Der Euroclub ist der offizielle Party-Ort des Eurovision Song Contest. Hinein kommt man nur mit einer ESC-Akkreditierung. Hier veranstalten verschiedene Delegationen eigenen Partys, hier findet heute Abend die offizielle Eröffnung des diesjährigen Grand-Prix statt — und hier darf keine Musik aus Armenien gespielt werden.
Der Veranstalter, die Europäische Rundfunkunion EBU, sagt zu diesem Tabu: nichts.
Von dem Verbot erfuhr einer der DJs vergangene Nacht, als er einen Remix von „Apricot Stone“, dem armenischen ESC-Beitrag von 2010, auflegte. Eine halbe Stunde später, schreibt er im „Prinz“-Blog, sei der Euroclub-Chef gekommen und habe ihm ausdrücklich das Abspielen armenischer Musik untersagt: „Dann bekommen wir ein richtiges Problem.“ Eine entsprechende Ansage sei dann an alle DJs gegangen.
Armenien und Aserbaidschan befinden sich de facto im Krieg. Armenien hält nicht nur Berg-Karabach, sondern auch ausgedehte umliegende aserbaidschanische Gebiete besetzt.
Aber der Eurovision Song Contest ist ja angeblich eine unpolitische Veranstaltung. Er ist angeblich ein „Event, das Brücken baut“. Da wäre es doch ein kleiner, symbolischer Akt, wenn die EBU wenigstens dafür sorgte, dass im Euroclub ihres Eurovision Song Contest alle Grand-Prix-Hits aufgelegt werden können. Eine Selbstverständlichkeit, sollte man denken.
Ich habe der EBU folgende Fragen gestellt:
- Does such a ban exist?
- Did you know about the ban?
- Does the EBU agree with such a ban?
Sietse Bakker, der für alles außerhalb der Show verantwortliche Supervisor des Eurovision Contest, antwortet mir:
Such ban does not exist from our side, I am not aware of such ban and we would not support such ban either. For your information, we have not been approached by any of the EuroClub DJs about such ban either.
Die EBU behauptet also, nichts von so einem Verbot zu wissen. Und wenn sie nichts davon weiß, muss sie sich auch nicht dazu verhalten.
Die EBU sagt nicht, dass sie den Berichten über das Verbot nachgehen wird. Und sie sagt auch nicht, dass sie dafür sorgen wird, dass — im behaupteten unpolitischen und brückenbauenden Geiste des ESC — armenische Grand-Prix-Songs in ihrem Euroclub laufen dürfen.
Es ist eine Schande.
Nachtrag, 20. Mai. Gegenüber dem „Prinz“-Blog hat Sietse Bakkers später gesagt: „Ich habe eben mit dem Manager des Euroclub gesprochen, und (er) bestätigte nochmals, dass alle Lieder des Eurovision Song Contest gespielt werden können.“ Dem widerspricht allerdings der aserbaidschanische ESC-Sprecher Kamran Agasi. Der hatte gegenüber der Nachrichtenagentur dapd das Verbot bestätigt und so begründet: „Armenien hat ohne Entschuldigung kurzfristig die ESC-Teilnahme abgesagt. Wie können wir da den freiwilligen Helfern erklären, dass plötzlich armenische Musik läuft.“
Bei mir ist es mittlerweile schon so weit, dass ich die EBU wegen ihrer Haltung mehr verachte, als das aserbaidschanische Regime.
Für uns haben wir beschlossen, dass wir unsere jährliche ESC-Party stattfinden lassen, aber dass wir dieses mal nicht für einen einzigen Kandidaten abstimmen werden. Denn die Abstimmung (und damit einen wesentlichen Teil der Einnahmen) zu boykottieren ist in meinen Augen das einzige, dass der ARD bzw. der EBU weh tut.
Ich habe für PRINZ Blog ebenfalls bei Sietse Bakker nachgefragt. Wir erhielten am Nachmittag die Antwort: „Uns ist das Verbot nicht bekannt, aber wir würden es auch nicht unterstützen. Ich habe eben mit dem Manager des Euroclubs gesprochen und er bekräftigte, dass dort alle Lieder des Eurovision Song Contests gespielt werden können.“
Na, ob sich die DJs darauf berufen können?!?
@Matthias: Vermutlich ist der letzte Satz so zu verstehen: Alle Lieder des diesjährigen Eurovision Song Contest können gespielt werden. Und da ist ja Armenien nicht dabei.
[…] von dapd interessierten sich für die Story, und auch der Kollege Stefan Niggemeier hat den Vorfall aufgegriffen. Auch wir haben die EBU um ein Statement gebeten. Es ist ähnlich dürftig wie am Donnerstag nach […]
Nur als Idee: Inkriminiert wurde ja wohl „Apricot tree“. Nun könnte es ja durchaus sein, dass so einige Journalisten, Künstler (?) und Besucher bei öffentlichen Auftritten äussersten Appetit auf Aprikosen bekommen, und diese höchstöffentlich verspeisen…Da kann ja wohl weder die EBU noch irgendwelche aserischen Westentaschenpotentaten was dagegen haben, oder ?
EBU, ist das so etwas wie IOC oder FIFA?
Kommt mir alles sehr bekannt vor, Stefan.
„Don’t mix politics with games“, sagte am Vorabend der Propagandaspiele von Peking? Der Staats- und Parteichef der Chinesen.
Tja und heute abend wurde es den DJs angeblich verboten, überhaupt ESC-Musik zu spielen…
Wahnsinn, was da abgeht!
Soll wohl heißen: seid mal zufrieden. Wir hätten das auch aktiv unterstützen können.
@6 Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode, „Apricot tree“ nicht zu spielen – und zwar eine finster politisch-nationalistische. Bitte nicht vergessen: Aprikose heißt fachsprachlich „Prunus armeniaca“; die Frucht gab es in Armenien schon viele Jahrhunderte, bevor Turkvölker (wie die Aseris) in und über den Kaukasus zogen.
Wohin es führen kann, wenn man in autokratischen Ländern völlig unpolitische Veranstaltungen durchführt und diese Linie konsequent durchzieht, hat man in Olympia 1936 gesehen. Warum lernen die Verantwortlichen nicht aus Erfahrungen, die schon über 70Jahre alt sind?
Bevor ich hier in die allgemeine Empörung einstimme, möchte ich noch eine Sache zu Bedenken geben: Auch als DJ kann man wissen , dass Lieder auch beim ESC nicht nur lalala beinhalten, sondern auch einen Inhalt haben. gut, manchmal ist der Text englisch, da wirds dann vielleicht etwas schwieriger. Dennnoch: Wenn ich mir die Lyrics von apricot tree ansehe, dann fällt auf, dass es da durchaus um nationalistische Themen geht, konkret: den Kampf ums Mutterland…das ist dann evtl. in politischen Krisenzeiten (oder Krieg) keine besonders gute Musikwahl – und zwar unabhängig davon, wo die Party gerade stattfindet.
Will ja auch keiner, dass ein DJ einer deutschen Reisegruppe beim public viewing in Polen die „Wacht am Rhein“ spielt.
Die EBU soll also gefälligst jeder Behauptung nach gehn die irgendeiner aufstellt? Man kann die EBU für vieles kritisieren, aber jetzt ist auch mal gut…
@Peter: Aufgestellt hat die Behauptung der vom Verbot Betroffene selbst. Und bestätigt wurde die Behauptung vom aserbaidschanischen Grand-Prix-Sprecher.
@Florian #12: Für mich gibt es da zwei Unterschiede:
1) Den ESC-Club verstehe ich nicht als öffentliche Veranstaltung, sondern als offizielle Veranstaltung des ESC, zu dem nur Leute mit entsprechenden Ausweisen Zutritt haben. Trotzdem scheint hier der lange Arm der Überwachung sein Unwesen zu treiben.
2) Falls eine deutsche Reisegruppe in Polen das Lied „Wacht am Rhein“ anstimmen möchte, so ist das zwar sicher nicht gerade als geschmackvoll zu bezeichnen. Aber meines Wissens gibt es kein Gesetz in Polen, das eine solche „Aufführung“ verbietet. Es ist schon ein Unterschied, ob der ein oder andere Pole oder die ein oder andere Polin dann seinen/ihren Unmut äußert, oder der lange Arm eines Regimes wie dem in Aserbaidschan subtil die „Aufführung“ verhindert.
„Ein bißchen Frieden“ (Siegel) … „Politisch Lied ein garstig Lied“ (Goethe). Ach ja, geht leider nur, wenn die streitenden Parteien sich darüber einig wären, was ein politisches Lied ausmacht. Hat jemand mal den Versuch unternommen, die offizielle aserbaidschanische Seite zu verstehen (soll nicht heißen, daß deren Haltung zu billigen sei, im Gegenteil)?! Der armenische ESC-Beitrag 2010 „Apricot stone“ handelt von einem kleinen Mädchen, das einen Aprikosenstein in den gefrorenen Boden legt und auf einen großen Aprikosenbaum hofft, der bis zum Himmel (und zum lieben Gott) reicht. Aserbaidschan wirft Armenien vor, die territorialen Gegebenheiten zugunsten eines (in Altertum und Mittelalter vorhandenen) „Groß-Armenien“ verändern zu wollen – daran ist tatsächlich einiges; seit den wechselseitigen Massakern in den 90er Jahren, ausgeübt durch aserbaidschanische und armenische Freischärler, wird aserbaidschanischer Boden von armenischen Truppen besetzt. Ja und?! Die Aprikose ist armenische Nationalfrucht – ihre Farbe nimmt das untere Drittel der armenischen Trikolore ein. Das genuin armenische Musikinstrument Duduk (auch in Oslo gespielt) wird aus Aprikosenholz hergestellt. Wer also davon singt, daß der armenische Nationalbaum aus einem Kern „from my motherland“ fern der Heimat wächst, sollte sich über einseitige Interpretation nicht wundern – der Keim für das Mißverständnis ist im Lied vorhanden.
@kampfstrampler
Ich dachte, es handelt sich per se um eine unpolitische Veranstaltung? Und wenn ausgerechnet der Aprikosen-Quark gegen das Scheißegalitätsgebot der Stunde verstößt, warum wurde der Song dann überhaupt zugelassen als Beitrag?
Da gäbe es durchaus mehrere Gründe: 1. Hat der Veranstalter 2010 gar nicht erkannt, daß das für Armenier nicht nur ein Heimatlied, sondern ein politisches Bekenntnis ist. Das kann man zur Not noch nachvollziehen: Schließlich ist die Lyrik ja hübsch verschlüsselt – und wer kennt schon armenische Interna?! Wie bei Radio Jerewan: Im Prinzip keiner, aber …
2. Hat wahrscheinlich überhaupt keiner irgendwann einen aserbaidschanischen Sieg beim Contest auf der Rechnung gehabt – und selbst wenn, kannte er wiederum nicht die Empfindlichkeiten in Bakus Regierungsstuben …
Aber, wie gesagt, wenn die Offiziellen souverän wären, hätten sie das Abspielen des Liedes nicht hintertrieben. Sind sie aber nicht – und außerdem haben sie, wenn sie die Stimmungen in aggressiv nationalistischen Kreisen Bakus richtig einschätzen, vermutlich einen Heidenbammel vor Ausschreitungen (haben Bürokraten doch immer – auch unsere, s. Blockupy/Frankfurt). Denn vor 20 Jahren gab es in Baku eine mörderische Hatz auf Armenier … Schlägertrupps und Extremisten machen sich gern selbständig (s. unsere Ultras in unseren Stadien).
@Thomas: Es ist nicht schwer, die EBU mehr zu verachten – schließlich steht sie auch für unsere öffentlich-rechtlichen Rundfunksender, die dem Grundgedanken der Völkerverständigung und den Menschenrechten verpflichtet sind. Dass dann deren Dachorganisation sich da schlicht für nicht zuständig erklärt, ist eine unsägliche Schande. Diese Organisation hätte offenbar auch kein Problem mit totalitären Strukturen aller Art…
Beim aserbaidschanischen Regime kann man ja keinen Respekt für die Grundwerte der modernen Zivilisation erwarten… insofern verhalten die sich ja genau so wie erwartet und befürchtet. Und Besserung ist nicht in Sicht – auch dank der stillschweigenden Toleranz durch die EBU.
Dabei stellt sich natürlich die Frage, woraus die EBU ihre vorgebliche Pflicht, zu diesen Themen zu schweigen, ableitet. Zu welchen anderen Themen würde die EBU denn noch schweigen? Zu allen? Oder gäbe es Themen, wo die EBU dann doch mal was sagen würde?
Ein Auftritt von Eva Rivas als Überraschungs-Gaststar ist also beim diesjährigen ESC nicht zu erwarten. Dass die Organisatoren in Aserbaidschan keine armenische Musik bei der Pre-Show-Party hören wollen ist für mich aber nur die „unschlimmste“ Randnotiz vom ESC. Dass sie eine armenische Lobhymne nicht gerade so empfinden als ob ein Club in Deutschland Liedgut von DJ Bobo oder DJ Ötzi spielt ist wohl kaum überraschend.
[…] beim Eurovision Song Contest annahmen, dass in einer Disco, die Teil des offiziellen Programms war, Musik aus Armenien gespielt werden könnte. Mir erscheint aber auch der Gedanke absurd, dass eine armenische Delegation in diesem politischen […]