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Max Schradin

Ich weiß nicht, welche Drogen Max Schradin nimmt. Ich weiß nicht einmal, ob er Drogen nimmt. Vor allem weiß ich nicht, was mir lieber wäre. Das ist ja auch kein angenehmer Gedanke: dass es möglicherweise Menschen gibt, die ganz nüchtern und ohne künstliche Nachhilfe schon in diesem Maß Selbstüberschätzung, Unbeherrschtheit und Wahnsinn ausstrahlen.

Schradin ist 29 Jahre jung, nennt sich „TV-Moderator“ und ist von den beunruhigenden Gestalten, die auf 9Live, ProSieben und Sat.1 versuchen, die Zuschauer zu teuren Anrufen zu verführen, eine der beunruhigendsten. In seinen mehrstündigen Live-Auftritten wirkt er wie eine Mischung aus Klaus Kinski und einem amerikanischen Fernsehprediger – mit dem Unterschied, dass Fernsehprediger über vermeintliche Wunderheilungen in Extase geraten und bei Schradin dafür schon das Einblenden oder Ablaufen eines Countdowns genügt. „Jäääätz“, brüllt er dann, tobt, klagt und scheint mit bizarr großen Gesten demonstrieren zu wollen, dass er den Fortgeschrittenen-Kurs „Teufelsaustreibungsrituale im Alltag“ erfolgreich absolviert hat.

Wenn er nicht gerade die Zuschauer beschimpft, dass sie nicht anrufen (während die Regie keinen der vielen Anrufer ins Studio durchstellt), beschimpft er die Konkurrenz oder die Mitglieder eines kritischen Forums, die er „Hochverräter“ und „Waisenzigeuner“ nennt und ihnen live im Fernsehen zuruft: „Ihr kleinen Petzliesen habt keinen Pimmelwutz.“ Wenn man ganz großes Pech hat, erzählt er einem auch von seinem „Durchfall“: „Ich hab Stuhl, liebe Fernsehzuschauer, man nennt’s auch Spritzwurst, das ist ganz eklig, wenn’s in die Schüssel knallt da.“ Als das ARD-Magazin „Plusminus“ diese Woche weitere Belege für die dubiosen Machenschaften von 9Live, den „zentralen Interaktionsdienstleister“ für ProSiebenSat.1, brachte, reagierte Schradin mit einer wütenden Tirade gegen die ARD und ihre „dummen“ Zuschauer. Und weil 9Live in dem Beitrag erneut vorgeworfen wurde, die Zuschauer unzulässig zum wiederholten Anrufen aufzurufen, rief Schradin die Zuschauer auf: „Von mir aus können Sie auch solange [die Telefonnummer] tippen, bis die Finger bluten.“ Bei Schradin von „Hybris“ zu sprechen, wäre Schönfärberei.

Über sich selbst sagt Schradin auf seiner Homepage, er sei „ein Typ, der sich schwer abstempeln lässt“. Als „Lebensziele“ gibt er „Gesundheit und Zufriedenheit“ an. Wollen wir hoffen, dass er sie irgendwann erreicht.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Übers Bloggen

Wer bin ich? Warum das Schreiben eines Blogs so befriedigend ist.

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Für mich ist es eine Sucht. Ein unstillbarer Hunger nach Aufmerksamkeit. Oder, um es positiver und weniger egozentrisch zu sagen: nach Kommunikation.

Das trifft natürlich nicht auf alle Blogger zu, so wie ungefähr nichts auf alle Blogger zutrifft. Außerdem gehört zum Selbstverständnis vieler Blogger das Postulat, nicht für die Leser zu schreiben, sondern für sich selbst. Wer scheinbar auf möglichst große Quote bloggt, gilt als zutiefst verdächtig. Das machen die Massenmedien ja schon zur Genüge: alles der Pflicht unterordnen, möglichst viele Menschen zu erreichen.

Aber gerade wenn einer nicht für ein Publikum schreibt, sondern für sich selbst, aber nicht in eine Kladde, sondern ins Internet, ist es umso beglückender, wenn plötzlich ein Leser vorbeikommt, dem das gefällt. Der begeistert ist, einen Geistesverwandten zu finden. Oder interessiert genug, seinen Widerspruch zu hinterlassen. Vielleicht sogar ein eigenes Blog hat und einen Link setzt.

Links sind eine Währung in der Welt der Blogs, aber der eigentliche Lohn ist Aufmerksamkeit. Die lässt sich messen, anhand von Leserzahlen, Seitenabrufen und Verlinkungen. Aber so fixiert viele auf diese Hitparaden sind (ich auch) – das zutiefst befriedigende am Bloggen ist nicht eine wachsende Zahl, sondern die Kommunikation an sich. Der eine Kommentar von jemandem, der genau verstanden hat, was ich sagen wollte, und meine Sätze durch eine Pointe krönt. Der Fremde, der zum Stammgast wird, zum Dauer-Kommentierer, zum Freund. Auch der Gegner, an dem ich mich immer wieder reiben kann.

Mein Blog kann ein ständiger Abgleich meiner Realitätswahrnehmung mit der anderer sein: Wer bin ich? Wie sehen die anderen mich? Worüber lachen sie? Was lässt sie kalt, was verstehen sie falsch? Die Konversationen, die entstehen, sind immer wieder Experimente in sozialer Interaktion: Welcher Kommentar lässt eine Debatte entgleiten? Wo formieren sich viele Blogs mit gemeinsamem Ziel? Wann macht die Größe einer solchen Welle aus der Masse einen Mob? Und wann eine schlaue, mächtige Bewegung?

Anders als für die meisten Blogger ist für Journalisten die Möglichkeit, zu vielen Leuten zu sprechen, nicht neu. Aber auch sie kannten selten etwas wie diese Unmittelbarkeit der Reaktion, diesen direkten Austausch mit dem Publikum, diese Chance zur virtuellen, aber echten Konversation.

Ich hatte bislang nur eine sehr vage Vorstellung davon, wer meine Texte liest und wie sie gelesen werden. Nun werden Leser und ihre Reaktionen sichtbar für mich (und jeden, den es interessiert). Das ist ein unschätzbarer Gewinn. Und eine Gefahr: Es ist leicht, die engagierten Kommentatoren und die mich zitierenden Internetseiten für das Ganze zu halten, und zu vergessen, dass sie nur einen kleinen Teil des Publikums darstellen, und womöglich nicht einmal einen repräsentativen.

Und dann kann die Internetwelt, die theoretisch so viel größer, reicher und vielfältiger ist als die konkrete nicht-virtuelle Lebenswelt vor unserer Haustür, plötzlich wieder ganz klein und eng werden. Wir lieben die fortgeschrittenen Formen der Kommunikation, die wir pflegen können, weil die anderen, die wir lesen und die uns lesen, die Anspielungen, Running-Gags und Seitenhiebe verstehen. Wie gehen auf in einem Netzwerk, das uns glücklich macht, weil wir uns verstehen oder wenigstens wissen, warum wir uns nicht verstehen; in der sich alles um Kommunikation dreht, um Sprache; um einen Austausch, der ebenso albern sein kann wie tiefgründig — und befriedigender als das nicht-virtuelle, aber flüchtige Gespräch zuhause, in der Kneipe, im Café.

Ich merke, dass mir das Gespräch mit Leuten, die in dieser digitalen Welt nicht zuhause sind, manchmal schwerer fällt. Und ich ahne, warum die Welt der Blogs, die eigentlich so offen und grenzenlos ist, plötzlich hermetisch wirken kann, weil es scheint, als würden alle nur noch für sich selbst schreiben oder für einander.

Aber das täuscht.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

[Dieser Artikel erschien als Ergänzung zu diesem Text von Harald Staun.]

Heidi Klum

Dann geht sie rüber zu den Mädchen, die gerade noch Rouge und Mascara vor ihr geheult haben, junge, hübsche, hoffnungsvolle, ehrgeizige, emotionale Wracks, die sie allesamt wieder bis kurz vor den totalen Zusammenbruch gebracht hat, zwängt sich zwischen sie aufs Sofa, als wäre sie ihre Freundin, und fragt: „Und? Seid ihr alle superhappy? Dass ihr alle noch hier seid? Dass keine Tränen geflossen sind?“

So ist Heidi Klum.

In ihrer Pro-Sieben-Erfolgsshow, die auf der Illusion beruht, „Germany’s Next Topmodel“ zu suchen, ist sie eine fiese Ober-Schickanöse, die ihre Schutzbefohlenen erfolgreich glauben lässt, sie sei die Vertrauenslehrerin. Als eines der Mädchen eher beiläufig erzählt, dass andere manchmal keinen Bock mehr hätten, reagiert Klum mit der Sensibilität eines Panzers: „Wer sagt das, der nach Hause will?“, fragt sie und fordert erfolgreich Denunziation. Eine Woche später spricht sie über eines der geschassten Mädchen den Satz: „Anja hat uns leider letzte Woche verlassen“ und schafft es wie üblich nicht, zum Wort „leider“ eine passende Gefühlsregung anzuknipsen. Sie sagt über eine Fotografin: „Ich habe vor sechs Jahren zum ersten Mal mit ihr fotografiert“, was eine lustig anmaßende Verdrehung der Rollen ist. Einmal kontrolliert sie in Abwesenheit der jungen Rekrutinnen ihre Stuben, kommentiert einzelne dahingeworfene Kleidungsstücke oder offene Schminkutensilien, als handele es sich um einen Kriegsschauplatz, und erklärt mit großer Ernsthaftigkeit, dass man so ganz sicher kein Top-Model werde. Und ich weiß nicht, was erschütternder war: Die unfassbare Spießigkeit dieser Rolle oder der unfassbare Stolz, mit dem Heidi Klum sie ausfüllte.

Sie ergänzt das schlimme Leistungs- und Ihr-müsst-es-nur-wollen-Mantra der anderen Castingshows um eine ungehemmte Zuhälter-Mentalität: Hier wird getan, was verlangt wird, und nicht gezickt und gezögert. Als ein Mädchen es nicht auf Anhieb das natürlichste von der Welt findet, sich an einem Strand bemalt, aber vollständig nackt, breitbeinig und auf allen Vieren in Pose zu bringen, kommentiert Klum das gleichzeitig in die Kamera: „Hana schämt sich so’n kleinen bisschen vor den Leuten hier. Ich mein‘, so was muss man auch abschütteln können, ne?“ — und aus jeder Pore strömt Herablassung. „Die Hana tut so, als ob hier ein ganzes Fußballfeld voll mit Jungs gewesen wär“, sagt sie noch. Kurz darauf sind überall Paparazzi.

Warum war es eigentlich der vergleichsweise liebenswürdige und, vor allem: irgendwie aufrichtige Dieter Bohlen, der sich wegen „sozialethischer Desorientierung von Kindern und Jugendlichen“ rechtfertigen musste?

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Monty Arnold

Man darf sich da nichts vormachen: Vermutlich würde es völlig reichen, die Clips von aufditschenden Kindern, zusammenbrechenden Bühnen und brennenden Katzen mit Musik und ein paar Knatter-, Flutsch- und Mööp-Geräuschen zu unterlegen. Die Kommentare, die Monty Arnold der RTL-Video-Parade „Upps – die Superpannenshow“ hinzufügt, sind nur der Bonustrack. Schon dass es den gibt, ist ein kleines Wunder im Ach-reicht-doch-auch-so-Fernsehen, aber er ist auch noch: brilliant.

Alle paar Sekunden sehen wir irgendjemanden straucheln oder umkippen, aber die Fallhöhe kommt erst aus den Kommentaren. In einem Klassenzimmer stolpert jemand beim Rückwärtsgehen? „Die Abwahl von Vertrauenslehrer Kersten kam mit unfroher Plötzlichkeit während der Sozialkundestunde.“ Ein Mann mit einem Teppich über der Schulter purzelt beim Versuch, durch die Haustür zu kommen, über die Brüstung? „Zur mittelfristigen Verschönerung der Wohnung hat Frau Reimann ein Nippes-Kraftfeld an der Wohnungstür eingeschaltet.“ An einem Stein im Fluss stoßen zwei Kanus zusammen? „Schon Odysseus hatte in dieser Ecke Ärger mit den Stromschnellen. Aber Kosmans und Haubrichts können ja alles besser.“

Arnolds Kommentare sind meisterhafte Minaturen, die jedem körnigen und dutzendfach wiederholten Amateurvideoschnipsel eine falsche Tiefe verleihen, als wäre er ein kostbarer Einblick in einen wunderbaren fremden Kosmos. Wenn einem Gleitschirmflieger beim Loslaufen die Hose runterrutscht, erzählt er: „Fünf Jahre lang hatte Herr Dinkel diese Anschaffung seiner Frau für eine Parabolantenne gehalten und sich über den schlechten Empfang gewundert. Jetzt ein neuer Anlauf.“ Wenn ein Mann vergeblich versucht, trockenen Fußes in einem Fluss aufs Pferd zu kommen, sagt er: „Fischershöhe ist die bei Mensch und Tier unbeliebteste Pferdehaltestelle im ganzen Tarifbereich.“

Es ist der virtuose Einsatz der Text-Bild-Schere ebenso wie die schlichte Freude an Wörtern wie „Tarifbereich“ und Namen wie „Vater Seidenkröster“ oder „Evalotte“ (besonders gerne bei offensichtlich amerikanischen Clips). In seinen besten Momenten erinnert das an die wunderbare Art, wie Hanns-Dieter Hüsch in der ZDF-Reihe „Väter der Klamotte“ amerikanische Slapstickstummfilme vertonte – Kabarettist Arnold hat in einem eigenen Programm Filme von Stan & Olli ähnlich bearbeitet.

Und manchmal ist auch völlig egal, was zu sehen ist, um einen Kalauer zu machen: „Familie Antonioni ist seit Generationen im Fischgeschäft. Aber sie wird einfach nicht bedient.“

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Max Giermann

Es ist ja nicht so, dass es im deutschen Fernsehen an Parodien mangeln würde. Wesentliche Teile des Abendprogramms scheinen genau dafür reserviert zu sein. Ein ausländischer Besucher, dem man versuchsweise das „Frühlingsfest der Volksmusik“ zeigen würde, käme doch im Leben nicht darauf, dass es sich bei diesem Florian Silbereisen nicht um die lustig überdrehte Karikatur eines Volksmusik-Moderators handelt. Stefan Raabs Idee, aus einem sechs Runden kurzen Promi-Boxkampf einen vierstündigen Marathon zu machen, kann doch nur ein selbstreferenzieller Kommentar auf das unerträgliche Auswalzen eigentlich überschaubarer Inhalte im Fernsehen sein. Und was ist „Kerners Köche“ anderes als die wöchentliche Satire auf den Koch-Wahn im deutschen Fernsehen?

Kein Wunder also, dass sich das Genre der Parodie anderer Fernsehformate gerade ein bisschen schwertut. Jeder, der Reinhold Beckmann parodieren will, muss erst einmal besser sein als die wöchentliche Reinhold-Beckmann-Parodie montags um 22.45 Uhr im Ersten. Es gibt einen, der das schafft. Er ist immer kurz vorher bei Pro Sieben zu sehen und heißt Max Giermann. Wie er sich in seinen Gesprächspartner hineinlehnt, wie er seine Stirn in Falten legt und das Kinn nach vorne schiebt, wie er beckmannesk seine Stimme moduliert und bedeutungsschwanger knarzen lässt — das ist entlarvend, komisch und zutiefst beunruhigend. Der fleischgewordenen Schnoddrigkeit eines Oliver Geißen, der längst auch von seiner eigenen Parodie nicht mehr zu unterscheiden ist, fügt Giermann ebenfalls eine neue Dimension zu. Und Tim Mälzer und Günther Jauch kann er auch.

Giermann arbeitet sonst als Schauspieler, Clown und Straßenkünstler, improvisiert bei „Frei Schnauze“ auf RTL — und hatte schon in der vergessenen RTL-Show „goXX“ feine Auftritte als Imitator. Gemeinsam mit den grandiosen Peter-Kloeppel-Parodien von Michael Kessler sind Giermanns Glanzlichter schon Grund genug, sich trotz einiger Längen jeden Montag „Switch Reloaded“ anzuschauen. Statt „Beckmann“, zum Beispiel.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Jürgen von der Lippe

Der Handwerker. Ausgerechnet Jürgen von der Lippe kriegt schon wieder den renommierten Grimme-Preis.

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Er hat in der sonst gerne halbwegs seriösen Gesprächssendung „Unter vier Augen“ im Bayerischen Fernsehen diese Woche erstmal ein Wasserglas und eine Aspirin-Tablette ausgepackt und der Moderatorin gezeigt, wie man diesen Requisiten ein Kondom sich selbst aufblasen lassen kann. Soviel mal vorweg, um die Fallhöhe des Humors von Jürgen von der Lippe deutlich zu machen, beziehungsweise: ihr Fehlen.

Es ist noch nicht ganz so weit, dass sich die langjährigen Abonnenten auf den Adolf-Grimme-Preis Sorgen um ihren Platz in der Fernsehgeschichte machen müssten. Dass die Gefahr bestünde, dass ein vermeintlich kleiner Witze-Erzähler wie Jürgen von der Lippe die großen Geschichten- und Geschichte-Erzähler wie Heinrich Breloer oder Georg Stefan Troller irgendwann in den Schatten stellen könnte. Aber von der Lippe erhält diese Auszeichnung, die eine der renommiertesten des deutschen Fernsehens ist und Sendungen würdigt, die „nach Inhalt und Methode Vorbild für die Fernsehpraxis sein können“, kommende Woche nun schon zum zweiten Mal* und war sogar doppelt nominiert. Da wird es langsam schwer, die Wahl als bloßes Versehen abzutun. Da müsste man, wenn man wollte, schon ganz grundsätzlich fragen, wie es sein kann, dass ein Mann, dessen Werk Elke Heidenreich in den Worten „5000 Jahre Herrenwitz im Bierzelt“ bündig zusammenzufassen glaubte, einen so ehrenvollen Preis gewinnt. Da müsste man, wie es manche auch getan haben, schon sehr besorgt fragen, ob dieser Preis nicht beschädigt wird durch solche Entscheidungen. Und ob es in Deutschland jetzt endgültig alle Maßstäbe, was Qualität ist, verloren gegangen sind.

Man könnte natürlich auch fragen, warum es den Deutschen so schwer zu fallen scheint, Menschen zu würdigen, die nichts mehr wollen, als ihr Publikum gut zu unterhalten, vor allem aber auch: nichts weniger.

Der 58-jährige Jürgen von der Lippe bezeichnet sich gerne als unterhaltenden Dienstleister – ganz in der Tradition seines Vaters, der als Cocktail-Mixer in einer Rotlicht-Bar gearbeitet hat. Das Bild vom Dienstleister markiert ganz gut, welche Ansprüche an sich hat und welche nicht. Von der Lippe ist kein Magier – auch wenn er auf der Bühne gerne Zaubertricks vorführt. Mit der ganz großen Illusion hat von der Lippe nichts am Hut, er strebt nicht nach Höherem oder gar Tieferem. Von der Lippe ist Handwerker – im besten Sinne. Er weiß, wie er sein Publikum zum Lachen bringt. Er ist ein Meister des Timings, der eine Pointe, je nach Bedarf, endlos verzögert oder unmittelbar verschießt. Der einen misslungenen Witz mit einem Blick oder einer Geste retten kann.

Es ist ein bisschen desillusionierend, von der Lippe über das Humorhandwerk reden zu hören. Es scheint, vor allem, harte, aber ehrliche Arbeit zu sein. Es hat damit zu tun, alle Witze dieser Welt zu kennen (der Vorrat scheint letztlich doch überschaubar zu sein) und die Tricks der großen Komiker gründlich analysiert zu haben. Von der Lippe hat regelrechte Dienst- und Studienreisen in die Vereinigten Staaten unternommen. Es geht um Recherche und Training, viel Raum für ein wunderbares Humor-Geheimnis bleibt da nicht.

Man darf nicht den Fehler machen, den Verzicht auf irgendeinen höheren Anspruch mit Schludrigkeit zu verwechseln. Von der Lippes Auftritte zeichnet, anders als die vieler jüngerer „Comedians“, eine große Präzision aus: Wie er artikuliert, phrasiert, Lautstärke und Tempo dosiert und mit dem Publikum spielt. Es ist ja nicht so, dass es damit getan wäre, sich eine alberne rote Nase aufzusetzen, lustige Hemden zu tragen und schlüpfrige Witze aufzusagen. Ja, das ist sehr dämlich, wenn von der Lippe auf der Bühne steht und zur Gitarre das Lied von den „Saunafreunden ‚Aufguss ’09′“ singt, in dem es etwa heißt: „Wenn wir in unsrer Schwitzeklitsche / auf der Glitschepritsche schwitzen, / Schwitzeschweiß verspritzen, / dabei Zwetschgenschnäpschen zwitschern.“ Aber wenn er sich dann („Jetzt Sie!“) mit dem Gestus eines Studienrates daran macht, mit dem Publikum das Lied einzuüben und alle gemeinsam in die von ihm aufgestellten Sprachfallen tappen, entstehen kleine Momente großer Unterhaltung. Und wenn sich das Publikum danach die Tränen aus den Augen wischt, mag die Kritikerfrage, ob es nicht ein bisschen mehr Anspruch sein dürfe, zu Recht sehr abwegig erscheinen.

Diese Bühnenauftritte bezeichnet von der Lippe als seine eigentliche Arbeit, das Fernsehen ist angeblich nur ein Hobby. Vielleicht sei das ein Geheimnis seines Erfolges dort, meint er: „Die Entspanntheit, mit der ich Fernsehen gemacht habe, weil ich es nicht musste.“ Über Jahrzehnte war er ein öffentlich-rechtliches Urgestein, etablierte im WDR mit der Sendung „So isses“ eine einzigartige Mischung aus größter Albernheit und ernsthaftem Interesse an Menschen. Seine Show „Geld oder Liebe“, für die er 1994 seinen ersten Grimme-Preis bekam, war lange Jahre eine der erfolgreichsten Shows und zelebrierte seine große Leidenschaft für das Gesellschaftsspiel in allen Formen, besonders der des Geschlechterkampfes. Das war, wie es bei guten Spielen so ist, nur oberflächlich völlig sinnfrei, in Wahrheit war es eine wunderbare Möglichkeit, Menschen kennenzulernen.

Seit dem Ende von „Geld oder Liebe“ 2001 ist er ein bisschen heimatlos und tingelt durch viele Shows. Wirklich am Herzen liegt ihm seine Sendung im Dritten: „Was liest Du?“ Darin liest er mit einem Gast aus Büchern vor. Es ist eine ganz kleine Form, die die scheinbaren Widersprüche von der Lippes wunderbar vereinigt. Er ist ja ein bisschen wie jemand, der unglaublich belesen ist, weil er sich durch die gesamte Weltliteratur gearbeitet hat – wenn auch nur auf der Suche nach den besten schweinischen „Stellen“. Und so liest er, in scheinbarer Verschwendung der Möglichkeiten des Mediums Fernsehen, die deftigsten Passagen oder auch die kühnsten Wortspiele aus eher massentauglichen Werken vor, und behauptet, seine Show verkaufe mehr Bücher als Elke Heidenreichs. Es ist leicht, auch „Was liest du“ als läppisch zu verachten, und die Leidenschaft für Sprache zu übersehen, die von der Lippe darin ausstrahlt.

Dabei ist er Harald Schmidt gar nicht so unähnlich und hat mit ihm dem Fernsehen schon einige Sternstunden beschert, vor allem, wenn beide ihre angebliche Hypochondrie pflegen und sich lustvoll in freier Improvisation mit Krankheitsbildern, lateinischen Fachausdrücken und Behandlungsirrtümern überbieten. Aber anders als Schmidt taugt von der Lippe nicht zum Maskottchen für irgendeine Elite. Er beruft sich auf Epikur, dem alles Elitäre fremd war und für den das Streben aller nach Glück und Lust so zentral war – der aber dazu riet, sich vorher über die Folgen des Handelns Gedanken zu machen: Ich mag gerne Wein, aber ich mag auch ein gutes Gespräch, was ich aber nach drei Glas Wein nicht mehr führen kann. „Ich denke“, sagt von der Lippe, und er klingt dabei ganz unironisch, „viel Klügeres ist der Menschheit nicht mit auf den Weg gegeben worden.“

Man kann, mit etwas gutem Willen, seine Karriere als einen langen Kampf gegen die Unvereinbarkeit von Zote und Goethe lesen. Dass er dabei nicht völlig erfolglos war, zeigt der neuerliche Grimme-Preis – auch wenn die Auszeichnung für die von ihm moderierte ProSieben-Spielshow „Extreme Activity“ (eine Mischung aus Scharaden, „Montagsmaler“ und Kindergeburtstag) heftig umstritten ist. Andererseits: Mindestens so sehr, wie über die Anerkennung selbst, wird er sich wohl darüber freuen, dass sie für so viele Feuilletonisten einen Affront darstellt.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

*) Ich war Mitglied der zuständigen Grimme-Jury für Unterhaltung.

Knut

Ich wäre dann gestern Morgen fast wieder bereit gewesen für neue Nachrichten. Hatte mich bei dem Gedanken ertappt, dass in diesen Tagen, in denen ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Niedlichkeit von diesem Knut gerichtet habe, etwas passiert sein könnte in der Welt. Dass vielleicht in der Zwischenzeit in einem anderen Zoo in einem anderen Land ein anderes Tier geboren worden sein könnte, das von einer anderen Mutter verstoßen wurde und nun von einem anderen Tierpfleger von Hand aufgezogen wird, ganz anders, aber genau so niedlich. Aber dann lief im Ersten diese neue Doku-Soap über Knut und die hatten Babyfotos von Knut, die ich noch gar nicht gesehen hatte, und einmal knabbert der Knut total süß in die Plastikschüssel, in der er gewogen wurde, und ich hatte vorher nur gesehen, wie er an den Gummistiefeln von seinem Pfleger und in seine Schmuse- und Trockenrubbeldecke knabberte, und vor allem war da diese Szene, in der der Pfleger Knut tropfnass aus der Badewanne hob und unter den Schultern packte und ausschüttelte und das war wirklich das Goldigste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.

All das darf uns aber nicht daran hindern, kritische Fragen an die Medien zu stellen. Zum Beispiel: Wäre ein Rumpelsender wie N24 technisch und personell dafür gerüstet, notfalls die Live-Übertragung der ersten Pressekonferenz von Knut zu unterbrechen, wenn gleichzeitig ein Nacktnasenwombatwaisenkind im Zoo von Münster erstmals seine Augen öffnet? Kann ich mich darauf verlassen, dass mich n-tv, wenn dort gerade nur Knut-Bilder vom Vortag wiederholt werden, wenigstens im Laufband aktuell über den Grad von Knuts Niedlichkeit informiert? Wo sind die kritischen Hintergrundberichte? Wer prangert den Skandal an, dass immer noch, Tag für Tag, irgendwo in der Wildnis potentiell unfassbar niedliche Flauschzottel unter Ausschluss der Öffentlichkeit geboren werden? Wann ändert Sabine Christiansen ihr Programm und fragt nach dem Verantwortlichen dafür, dass unermessliche Niedlichkeits-Ressourcen in entlegenen Regionen ungenutzt verkümmern? Wird Volker Panzer oder Peter Sloterdijk das „ZDF-Spezial“ zur philosophischen Frage moderieren, ob ein niedliches Tier, das niemand sieht, überhaupt niedlich ist? Und: Wenn Knut in ein paar Jahren zu Reinhold Beckmann in die Talkshow geht und der ihn fragt, wie er sich fühlte, damals, als ihn seine Mutter verstieß, wie groß ist die Chance, dass er ihn statt einer Antwort auffrisst?

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Heino Ferch

Das ist sicher immer wieder von großer Dramatik, wenn sich Sat.1 und die Produktionsfirma Teamworx zusammensetzen, um zu entscheiden, wer die männliche Hauptrolle im nächsten historischen „Event“-Zweiteiler spielen soll. Ich stelle mir das so vor, dass die für ein paar Tage alle Termine absagen und sich in ein abgelegenes Konferenzzentrum zurückziehen. Dort werden endlos Castingbänder gesichtet, Quoten ausgewertet, Honorare durchgerechnet, Grundsatzfragen erörtert, und kurz bevor es so aussieht, als müssten nicht nur Freundschaften und Karrieren, sondern das ganze Projekt begraben werden, sagt ein Serviermädchen im Hinausgehen den rettenden Satz: „Ich dachte, die nehmen eh wieder den Ferch“, und es gibt ein großes Hallo, und die Marktforscher bestätigen, dass sich ihre komplexen Zahlen auf die einfache Formel bringen lassen, dass das Sat.1-Publikum gerne Helden mag, die aussehen, sich bewegen und reden wie Heino Ferch, und verblüfft und glücklich stellen alle nach einem Anruf fest, dass Heino Ferch sich die Zeit für die Dreharbeiten schon frei gehalten hat, als hätte er es geahnt.

Die offizielle Legende lautet zwar, dass Heino Ferch selbst es war, der unbedingt den Heinrich Schliemann spielen wollte, seit er auf einem langen, langen Flug einmal ein Buch über ihn gelesen hat, aber wer weiß, ob dieses Interesse nicht auch einfach zurückdatiert wurde, wie Schliemann es mit seinem Interesse an Troja tat.

Andererseits: Vielleicht hat man sich bei Sat.1 doch sehr bewusst entschieden, gerade diese Rolle mit diesem Schauspieler zu besetzen. Denn wenn ich „Der geheimnisvolle Schatz von Troja“ (morgen und übermorgen, 20.15, Sat.1) richtig verstanden habe, geht es den Fernsehleuten darum, Schliemann als jemand zu zeigen, der nicht nur beknackt war, sondern sich auch große Mühe gegeben hat, beknackt zu wirken. Und wenn es etwas gibt, das Heino Ferch beherrscht, dann das: Einen Besessenen so zu spielen, dass es aussieht, als versuche jemand angestrengt so auszusehen, als sei er besessen. Wenn Schliemann entschlossen ist, guckt er nun wie jemand, der entschlossen aussehen will, wenn er wütend ist, wie jemand, der wütend aussehen will. Das ist womöglich die ganz große Schauspielkunst, die nur zufällig wie ihr Gegenteil erscheint.

Ich habe mir dann den zweiten Teil geschenkt. Am Ende des ersten ist Schliemann scheinbar tot, bevor er überhaupt den Schatz des Priamos entdeckt hat, und ich fand das sehr angemessen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Monrose

Vermutlich war es so, dass die ganzen siebzehnjährigen Mädchen, von denen jeder annahm, dass sie Monrose zum Grand Prix telefonieren würden, sich an die Gruppe einfach schon nicht mehr erinnert haben. Monrose? Die sind doch total 2006! Mann, damals war ich sechzehn!

Über vier Monate ist es her, dass aus Mandy, Senna und Bahar in der Pro-Sieben-Show „Popstars“ Monrose wurde, und Popstarsjahre sind Hundejahre, und „Popstars“-Jahre Goldhamsterjahre. Die Produzenten wussten, warum sie die größten Verrenkungen anstellten, damit die Single bereits eine Woche nach dem Finale und das Album eine weitere Woche danach auf dem Markt sein konnten. Dank kollektiver Aufmerksamkeitsdefizitstörung bedeutet jeder Tag Verzögerung, dass viele Millionen Fanzellen in den Gehirnen der Zielgruppe längst wieder unwiderruflich umprogrammiert sind.

Aber die Monrose-Produzenten waren schnell, und so haben junge Menschen im Dezember massenhaft Monrose-Platten gekauft. Dann war aber auch gut. Seit den Premieren-Siegern No Angels und Alexander Klaws hat es kein deutscher Castingshow-Gewinner geschafft, mit mehr als einer Single an die Spitze der Charts zu kommen. Man müsste all den Kandidaten sagen, dass sie den Moment genießen sollen, in dem sie das Casting gewinnen, weil es der Höhepunkt ihrer Karriere sein wird. Aber anstatt zu singen „Von nun an ging’s bergab“, grölt das ganze Umfeld natürlich „jetzt geht’s lohos“, und beim Grand-Prix-Vorentscheid wurde wieder offenbar, wie schlimm das ist. Wie sehr die frischgebackenen „Popstars“ und „Superstars“ den Versprechungen glauben. Dass diese jungen, auf Star geschminkten und geföhnten Frauen das wirklich meinen, wenn sie sagen: „Du kannst alles in deinem Leben erreichen, du musst nur dran glauben.“ Sie hatten, das sah man, ganz fest daran geglaubt, sie hatten überhaupt nicht die Möglichkeit eingeplant, diesen Vorentscheid nicht gewinnen zu können, und es ist trotzdem passiert. Natürlich haben diese Mädchen, wie sie dann heulend auf der Bühne standen, Mitleid verdient und keine Häme. Aber vielleicht tun sich all die, die auf Detlef D. Soost und Dieter Bohlen und ihre Versprechungen hereingefallen sind, irgendwann zusammen, und brüllen ihnen ins Gesicht, dass es in dieser Welt eben nicht reicht, ganz fest an sich zu glauben, nicht einmal, wenn man dazu noch ganz hart an sich arbeitet.

Und über diesen komischen Grand-Prix-Wettbewerb kann man ja sagen, was man will: Als öffentliche Entzauberungsmaschine funktioniert er gut.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Reinhold Beckmann

Es war alles nur Tarnung. Jahrelang musste Reinhold Beckmann den Emo-Talker geben. Musste abwechselnd fragen: „Wie fühlten Sie sich dabei“ und: „Was war das für ein Gefühl damals“, musste in eine Prominentenseele nach der anderen hineinkriechen, um ein bislang privates Gefühl herauszukitzeln, das sich dort verängstigt in einer Ecke versteckte. Er musste sich rankuscheln an seine Gäste, sie glauben machen, er sei ihr Freund. Oder ihr Therapeut. Oder ein befreundeter Therapeut. Jedenfalls kein Journalist.

Woche für Woche übte er in seiner Talkshow, bis er es schaffte, nicht einmal den Blick von seinem Gast abwenden zu müssen, wenn er auf dessen Bitte „Das ist mir zu privat, darüber möchte ich nicht reden“ reflexartig mit den Worten reagierte: „Aber der Selbstmord Ihrer Mutter damals . . .“ Er musste sein Profil als ernstzunehmender Journalist aufs Spiel setzen… Moment, nein: Er musste darauf verzichten, sich ein Profil als ernstzunehmender Journalist aufzubauen. Aber er wusste, irgendwann würde einer, der es verdient hat, in die Falle tappen und den wahren Beckmann kennenlernen. Und auf den Satz „Ich kann darüber aus rechtlichen Gründen nicht reden“ würde er antworten: „Dann gehen wir die Sachen mal langsam durch“, und man würde sein Taubsein plötzlich für eine harte Nachfrage halten. Und wenn sich herausstellte, dass der, der es verdient hat, auch noch die schlechtesten Berater der Welt hat, die hinterher sagen, man habe ihnen versprochen, dass das gar kein richtiges Interview werden würde, sondern nur ein beckmannsches Kuschelgespräch, dann würde er sogar als großer Verteidiger des Journalismus dastehen.

(Gut, die andere Möglichkeit ist natürlich, dass Beckmann die bösen Fragen nur als Lockerungsübung vor dem viel spannenderen „Wie fühlen Sie sich“-Gespräch mit Jan Ullrichs Frau gestellt hatte und selbst nicht ahnte, dass der NDR den kritischen Teil hinterher überraschenderweise nicht rausschneiden würde.)

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung