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Teletext: Stefan Raab

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Man kann Stefan Raab schon dafür mögen, dass er der ungefähr letzte Prominente ist, der sich, wenn er zu „Wetten dass …?“ eingeladen wird, nicht denkt: Okay, flätz‘ ich mich halt drei Stunden auf dem Sofa, sondern: Hui, da denk‘ ich mir was aus! Neulich parodierte er, als Gottschalk seine Begrüßung abgeschlossen und die erste Frage gestellt hatte, den typischen internationalen Star, der sich den Knopf mit dem Übersetzer ins Ohr drückt, zeitverzögert antwortet, die üblichen Floskeln ablässt und ankündigt, leider gleich wieder zum Flieger zu müssen. Raab hatte sogar den Simultandolmetscher eingeweiht, der seine Worte brav übersetzte, und es war eine kleine, lustige, harmlos-bösartige Szene, mehr braucht es ja nicht.

Später spielte er mit und für Udo Jürgens am Klavier, dafür hatte er sich extra einen weißen Bademantel hinterm Sofa bereitgelegt und ein Glas Wasser ins Gesicht gekippt. Aber die Nummer hatte nichts Despektierliches, sondern war eine Hommage, wie man nicht nur an der Verbeugung sehen konnte, mit der Raab Jürgens begrüßte. Dann ließ er die Leute im Rhythmus klatschen, bevor er anfing zu spielen, um sie auf die einfachste Art dazu zu bringen, auf Zwei und Vier zu klatschen, was sonst in Deutschland keiner kann.

Wenn Raab etwas am Herzen liegt, seien es die Nachwuchssänger, die er fast mitten in der Nacht in seinem Talentwettbewerb bei „TV Total“ fördert, oder nur das eigene, von Siegeswillen getriebene Ego, wie in seiner gerade wieder preisgekrönten Show „Schlag den Raab“, ist er ein großer Entertainer. Dann entwickelt er eine Leidenschaft, mit der kaum ein anderer Fernsehmoderator mithalten kann, am wenigsten Raab selbst in seiner alltäglichen, gelangweilten, anspruchslosen, desinteressierten, vor sich hin stolpernden Form, in der er es sogar fertigbringt, den Namen einer Band, die am kommenden Donnerstag bei seinem „Bundesvision Song Contest“ antritt, mehrfach falsch zu sagen.

Aber dann sind da diese Möchtegern-Nächste-Uri-Gellers aus der Pro-Sieben-Show, und wenn Raab sich an ihnen abarbeitet, sind das Sternstunden. Es scheint, als seien diese peinlichen Figuren mit ihrem Anspruch, Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten zu sein, für Raab nicht nur willkommenes Witzmaterial, sondern ein echtes Ärgernis. Als störe ihn nicht nur, dass sie so schlechte Entertainer sind, sondern auch dieser unnötige Flirt mit dem Okkulten. Mit großer Lust und gerechter Häme, aber auch mit einem fast aufklärerischen Ansatz des Skeptikers entlarvt er ihren faulen Zauber, und das auf demselben Sender. Auch dafür kann man ihn schon mögen.

Dieter Bohlen

Ist ja richtig: Die Menschen machen das freiwillig. Sie wissen, worauf sie sich einlassen. Manche kommen Jahr für Jahr wieder. Keiner zwingt sie, sich bei „Deutschland such den Superstar“ zu Deppen zu machen. Aber manchmal wünscht man sich halt doch, RTL nähme seine Verantwortung ernst und besorge ihnen, anstatt sie auf den Schirm zu lassen, lieber professionelle Hilfe. Dem Dieter Bohlen vor allem.

Denn es ist ja nicht so, dass die Vierjährige, die einem die Zunge rausstreckt, die traurige Figur ist. Oder der Zehnjährige, der einem stolz die missratene eigene Sandburg vorführt. Die traurige Figur, das ist schon der Erwachsene, der dem Mädchen zeigt, dass er seine Zunge viel weiter und viel länger rausstrecken kann, bis sie heult, und dem Jungen die Sandburg zertrampelt, nicht ohne den Schaulustigen Fotos von eigenen, viel tolleren Sandburgen zu zeigen. (Sicherheitshalber hat der Erwachsene eine Frau und einen Mann an seiner Seite, die ihm notfalls helfen können, den Zehnjährigen niederzuringen oder ein sich entwickelndes Rededuell mit der Vierjährigen zu gewinnen.)

So ist Dieter Bohlen: Schafft es nach dreißig Jahren im Geschäft mühelos, Menschen, die noch nie vor einem Mikrofon gestanden haben, wie Amateure aussehen zu lassen.

In dieser Woche stand ihm ein Möchtegernsänger gegenüber, der sich weigerte, das Nein der Jury zu akzeptieren, und als er begann, Bohlen zu erzählen, dass er wenigstens besser aussähe und nicht so viel Falten hatte, gab er eine sehr traurige Figur ab. Nicht halb so traurig aber wie die, als Bohlen antwortete. Jeder Mensch mit einem Funken Selbstachtung hätte diesen Kindergartenangriff lächelnd an sich abtropfen lassen. Bohlen aber, der sein Ego in der Vorwoche dadurch aufpumpte, dass er einen Kandidaten als „Vollschwuchtel“ abtat, hielt einen langen Vortrag darüber, dass er, jawohl, Falten habe, aber eben weil er seit dreißig Jahren hart arbeite, und dass es schon sein möge, dass die Frauen auf ihn stünden, weil er so erfolgreich sei und so viel Geld habe, aber das sei ja nun mal sein Geld, das habe er ja niemandem weggenommen, und als fertig war mit seinem Wutausbruch, sah man ihm an, dass er sich gut fühlte, weil er meinte, dass er das Duell gewonnen hätte, vielleicht auch nur, weil er wusste, dass ihn morgen, wenn der Friseur und Möchtegernsänger zurück in seinem traurigen Alltag ist, wieder Dutzende junger Mädchen erwarten würden, nichtmal halb so alt wie er, und dass er diejenigen, die ihn nicht sexuell erregten, wenigstens wieder öffentlich demütigen könnte und ein Großteil von denen ihn dafür noch bewundern würde.

Was für eine traurige Wurst.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Niels Ruf

Wenn ich mich sehr beeile, schaffe ich es vielleicht, diese Kolumne fertig zu schreiben, bevor RTL die Serie abgesetzt hat. Ich kann aber nicht garantieren, dass das noch gilt, wenn Sie diesen Text lesen. Ehrlich gesagt, ist es sogar eher unwahrscheinlich, angesichts der mäßigen Quote am Freitag. Vermutlich basteln sie in den Geheimlaboren von RTL längst an einer Möglichkeit, Sendungen rückwirkend abzusetzen, damit sie sich nachträglich dafür entscheiden können, sie nie ausgestrahlt zu haben.

Es wäre schade um „Herzog“, die neue Comedyserie mit Niels Ruf. Es wäre sogar schade um Niels Ruf. Der hatte es am Anfang des Jahrhunderts mit diversen Grenzüberschreitungen geschafft, sich ein, zwei Jahre lang als „TV-Rüpel der Nation“ zu profilieren. Als er einmal wirklich zu weit ging und rausflog, beklagte er sich, dass die Menschen nicht zwischen öffentlicher Kunstfigur und dem privaten Niels Ruf unterscheiden könnten – ein Missverständnis, an dem er jahrelang gearbeitet hatte. „Herzog“ ist unter anderem deshalb so vergnüglich, weil Ruf darin wieder das Ekel von früher sein darf, aber in einem klaren fiktionalen Rahmen: als fieser Scheidungsanwalt. Er spielt sie gut, die Rolle des talentierten arroganten Arschlochs, das letztlich an der Selbstbesoffenheit scheitert, die Rolle seines Lebens also. Und dass alles im Rahmen eines Drehbuchs stattfindet, das sorgsam austariert, wie oft wir mit diesem Herzog lachen und wie oft über ihn, das macht die Sache entspannter und harmloser, erlaubt es aber, gezielter an die Grenzen zu gehen. Der Witz besteht nicht nur aus den üblichen Doppeldeutigkeiten (Sie, verspätet: „‚Tschuldigung, ich hatte viel Verkehr.“ Er: „Hauptsache, Sie sind gekommen.“), sondern etwa auch aus dem Umgang mit einer Brustkrebs-Untersuchung, was ebenso gewagt wie befreiend ist. Wie sehr solcher Humor schillern kann, zeigt ein Running Gag in der ersten Folge darüber, ob „Neger“ komisch riechen, den man für einen rassistischen Witz halten könnte, sich aber als Witz über Rassismus herausstellt. Und am Ende bekommt Herzog eh regelmäßig die Quittung für seine Art.

Für den Sender RTL, der jenseits des Reality-Genres in den vergangenen Jahren zum Inbegriff der Mut- und Harmlosigkeit geworden ist, ist es fast sensationell, dass er sich die Provokationen und den Witz in „Herzog“ getraut hat und der Serie nicht alle Ecken abgeschmirgelt hat. Es wäre schön, wenn das belohnt würde. Vermutlich muss man schon schreiben: belohnt worden wäre.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ich weiß nicht, warum ich hier bin

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Was uns das Dschungelcamp über „B-Promis“, das Fernsehen und uns selbst lehrt.

Es gibt im Dschungel zwischen all dem Ekel und der Häme einige Momente der Wahrheit, und einen der erschütterndsten lieferte eine neunzehnjährige Sängerin namens Lisa Bund. Lisa Bund wurde einer größeren Öffentlichkeit im vergangenen Jahr als Teilnehmerin von „Deutschland sucht den Superstar“ bekannt. Sie galt als eine der Favoritinnen, wegen ihrer großen Stimme und ihres noch größeren Ehrgeizes: Vor der Show hatte sie zwanzig Kilo abgenommen. Sie galt aber auch als Zicke, die rücksichtslos um den Sieg kämpfte und ihn vielleicht auch deshalb verpasste und nur Dritte wurde. Danach hatte sie einen Gastauftritt in der Seifenoper „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, veröffentlichte eine Single und ein Album, die mäßig erfolgreich waren. Nun sitzt sie im Dschungelcamp und hadert mit sich und der Welt.

Anfang der Woche sah man sie vor allem weinen. Unter Tränen klagte sie über ihr Heimweh: „Ich weiß, egal was ich jetzt mache, wäre falsch. Ich kann nicht hierbleiben, ich kann aber irgendwie auch nicht rausgehen, weil ich Angst habe, wieder was falsch gemacht zu haben. Ich fühl mich nicht wohl hier. Gar nicht. Ich hab versuchen wollen, dass die Leute mich lieben wegen meiner Musik. Und das hat alles nicht so funktioniert, wie ich es wollte. Und jetzt muss ich hierherkommen, um den Leuten was zu beweisen. Ich hab ein Problem mit mir selber. Ich weiß gar nicht, warum ich hier bin.“

Über den Druck, unter dem sie stand, hatte sie schon bei der Umquartierung in die Scheinwildnis gesprochen, als sie sagte, die Teilnahme an diesem Spektakel sei für sie „ganz wichtig“ – „damit die Leute sehen, dass ich gar nicht die Zicke bin, als die ich bei ,DSDS‘ abgestempelt wurde“.

Ihr Kollege Ross Anthony strahlt eine ähnliche Unentspanntheit aus. Tagelang schien er ein zitterndes Wrack zu sein, gefangen in einer Mischung aus Panik und völliger Erschöpfung von all der Panik. Die Lebensuntüchtigkeit dieser Menschen, die man schon dadurch auf seelische Wracks reduzieren kann, dass man ihnen ihre Tagescreme wegnimmt, ist beunruhigend. Aber noch beunruhigender ist, dass sie mit all ihren Phobien glauben in den Dschungel gehen zu müssen. Dass für sie die bekannten Zumutungen der Show ganz offenkundig kein Spiel sind, keine Herausforderung, sondern pure Notwendigkeit: ein Opfer, das gebracht werden muss für die eigene Karriere und, viel elementarer, für das dauerhafte Bild der Öffentlichkeit von ihnen selbst.

Es ist sicher kein Zufall, dass Lisa Bund und Ross Anthony durch dieselbe Schule gegangen sind: die der Castingshows. Anthony wurde durch seine Teilnahme bei „Popstars“ Mitglied einer Gruppe namens Bro’Sis. Bei „Popstars“ ist es vor allem Jurymitglied Detlef Soost, der den jungen Talenten erstaunlich brutal eine Lehre fürs Leben einpaukt: Sie müssen alles tun, was von ihnen verlangt wird. Wer nein sagt, fliegt raus, wer sich nicht anpasst, hat keine Chance. Soost und Dieter Bohlen stehen persönlich für diese Pädagogik, aber sie sind auch nur Stellvertreter für ein System, das sich so immer neues Menschenmaterial nach seinen Bedürfnissen formt, Protagonisten, die alles mitmachen, weil sie glauben, keine Wahl zu haben.

„Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ wirkt eigentlich vergleichsweise ungefährlich gegenüber „Big Brother“ oder vielen Talkshows und Doku-Soaps, weil die Teilnehmer keine naiven Laien sind, sondern Profis, die wissen könnten, worauf sie sich einlassen, und Berater an ihrer Seite haben. Doch mit Blick auf Teile des Personals und ihr Verhalten im Dschungel muss man daran zweifeln, dass die Teilnahme für alle rein subjektiv wirklich so freiwillig ist.

Wir haben ein merkwürdiges Verhältnis zu diesen ehrgeizigen Menschen, die es im Showgeschäft entweder nie ganz nach oben geschafft haben oder längst wieder auf dem Weg nach unten sind. Sie bevölkern massenhaft unser Fernsehen, sitzen in Talkshows, kommentieren irgendwelche Videoschnipsel und werden behandelt, als seien sie wichtig. Gleichzeitig machen wir jeden, der es nicht zur Berühmtheit, sondern nur zur Bekanntheit bringt, verächtlich. Jeder erfolglose Journalist, jeder gescheiterte Zuschauer kann sich ihnen überlegen fühlen und das Alphabet nach hinten durchgehen, um sie als „B-Promi“, „C-Promi“ zu verunglimpfen.

Diese Häme, die auch einen wesentlichen Reiz der Dschungelshow ausmacht, ist berechtigt – als Ausgleich für die Allgegenwart dieser Möchtegernstars. Andererseits vergisst sie, dass die Medien genau diese Semiprominenten brauchen, um die Unmengen Programmflächen und Druckseiten zu füllen. Und sie verliert die Perspektive der Leute selbst aus den Augen.

Man darf den pädagogischen Wert einer Show wie „Ich bin ein Star“ nicht überschätzen, aber sie ist nicht nur eine Zirkusveranstaltung, sondern auch ein soziales Experiment – und bietet ehrliche Einblicke in das Leben dieser „B-Promis“, in die Zwänge, denen sie sich ausgeliefert sehen, und ihre Hoffnungen. Auch das ist ein Grund, warum man sich so wunderbar überlegen fühlen kann: Wir glauben zu wissen, dass ihr Glaube, durch das Baden in Mehlwürmern und das Essen von Känguru-Hoden die eigene Karriere zu befördern, sehr abwegig ist.

Julia Biedermann begann ihre Karriere im Alter von vier Jahren in der „Sesamstraße“; den Höhepunkt erreichte sie vor über zwanzig Jahren in „Ich heirate eine Familie“. Jetzt, mit vierzig, will sie es noch einmal wissen: Sie ist nicht nur im Dschungel, sondern hat sich auch für den „Playboy“ ausgezogen. Ihr Management dachte womöglich, das wirke beeindruckend und nicht verzweifelt. Doch nun zeigen RTL und „Bild die Fotos boshafter- und gerechterweise nebeneinander: auf der einen Seite eine makellos Geschminkte, auf der anderen Seite ein grimmiges, unscheinbares Etwas mit Ähnlichkeit zu Angela Merkel. Beide scheinen nichts miteinander gemein zu haben – außer dem Wunsch, groß rauszukommen. Es ist eine Kombination von großer Tragikomik.

Björn-Hergen Schimpf fragte im Camp, als Biedermann zugab, sich für den „Playboy“ ausgezogen haben: „Ja, aber vor vielen Jahren, oder?“

Kai Diekmann

Und das Wetter war früher auch besser. Von der Verlogenheit der Politik zur Verkommenheit der Jugend: Der „Bild“-Chefredakteur beklagt den Verfall der Werte — ausgerechnet.

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Die Türken sollen sich nicht grämen, sagt Kai Diekmann. Er und seine „Bild“-Zeitung hätten nichts gegen Ausländer, nur dagegen, dass so viele von ihnen kriminell werden, schrieb er in dieser Woche sinngemäß in der türkischen Zeitung „Hürriyet“. Und was den brutalen Überfall in München angeht, der die heftige Debatte um Jugend- und Ausländerkriminalität ausgelöst hat: „Dass der ältere Täter Türke ist, der jüngere Grieche, ist bloßer Zufall. Genauso hätten es Polen, Russen, Jugoslawen oder Kurden sein können — die Debatte wäre die gleiche gewesen.“ Die „Debatte“, wie „Bild“ sie gerade führt, ist sogar dann die gleiche, wenn die Gewalt von Jugendgangs ausgeht, deren Anführer Deutsche ohne Migrationshintergrund sind — trotzdem werden die Fälle von „Bild“ unter dem Begriff „Ausländerkriminalität“ zusammengefasst.

Man könnte sagen, „Bild“ führt mit Halb- und Unwahrheiten eine besinnungslose Kampagne gegen Ausländer. Diekmann würde sagen, „Bild“ spricht „unangenehme Wahrheiten“ aus und tut den Ausländern einen Gefallen.

In Diekmanns Welt gelten andere Gesetze. Was zum Beispiel unseren Kindern fehlt, sind mehr Dieter Bohlens. Weniger Kuschler, Schwurbler und Verständnispädagogen. Mehr Leute, die bereit sind, einer pickligen 16-Jährigen, die glaubt, singen zu können, vor einem Millionenpublikum ins Gesicht zu sagen, dass sie scheiße aussieht, scheiße klingt und scheißedoof ist, wenn sie glaubt, sie hätte bei „Deutschland sucht den Superstar“ eine Chance. Wer solche „unangenehmen Wahrheiten“ nicht ausspricht, meint „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann, betrügt sich selbst. Wer sie offen und ehrlich sagt, wie Bohlen, wird dafür von der Jugend verehrt. Und was würde mit einem Nichtschwimmer passieren, fragt Diekmann, wenn wir ihn mit dem Worten ins Wasser schickten, er hätte das Zeug zum Olympiasieger? Na also.

Es ist schwer zu sagen, ob Diekmann in seinem Freund Bohlen allen Ernstes einen Menschen sieht, der andere vor dem Ertrinken rettet, wenn auch nur im übertragenen Sinne. Aber es gibt in seinem Buch „Der große Selbst-Betrug“ keinen Hinweis darauf, dass es sich nur um eine ironische Übertreibung handelt und er nicht tatsächlich in Bohlen einen guten Zeugen sieht für seine Forderung nach Leistungsbereitschaft und Elitenförderung, nach einer Rückbesinnung auf traditionelle Werte in der Erziehung. Bohlen sei „der Lieblingsfeind des Gutmenschen und des gutmütigen Bürgertums“, stellt Diekmann fest, und so jemand hat im Koordinatensystem des „Bild“-Chefs sehr viel richtig gemacht.

Wie zum Beweis verweist er darauf, dass sich sogar die Medienwächter mit der Sendung beschäftigen mussten. Während Diekmann zu Bohlens Sprüchen die Begriffe „Ehrlichkeit“ und „Wahrheit“ einfallen, sprachen die von „antisozialem Verhalten“ und von einer Vorführung, „wie Menschen herabgesetzt, verspottet und lächerlich gemacht werden.“ Was Diekmann vielleicht entgangen ist: Das Konzept der Show besteht darin, Nichtschwimmern zu erzählen, sie könnten Olympia gewinnen, und ein wesentlicher Reiz für den Zuschauer, ihnen begleitet von hämischen Sprüchen Dieter Bohlens beim Ertrinken zuzusehen.

Nun ist der Musikproduzent nicht das einzige Beispiel Diekmanns, um seine pädagogische Vision zu entwickeln. Von Bohlen kommt er innerhalb weniger Seiten über Sex in Opern, Kant, die Nicht-Mitgliedschaft von Joachim Fests Vater in der NSDAP, die Entscheidung des Antarktis-Forschers Robert Scott, lieber mit seinem ganzen Team zu sterben, als einen Mann zurückzulassen, und Fotos von deutschen Soldaten mit Totenschädeln in Afghanistan zu Kindern, die nicht mehr „Danke“ sagen, und Comics, die Jesus als kiffenden Exhibitionisten zeigen. Argumentativer Höhepunkt: Schon das Sprichwort sage ja, man müsse die Menschen zu ihrem Glück zwingen.

Kai Diekmann hat es geschafft, ein Buch zu schreiben, in das man auf jeder Seite den Satz „Und das Wetter war früher auch besser“ einfügen könnte, ohne dass es so etwas wie einen Gedankenfluss unterbräche. Er entschuldigt sich im Vorwort dafür, dass er es aus dem Bauch heraus geschrieben habe, ohne jedes Wort auf die Goldwaage gelegt zu haben, aber es ist keine Suada geworden, kein rant, der mit seiner Wut Lust macht und kreativen Überschuss produziert, sondern nur eine Litanei. Man kann sie auswendig mitsprechen, seine Klagen über die Verlogenheit der Politiker und die Verkommenheit der Jugend, seine Forderungen nach weniger Bürokratie und besserer Erziehung, und die Fälle, die er aufzählt, sind die, die jeder kennt, was daran liegen könnte, dass sie allesamt von den Titelseiten der „Bild“-Zeitung stammen.

Man muss natürlich ein paar Umdefinitionen vornehmen, wenn man als Chefredakteur eines moralisch so verkommenen Blattes wie der „Bild“-Zeitung, anderen ihre Verantwortung für einen angeblichen allgemeinen Werteverfall vorwerfen will. Aber das gelingt Diekmann beunruhigend mühelos, nicht nur wenn er die Pöbeleien eines Dieter Bohlen im Dienste der Quote zu Akten lobenswerter Wahrhaftigkeit erklärt. Der Chefredakteur freut sich, dass die Privataudienz der „Bild“-Chefredaktion beim Papst bei Zeitungen wie „SZ“, „Zeit“ oder „Frankfurter Rundschau“ auf soviel Empörung stieß, obwohl sie es doch seien, die „an allen Tagen den Relativismus der Werte verkünden, die Schwulenehe zum Sakrament erklären und Euthanasie wie Abtreibung zum Menschenrecht“. (Andererseits ist nach wie vor offen, ob die „Bild“-Leute dem Papst eine Zeitung mitgebracht haben, um ihm deren „Werte“ in der täglichen Praxis zu demonstrieren: die schönen Bibeln, die dicken Brüste, die geilen Omas in den Sexanzeigen, die fetten Lügen in den Schlagzeilen, kurz: der ganze tägliche Kampf für und gegen den Anstand.)

Nachdem Diekmann seitenweise die Linken dafür schilt, Dinge zu tun, die gut gemeint, aber nur gut fürs eigene Wohlbefinden sind, lobt er seine Zeitung für den Erfolg mit „Florida-Rolf“, als „Bild“ den Bundestag dazu brachte, in Windeseile ein Gesetz zu verabschieden, das zwar dazu führt, dass mehrere Hundert Sozialhilfeempfänger nicht mehr im Ausland leben dürfen, aber höhere Kosten für den Steuerzahler produziert als zuvor.

Besonders erhellend ist auch ein Abschnitt über Philipp Mißfelder, der im Sommerloch 2003 fragte, ob die Solidargemeinschaft jedem 85-Jährigen eine neue Hüfte bezahlen müsse. Diekmann bedauert, dass die notwendige Diskussion darüber sofort mit Empörung im Keim erstickt wurde – „leider auch von ‚Bild'“. „Leider auch“? Seine Zeitung hat tagelang einen „Krieg der Generationen“ beschworen, „Schämt Euch!“ getitelt und den damaligen Junge-Union-Chef, den sie konsequent als „Milchbubi“ und „Milchgesicht“ verunglimpfte, gleich zweimal zum „Verlierer des Tages“ erklärt.

Diekmann behauptet, wer ein Thema wie den immanenten „Selbst-Betrug“ des deutschen Gesundheitswesens berühre, wie es Mißfelder getan habe, sei „in Deutschland politisch erledigt“. Offenbar hat er nicht gemerkt, dass Mißfelder anschließend munter weiter Karriere gemacht hat – obwohl vor allem „Bild“ alles dagegen tat. Diekmanns doppelter Selbstbetrug ist atemberaubend: Er muss nicht nur seine eigene Verantwortung verleugnen, sondern auch die Realität.

Oft setzt sich Diekmann aber gar nicht moralisch auf hohe Rösser, unter denen sich seine Zeitung täglich maulwurfartig durchgräbt, sondern fordert die anderen auf, zu ihm hinunter in den Schlamm zu kommen. Sein Buch durchzieht als roter Faden das Leiden des weißen, heterosexuellen Mannes, dass er heutzutage ununterbrochen auf irgendwelche Leute Rücksicht nehmen soll, die weniger normal sind als er. Es ist der Schrei einer gequälten Kreatur, eine Forderung nach weniger Verständnis, Anteilnahme und Toleranz, weniger Reflexion und mehr Vertrauen auf das, was Diekmann „Gesunden Menschenverstand“ nennt und vermutlich das ist, was aus Menschen in größeren Zusammenballungen Mobs macht.

Dazu gehört ein Plädoyer, die eigenen Möglichkeiten nicht zu überschätzen. Es ist ein Gegenentwurf zu dem schlichten „Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“ des ehemaligen Anarchosängers Rio Reiser, der später zu etwas wurde, das Diekmann voller Verachtung „Gutmensch“ nennen würde. Diekmann hält dem ein „Wieso ich, wenn nicht die anderen?“ entgegen. Über den ehemaligen Guantanamo-Gefangenen Murat Kurnaz schreibt er, dass für den in Deutschland geborenen Türken „nicht Deutschland, sondern allein die Türkei“ zuständig gewesen sei, und fügt noch hinzu: „‚allein‘ heißt ‚allein'“. Die Frage ist für ihn nicht, ob man helfen kann, sondern ob man zuständig ist, und zuständig scheint man auch dann nicht zu sein, wenn das eigene Tun ohnehin kaum einen Unterschied macht: Warum sollen sich die Deutschen ein Bein beim Klimaschutz ausreißen, wenn die Chinesen bald eh ein Vielfaches an Kohlendioxid produzieren werden? Er versteigt sich sogar in die Behauptung, dass „angesichts der Zahl der Reaktoren in unmittelbarer Nachbarschaft das Risiko nicht um einen [sic!] Jota sinkt“, wenn Deutschland aus der Atomkraft ausstiege. Das ist zwar mathematisch so falsch wie grammatisch, scheint aber eine Grundüberzeugung zu sein: Wenn alle anderen mit 130 durch die Fußgängerzone fahren, muss ich mich auch nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten – am Ende wird trotzdem ein Kind überfahren und ich bin völlig umsonst zwanzig Minuten länger unterwegs.

Man kann das beruhigend oder beunruhigend finden, aber die Verantwortlichen von „Bild“ scheinen bei ihrer täglichen Arbeit wenig Kompromisse mit sich selbst eingehen zu müssen. Wenn sie – nicht einmal zwei Wochen nachdem sie groß den Klima-Weltuntergang beschworen haben – titeln: „Klima-Schutz: Sollen wir Deutsche die Welt alleine retten?“, ist das kein Zugeständnis an den nötigen Populismus, sondern tiefe innere Überzeugung. Das macht den Reiz des Buches aus, an dem außer Diekmann fast die gesamte „Bild“-Führungsriege mitgewirkt hat: Es gibt einen konzisen Überblick über das Weltbild dieser Zeitung. Denn das ist beim flüchtigen Blick auf die Schlagzeilen heute nicht mehr so offenkundig wie vor zwanzig, dreißig Jahren: Auch „Bild“ ist oberflächlich weniger ideologisch geworden. Wenn in Köln Schwule und Lesben den „Christopher Street Day“ feiern, feiert auch die Kölner „Bild“ mit. Doch die darunter liegenden Überzeugungen, Ideologien und Urängste haben sich kaum geändert, das zeigt Diekmanns Buch.

Besinnungslos kämpft er gegen alles, was sich durch die Achtundsechziger oder „nach Achtundsechzig“ (konkreter wird er nicht) geändert hat, was dazu führt, dass er nebenbei sogar Anstoß daran nimmt, dass sich Berliner Schüler mit der Verfolgung der Homosexuellen im Nationalsozialismus beschäftigen sollen. Diekmann geht warm eingekuschelt in teils albernste Vorurteile und ausgelutschteste Phrasen durch die Welt, wirft den Achtundsechzigern noch Jahrzehnte später ihre ungepflegten Haare vor und macht sich die Welt wie sie ihm gefällt. Es sei ein „Aberglaube“, dass materielle Gleichheit glücklich mache, schreibt er, und während man darüber noch streiten könnte, weil es durchaus gegenteilige Forschungsergebnisse gibt, fügt er hinzu, dass Länder, die dem „Irrglauben“ an die Verteilungsgerechtigkeit des Staates gefolgt seien, „nicht in dem Ruf überschäumender Lebensfreude“ stünden, und nennt den „grauen Volksheimsozialismus der Schweden“ als Beispiel. Dabei sind gerade die Schweden ein Volk, das in fast allen Untersuchungen als eines der glücklichsten der Welt abschneidet, weit vor Deutschland.

Besonders rätselhaft an dem „Großen Selbst-Betrug“ ist, dass er in weiten Teilen Schlachten kämpft, die längst gewonnen sind. Diekmann bemängelt, dass Hans Eichel den Tag der deutschen Einheit abschaffen und Heiner Geißler das Wiedervereinigungsgebot aus dem Grundgesetz streichen wollte – durchgesetzt haben sich beide nicht, und doch genügt Diekmann schon ein gescheiterter Versuch als Beleg für die Verkommenheit unseres Landes, verschuldet durch die Achtundsechziger, ihre falschen Ideale, ihre Verblendung und ihren Selbsthass. Wortreich schildert Diekmann das angeblich so problematische Verhältnis der Deutschen zu sich selbst und ihrer Nation – um dann festzustellen, dass zur Fußball-WM so eine wunderbar friedliche und offenbar gesunde Welle des Patriotismus durch das Land schwappte. Entweder scheint das deutsche Nationalgefühl also nicht so pathologisch gewesen zu sein, wie Diekmann es beschreibt, oder diese vermeintliche Krankheit ist überwunden. Wo ist der Sieg der Achtundsechziger oder genauer: ihrer von Diekmann gezeichneten Karikatur, gegen den man noch ein Buch schreiben müsste (außer in Diekmanns Kopf)?

Diekmann wirft den Linken, den Gutmenschen, den Achtundsechzigern vor, Deutschland schlecht gemacht zu haben, im doppelten Sinne: Er macht sie erstens für all das verantwortlich, was in diesem Land seiner Meinung nach schiefläuft, vom Sozialbetrug über Jugend- und Ausländerkriminalität bis zur Abwendung von der Kirche, und zweitens dafür, dass dieses Land irgendwie nicht genug geliebt wird. Dabei wird es ihm schwer fallen, viele „Linke“ zu finden, die die Deutschen so sehr hassen, wie er es tut, wenn er in jedem Problem ein singulär nationales Phänomen sieht. Seine ganze Verzweiflung gerinnt im Vorwort zu der Frage: „Warum fehlt den Deutschen der Sinn für die Wirklichkeit, für Interessen, für die Selbstverständlichkeiten des Lebens?“ Kein Wunder, dass er darauf keine Antwort gefunden hat.

[Langfassung eines Artikels für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung]

Uri Geller

Ab Dienstag sucht ProSieben acht Wochen lang den „Nachfolger von Uri Geller“, und das ist schon im Ansatz ein Mysterium: Gesucht wird also jemand, der nicht nur ungeschickt genug ist, versehentlich einen seiner Tricks zu verraten, sondern sogar so ungeschickt, hinterher mit allen Mitteln zu versuchen, das Video davon aus dem Internet zu entfernen? Jemand, der aufmerksamkeitsgeil und gefährlich genug ist, sich nicht damit abzugeben, ein großer Illusionist zu sein, sondern zu behaupten, seine angeblichen Fähigkeiten von Außerirdischen bekommen zu haben? Jemand, der traurig genug ist, schon vor über dreißig Jahren in der „Tonight Show“ als Witzfigur überführt worden zu sein, als er nicht in der Lage war, seine berühmten Tricks vorzuführen, nachdem die Fernsehleute die zu manipulierenden Gegenstände selbst besorgt hatten? Jemand, der verzweifelt genug ist, sich bei der britischen Fernsehaufsicht über eine Sendung zu beschweren, die das esoterische Brimborium Gellers und anderer von Wissenschaftlern entzaubern ließ, und einen Kritiker zu verklagen, der behauptete, einen der von Geller verwendeten Zaubertricks vor Jahren auf der Rückseite einer Cornflakes-Packung gelesen zu haben? Jemand, der dreist genug ist, sich im Fall einer verschwundenen Frau als Helfer engagieren zu lassen und vorherzusagen, dass sie noch lebt und bald wieder auftauchen wird (sie ist nie wieder aufgetaucht und war zu diesem Zeitpunkt wohl längst tot)? Jemand, der größenwahnsinnig genug ist, zu behaupten, das Ende des Kalten Krieges dadurch mit herbeigeführt zu haben, dass er Michail Gorbatschow mit „friedvollen Gedanken“ bombadierte? Jemand, der soviel Pech bei seinen sportlichen Vorhersagen und behaupteten Einflussnahmen auf Ergebnisse hat, dass man, wenn man schon an übersinnliche Kräfte glauben wollte, von einem „Fluch des Uri Geller“ ausgehen muss, weil Sportler, denen er Siege vorhersagt, regelmäßig verlieren? Jemand, der dumm genug ist, bei der britischen Dschungelshow mitzumachen, langweilig genug, als erster herausgewählt zu werden, und weltfremd genug, hinterher zu sagen, er sei der einzige „international Prominente“ unter all den B- und C-Promis gewesen: „Ich war nie unten“?

Im israelischen Original zeigte eine Kamera versehentlich, wie sich Geller offenbar einen Magneten an den Finger klebt, um einen Kompass wie von Zauberhand zu bewegen. Dass ProSieben das Format trotzdem gekauft hat, von „übersinnlichen, übernatürlichen, unerklärlichen“ Phänomenen faselt, die zehn Kandidaten als „Auserwählte“ bezeichnet [avi] und wie so viele andere diesen ekligen Hochstapler hofiert: Das ist das einzige unerklärliche Phänomen des Uri Geller.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Weiterführende Links:

Thomas Kausch

Er läuft durch etwas, das wie eine große Röhre aus Beton aussieht, oder genauer: wie ein Fernsehsstudio, das aussehen soll, als wäre es eine große Röhre aus Beton. Da die Sendung „Geheimnis Geschichte“ heißt, soll das womöglich irgendeine Art von Zeittunnel symbolisieren, vielleicht ist es aber auch ein Ärmel des Mantels der Geschichte, was aber alles nicht diesen komischen Fächer an der Rückwand erklärt und vor allem: warum Thomas Kausch vor ihm wegläuft, nicht schnell, aber unaufhörlich.

Kausch läuft, während er moderiert. Das sieht schon bei den Reportern affig aus, die in Nachrichten oder Magazinen auf der Straße immer sieben Schritte auf die Kamera zugehen müssen, um irgendwelche Dinge aufzusagen, aber bei Kausch sprengt es jedes bekannte Maß an Affigkeit: Er bewegt seine Arme nicht mit beim Gehen, weil er mit beiden Händen die Moderationskarten hält, von denen er nicht abliest. Er läuft nicht nur beim Moderieren, sondern auch beim Gucken, wenn auf die „Beton“-Wand neben ihm Filmaufnahmen projiziert werden und schaut dann auf eine groteske Art nicht in die Richtung, in die er läuft, was aber auch egal ist, weil er sich ohnehin nicht vom Fleck bewegt, sondern offenkundig auf einem Laufband steht, damit Kausch beim Moderieren und Gucken laufen kann und beim Laufen moderieren und gucken.

Manchmal, wenn man seine Füße nicht sieht, wirkt es, als laufe er nicht, sondern stampfe Wein. Oder treibe auf eine altmodische Art einen Generator an, der die Kameras mit Strom versorgt. Und während sein Oberkörper steif bleibt und sein Unterkörper in Bewegung, sagt er Sätze wie: „Wenn jemand glaubt, dass unter den Nazis doch nicht alles schlecht war, zum Beispiel die Rolle der Mütter, dann irrt er, oder er lügt“, und ich habe seit langer Zeit nichts gesehen im an bizarrem Schwachsinn nicht armen deutschen Fernsehen, das derart bizarr und schwachsinnig war wie diese Inszenierung.

Das scheint Strategie zu sein, bei der ARD, sich nicht durch Inhalte, sondern durch merkwürdige Inszenierungen von der Konkurrenz abzusetzen: Auch Denis Schecks Büchermagazin setzt darauf, und bei „W wie Wissen“ moderiert Ranga Yogeshwar aus einer gewollt gleißenden Kunstwelt. Aber das hat auch faszinierende, gelungene Momente und ist nichts im Vergleich zu diesem Herumgelaufe von Herrn Kausch, der schon unbewegt hinter einem Schreibtisch gekünstelt wirkt, und eher nur versehentlich bei Sat.1 zu einem Inbegriff für journalistische Kompetenz wurde.

Jeder Hamster mit einem Funken Restrespekt hätte sich geweigert, sich auf dieses Laufband zu stellen. Und ich soll mir von jemandem, der sich für so einen Unsinn hergibt, Geschichte erkären lassen?

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Claus Kleber

Ganze Dossiers werden in den nächsten Tagen noch veröffentlicht mit klug und informiert erscheinenden Analysen über die strategischen, politischen und persönlichen Gründe dafür, dass ausgerechnet Claus Kleber neuer Chefredakteur des „Spiegel“ werden soll. Geschrieben werden die allerdings von Leuten, die in den vergangenen Wochen in genauso klug und informiert erscheinenden Analysen dasselbe für jeden Kandidaten außer Claus Kleber getan haben, und deshalb ist diese Erklärung so gut wie ihre:

Es war der Abend des 2. Dezember, im „Spiegel“ brannte noch Licht. Ein paar Strippenzieher saßen beim Wein zusammen, verwarfen Namen und schauten nebenbei, in einer komplizierten Mischung aus Trotz und Selbsthass, den Jahresrückblick „Menschen“ im ZDF, mit Johannes B. Kerner, dessen Talkshow von einer „Spiegel“-Tochter produziert wird. Während sie saßen und tranken, wurde Claus Kleber live aus Moskau zugeschaltet, und er begann mit den Sätzen: „Es ist Mitternacht in Moskau und bitterkalt und eine spannende Nacht.“ Kindlich rein und klar schienen ihnen diese Sätze, so unprätentios wie nichts, das sie je in ihrer Zeitschrift gelesen oder geschrieben hätten. „Das ist ein Riesenland“, fuhr Kleber fort, und als sie sich gerade fragten, ob es vielleicht ein Fehler war, dass sie all die Jahre richtige Verben und sogar Nebensätze benutzt hatten, fügte er hinzu: „Im Osten geht bereits wieder die Sonne auf – so groß ist dieses Land, das Putin heute noch einmal fester unter seine Kontrolle bekommen wollte.“ Das war nun von großer Anschaulichkeit, aber fehlte da nicht ein bisschen die kritische Analyse? Sie fehlte nicht mehr lange, denn Kleber, der nicht hemdsärmlig war wie der Mann, den sie sonst oft auf dem Bildschirm sahen und in ihren Konferenzen, sondern dick in einen Mantel eingepackt war, was ihn noch staatsmännischer aussehen ließ im eisigen Wind, und der, ganz ohne Podest, hinter einem Tisch zu stehen schien und eine Hand lässig darauf ablegte, fuhr fort: „Es ist in einem so riesigen Gebiet auch dann schwierig, eine faire und gerechte Wahl zu machen, wenn man es ernsthaft versucht. Die Frage ist: Ob das heute probiert worden ist. Und es sieht nicht danach aus.“

Das war kritisch und auf den Punkt und doch so ganz anders als diese miesepetrige, zynische, nicht nur immer alles besser wissende, sondern vor allem immer schon alles gewußt habende Haltung, die sie von ihrem Chef und aus ihren Fernsehmagazinen und aus ihrer Illustrierten kannten, die früher einmal ein Nachrichtenmagazin war. Es war weder zynisch noch naiv, sondern auf eine fremde Art pädagogisch und menschenfreundlich.

Und einem der „Spiegel“-Leute fiel plötzlich ein, dass er ein paar Tage zuvor schon gesehen hatte wie dieser Claus Kleber mit Kurt Beck gesprochen hatte, der gerade Olaf Scholz zum Arbeitsminister gemacht hatte und sich augenscheinlich vorgenommen hatte, nicht ganz so offen und zugänglich auf die Fragen zu antworten wie es ein Stück Granit getan hätte. Kleber aber blieb entspannt und fragte mit der freundlichsten Boshaftigkeit, die man sich vorstellen kann: „Sehen Sie verborgene Qualitäten in Olaf Scholz?“ Nachdem der „Spiegel“-Mensch das erzählt hatte, durchzuckte es alle: Sowas wollten sie auch.

Genau so war das.

Und solange die Redaktionskonferenzen nicht vollständig live übertragen werden, sehe ich überhaupt keine Veranlassung, warum der blöde „Spiegel“ seinen Willen bekommen und dieser Mann dem Fernsehen verloren gehen soll.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wahrheit hilft

Ivy

John Sweeney war ein angesehener Journalist in Großbritannien. Einmal hatte er sich in Zimbabwe im Kofferraum eines Autos versteckt, um den Oppositionsführer treffen zu können; er war ausgezeichnet für Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Algerien, im Kosovo, in Tschetschenien. Und nun gab es diese Filmaufnahmen: Wie er einen Pressemenschen von Scientology anschreit. Wie er die Kontrolle über sich in einem Maße verliert, das alles in Nachmittagstalkshows gesehene übersteigt, und mit hochrotem Kopf und sich überschlagender Stimme brüllt und brüllt und brüllt.

Scientology selbst hatte das Video gemacht, als Sweeney für die BBC eine Dokumentation über die Organisation drehte, und brachte es nun in die Öffentlichkeit. Der Auftritt des Journalisten wirkt auf den Bildern so abstoßend, dass die BBC eigentlich mit allen Mitteln dafür sorgen müssen, dass so wenige ihrer Zuschauer wie möglich sie sehen. Stattdessen zeigte sie sie selbst.

Sie brachte sie in der Dokumentation, verlinkte von ihren Internetseiten auf den Scientology-Ausschnitt, diskutierte den Vorfall ausführlich. Sweeney versuchte, sich zu erklären und zu entschuldigen, und sein Redakteur erklärte: „Ich bin sehr enttäuscht von Sweeney.“ Dadurch, dass der Sender selbst über den Fall berichtete, konnte er ihn im Kontext darstellen und seine eigene Sicht der Dinge hinzufügen. Vor allem aber hatte die BBC erkannt, dass das Schlimmste für sie nicht wäre, wenn viele Zuschauer die Aufnahmen ihres ausrastenden Journalisten sehen würden. Das Schlimmste wäre es, wenn die Zuschauer das Gefühl hätten, die BBC würde versuchen, diese Aufnahmen vor ihnen zu verstecken und den Fall kleinzureden.

Diese Logik gilt nicht nur im Verhältnis von Medien zu ihrem Publikum. Sie gilt generell. Es geht um Vertrauen. Die meisten Menschen werden akzeptieren, dass Fehler passieren. Die wenigsten werden akzeptieren, dass diese Fehler vertuscht werden.

Das klingt so banal, dass man es kaum hinschreiben mag. Und bestimmt doch so wenig das Handeln von Unternehmen.

Wie aus einem relativ überschaubaren Problem eine unkontrollierbare Krise wird, weil die Reaktion als Versuch gesehen wird, unangenehme Wahrheiten zu verbergen, dafür gibt es viele Beispiele – jüngst die Störfälle in den Atomkraftwerken von Vattenfall. Dass in deren Folge der Deutschlandchef gehen mussten lag nicht an den technischen, sondern an den kommunikativen Pannen. Die fehlende Transparenz war eine einzige misstrauensbildende Maßnahme. Inzwischen stellt Vattenfall nach eigenen Angaben alle Informationen über die Störfälle umgehend ins Internet. Das ist ein bisschen spät.

Die meisten Experten für Krisenkommunikation sind sich einig, was ein Unternehmen tun sollte, wenn etwas schief läuft: schnell, umfassend und transparent informieren. Doch bei den Verantwortlichen scheint die Sorge um den Vertrauensverlust durch mangelnde Offenheit immer noch kleiner als die, schlafende Hunde zu wecken und Kunden durch die eigene Kommunikation überhaupt erst darauf aufmerksam zu machen, dass etwas schief gegangen ist.

Dabei spricht vieles dafür, dass sich durch Transparenz und die Demonstration des eigenen Verantwortungsbewusstseins die negativen Wirkungen von Pannen nicht nur ausgleichen, sondern mehr als wettmachen lässt. Am eindrucksvollsten zeigte das der Pharmariese Johnson & Johnson, als im Herbst 1982 in Chicago mehrere Menschen starben, die vergiftete Schmerztabletten der Marke Tylenol eingenommen hatten. Obwohl es sich um eine kriminelle Manipulation und nicht um einen eigenen Fehler handelte, sah sich der Hersteller in der Verantwortung, warnte in Anzeigen vor dem Konsum jeglicher Tylenol-Produkte und tauschte in einer gewaltigen Rückrufaktion landesweit Tabletten im Wert von 100 Millionen Dollar aus. Rechtlich bestand dazu keine Notwendigkeit, und viele Beobachter glaubten, dass danach die Marke Tylenol tot sein würde. Doch als Johnson & Johnson das Produkt einige Monate später in neuer, sichererer Form auf den Markt brachte, zahlte sich die offensive Offenheit aus: Die drastischen Maßnahmen hatten das Vertrauen der Kunden in die Marke gestärkt: Sie machten Tylenol wieder zum Marktführer.

Das ist jetzt 25 Jahre her, und scheint die Manager in Deutschland wenig beeindruckt zu haben. Freimütig Fehler einzuräumen, das ist für die meisten immer noch undenkbar. Der Reflex lautet: Das stimmt gar nicht, das ist gar nicht so schlimm, das war nicht unsere Schuld.

Und natürlich ist es schwer, eine umfassende Rechnung aufzumachen, wann sich die Transparenz für ein Unternehmen lohnt. Wann es nicht nur ethisch gut ist, eigenes Fehlverhalten offenzulegen, sondern nützlich. Die Folgen gescheiterter Vertuschungsstrategien sind dramatisch, aber wie oft hat sich die Vertuschung ausgezahlt, weil sie erfolgreich war und die breite Öffentlichkeit nicht von einem Skandal oder seinen wahren Ausmaßen erfuhr? Und wie groß ist die Gefahr, dass das Publikum die eigene Offenheit nicht würdigt, sondern nur den Fehler sieht im Vergleich zu Konkurrenten, bei denen es keinen Fehler sieht?

Dennoch spricht im digitalen Zeitalter immer mehr für eine aufrichtige Kommunikation mit den Menschen. Weil unliebsame Informationen plötzlich – ohne Filter durch die Medien – aus allen Richtungen kommen können und sich immer weniger unterdrücken lassen. Und weil das Internet jedem die Möglichkeit bietet, direkt mit seiner „Zielgruppe“ zu kommunizieren. Schon 1999 forderte das von Internet-Vordenkern verfasste „Cluetrain Manifest“, mit Menschen wie mit Menschen zu reden. Doch auch acht Jahre später ist es immer noch eine kleine Sensation, wenn Kirstin Walther, Geschäftsführerin der gleichnamigen Kelterei, in ihrem Saftblog offenherzig von den Pannen erzählt, wie der, als ein Kunde auf der Tüte in seinem Getränkekarton einen handgeschriebenen Aufkleber fand: „Ich bin der 475. Beutel! Ist der Rotz bald mal alle!“

Andererseits: Solange Transparenz noch so rar ist, müsste sie sich für jedes Unternehmen doppelt lohnen.

Dieter Thomas Heck

Dr. Heindl war der Mann, der in der Ratesendung „Die Pyramide“ in den achtziger und frühen neunziger Jahren dafür zuständig war, heikle Entscheidungen zu treffen. Etwa: Kam die richtige Antwort noch in der Zeit? Zu sehen war Dr. Heindl nie. In Zweifelsfällen nahm Dieter Thomas Heck per Telefon Kontakt zu ihm auf, und die Gespräche haben tiefe Spuren im Gedächtnis des Teils der Generation Golf hinterlassen, der seine Samstagabende vor dem Fernseher verbrachte.

Heindl schien ein humorvoller, gradliniger Jurist zu sein, vor allem aber war er für Heck „Herr Doktor Heindl“. Der Titel stellte einen unverzichtbaren Bestandteil des Namens dar (ähnlich wie das MDR-Fernsehballett bei Heck grundsätzlich das „fabelhafte MDR-Fernsehballett“ war), und wenn Heck ihn aussprach, deutete er dazu gerne eine Verbeugung an. Jedes Gespräch nutzte Heck zu einer Demonstration des richtigen Umgangs mit Autoritätspersonen: Weil man ihrer Willkür ausgeliefert ist (und Heck sprach mit Heindl immer, als könne der ihn mit einem Knopfdruck dauerhaft vom Bildschirm entfernen), empfiehlt sich ein überkorrektes Auftreten, notfalls jenseits der Grenze zur Unterwürfigkeit. Die Entscheidungen sind zu befolgen, aber zum Ausgleich darf man sich hinterher über sie und Diedaoben lustig machen. Der eigene Status Hecks zeigte sich nur darin, dass er sich manchmal sogar im Gespräch selbst Spuren von Ironie erlauben durfte.

In den ebenso witzigen wie unerträglichen Telefonaten mit Dr. Heindl zeigte sich, was Heck ausmacht: Da steht kein weltläufiger Mensch auf der Bühne, sondern jemand, der es aus kleinen Verhältnissen nach oben geschafft hat und sich nun so verhält, wie der kleine Deutsche glaubt, dass die großen, weltläufigen Menschen es tun, mit all den Umgangsformen und –formeln, mit den Wichtigkeitsgesten, die bei ihm hoffnungslos übertrieben und manieriert, aber ernst gemeint sind: der im freien Stand auf die andere Hand aufgestützte Arm; das rotierende Handgelenk; der um Aufmerksamkeit heischende Zeigefinger, und nicht zuletzt, wie er Frauen an beiden Händen nimmt, bevor er sie mit gespitzten Lippen beinahe auf den Mund küsst. Dazu trägt er einen korrekten, konservativen Zweireiher und als kleines exzentrisches Accessoire: Armkettchen, die klimpernd die Gesten untermalen.

Heute um 20.15 Uhr moderiert er seine letzte Sendung. Zum 70. Geburtstag im Dezember schenkt sein ZDF ihm noch eine Gala mit Johannes B. Kerner, der längst in Hecks Rolle geschlüpft ist: ohne das Schlagergedöns natürlich, aber mit der Garantie, dass der Oberbürgermeister mit dem korrekten Titel und einer kleinen Verbeugung angesprochen wird und auch das MDR-Fernsehballett nicht auftreten muss, ohne dass irgendein tönernes Adjektiv vor seinem Namen steht.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung