruppe von Menschen die Möglichkeit hatte, Inhalte zu erzeugen und einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, lag allein an technischen Beschränkungen: Die Kanäle und Vertriebswege waren limitiert und teuer. Das hat sich inzwischen geändert, nun ist potentiell jeder Produzent von Inhalten – und schlaue Medien nutzen das neue kreative Potential für sich. Im Kleinen probiert das gerade das Religionsportal des ORF im Internet, das unter religion.orf.at seine Nutzer auffordert, in eigenen Filmchen zu zeigen, was ihnen „heilig“ ist. Systematischer geht der britische Fernsehsender Channel 4 das Thema an. Unter dem Label „FourDocs“ kann jeder vierminütige Dokumentationen hochladen und mit der Welt teilen. Der Erfolg ist groß genug, um demnächst ein verwandtes Projekt namens „FourLaughs“ zu starten, das ein Showroom für Komiker werden soll. Diese Projekte sind kein Selbstzweck, Channel 4 erhofft sich auf diese Art, nicht nur ein Publikum an sich zu binden, sondern spannende neue Talente zu entdecken.

Auf der internationalen Fernsehmesse NATPE zitierte BBC-Chef Michael Grade diese Woche in Las Vegas Schätzungen, wonach in zehn Jahren zehn bis fünfzehn Prozent der neuen Inhalte von Anbietern wie „Ein-Mann-Bands, Hinterhof-Produktionen und Leuten, die eine gemeinsame Leidenschaft wie Fliegenfischen haben“ stammen wird. „On-Demand kommt und wird alles ändern“, sagt er. „Wir werden die Medienwelt nicht wiedererkennen.“

Für zukünftige Generationen wird es keine unüberbrückbare Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten von Medieninhalten mehr geben. Laut einer amerikanischen Studie hat die Hälfte aller Zwölf- bis Siebzehnjährigen ein Blog oder eine Homepage, hat eigene Kunstwerke oder Fotos, Geschichten oder Videos im Internet veröffentlicht oder die von anderen weiterverarbeitet. Die Untersuchung nennt sie „Content Creators“.

„Was früher nur eine Vorlesung war“, sagt Dan Gillmor, „bewegt sich immer mehr in Richtung einer Konversation. Wenn Medien ihre Attitüde und ihre journalistische Praxis nicht ändern, um darauf zu reagieren, wird ihnen das auf lange Sicht schaden.“ Oder in den Worten von Jeff Jarvis: „Wer nicht Teil der Konversation ist, wird nicht gehört werden.“

Es ist erstaunlich, wie wenig über diese Revolution in Deutschland gesprochen wird, wie wenig Ansätze hierzulande zu erkennen sind, ihr gerecht zu werden. Vielleicht liegt es daran, daß diese Revolution schon einmal angekündigt war, vor ein paar Jahren im allgemeinen Dotcom-Hype, und dann doch nicht eintrat. Jetzt hat sie begonnen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Presserat

Zur Sache, Kätzchen. Der Presserat wird fünfzig. Er tut niemandem weh — außer denen, die sich von ihm wirksame Selbstkontrolle erwarten

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Fragen Sie mal einen, der Publizistik studiert hat oder auf der Journalistenschule war, nach dem Deutschen Presserat. Reflexartig wird er antworten: „Der zahnlose Tiger“.

Seit Generationen klebt diese Metapher am Selbstkontrollorgan der Presse, und zu den größeren Irrtümern gehört der Glaube, daß es sich dabei um Kritik handele. In Wahrheit schmeichelt ihm das Bild vom „zahnlosen Tiger“, weil es den Eindruck erweckt, er würde zubeißen, wenn er nur könnte. Nein, der Presserat ist etwa so angriffslustig wie ein Goldfisch und so agil wie eine Riesenschildkröte.

Da war doch diese Debatte, ob es ethisch vertretbar sei, daß „Bild“ über einem Foto der entführten Susanne Osthoff titelte: „Wird sie geköpft?“ Anfang Dezember diskutierte darüber „ganz Deutschland“. Der Presserat diskutiert darüber Anfang März. In die Debatte konnte er nur Wasserstandsmeldungen über die Zahl der eingegangenen Beschwerden werfen und auf das aufwendige Verfahren verweisen, das eventuellen Rügen, Mißbilligungen oder Hinweisen vorausgeht. Fragt man aber Lutz Tillmanns, den Geschäftsführer des Presserates, sieht er da keinen Anachronismus: „Ein Aktualitätshype ist nicht unser Ding. Ich sehe keine Gefahr, daß wir mit unserer Entscheidung zu spät kommen – wir wollen ja auch präventiv wirken.“

Das ist auch so ein Mißverständnis: Alle diskutieren und schauen dann erwartungsvoll auf den Presserat, daß der den Schiedsrichter gibt. Der Presserat aber sagt: „Hey, war doch grad so ’ne interessante Diskussion, macht ruhig weiter, irgendwann mische ich mich vielleicht ins Gespräch und geb‘ euch ein paar Gedanken für die Zukunft mit auf den Weg.“ Tillmanns formuliert es so: „Wir sind kein Polizist, sondern ein Spieler unter vielen. Das Besondere an uns ist allerdings, daß wir die einzige institutionalisierte Einrichtung freiwilliger Selbstkontrolle sind.“

Das gibt dem Presserat, theoretisch, Gewicht. Und praktisch? Nach dem eigenen Selbstverständnis sollen die Entscheidungen des Gremiums ein Leitfaden für Journalisten sein. 2003 mißbilligte der Presserat die „unangemessen sensationelle“ Berichterstattung des „Sterns“ über den „Kannibalen von Rotenburg“. Die „detaillierte Schilderung der Zubereitung und des Essens von Körperteilen“ gehe über ein begründbares Informationsinteresse der Öffentlichkeit weit hinaus. Und nun liest man die Berichte der Boulevardzeitungen über den Revisionsprozeß und fragt sich, ob die den Spruch kennen.

Unveröffentlichte Rügen

Wenn Zeitungen oder Zeitschriften gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat sie „öffentlich rügen“. Das ist seine schärfste Sanktion. Diese Rügen sollen die Gerügten dann abdrucken – so steht es im Pressekodex, und dazu haben sich, nach heftigen Auseinandersetzungen in den achtziger Jahren, die Verlage verpflichtet. Doch tun sie es nicht, hat der Presserat kein Mittel, sie zu zwingen – außer natürlich, sie zu rügen.

„Unsere Sanktionsmöglichkeiten sind effektiv und werden ernst genommen“, widerspricht Tillmanns, „insgesamt wird die Pflicht zur Rügenveröffentlichung branchenweit akzeptiert.“ Aber wenn es um heikle, umstrittene Fälle geht, keine Pannen, die die Verlage zähneknirschend einräumen, fehlt dem Presserat jedes Druckmittel. Schlimmer noch: Er zieht sich zurück auf eine Position des freundlichen Abwartens. Eindrucksvoll demonstriert das der lange schwelende Konflikt zwischen Presserat und „Bild“. Sechs öffentliche Rügen, die das Blatt 2004 kassierte, hat es nicht abgedruckt. Tillmanns sagt: „Ich bin zuversichtlich, daß das noch passieren wird. ,Bild‘ hat uns nichts Gegenteiliges mitgeteilt. Diese Rechnung ist noch offen, aber es ist klar, daß es keine offene Rechnung bleiben darf.“ Es klingt nicht, als ob er mal den Gerichtsvollzieher rufen wolle.

Um die Treuherzigkeit dieser Haltung richtig zu würdigen, muß man sie mit der Aggressivität vergleichen, mit der die „Bild“-Zeitung ihren Standpunkt formuliert: Mehrere Rügen seien „unter schweren Verstößen gegen die Verfahrensordnung zustande gekommen“. Chefredakteur Kai Diekmann habe den Presserat „umgehend schriftlich um Klärung gebeten, aber über sieben Monate keine Antwort erhalten“. Nach einem gemeinsamen, unbefriedigenden Gespräch habe „Bild“ den Presserat im September 2005 erneut gefragt, wie nun verfahren werden solle – eine Antwort stehe aus.

Na, da können ja beide Seiten noch ein bißchen warten, kommt auf ein Jahr mehr auch nicht mehr an. Vielleicht platzt vorher in China noch ein Sack Reis.

Vor drei Jahren, es ging um die „Miles & More“-Affäre, nannte Diekmann den Presserat ironisch den „Gralshüter der sauberen Recherche“. Die „Zweifel an der Wahrhaftigkeit“ der „Bild“-Vorwürfe stellten „die Sinnhaftigkeit dieser Institution in Frage“. Auf die Frage, ob „Bild“ die „Sinnhaftigkeit“ des Presserates immer noch in Frage stelle, antwortet „Bild“-Sprecher Tobias Fröhlich heute: „Nur der Presserat selbst kann seine Sinnhaftigkeit erschüttern, beispielsweise durch Verfahrenswillkür, Parteilichkeit oder derart kryptische Begründungen, daß die Entscheidungen für die tägliche Redaktionsarbeit mangels klarer Vorgaben unbrauchbar sind.“

Man kann es auf einen einfachen Punkt bringen: Die Urteile des Presserates gelten in der Branche fast nichts. Nicht nur „Bild“ gibt sich unbeeindruckt. Der „Tagesspiegel“ etwa, der für eine Serie über „besonders attraktive Angebote“ von Autohäusern gerügt wurde, weil sie nach Ansicht des Presserates Schleichwerbung darstellte, druckte unter die Rüge den Hinweis, die Reihe werde „ungeachtet der Rüge“ fortgesetzt. Und der „Bote vom Untermain“ veröffentlichte vor zwei Wochen eine „Mißbilligung“ durch den Presserat – und erläuterte gleichzeitig, warum er anderer Meinung bleibt.

Das ist okay. Presserats-Geschäftsführer Tillmanns sagt: „Wir würden nie an so einem Redaktionsschwanz Anstoß nehmen. Dadurch setzen sich die Redaktionen mit der Kritik öffentlich auseinander. Man kann allerdings niemanden zwingen, Erkenntnisse zu akzeptieren.“ Anscheinend ist für den Presserat jede öffentliche Kritik am Presserat auch ein willkommenes Argument gegen den Verdacht, weitgehend ignoriert zu werden. Konfrontiert man Tillmanns mit Internetseiten, auf denen sich Beschwerdeführer bitter beklagen, daß Zeitungen für ihre Verstöße nur mißbilligt wurden, nicht gerügt, so daß nicht einmal eine Veröffentlichungspflicht besteht, nimmt er selbst dies als Beleg dafür, daß Mißbilligungen wirken.

Zaghafte Reformen

Es wäre ein Fehler, die Entscheidungen des Presserates nicht wie Diskussionsbeiträge zu behandeln, sondern wie richterliche Urteile. Aber natürlich machen Menschen immer wieder diesen Fehler. Die Zeitschrift „Öko-Test“ hatte 2004 mehrere Vaterschaftstest-Labore getestet, aber nach Ansicht des Presserates ihre Auswahlkriterien nicht offengelegt. Er sprach eine „Mißbilligung“ aus, die den Labors dann in einem Rechtsstreit gegen „Öko-Test“ als Argument gegen die Zeitschrift diente. „Öko-Test“ klagt deshalb nun seinerseits gegen den Presserat wegen der ausgesprochenen Mißbilligung (eine irgendwie geartete Einspruchsmöglichkeit gegen Presserats-Entscheidungen gibt es sonst nicht). In der ersten Instanz wird die Zeitschrift wohl unterliegen; der Presserat argumentiert, es handele sich bei seiner Entscheidung nur um eine „Meinungsäußerung“.

Die Kritik am Presserat ist nicht neu. Nachdem sie vor zwei Jahren besonders heftig aufflammte, gab es einige zaghafte Reformen: Beschwerdeführer und
-gegner erhalten nun ausführlichere Bescheide, die Öffentlichkeitsarbeit wurde intensiviert, erstmals wurde die Spruchpraxis auf CD-Rom veröffentlicht (allerdings ohne den Namen der gemaßregelten Presseorgane zu erwähnen – der Presserat will auf keinen Fall, daß man seine Entscheidungen als „Pranger“ verwenden kann, selbst dann nicht, wenn zum Beispiel eine Zeitung wie „Bild“ Jahr für Jahr für unzulässige Berichte über Selbstmorde ermahnt wird). Forderungen wie die, die Sitzungen der Beschwerdekammern öffentlich zu machen und nicht nur Vertreter von Verleger- und Journalistenverbänden entscheiden zu lassen, kann und will der Presserat aber nicht erfüllen. Immerhin soll bis November, wenn der Rat seinen 50. Geburtstag feiert, der Pressekodex überarbeitet und modernisiert werden.

Darauf wollten die Mitglieder des Netzwerkes Recherche nicht warten. Sie verabschiedeten gestern in Berlin als Gegenentwurf einen Medienkodex. Darin steht zum Beispiel, daß Journalisten keine PR treiben (obwohl diese Mischung angesichts knapper Honorare für viele Freie die Existenzgrundlage darstellt) und keine Vorteile annehmen dürfen, auch nicht die beliebten Presserabatte. Möglichkeiten, diese Forderungen durchzusetzen, hat das Netzwerk Recherche noch weniger als der Presserat.

Doch dessen Ziel ist, wenn man es genau nimmt, auch nicht die Verbesserung journalistischer Qualität, sondern die Verhinderung staatlicher Kontrolle. Dafür wurde er 1956 gegründet – und das ist immer noch eines seiner Erfolgskriterien. „Wie erfolgreich der Presserat ist, läßt sich auch an der Zurückhaltung des Gesetzgebers ablesen, Gesetze zu erlassen, die die Grenzen journalistischer Arbeit definieren“, sagt Geschäftsführer Tillmanns.

Um das zu erreichen, genügt es offenbar, auf größere Distanz ein bißchen wie ein Tiger auszusehen. Er muß wirklich nicht beißen können.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung