Es war eine dieser üblichen Oktoberfest-Reportagen, vorige Woche auf Vox. Ein Team von „Stern TV“ begleitet Polizisten bei der Arbeit: mit aggressiven Besoffenen, lustigen Besoffenen, halbkomatösen Besoffenen. Plötzlich – ein paar Beamte versuchen gerade, eine Schnapsleiche im Gras aufzuwecken – kommt Aufregung in die Gruppe. Ein Tourist, der ein paar Meter weiter steht, will die Szene mit seinem Kamerahandy festhalten. Ein Polizist brüllt ihn an: „Hey, so lustig ist das hier nicht, daß du das fotografieren mußt!“ Mit ein paar Kollegen geht er rüber und stellt den Mann nachdrücklich zur Rede. Und das Fernsehteam hört kurz auf, Bilder von den Polizisten und der Schnapsleiche zu machen, und macht stattdessen Bilder von dem Mann, der es doch tatsächlich gewagt hat, Bilder von den Polizisten und der Schnapsleiche zu machen.
Der Mann war zu eingeschüchtert, um mit den Polizisten zu streiten. Aber die Diskussion wäre interessant gewesen, in der die Beamten ihm erklären, warum es akzeptabel ist, wenn ein Kamerateam die Szene filmt, um sie als Füllstoff zwischen zwei Werbeblöcken einem Millionenpublikum vorzuführen, aber inakzeptabel, wenn einer sie als hübsche Urlaubserinnerung für sich aufnimmt. Aber vielleicht hätte er das Filmchen ja nicht nur ein paar Freunden gezeigt, sondern ins Internet gestellt. Oder es an „Bild“, den „Stern“ oder sonstwen verkauft und versucht, damit ein paar Euro zu verdienen. Hätte das die Sache schlimmer gemacht? Besser?
Daß heute jeder, der mit einem modernen Mobiltelefon aus dem Haus geht, Aufnahmen wie die Profis machen kann, heißt anscheinend noch lange nicht, daß er es auch darf.
Der Grenzverlauf zwischen guten Fotografen und bösen Fotografen, erwünschten und unerwünschten Fotos wird gerade neu verhandelt. Und einige Leute, die jahrelang die Schmuddelkinder der Branche waren, finden sich im anderen Lager wieder: Als das NDR-Medienmagazin „Zapp“ jetzt über das Problem der zunehmenden Zahl von „Leser-Reportern“ berichtete, diente als Kronzeuge auch ein Mann, der seit Jahren davon lebt, den Polizeifunk abzuhören, schnell zu den Unfallstellen zu fahren und vor Ort zu drehen, bevor die Feuer gelöscht und die Verletzten weggetragen sind, damit sich die Aufnahmen gut an die Medien verkaufen lassen. Er beklagte sich unter anderem, daß die Hilfskräfte inzwischen häufig selbst die Aufnahmen machen. Und, ja: Der Gedanke, daß der Sanitäter, der da neben einem steht, nicht hilft, sondern fotografiert, ist beunruhigend und abstoßend. Aber müssen wir wirklich Mitleid haben mit dem Berufsstand der Katastrophenfotografen, wenn die darunter leiden, daß bald immer schon ein Amateur vor ihnen an der Unfallstelle sein wird? Müssen wir die Leser-Reporter-Schwemme etwa auch deshalb verurteilen, weil sie zweitklassigen Berufs-Paparazzi das Geschäft kaputt machen, die gegen die schiere Allgegenwart von Millionen potentiellen Amateur-Paparazzi nicht ankommen?
Keine Frage: Viele der Sorgen um Anstand und Sorgfalt, um Privatsphäre und Persönlichkeitsrechte, die sich mit dem Phänomen der Leser-Reporter verbinden, sind berechtigt. Schaulustige und Gaffer können aus ihrem Verhalten nun auch noch Kapital schlagen und sich im Ruhm einer Zeitungsveröffentlichung ihres geilen Unfall-Fotos freuen. Unsere Medienwelt wird noch fixierter auf Bilder und es kümmert sie noch weniger, wie echt sie sind, was sie wirklich zeigen und wie sie entstanden sind.
Aber in der reflexhaften Art, wie die Debatte gerade geführt wird, kommen auch weniger hehre Motive zum Ausdruck. Sie ist auch ein Abwehrkampf von Journalisten, die um ihr Monopol fürchten und Angst haben vor dem massiven Kontrollverlust, wenn Leser sich nicht mehr darauf beschränken, passive Rezipienten zu sein. Natürlich ist die Aufregung der Journalistenverbände verständlich, wenn die „Bild“-Zeitung millionenfach täuschend echt aussehende Presseausweise in Umlauf bringt und aus dem Dokument einen billigen Yps-Gimmick macht. Aber was verteidigen die Verbände genau? Wozu berechtigt der „richtige“ Presseausweis eigentlich? Offiziell heißt es: Er soll die Arbeit von Journalisten „erleichtern“, bei Behörden und „anderen für Informationszwecke wichtigen, aber schwer zugänglichen Orten“. Konkreter wird es nicht. Verbirgt sich hinter der Empörung darüber, daß „Bild“ einfach eine Art wertlose Fälschung dieses Dokumentes in Umlauf bringt, nicht auch die Sorge, jemandem könnte auffallen, daß man mit einem selbstgemalten Presseausweis nicht viel weniger machen kann als mit einem offiziell ausgestellten — außer natürlich, daß man damit keine Super-Journalisten-Rabatte beim Kauf von Autos bekommt? Und warum stehen „richtigen“ Journalisten diese Privilegien noch mal zu?
Das Phänomen der Leser-Reporter geht an das Fundament des journalistischen Selbstverständnisses. In Deutschland darf sich jeder, der will, „Journalist“ nennen. Das ergibt sich aus Artikel 5 des Grundgesetzes, der die freie Meinungsäußerung garantiert. Bislang war das praktisch ohne große Bedeutung. Daß sich Hinz und Kunz „Journalist“ nennen konnten, war egal, solange sie kein Massenmedium als Plattform hatten. Jetzt aber kann jeder mit einfachsten Mitteln im Internet publizieren und ein theoretisch unbegrenztes Publikum haben, und aus der akademischen Frage wird plötzlich eine ganz konkrete. Und die Journalisten versuchen, klare Mauern zu errichten zwischen sich, den „richtigen Journalisten“, und den Bürgern, Leser-Reportern, Bloggern.
Das ist keine leichte Sache. Die „Initiative Qualität im Journalismus“, hinter der unter anderem Verleger- und Journalistenverbände stehen, hat eine Erklärung herausgegeben [pdf], in der sie vor den Gefahren „eines so genannten Bürgerjournalismus“ warnte: Solche Bürgerreporter arbeiteten „ggf.“ ohne „hinreichende Kenntnisse“ etwa über Persönlichkeitsrechte oder ethische Standards journalistischer Arbeit. Wie süß. Wie vielen Profi- Journalisten fehlen diese „hinreichenden Kenntnisse“ auch? Und wie viele von anderen setzen sich trotzdem konsequent darüber hinweg? Der NDR berichtete, daß einige der „Bild“-Leser-Fotos vom Transrapid-Unglück aus einem Hubschrauber aufgenommen wurden, der trotz Überflugverbot aufgestiegen sei. Schlimm, wenn es so war. Aber wenn statt „Bild“-Leser-Reportern nun „Bild“-Profi-Reporter als erstes vor Ort gewesen wären: Jede Wette — sie hätten sich auch einen Teufel um das Flugverbot geschert.
Die Grenze verläuft nicht zwischen professionellen Journalisten und Laien-Reportern. Sie verläuft zwischen Menschen, die ethischen Standards einhalten, und denen, die es nicht tun.
Der Leser-Reporter wird nicht wieder verschwinden. Die Zeiten, in denen nicht-professionelle Augenzeugen bestenfalls als Zitatgeber dienten, sind ein für allemal vorbei. In welcher Form das die Medien verändert, ist allerdings noch nicht ausgemacht. Die „Bild“-Zeitung, die eine zweistellige Zahl von Redakteuren allein dafür abgestellt hat, sich um die Leser-Fotos zu kümmern, probiert gerade die Möglichkeiten und Grenzen aus. Nicht alles, was nahe liegt, funktioniert. Die Suche nach dem „besten Papst-Foto“, immerhin mit 5000 Euro Honorar für den Sieger ausgelobt, endete ernüchternd: Auf einigen Fotos war der Papst nicht einmal drauf, viele Schnappschüsse, die einem Millionenpublikum vorgeführt wurden, hätten selbst beim Dia-Abend die Nachbarn vergrault. Der Reiz der meisten bestand allein in dem Gefühl des Amateur-Fotografen, dokumentieren zu können, daß er dem Papst so nah kam wie sonst nur Profi-Fotografen. Es gewann ein Foto, das den Papst im Papamobil zeigte, wie er tagelang fast ununterbrochen auch im Bayerischen Rundfunk zu sehen war, nur weniger gut ausgeleuchtet. Herzlichen Glückwunsch.
Bei Bild.de, das die Leser-Fotos wie zum Beispiel auch das Mischmagazin „Max“ ohne Honorar veröffentlicht, kann man mit den Bildern neuerdings Memory spielen. Auch eine schöne Idee. Aktuell ruft „Bild“ dazu auf, Steuer-Verschwendungen in der Nachbarschaft zu dokumentieren. Ein wiederkehrendes Motiv in den „Bild“-Leser-Fotos ist der sich scheinbar nicht ans Gesetz haltende Polizist, der ohne Helm fährt oder im Halteverbot parkt. Der Gedanke liegt nahe, die Leser gezielt auf solche Themen anzusetzen: Zeigt uns, wie verlottert unsere Polizei ist! Wer hat das eindrucksvollste Foto, das die Doppelmoral von Politikern zeigt? Enttarnt den Promi XY beim Fremdgehen!
Der Einsatz von Leser-Reportern an sich ist weder gut noch schlecht. Ein Medium, das sich ernsthaft um die Anliegen seiner Leser kümmern will, kann so den echten Sorgen der Menschen noch näher kommen. Und ein Medium, das sich um Persönlichkeitsrechte noch nie geschert hat, kann sie so noch umfassender verletzen. Und wenn dieses Medium über elf Millionen Leser hat, darf man natürlich zurecht fragen, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, die nur noch aus Schaulustigen, Spannern und Spitzeln besteht. In der jeder Prominente rund um die Uhr überwacht wird. Und in der auch jeder Nicht-Prominente, der etwas tut, was seinem Nachbarn nicht gefällt, damit rechnen muß, sein Foto in der Zeitung wiederzufinden — wie der Mann, den „Bild“ zeigte und verurteilte, weil er seinen Hund mit einem Hochdruckreiniger abduschte.
(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung