Kategorie: artikel

Galileo

Neulich hatten sie sich bei „Galileo“ wieder etwas Besonderes ausgedacht. Moderator Daniel Aminati hatte einen Strohhalm in der Hand, der in einem vollen Glas Wasser steckte. Als er hinein pustete, machte es lustige Blasen. Erstmal nicht so spannend, oder wie es Aminati formulierte: „Erstmal nicht so spannend, aber das hier ist im Prinzip die Funktionsweise eines Whirlpools. Luft wird ins Wasser gepresst und sorgt für die Blubber beim Baden.“ Immer noch nicht so spannend, aber das sagte Aminati nicht mehr. Stattdessen begann ein vielminütiger Film, wie irgendwelche Leute sich einmal damit abmühten, ein Whirlpool im Garten anzulegen, gegen den aber nun die ursprüngliche Strohhalm-Demonstration wieder unglaublich spannend wirkte.

Man muss sich das „Wissensmagazin“ (Eigenbeschreibung) von ProSieben, das heute seinen zehnten Geburstag feiert, als ein Programm vorstellen, das sich nicht scheut, auch das zu erklären, was die „Sendung mit der Maus“ bei ihrem Vorschulpublikum fahrlässigerweise als Wissen voraussetzt. Eine fast rührende Naivität zeichnet „Galileo“ aus, und vermutlich darf man den Machern deshalb auch die vielen Beiträge nicht vorwerfen, die man anderswo „Schleichwerbung“ nennen würde: Wenn zum Beispiel eine Fast-Food-Kette anbietet, ihnen „exklusiv“ zu zeigen, wie fantastisch ihre Burger schmecken, können sie halt nicht anders, als diese einmalige Chance begeistert zu nutzen.

Und kein Aufwand ist zu groß, um herauszufinden, woraus zum Beispiel Tränen bestehen, diese salzigen Wassertropfen. Gut, 99 Prozent sind Wasser. Aber was ist das restliche Prozent? „Reporterin und Diplom-Biologin Andrea“ macht sich auf eine endlose Spurensuche, sammelt Wasser in einem Fluss, interviewt Passanten, schneidet Zwiebeln, produziert Tränen – bis ihr ein Labor endlich verrät: der Rest ist Salz. Wer hätte das gedacht! (Und es ist sogar egal, ob die Tränen nur von Schauspielern stammen oder von Leuten, die echt traurig waren wegen eines Filmes, den ihnen „Galileo“ gezeigt hat. Ist das nicht unglaublich?)

Manchmal jedoch ist diese Naivität eine Chance. Wenn „Galileo“ in einem langen Report erforscht, wie gefährlich „Killerspiele“ wirklich sind, ist das Ergebnis zwar nicht überraschend (Suchtgefahr groß, Amoklaufgefahr nicht so groß), aber den typischen Beiträgen von ARD-Politmagazinen zum Thema weit überlegen, die immer schon vorher die Antworten auf ihre Fragen zu wissen glauben.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

The West Wing

Als der britische Europaabgeordnete Daniel Hannan in seinem Blog die amerikanische Präsidentschaftswahl Mitte Oktober für gelaufen und Barack Obama zum Sieger erklärte, hatte er nur ein einziges, überzeugendes Argument: Der Wahlkampf folge dem Drehbuch der Serie „The West Wing“. Und dort gewinnt am Ende auch der charismatische demokratische Außenseiter, der einer ethnischen Minderheit angehört, gegen den alten, moderaten Republikaner.

Millionen Menschen hatten, wie Hannan, schon drei Jahre zuvor im Fernsehen gesehen, was passieren würde. Und die Parallelen waren nur zum Teil zufällig: Eli Attie, einer der Drehbuchautoren, hatte zur Recherche David Axelrod angerufen, der Obama damals im Rennen um den Senat beriet, und lange mit ihm über den Politiker, seinen Stil und seine Ambitionen gesprochen. Obama war ein Vorbild für die Figur des Matt Santos (Jimmy Smits), einem Latino und unwahrscheinlichen Kandidaten für das Präsidentenamt.

Obamas Sieg ist auf eine merkwürdige Art der nachträgliche Höhepunkt dieser herausragenden Serie, die von 1999 bis 2006 den Alltag im Weißen Haus schilderte — fiktiv und dramatisiert, aber im Kern in einem Maße realistisch, dass man sie als politische Bildung sehen kann. Sie zeichnet sich nicht nur durch hervorragende Schauspieler, gute Geschichten und kluge Dialoge aus, sondern auch durch eine Lust, auf dieser realistischen Grundlage verschiedene Szenarien durchzuspielen. Was passiert zum Beispiel, politisch und juristisch, wenn herauskommt, dass der Präsident Multiple Sklerose hat, war er den Wählern nicht gesagt hat? Welche Verfassungskrise entsteht, wenn die Tochter des Präsidenten entführt wird? Die inhaltlichen Gedankenspiele spiegeln sich auch in der Form: Viele Episoden sind zum Beispiel nicht chronologisch erzählt, sondern verschachteln lust- und kunstvoll die Zeitebenen.
„The West Wing“ war während der Amtszeit von George W. Bush so etwas wie eine schmerzhafte Erinnerung, wie es sein könnte, von einem anderen Präsidenten regiert zu werden, und das nicht nur im Sinne einer linksliberalen Fantasie: Der fiktive Präsident Jed Bartlet, gespielt von Martin Sheen, ist zwar Demokrat, vor allem aber klug und weise, belesen und wortgewandt, moderat und reflektiert. Er hat Schwächen und macht Fehler. Aber er wirkt auch dann wie eine Werbefigur für die Institution des amerikanischen Präsidenten.

Dabei zeigt „West Wing“ auch, wie mühsam es selbst vom Weißen Haus aus ist, etwas zu bewegen — nicht nur weil dem fiktiven Präsidenten ein republikanischer Kongress gegenüber steht. Jeder Erfolg wird durch eine Niederlage erkauft. Es ist ein Kampf, bei dem man fast nie in die Offensive kommt, weil sich immer wieder neue Fronten öffnen, an denen es darum geht, überhaupt die Stellung halten zu können. Am Ende einer Folge sind die Mitarbeiter des Präsidenten meistens froh, wenn sie nicht schlechter dastehen als am Anfang. Gelegentlich bricht mal einer aus dem Hamsterrad aus und versucht, die anderen zu motivieren, sich nicht dauernd einschüchtern zu lassen und daran zu erinnern, was für Pläne man hatte und wofür man überhaupt in die Politik gegangen sei. Es hilft wenig.

Die Serie ist bei allem patriotischen Pathos, das sie durchweht, auch eine praktische Warnung, nicht zu viel zu erwarten von einem Präsidenten. Wer sie gesehen hat, hat eine vermutlich realistische Vorstellung davon, in welchem Maß schon die Übergangsphase, die zweieinhalb Monate zwischen Wahl und Amtsantritt, eine Zeit der Kompromisse und des Geschacheres ist. Und dann, heißt es, hat der neue Präsident 100 Tage Zeit, zu tun, was ihm wichtig ist – bevor der nächste Wahlkampf für den Kongress beginnt.

Am Ende geht es in „West Wing“ um den Nachfolger Bartlets, den Wahlkampf von Matt Santos, einem Mann, der versucht, nicht als „der braune Kandidat“ wahrgenommen zu werden, Brücken zu bauen, anders zu sein und auf eine zunehmend aggressivere Kampagne der Gegenseite nicht mit gleichen Mitteln zurückschlägt — das kennen auch Nicht-Zuschauer ja inzwischen. Sein Zauberwort ist nicht „Change“, sondern „Hope“, und er ruft den Leuten zu: „Hoffnung ist echt“. Aber man kann, wie die „New York Times“ schrieb, die Massen auch darauf fast antworten hören: „Yes, We Can“.

Die siebte Staffel von „West Wing“ endet mit der Amtseinführung des neuen, unwahrscheinlichen Präsidenten. Wenn Barack Obama am 20. Januar seinen Eid leistet, beginnt damit im Grunde die achte Staffel von „West Wing“.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Sibylle Weischenberg


Foto: Sat.1

Man darf sich nicht täuschen lassen von der Überdosis Wimperntusche, die ein Markenzeichen von Sibylle Weischenberg ist, von ihrem altmädchenhaften Gekicher oder von ihren Versuchen, mit ihrer Kleidung eins zu werden mit der ultraikeaesken Studioeinrichtung bei Sat.1, wenn sie, wie diese Woche, ganz in Grün kommt und mit dem gleichfarbigen Sessel verschmilzt. In Wahrheit steht die Arbeit dieser „Gesellschaftsreporterin“ ganz im Dienst der Aufklärung.

Aktuell warnt sie gebetsmühlenartig davor, den Gerüchten Glauben zu schenken, Königin Elisabeth habe Charles zum Geburtstag versprochen, in fünf Jahren abzutreten. Nein, sagt sie dann sehr ernst, die Queen wird nicht abtreten. „Es bleibt dabei: Die muss erst sterben.“ Sie zögert auch nicht, den Moderatoren ins Wort zu fallen, wenn die am Donnerstag, wenn Sibylle-Weischenberg-Tag bei Sat.1 ist und sie viele Stunden im Frühstücksfernsehen herumsitzt, unbedacht behaupten, Tatjana Gsell habe einen neuen Freund und sei sehr glücklich. Nein, sagt sie dann sehr ernst, das wisse man nicht. Das behaupte Frau Gsell nur. Und die behaupte ja viel. „Ich würde mal sagen, wir sind da sehr zurückhaltend. Wir kommentieren sehr genau, wie sich das Liebesleben von Tatjana Gsell in Zukunft gestalten könnte“, sagt sie und unterstreicht den Konjunktiv mit spitzesten Fingern.

Weischenberg hat es geschafft, als Alleskommentiererin zur Überallkommentiererin zu werden. Es ist schwer, eine Stunde zu finden, in der sie nicht irgendwo im Radio oder Fernsehen auftritt. Mag sein, dass sie tatsächlich gute Kontakte und exklusive Informationen hat. Aber so, wie sie es schafft, die längst überall zu lesende Gsell-Geschichte als Insiderbericht zu verkaufen, ist das sicher optional. Ihr Talent ist es, das hysterische Geklatsche gut gelaunt und halbironisch so mitzumachen, dass man sie mit einer Stimme der Vernunft verwechseln kann. Sie weiß nicht nur aus eigener Anschauung, dass Prinz Charles „Wurstfinger“ hat, und kannte Diana persönlich („Wir haben uns sehr lange unterhalten. So als Mütter“), sie verbindet auch die Kunst der Ferndiagnose mit der großen Meta-Analyse: Dass Ministerpräsident Günther Oettinger sich nach der Trennung von seiner Frau mit einer sehr jungen Freundin zeige, sei zum Beispiel ein Modernisierungssignal der CDU an neue Wählerschichten: „Man kann diese konservativen Parteien nicht mehr eins zu eins nehmen. Nein, da ging ein Ruck durch, und dementsprechend sehen wir jetzt auch neue Röcke.“ Nicht dass noch jemand glaubt, das sei irrelevant, womit sie sich da beschäftigt.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Statt „Lesen!“

Wahrscheinlich hatte alles damit begonnen, dass sich die interne Qualitätskommission des ZDF mit der Frage beschäftigte, warum die Freitagabendshow „Lanz kocht“ nicht so erfolgreich ist wie die Vorgängersendung „Kerner kocht“, und zu dem Ergebnis kam, dass das nicht, wie man annehmen könnte, am Moderator liegt, sondern am fehlenden Stabreim. Flugs machte man sich also an die Entwicklung einer Show „Lanz liest“, und weil Markus Lanz offenbar im Vertrag stehen hat, dass er im ZDF keine Show moderiert, in der Horst Lichter nicht Gast ist, könnte man den gleich in die erste Sendung einladen und zusammen aus dem gemeinsam geschriebenen Buch lesen. Ab der zweiten Ausgabe würde es dann aber, natürlich, ausschließlich um Kochbücher gehen, und schon hätte man eine zeitgemäße Alternative zu Elke Heidenreichs Büchersendung „Lesen!“, von der sich das ZDF entsprechend leichten Herzens verabschiedete.

Um die abzusehenden Vorwürfe des Populismus zu kontern, ließe sich „Lanz liest“ leicht durch eine zweite, anspruchsvollere, natürlich viel später am Abend gesendete Büchershow ergänzen: In „XY… ungelesen“ könnte Rudi Cerne nach Menschen fahnden, die die Literatur tatsächlich kennen, von der in Feuilletons immer so viel zu hören ist, oder, falls das scheitert, in einer Talkshow gleichen Titels mit prominenten Gästen (also Fernsehköchen) über Bücher diskutieren, die sie nicht kennen.

Hinter dem Titel „Bauer sucht Buch“ verbirgt sich das vielversprechende Konzept einer Doku-Soap, in der Inka Bause die Landwirte, für die RTL beim besten Willen keine Frauen finden konnte, die es mit ihnen, ihren Müttern und den anderen Kühen aushalten, mit einer rollenden Leihbibliothek auf ihren Höfen besucht und ihnen Vor- und Nachteile von Büchern im Vergleich zu Gattinnen nahebringt (plus: gibt keine Widerworte; minus: macht nicht den Abwasch).

Als weiteres Zugeständnis an den Bildungsauftrag plant das ZDF nach unbestätigten Informationen, seine nächste Telenovela im Berliner Vorort Buch spielen zu lassen. Versuche, in der Tradition der beliebten Tierserien „Unser Charly“, „Hallo Robbie“ und „Da kommt Kalle“ eine Familiengeschichte um die Abenteuer eines niedlichen Taschenbuches zu entwickeln, haben sich bislang als unerwartet schwierig herausgestellt. Zum Ausgleich ist der öffentlich-rechtliche Sender aber offenbar bereit, im Rahmen seiner täglichen Tierpark-Berichterstattung die Aufzucht einer Familie von Leseratten im Osnabrücker Zoo filmisch zu begleiten.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Jo Groebel

Wenn deutsche Boulevardmedien auf die Schnelle jemanden brauchen, der ihnen bestätigt, dass die Nacktszene im „Tatort“ / das Käferbad im Dschungel / die Tiertötung in der Kochshow wirklich so schlimm ist, wie ihre Schlagzeilen behaupten, rufen sie Jo Groebel an. Der Mann leitet ein „Deutsches Digital-Institut“, vor allem aber ist er „Medienexperte“, was in diesem Fall bedeutet, dass er in den Medien als Experte gilt. Groebel ist mit Urteilen schnell zur Hand. Als die „Bild“-Zeitung am Donnerstag behauptete, dass ProSieben in der nächsten Folge von „Popstars“ zeigen werde, wie eine Kandidatin vom Tod ihrer Mutter erfährt, sagte er dem Blatt: „Das geht absolut nicht!“ Als sich die „Bild“-Meldung als Falschmeldung entpuppte, fügte er laut „Express“ hinzu: „Auch wenn die Reaktion des Mädchens nicht gezeigt wird – es ist ja bekannt, was passiert.“ Richtig: Der eigentliche Skandal ist der Tod an sich. Solange das Fernsehen nicht verhindern kann, dass Angehörige von Kandidaten während der Dreharbeiten sterben, sollen sie halt keine Casting-Shows veranstalten.

Groebel hat zu allem eine Meinung, und es ist immer die billigste. Zum Thema Schönheits-OPs: „Natürliche Schönheit ist attraktiver als solche aus dem Katalog.“ Zu den hohen Olympia-Kosten: „Ein ARD-Moderator kann durchaus auch mal für das ZDF vor der Kamera stehen und umgekehrt.“ Zum angeblichen Trend zum „Brutal-TV“: „Die Zuschauer sind in den letzten Jahrzehnten immer unempfindlicher geworden. Einzelfälle freiwilliger körperlicher Gewalt sind nun an der Tagesordnung.“ Zur Hitler-Gruß am Rande der RTL-Dschungelshow: „Das tut dem Sender-Image auf keinen Fall gut.“ Zum Rauswurf von Verona Pooth bei RTL2: “ Verona Pooth ist zwar nicht juristisch, aber psychologisch an der Affäre ihres Mannes beteiligt.“

Groebel sagt den Qualitätsmedien wie der Berliner Quatschzeitung „B.Z.“ nichts anderes als das, was der grundlos erregte Mann auf der Straße auch sagen würde, adelt es aber durch den Titel „Professor“ und durch die Logik, dass er sich so oft öffentlich zum Thema Fernsehen äußert, dass er sich damit einfach auskennen muss. Seine Wortmeldungen markieren dabei zuverlässig den Zeitpunkt, zu dem man die Hoffnung auf eine fruchtbare Debatte fahren lassen kann.

Bislang hat sich die Formulierung „ins Gröbeln kommen“ als Synonym fürs hemmunglose Produzieren von Plattheiten für die Medien nicht durchgesetzt, aber Groebel arbeitet daran. Im Frühjahr bat ihn die „Berliner Morgenpost“, ihren Lesern „wichtige Tipps“ beim Streik der Busse und Bahnen zu geben. Der Professor empfahl: „Bei extrem wichtigen Terminen (…) gilt: Die An- und Abfahrten sollte man nicht in letzter Sekunde planen.“ Und: „Man sollte sich grundsätzlich überlegen, ob man nicht viel übers Internet regeln kann.“

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Shaun, das Schaf

Das Sympathische an Schafen ist, dass sie es nicht übertreiben mit der Intelligenz. Sie sind Vizemeister im Auf-der-Wiese-Stehen und Gras-Kauen mit guten Platzierungen in den Disziplinen Hinter-anderen-Schafen-Herlaufen, Herumliegen und Unnötig-in-Aufregung-Geraten. Vor allem glänzen sie aber durch ihr Talent, sich in jedem beliebigen Gelände in ausweglose Situationen zu bringen. Ein Bauer hat mir einmal erzählt, Schafe wollten nur eins: sterben. Kaum drehte man sich um, hätte wieder eines den Kopf so durch ein Gatter geschoben, dass der Hals lebensbedrohlich festhängt. Das klingt unfair und unnötig drastisch, aber im Dritten Programm lief neulich eine Dokumentation über einen großen Schaftreck in Norddeutschland, in der prompt ein Schaf einen ungefähr zwei Zentimeter langen Abhang herunterkugelte, auf dem Rücken landete und in dieser Position liegen blieb, offenkundig überzeugt, dass dies nun sein unabänderliches Schicksal sei.

Das Sympathische an der Serie „Shaun, das Schaf“, die sonntags morgens in der „Sendung mit der Maus“ läuft, ist, dass die Knetschafe hier nur ein bisschen intelligenter sind als im wahren Leben. Die meisten Mitglieder der Herde, die auf einem kleinen Hof lebt, sind vollauf damit beschäftigt, vor sich hin zu kauen, wobei die Augenstellung irgendwo zwischen halb und viertel vor acht darauf hindeutet, dass sich ihr Gehirn in den Stand-By-Modus verabschiedet hat. „Dumm“ wäre das falsche Wort, „genügsam“ trifft es besser.

Das Sympathische an dem Titelheld Shaun schließlich ist natürlich, dass er anders ist. Er ist aufgeweckt, was ein großes Wort ist für ein Schaf. Es ist vermutlich eine Frage des Alters, er hat ungefähr die Rolle eines vorwitzigen und tendenziell hochbegabten Achtjährigen, der die anderen aus ihrer Lethargie reißt. Wobei auch seine Ambitionen angenehm begrenzt sind. Er schmiedet keine großen Ausbruchspläne, plant nicht die Schafrevolution. Er weiß einfach nur, wie man, wenn einem ein Kohlkopf vor die Füße rollt, einen netten Nachmittag mit Gemüsefußball verbringen kann, oder auf Kosten des gutmütigen Wachhundes oder des Bauern seinen Spaß haben kann.

Seit eineinhalb Jahren zeigt die ARD die wenige Minuten langen Geschichten aus dem Haus der Macher von „Wallace & Gromit“. Es sind, vor allem wegen der liebevoll gekneteten Figuren mit ihren unfassbar ausdrucksstarken Augen und Gesichern, Filme, die sich nicht nur Kinder immer wieder ansehen können. Dabei sind die Geschichten, wie ihre Protagonisten, nicht überambitioniert. Sie haben, abgesehen von der Anspielung auf große Filme, oft nicht einmal einen doppelten Boden, eine ironisch gebrochene zweite Ebene für die Erwachsenen. Sie brauchen sie nicht. Ihr Charme und Witz, ihre Liebe zum Detail reicht völlig.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Dirk Bach

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Es sind gar nicht nur der Bauch und die baumelnden Ärmchen und die lustige, figurbedingte Art zu laufen. Es sind vor allem die großen Augen mit diesen langen Wimpern und markanten Augenlidern, die so aussehen wie die aufgeklebten Augen bei den sympathischen Puppen aus der „Sesamstraße“. Es ist eine freundliche, laute, bunte Muppetfigur, die uns aus dem Fernsehen entgegenlacht, wenn Dirk Bach darin auftritt.

Und das tut er seit langer Zeit schon mit erstaunlicher Konstanz. Als vor alberner Freude quietschender Spielleiter in der Improvisationsshow „Frei Schnauze XXL“, die wirkt, als sei einer der größten Posten in ihrem Produktionsetat Eierlikör. Als ebenso vergnügte wie vergnügliche Glückspraline für Sonja Zietlow in der Dschungelshow. Als Schauspieler in mutmaßlich traurigen Fernsehfilmen mit Titeln wie „Popp dich schlank“ oder „Crazy Race“. Oder auch in der „Sesamstraße“ — als (menschlicher) Zauberer Pepe.

Dirk Bach polarisiert. Nach einer repräsentativen Umfrage im Bekanntenkreis ist er für 71 Prozent der Deutschen Inbegriff der Nervensäge im Fernsehen. Aber er ist in dem Einerlei von gesichtslosen Moderatoren, die unser Fernsehen bevölkern, ein Wunder. Und er ist nicht nur schrill, sondern hat sogar Prinzipien. Von morgen an spielt er eine neue Rolle: den Gameshow-Master. Eine Woche lang täglich und dann immer am Dienstag moderiert er um 22.15 Uhr auf Vox „Power of 10“, eine Sendung, in der die Kandidaten das Ergebnis von Meinungsumfragen erraten müssen: Wie viel Prozent der Deutschen halten Versicherungsbetrug für ausgleichende Gerechtigkeit, finden Frauen klüger als Männer oder sagen — ganz philosophisch –, es sei besser, geliebt zu haben und enttäuscht worden zu sein, als nie geliebt zu haben.

Das ist nicht spektakulär, aber (trotz schlimm gecasteter Kandidaten) manchmal ganz unterhaltsam. Und das Schöne ist, wenn man für so eine Show jemanden engagiert, der sonst so übertourig läuft wie Dirk Bach: Er muss sich nicht produzieren, sondern kann sich zurücknehmen und muss nur aufpassen, dass er an der Grenze zwischen unterengagiert und gelangweilt nicht plötzlich auf der falschen Seite steht. Trotz aller Muppethaftigkeit steht Dirk Bach nicht da als der legendäre Showmaster Robert aus der „Sesamstraße“. Es genügt schon, wenn der Kandidat erzählt, dass er, seit er vier ist, Leichtathletik betreibt, einzuwerfen: „Ich auch.“ Und als die Kandidaten über die Frage grübeln, wie viele Deutsche schon einmal eine Leiche berührt haben, sagt Dirk Bach: „Ich hab‘ zumindest Ute Ohoven schon einmal die Hand gegeben, ich weiß nicht, ob das zählt.“

Erde an Sender

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

War Reich-Ranickis Fernsehkritik zu pauschal? Es geht auch konkreter: 50 Fragen an das deutsche Fernsehen

Die Debatte, ob das deutsche Fernsehen ein Qualitätsproblem hat, hat ein Qualitätsproblem. Geführt wird sie so, als ginge es darum, sich darüber zu verständigen, ob die Frage mit Ja oder Nein zu beantworten ist – als ob damit irgendetwas ausgesagt wäre. Das liegt nicht zuletzt daran, von wem diese Scheindebatte besonders engagiert geführt wird. Einerseits von Leuten, die nach eigenen Angaben gar kein Fernsehen mehr gucken. Die nicht mehr zu hören brauchen als einen Titel wie „Bauer sucht Frau“, um schon ein Urteil gefällt zu haben. Und andererseits von Programmverantwortlichen, die mit erstaunlicher Offenheit ihre Arroganz demonstrieren: das Qualitätsproblem, das sind die anderen.

Dabei gäbe es genug zu diskutieren. „Voraussetzung eines jeden Qualitätsurteils ist die gründliche Kenntnis seines Gegenstandes“, hat die Jury des Fernsehpreises festgestellt. Und hinzugefügt, sie sei sich sicher, dass die einzelnen Leistungen „in allen in diesem Jahr prämierten Originalbeiträgen leicht erkennbar sind“. Damit könnte man anfangen: die Juroren die preiswürdigen Leistungen im Rahmen der ausgezeichneten Show „Deutschland sucht den Superstar“ erklären zu lassen.

Und für die weitere Debatte hätten wir noch ein paar Fragen:

1 Warum muss Anne Will die Talkshow von Sabine Christiansen auftragen, anstatt das zu tun, was sie so gut kann: Ein Gegenüber in einem konzentrierten Gespräch interviewen?

2 Warum gibt es überhaupt neben den ganzen Talkshows kaum noch Interviewsendungen?

3 Warum ist der Ort, an dem sich Politiker wie Andrea Ypsilanti im Ersten Programm Fragen stellen, Reinhold Beckmanns Küchenpsychologiestudio?

4 Wie konnte aus dem ZDF-„Länderspiegel“, der jahrzehntelang über große und kleine Geschichten aus der Landespolitik berichtete, ein seichtes Magazin mit Boulevardeskem aus der Provinz werden, das alte Beiträge des Magazins für Kontrollfetischisten, „ZDF-Reporter“, recycelt?

5 Ist es nicht erstaunlich, dass das ZDF anstelle eines Nachmittagsmagazins unter dem Titel „Hallo Deutschland“ täglich einen blutrünstigen, voyeuristischen Polizeireport sendet?

6 Warum haben wir sieben Dritte Programme, die alle mit Quiz- und Zoo-Sendungen und Wiederholungen von Seifenopern im Wettrennen um die beste Quote mitmachen, anstatt frei von diesem Druck innovative, ungewöhnliche Nischenprogramme zu entwickeln?

7 Wie konnte es passieren, dass der größte Privatsender Deutschlands, RTL, kein einziges eigenes journalistisches, meinungsbildendes Format in der Primetime hat?

8 Wer käme darauf, dass es sich beim „Aktuellen Sportstudio“ mit dauerjohlendem Publikum und hyperventilierenden Moderatoren um eine Sendung im ZDF und nicht im Privatfernsehen handelt?

9 Nimmt das Verbot von Schleichwerbung im Fernsehen ausdrücklich Thomas Gottschalk aus, der in „Wetten dass?“ gefühlte minutenlang ein Schild hoch hält, auf dem der Name eines Sponsors steht?

10 Welche Strategie bewegt Sat.1 dazu, als Sendeplatz für die Erstausstrahlung der letzten Staffel der sehr anständigen amerikanischen Sitcom „Will & Grace“ samstags um halb fünf zu wählen? (Ja, 4.30 Uhr, nicht 16.30 Uhr.)

11 Inwiefern trägt es zur Zuschauerbindung bei, dass RTL teure amerikanische Serien wie „Dr. House“ kunstvoll in eine solche Reihenfolge bringt, dass Cliffhanger garantiert nicht in der folgenden Woche aufgelöst werden?

12 Von wegen Globalisierung: Warum tauchen im deutschen Fernsehen nie Ausländer auf, außer auf Gottschalks Couch?

13 Und warum warnt keiner die internationalen Stars vor einem Auftritt bei Thomas Gottschalk?

14 Warum ist die Live-Sendung mit ihrer Möglichkeit, dass etwas Unerwartetes passiert, von dem man nicht am Tag zuvor schon in den Zeitungen gelesen hat, so gut wie ausgestorben?

15 Ist die einzige Möglichkeit, in Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ Spannung zu erzeugen, das Ausdehnen des Satzes „Und der Gewinner ist X.“ auf eine halbe Stunde?

16 Warum darf in Deutschland nur ein einziger Mensch (Florian Wieder) die Bühnenbilder von Fernsehsendungen designen? (Es kann doch nicht an seinem Nachnamen liegen.)

17 Wann gibt jemand den dahinsiechenden „Fun-Freitagen“ den Gnadenschuss?

18 Was würde passieren, wenn man Marco Schreyl seine Moderationskarten wegnähme?

19 Warum muss die ARD, um eine junge moderne Serie im Programm zu haben, sie bei RTL einkaufen – wie gerade mit den „Anwälten“ geschehen?

20 Wie dringend hat die Welt auf eine wöchentliche Quiz-Show mit Markus Lanz im ZDF-Hauptabendprogramm gewartet?

21 Warum braucht die ARD einen eigenen Digitalkanal, um ihre Zuschauer nachmittags jenseits der „Tagesschau“ über das Leben außerhalb der deutschen Zoos zu informieren?

22 Wie klug ist es von ARD und ZDF, sich einen Wettstreit um die meisten Box-Übertragungen zu liefern und jeden Kirmes-Boxkampf zum Großereignis hochzujubeln?

23 Das ZDF hat Johannes B. Kerner wirklich aus China einfliegen lassen, um ein Fußball-Testspiel anzusagen? Nicht zu kommentieren: anzusagen?

24 Wäre es nicht schön, wenn ARD und ZDF wenigstens einen Sendeplatz in der Hauptsendezeit hätten, an dem sie gute Spielfilme zeigten? (Das Erste zeigt George Clooneys „Good Night, and Good Luck“ als Premiere an einem Montagmorgen um 0.05 Uhr.)

25 Warum ist es eine so seltene Ausnahme, dass ein Sender wie Pro Sieben an imagefördernden, aber nur mittelerfolgreichen Sendungen wie „Stromberg“ oder „Dr. Psycho“ festhält?

26 Durch welches Missverständnis lässt sich erklären, dass Inka Bause die neue Allesmoderiererin von RTL geworden ist?

27 Wäre es nicht möglich, die Zahl der von den Dritten Programmen zeitgleich ausgestrahlten Talkshows am Freitagabend auf drei zu beschränken?

28 Wird es in absehbarer Zeit wieder Tage geben, an denen Johann Lafer nicht im ZDF zu sehen ist?

29 Wie lässt sich erklären, dass das, was in anderen Ländern „Late-Night-Show“ heißt, bei uns nur „Schmidt & Pocher“ und „TV Total“ bedeutet?

30 Und warum ist alles, was bei Jon Stewart ironisch ist, bei Harald Schmidt gleich zynisch?

31 Wann ist aus dem Genre der Filmkritik im Fernsehen das Versenden von Werbetrailern geworden?

32 Sind N24 und n-tv Nachrichtensender?

33 Und wenn es schon keine Nachrichtensender in Deutschland gibt, die diesen Namen verdienen, könnte es nicht wenigstens Musiksender geben?

34 Wäre der Gedanke völlig abwegig, dass die öffentlich-rechtlichen Boulevardmagazine wenigstens auf den Gebrauch von Paparazzi-Aufnahmen verzichteten?

35 Warum bestehen die „Abenteuer“ des „Alltags“ und des „Lebens“, von denen Kabel 1 täglich berichtet, ausschließlich aus Auswandern, Autotuning und, um es mit dem Titel einer dieser „Reportagen“ auszudrücken, aus „Kochen bis der Arzt kommt“?

36 Könnte nicht wenigstens Roland Heilmann aus der Sachsenklinik mal vorbeischauen?

37 Warum sind alle Fragen, die Fußballspielern nach dem Spiel gestellt werden, noch immer von Heribert Faßbender?

38 Wie kommt das ZDF aus dem Knebelvertrag mit Rosamunde Pilcher wieder raus? Und wie lange wird es der Titelgenerator noch schaffen, sich nicht zu wiederholen („Sieg der Liebe“, „Sommer der Liebe“, „Liebe im Herbst“ etc.)?

39 Warum werden nach Filmen keine Abspänne mehr gezeigt? Gelten dem Fernsehen Schauspieler und Regisseure wirklich so wenig?

40 Warum muss das Wetter von morgen aufgeblasen werden wie der Domino Day? Reicht nicht eine sachliche Ansage, müssen Leute, die nicht wissen, wohin mit ihren Händen, wirklich vor animierten Bildern herumflanieren?

41 Warum sehen die meisten Comedians nur lustig aus?

42 Glaubt wirklich jemand, dass sich hinter dem Pseudonym Atze Schröder ein echter Mensch verbirgt?

43 Wann hören die Call-TV-Moderatorinnen vom DSF auf, sich selbst zu erniedrigen, und ziehen sich bei der Arbeit was über?

44 Warum hat die blonde Moderatorin von „Spiegel TV“ immer schlechte Laune?

45 Warum wird auf Comedy Central jeder Witz todsynchronisiert? Schon mal über Untertitel nachgedacht? Lange genug?

46 Wie sehr schämt sich Günther Jauch heimlich für „Stern-TV“?

47 Will wirklich jemand einen Schwiegersohn wie Florian Silbereisen?

48 Warum dürfen nur fiktionale Figuren im Fernsehen richtig böse sein?

49 Wie ist Sibylle Weischenberg ins Fernsehen gekommen? Und vor allem: Wie kommt sie wieder raus?

50 Veronica Ferres?

Bitte hier klicken!

Sollen wir die schönsten Zahlen zwischen 1 und 10 000 bringen? Oder hundert Bauchnabel? Wie der Online-Journalismus seine Autorität verspielt.

· · ·

Das erste Opfer des modernen deutschen Online-Journalismus ist die Tabelle. Sicher, das schien mal eine praktische Erfindung der Menschheit zu sein: die Möglichkeit, Informationen in Zeilen und Spalten anzuordnen, so dass man sie auf einen Blick erfassen und gut vergleichen konnte. Aber für die Online-Optimierer von heute ist schon die Formulierung „auf einen Blick“ ein klarer Hinweis, dass da etwas verschenkt wird. Klicks.

Und so sitzen in den Redaktionsräumen der großen Online-Medien jeden Tag Menschen und machen aus Tabellen Bildergalerien, notfalls auch ganz ohne Bilder. Bei „Welt Online“ sind sie besonders fleißig. In einem Artikel über angebliche „Koks-Hochburgen“ haben sie eine Übersicht gebaut, wie sich die Rückstände der Droge in den Flüssen verschiedener Städte in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Obwohl, „Übersicht“ trifft es nicht: Auf jeder Seite steht nur eine Stadt. Die nächste Stadt erscheint nicht darunter, sondern auf der nächsten Seite. Wer versucht, hier die verschiedenen Werte miteinander zu vergleichen, wird nicht glücklich werden — aber die Vermarkter von „Welt Online“ glücklich machen: Mindestens 27 Klicks produziert er, wenn er dumm, gelangweilt oder interessiert genug ist, sich durch die ganzen Zahlen zu klicken.

Und es braucht nicht einmal eine richtige Tabelle für diese Art der Inflation. Eine bloße Liste tut es auch. Aktuell etwa die „Liste der 100 gefährlichsten Internetseiten“. „Welt Online“ hat jede Adresse, ohne jegliche weitere Information, auf eine eigene Seite geschrieben. Hundert Seiten, hundert Klicks. Man kann die „Liste“ deshalb auch nicht ausdrucken, um sie sich, was nützlich wäre, neben den Computer zu legen — es wäre ein hundertseitiges Buch mit viel Raum für Notizen.

Die Informationen sind, wie in Hunderten, wenn nicht Tausenden ähnlichen Fällen auf ähnlichen Seiten, nicht als Service aufgemacht, sondern im Gegenteil: so, dass es möglichst beschwerlich ist, an sie heranzukommen. Entsprechend laut ist das Murren in den Kommentaren unter dem Artikel. Reihenweise beschweren sich Leser, dass die (ohnehin zweifelhaften und von einer „Fachzeitschrift“ namens „Computer-Bild“ abgeschriebenen) Angaben nicht als Tabelle präsentiert wurden. Einer gratuliert zur „schwachsinnigsten Galerie des Jahres“ und regt an, als Nächstes in dieser Form „die 500 schönsten Zahlen bis 10.000“ zu präsentieren.

Die Kritik verhallt ohne Antwort. Entweder weil die Online-Leute längst verinnerlicht haben, dass sie nicht für die Leser arbeiten. Oder weil sie schon diskutieren, ob die „2192“ oder „2193“ schöner ist und man nicht besser gleich die 10 000 schönsten Zahlen bis 10 000 präsentieren sollte.

„Welt Online“ ist damit nicht allein. Aber „Welt Online“ hat Monate rasanten Wachstums hinter sich und gilt im Augenblick mit seinen Besucher- und Klickzahlen als einer der erfolgreichsten Ableger klassischer Medien. Offiziell wird das mit der „Online First“-Strategie erklärt, wonach auch Zeitungsinhalte sofort, noch vor der Belichtung, im Internet veröffentlicht werden. Doch abgesehen davon, dass die „Welt“ diese Strategie keineswegs so konsequent betreibt, wie sie behauptet, ist die Erklärung abwegig. „Welt Online“ besticht nicht durch Qualität, sondern pure Masse.

Zu den Spezialitäten gehört eine 333-teilige Bildergalerie mit wahllos aus Frauenzeitschriften und anderen dubiosen Quellen zusammengetragenen „Fakten über Sex“ sowie die vielfältige, nein: vielfache Möglichkeit, Prominente anhand ihrer Körperteile zu erkennen: „Welt Online“ zeigt erst nur das Ohr, dann den ganzen Promi, und wer sich durch Dutzende Fotos geklickt hat, kann das ganze Spiel in weiteren Bilderquizgalerien mit dem Po, den Augen, dem Busen, den Lippen, den Tätowierungen wiederholen.

Ein zentrales Argument, das immer wieder gegen eine starke Online-Präsenz von ARD und ZDF angeführt wird, besagt, dass es im Internet einen hervorragend funktionierenden publizistischen Wettbewerb gebe, der ganz ohne Öffentlich-Rechtliche genügend Qualität hervorbringe. Richtig ist, dass sich auf den Seiten deutscher Online-Medien viele kluge Kommentare, sorgfältige Recherchen, aufwendige Reportagen finden. Aber der größte Teil von ihnen stammt aus deren gedruckten Ausgaben. Natürlich ist nichts dagegen zu sagen, diese Inhalte auch online zu publizieren, im Gegenteil. Nur werden diese teuren Elemente des Journalismus nicht von den immer noch mageren Online-Erlösen bezahlt, sondern den Anzeigen und Vertriebseinnahmen der traditionellen Medien.

Weite Teile dessen, was uns wie Vielfalt und Qualität im deutschen Online-Journalismus vorkommt, sind eigentlich nur eine Zweitverwertung — und de facto durch die Zeitungen quersubventioniert. Was für online produziert und tatsächlich von den Online-Erlösen bezahlt wird, ist dagegen oft von ernüchternder bis erschütternder Qualität: unredigierte Texte von Nachrichtenagenturen; eine willenlose Aus- und Verwertung all dessen, was die internationalen Boulevardmedien täglich so an Halb-, Falsch- und Nichtmeldungen produzieren; eilig zusammengestrickte Artikel von Menschen, die sich nicht unbedingt auskennen. Zu den beliebten billigen Genres gehört auch die Fernsehkritik — bei „Welt Online“ zum Beispiel werden tagtäglich irgendwelche Sendungen vom Vortag nacherzählt, gelegentlich auf einem sprachlichen Niveau, das viele Schülerzeitungen beschämen würde.

Jenseits von „Spiegel Online“, das immerhin bewiesen hat, dass es möglich ist, ein ordentliches Boulevardmagazin mit großem Erfolg im Internet zu etablieren, gibt es in Deutschland praktisch noch kein funktionierendes Geschäftsmodell für Qualitätsjournalismus im Internet. Und der vermeintliche publizistische Wettbewerb, der hier stattfindet, ist in weiten Teilen nur ein verzweifeltes Wettrennen darum, mit irgendwelchen Mitteln die meisten Menschen auf die Seite zu bekommen und dort wiederum mit irgendwelchen Mitteln die meisten Klicks produzieren zu lassen, die dann als „Page Impressions“ der Werbewirtschaft verkauft werden — und den Fachmedien, die auf dieser Grundlage vermeintlich erfolgreiche und vermeintlich weniger erfolgreiche Online-Angebote unterscheiden.

Guter Journalismus ist leider nicht unbedingt die beste Möglichkeit, dieses Wettrennen kurzfristig für sich zu entscheiden. Das Verhältnis von Aufwand zu Klicks ist wesentlich besser, wenn man auf Bildergalerien, Spiele oder Rätsel setzt. Die bis mindestens nächstes Jahr noch geltenden Regeln der Auflagenkontrolle IVW, die online eine entscheidende Währung darstellt, lässt es zum Beispiel zu, ein Kreuzworträtsel online so zu programmieren, dass jeder eingegebene Buchstabe als ein Seitenabruf gewertet wird. Und die so generierten Klicks müssen nicht einmal unbedingt separat in der Rubrik „Spiele“ ausgewertet werden, sondern können unter bestimmten Bedingungen als redaktionelle Inhalte im Bereich „Entertainment“ gewertet werden.

Noch gravierender als das Ausweichen der Online-Medien auf nicht journalistische Inhalte ist aber, wie der Quotendruck in Verbindung mit mageren Einnahmen die journalistischen Inhalte selbst verändert. Er führt zu Formen, die man als das Gegenteil von Journalismus sehen kann. Eine klassische Aufgabe des Journalisten scheint dabei fast völlig zu verschwinden: die der Auswahl der Nachrichten. Die wäre angesichts der Informationsflut im Internet eigentlich von ganz besonderer Bedeutung. Aber jede zweifelhafte, unwichtige, abseitige Meldung, die ein Online-Medium nicht bringt, bedeutet zunächst einmal: weniger Klicks. Deshalb steht ungefähr bei allen alles. Das Filtern irrelevanter Informationen als journalistische Dienstleistung verschwindet weitgehend.

Besonders dramatisch ist das im Umgang mit Fotos zu beobachten. Während die Redaktionen früher ein besonders geeignetes Bild auswählten, um eine Nachricht zu bebildern, ist die Regel im Internet, zu jeder Meldung einfach all das auszukippen, was die Agenturen irgendwann im weiteren Sinne zu dem Thema geliefert haben. Im kopflosen Versuch, den Lesern alles zu bieten, bietet man ihnen nichts — jedenfalls nicht mehr, als eine Bildersuche bei Google auch ergeben würde. Der Wert eines Fotos ist in den Online-Medien dramatisch gesunken. Weil sich gezeigt hat, dass Artikel mit Fotos häufiger angeklickt werden als Artikel ohne Fotos, gilt oft die Regel, dass jeder Artikel ein Foto haben muss. Und wenn es kein geeignetes gibt, nimmt die Redaktion ein ungeeignetes, irgendein Symbolfoto oder ein Bild, das das Redaktionssystem automatisch auswirft. Was das dem Leser dann tatsächlich bringt, ist nicht einmal zweitrangig.

Ein besonders anschauliches Beispiel, wie die Art des Wettbewerbs im Internet den Journalismus verändert, war die Online-Berichterstattung der „Rheinischen Post“ nach dem Tod des Düsseldorfer Bürgermeisters Joachim Erwin im Mai. Es ist nicht so, dass es den Verantwortlichen an Ehrgeiz gefehlt hätte. Aber es war kein Ehrgeiz, den klügsten Nachruf oder die bewegendste Reportage von seiner Beerdigung zu bringen. Es war der Ehrgeiz, so viel billigen Content aus seinem Tod zu pressen wie möglich. Das hatte nicht nur zur Folge, dass Zitate aus der Trauerfeier in einzelne Sätze zerlegt und teils mehrfach auf Klickgalerien verteilt wurden und dass gefühlt jeder Einwohner der Stadt bei „RP Online“ kondolierte. Es führte auch dazu, dass beinahe jedes Blatt Laub, das über den Friedhof wehte, mit einem eigenen Kurzfilm gewürdigt wurde — gedreht in der Qualität von Tante Erikas Urlaubsfilmen, damals, als sie gerade die neue Videokamera geschenkt bekommen hatte, eine schlechte noch dazu. Die Berichterstattung von „RP Online“ setzte Maßstäbe, was den Verzicht auf Professionalität und journalistische Qualität angeht — aber auch die Masse. Die Zahl der Page Impressions stieg im Mai um über 26 Prozent, und Geschäftsführer Oliver Eckert phantasierte: „Das überdurchschnittliche Wachstum ist Folge unserer Investitionen in die redaktionelle Qualität.“

Zu den Praktiken von „RP Online“ gehört übrigens auch, Agenturmeldungen als Eigenberichte umzudeklarieren — oder aus einer einzigen Agenturmeldung eine „Bilderstrecke“ zu machen, in dem jeder Satz eine neue Seite bekommt und auf der ersten ein Foto steht. Wie lange solche Techniken tatsächlich erfolgversprechend sind, ist schwer zu sagen. Bislang, berichten Online-Verantwortliche, sei von einer Bildergalerienmüdigkeit nichts zu spüren. Und die Frage ist, ob junge Leute, die mit dieser Art von Nicht-Journalismus aufwachsen, je etwas anderes von einem Medium erwarten werden.

Aber der Nutzer selbst steht bei den Strategien der Online-Medien teilweise gar nicht mehr im Mittelpunkt. „Welt Online“ gilt auch deshalb als so erfolgreich, weil die Artikel darauf optimiert wurden, von Google bevorzugt ausgegeben zu werden. Als Hans-Jürgen Jakobs, der Chefredakteur von sueddeutsche.de, darauf vor kurzem hinwies und „eine Konvention über statthafte und unstatthafte Maßnahmen“ dieser Art forderte, legten viele das nur als Gejammer von jemandem aus, der diesen Teil des Geschäftes einfach selbst nicht gut genug beherrscht. Richtig ist aber, dass eine Debatte notwendig ist, wie es den Journalismus verändert, wenn zum Beispiel Überschriften nicht mehr für den Leser, sondern die Suchmaschine optimiert werden.

Es ist eine Zeit des Umbruchs, und wie gefährlich diese Phase ist, kann man an den Horrormeldungen aus den Vereinigten Staaten ablesen: Allein vorletzte Woche wurden dort in der Zeitungsbranche tausend Stellen abgebaut, viele Zeitungen kämpfen ums Überleben. Das zentrale Problem ist, dass die Zuwächse der Verlage im Internet nicht ausreichen, die Verluste im Stammgeschäft auszugleichen. Eine ähnliche Entwicklung droht auch in Deutschland. Und ohne die hochwertigen Inhalte, die durch die gedruckten Zeitungen finanziert werden, könnte die deutsche Online-Medien-Welt schnell sehr trostlos und karg aussehen. Vermutlich sind die Klickmaschinen und Journalismusattrappen, die dort entstehen, auch Verzweiflungstaten, um möglichst schnell eine Größe zu erreichen, die das Überleben in einer ungewissen Zukunft sichert. Vielleicht hat dann die Online-Seite, die am schnellsten und wahllosesten die Agenturmeldungen veröffentlicht und sie mit den großbusigsten Bildergalerien anreichert, gute Überlebenschancen. Und vielleicht erkennen einige Verlage sogar dauerhaft, dass man mit anderen Dingen als Journalismus besser Geld verdient.

Eine Demokratie braucht aber Journalismus. Und bei allen Wirren und Dramen des gegenwärtigen Umbruchs werden langfristig auch diejenigen Medien beste Voraussetzungen für die Zukunft haben, die spürbar davon getrieben sind, ihre Leser über das, was wichtig ist, gut zu informieren. Und die deshalb für ihre Leser nicht beliebig sind, sondern unentbehrlich — egal ob auf Papier oder online.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Marietta Slomka

Wenn es etwas gibt, das ich in den vergangenen Monaten aus dem deutschen Fernsehen über das Leben in China gelernt habe, dann dies: Wer dort als ausländischer Reporter irgendetwas zu filmen versucht, wird sofort von Scharen scheinfreundlicher uniformierter Menschen umringt und darf – während im Hintergrund unfreundliche scheinzivile Menschen alle Filmanlässe aus dem Bild räumen – die nächsten Stunden damit verbringen, Akkreditierungen, Dokumente und Filmgenehmigungen durchzugehen.

Das ist natürlich keine irrelevante Erkenntnis. Sie sagt etwas aus darüber, wie unfrei dieses Land ist und wie groß die Paranoia der Mächtigen. Und darüber, wie ungeschickt die Sicherheitskräfte mit dem Dilemma umgehen, dass sie vor Olympia gleichzeitig besonders gründlich ungewünschte Bilder verhindern und besonders nett zu den Journalisten sein sollen.

Aber es ist dann eben doch nicht dasselbe: Ob man über die Probleme in China berichtet. Oder über die Probleme, über die Probleme in China zu berichten. Ermüdend vorhersagbar und selbstreferentiell sind diese Berichte, so oberflächlich spektakulär es auch scheinen mag, dass Marietta Slomka, unsere Marietta Slomka plötzlich in China von Stasi-Leuten belästigt wird.

Frau Slomka hat nämlich für eine Mini-Reportage-Reihe das „heute journal“ verlassen und sich mal in China umgesehen. Sie kannte Land und Leute nicht, ist entsprechend verblüfft und lässt uns an ihrem Staunen teilhaben. Den ZDF-Korrespondenten vor Ort fehlt wohl diese erfrischende Naivität – Erfahrung muss man sich im modernen Nachrichtengeschäft anscheinend vor allem als Ballast vorstellen.

Das ist ganz sympathisch, manchmal, wie Frau Slomka da herumtigert, sich in eine Schulbank setzt, mit Schülern und Künstlern plaudert, einen Fan trifft und mit ihm in ein komisches Restaurant geht und all das mit ihrer typischen Ironie kommentiert. Aber irgendwie steht sie zwischen uns und diesem Land. Und die Art, wie sie ihre Erlebnisse schildert, klingt oft, wie wenn man Kindern etwas erklärt, und in diesem Fall ist die Erzählerin auch noch die nur etwas ältere Schwester, die das, was sie uns erklärt, selbst gerade erst erfahren hat.

Das ist fluffiges Fernsehen, nett anzuschauen, gut gemeint und merkwürdig glatt. Und so telegen Frau Slomka ist und so hübsch sie sich in Szene setzen lässt, am Ende bleibt das schale Gefühl, nicht mehr mitgenommen zu haben als ihren letzten Satz: „In dieser langen Nacht hab ich eines gelernt: Peking kennt viele Farben.“

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung