Die Medien arbeiten seit einer Woche daran, die Zahl der Selbstmorde in Deutschland in die Höhe zu treiben.
Selbstmord ist ansteckend. Berichterstattung über Suizide erhöht die Zahl der Suizide. Das ist der sogenannte „Werther“-Effekt, benannt nach Goethes Roman. Nachdem er erschienen war, soll sich eine Reihe von Lesern in ähnlicher Form das Leben genommen haben wie die liebeskranke Titelfigur.
Der amerikanische Soziologe David Philipps wies vor 35 Jahren nach, dass immer, wenn die „New York Times“ prominent über einen Selbstmord berichtet hatte, die Zahl der Selbstmorde signifikant anstieg. In vielen weiteren Untersuchungen wurde der beunruhigende Effekt seitdem immer wieder bestätigt: Je länger und prominenter über den Suizid berichtet wurde, umso größer war der folgende Anstieg der Selbstmordrate. Wenn ein Selbstmord nur in New York groß auf der Titelseite behandelt wurde, nicht aber in Chicago, stieg die Zahl der Selbstmorde in New York stärker als in Chicago. Während eines neunmonatigen Zeitungsstreiks in Detroit 1967/68 sank die Zahl der Selbstmorde hier signifikant.
1981 zeigte das ZDF in bester Absicht Robert Strombergers realistisches Drama „Tod eines Schülers“ über einen Jugendlichen, der sich vom Zug überrollen lässt. Hinterher nahm die Zahl der Eisenbahnsuizide bei jungen Männern um 175 Prozent zu. Auch bei der Wiederholung der Serie eineinhalb Jahre später stellten Wissenschaftler noch einen erheblichen Nachahmungseffekt fest.
Der australische Psychiater Robert D. Goldney fasste die Ergebnisse der Forschung 1989 so zusammen, dass sich auch Journalisten verstehen könnten:
„Es besteht kein begründeter Zweifel mehr, dass die Medien zu Selbstmorden beitragen. Eine unreflektierte Berichterstattung wird zwangsläufig zu weiteren Selbstmorden führen.“
Wäre es also am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten? In den meisten Fällen, wenn es zum Beispiel nicht darum geht, etwa die Missstände in einer Schule aufzudecken, wo sich plötzlich viele Jugendliche das Leben nehmen, lautet die Antwort: Ja. Es wäre am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten.
Das ist für Journalisten eine unerträgliche Antwort. Journalisten gehen davon aus, dass es gut ist, wenn etwas an die Öffentlichkeit kommt. Dass es erlaubt sein muss, über etwas zu berichten, das sich unzweifelhaft ereignet hat.
Kleiner kommunikationswissenschaftlicher Exkurs: Nach Max Weber lässt sich zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterscheiden. Verantwortungsethik bewertet Handlungen nicht danach, ob sie in bester Absicht geschehen, sondern nach den Folgen, die sie haben („zweckrationales Handeln“). Gesinnungsethik bewertet Handlungen dagegen vor allem aufgrund von Überzeugungen und Werten wie dem der Wahrhaftigheit. Ein Journalist, der sich gesinnungsethisch richtig verhält, muss allein dafür Sorge tragen, dass das, was er berichtet, wahr ist. Man spricht dabei vom wertrationalen Handeln, das Weber so definiert:
„[Wertrational handelt], wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘ gleichviel welcher Art, ihm zu gebieten scheinen. Stets ist […] wertrationales Handeln ein Handeln nach ‚Geboten‘ oder oder gemäß ‚Forderungen‘, die der Handelnde an sich gestellt glaubt.“
Journalisten (nicht nur) in Deutschland fühlen sich, wie unschwer zu erraten ist, ganz überwiegend einer Gesinnungsethik verpflichtet und lehnen Verantwortung für die Folgen ihres Handelns ab. So glaube sie, die Pflicht zu haben, über Suizide zu berichten — unabhängig davon, ob diese Berichterstattung zu weiteren Suiziden führt.
Die Erkenntnis, dass es am besten wäre, wenn Medien über die meisten Suizide gar nicht berichten würden, widerspricht also nicht nur dem Wettlauf um Auflage und Quote, sondern auch ganz fundamental dem journalistischen Selbstverständnis eines ganzen Berufsstandes.
Aber dem besinnungslosen Kampf um Aufmerksamkeit, Auflage und Quote widerspricht es natürlich auch, und vermutlich lässt sich nur so die flächendeckend grotesk verantwortungslose Berichterstattung der vergangenen Tage erklären. Man könnte den Eindruck haben, eine ganze Branche hätte sich zu einem großen Feldversuch entschlossen, einmal zu testen, wie weit sich die Zahl der Selbstmörder in die Höhe treiben lässt, wenn man jeden einzelnen Ratschlag zur Suizidprävention ignoriert.
Studien haben gezeigt, dass die Suizidrate nach Berichten über Suizide unter anderem ansteigt,
- wenn das Opfer besonders prominent ist
- wenn die Berichterstattung prominent auf den Titelseiten stattfindet
- wenn sich die Berichterstattung über Tage hinzieht
- wenn der Ort und die Methode des Suizids genau beschrieben wird
- wenn sich gefährdete Menschen mit dem Opfer identifizieren können.
Der „Spiegelfechter“ Jens Berger ist schon am vergangenen Mittwoch die Medien-Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft zur Suizidprävention durchgegangen:
Ein Suizid sollte nicht als Aufmacher auf der Titelseite erscheinen. Geschenkt, bis auf die FTD erschien heute kein einziges Publikumsmedium mit einem anderen Thema als Aufmacher.
Es sollten weder Fotos noch Dokumente wie der Abschiedsbrief publiziert werden. Natürlich wäre es naiv, anzunehmen, dass eine Berichterstattung über den Freitod eines Sportstars ohne Foto auskäme. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Abschiedsbrief nicht in den nächsten Tagen 1:1 von der BILD-Zeitung abgedruckt wird, geht derweil allerdings gegen Null.
Der Suizid sollte nicht als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion dargestellt werden oder als alternativlos dargestellt werden. Im Falle Enke hatten die lieben Kollegen der schreibenden Zunft bereits am gestrigen Abend nichts Besseres zu tun, als den Freitod als nachvollziehbare Reaktion auf den Tod seiner Tochter darzustellen.
Die Suizidmethode und der Ort des Suizids sollten weder detailliert beschrieben, noch abgebildet werden. „Natürlich“ weiß heute ganz Deutschland ganz genau, an welchem Ort sich Robert Enke wie umgebracht hat. Selbst komplett irrelevante Details werden in den Rang einer Sondernachricht gehoben.
Und es ist nicht nur die „Bild“-Zeitung, die seit einer Woche alles dafür tut, Auflage, Leid der Angehörigen und Zahl der Suizide zu steigern — und sich im Zweifelsfall wie immer auf ihre „Informationspflicht“ berufen würde. Und nicht nur die genauso skrupellose Fernsehversion namens RTL.
Bei kaum einem Medium (die „FAZ“ vielleicht ausgenommen, bei der ich allerdings natürlich befangen bin) habe ich in den vergangenen Tagen so etwas wie Zurückhaltung aus Sorge um den „Werther-Effekt“ feststellen können. Schon am Dienstagabend enthielten die Meldungen der Nachrichtenagentur dpa jedes verdammte Detail über den Ort und den Ablauf des Geschehens.
Dabei lässt sich sogar zeigen, dass eine veränderte, zurückhaltende Berichterstattung Leben rettet. In Wien gelang es, die Zahl der Suizide und Suizidversuche in der U-Bahn um 60 Prozent zu senken, nachdem die Redaktionen Empfehlungen des österreichischen Vereins für Suizidverhütung umgesetzt hatten, über Selbstmorde nicht emotional, auf keinen Fall mit Foto, nicht auf der Titelseite und möglichst kurz zu berichten.
Noch einmal die Empfehlungen, was Medien tun können, um den „Werther-Effekt“ möglichst gering zu halten:
- Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
- Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
- Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
- Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten vermeiden.
Oder in konkreter Empfehlung:
- Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte (nach W. Ziegler und U. Hegerl, 2002).
Nun kann man natürlich sagen, dass es unrealistisch ist, diese Empfehlungen im Fall eines so prominenten und beliebten Menschen wie Robert Enke umzusetzen. Allerdings sind es gerade die Suizide von solchen Menschen, die besonders viele Nachahmungstäter herausfordern. Und bei aller Trauer um den Nationaltorwart, bei aller Anerkennung, was für ein besonderer Sportler und Mensch er gewesen sein mag, muss man die Frage auch stellen, inweit die grenzenlose Heroisierung, die in den vergangenen Tagen passiert ist, gefährlich ist.
Und natürlich hilft es wenig, wenn sich nur zwei, drei Medien an die Empfehlungen halten und sich alle anderen mit spektakulären Bildern, knalligen Titelseiten, detaillierten Grafiken und exklusiven Abschiedsbriefen überbieten. Natürlich müsste es eine Absprache, eine Vereinbarung der Medien geben, sich gemeinsam an bestimmte Vorgaben bei der Suizid-Berichterstattung zu halten. Ich kann aber auch sechs Tage nach dem Tod von Robert Enke keinen Beteiligten, kein Medium erkennen, das überhaupt eine Diskussion über einen solchen Kodex in Gang setzt.
Mag sein, dass es unrealistisch ist, davon auszugehen, dass die Medien anders über einen Fall wie den des Robert Enke berichten könnten. Dann seien wir aber auch ehrlich genug zu sagen, was der Preis für diese vermeintliche Informationspflicht und diesen Verkaufswettkampf ist. Er lässt sich in Menschenleben zählen.
Muss man Informationen zurückhalten um Selbsttötungen zu vermeiden?
Steht doch da. Ja.
Könnten sie nicht Einfluss auf ihre Chefs nehmen, dass diese die Diskussion aufnehmen? Dieser Text lässt sich übrigens 1:1 auf Amokläufer anwenden.
Sagt der Eine. Ich finde nicht.
Interssanter Text. Nachvollziehbare Forderungen. Viele Analogien möglich.
Kleine Anmerkung: Könnte es möglich sein, dass die umfassende Berichterstattung über diesen Fall bei aller Gefahr von Nachahmungstätern auch den positiven Effekt der Aufklärung über die Krankheit namens Depression zur Folge hat? So habe ich am Sonntagabend ausgerechnet bei „Spiegel TV“ einen Beitrag gesehen, der sich zwar ausführlich auf Herrn Enke bezog, aber anschließend durchaus sachlich Menschen zu Wort kommen ließ, die an Depressionen erkrankt waren. Da es heutzutage immer noch oft genug heißt, Depressive sollten sich nur mal zusammenreißen, dann käme alles wieder ins Lot (auch ich habe diese Ansicht wider besseren Wissens früher mal vertreten), betrachte ich z.B. diesen Fernsehbeitrag als Aufklärung im besten Sinne.
@Edit zu Eintrag Nummer 2: Es muss natürlich nicht „wider besseren Wissens“ heißen, sondern „aus Mangel an besserem Wissen“.
Lobend zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die taz, bei der das Thema zumindest nie auf der Titelseite zu finden war und auch sonst eher wenig bzw. zurückerhaltend dazu berichtet wurde.
Guter Artikel. Allerdings lässt er leider den Ansatz aussen vor, dass die Suizide, die sich in einem direkten Zusammenhang mit einem prominenten Beispiel manifestieren, oft nur ‚vorgezogene‘ Suizide sind. D.h. konkret und vereinfacht formuliert, dass sich diese Menschen innerhalb der nächsten Zeit ohnehin suizidiert hätten, die Berichterstattung nur einen früheren Zeitpunkt des Suizid bestimmt hat.
Nichtsdestoweniger ein Unding und leider Realität, dass hier Geld gegen Menschenleben abgewogen wird, und die kommerziellen Interessen wie so oft schwerer wiegen.
@rog: Ja, natürlich. Natürlich hat nicht jede Berichterstattung in diesem Zusammenhang einen negativen Effekt und manche womöglich sogar einen positiven.
@Armenius: „Finden“ ist als Antwort auf ungezählte wissenschaftliche Studien ein bisschen dünn. Aber ich bin sicher, das würden auch die meisten Journalisten sagen: Sie glauben nicht, dass das, was sie da berichten, solche unbegreiflichen negativen Folgen haben könnte.
Ach, Mensch, in Eintrag Nummer 7 beziehe ich mich auf Eintrag Nummer 6, nicht Nummer 2. Ich bitte um Entschuldigung, falls ich jetzt hier mit meinen zwei Berichtigungen wie ein Spammer wirke.
Danke. Genau diese Gedanken gingen mir seit letzter Woche im Kopf rum, und ich bin froh, dass es endlich mal jemand ausspricht.
Meiner Meinung nach haeuft jeder Leitartikel Schuld auf sich. Ich will gar nicht wissen, wie viele Menschen sich in der letzten Woche aufgrund der Berichterstattung schon das Leben genommen haben und wie viele sich in der naechsten Zeit das Leben nehmen werden, aber ich bin mir sicher, dass sich in ein oder zwei Jahren sicher auch eine Statistik dazu finden lassen wird.
Womoeglich sogar in Bild.
@Niklas #9: ok, kann sein. Allerdings sollte dabei auch daran gedacht werden, dass a) es nichts ändert, ob ich nun jemand generell zum Selbstmord „verleite“ oder eben „nur“ früher und b) sich in der Zwischenzeit etwas hätte ändern können, dass den Selbstmord verhindert.
Ausserdem: einer mahr als „sowieso“ passiert wären, ist auch schon zuviel.
Ich bin inhaltlich voll bei Ihnen. Aber ein Satz hat mich grübeln lassen: „Ich kann aber auch sechs Tage nach dem Tod von Robert Enke keinen Beteiligten, kein Medium erkennen, das überhaupt eine Diskussion über einen solchen Kodex in Gang setzt.“
Die FAS wollte so einen Impulstext von Ihnen nicht drucken, oder wie darf ich das verstehen?
Danke!
Von BILD und RTL ist man das ja schon gewohnt. Erschreckend finde ich, welch andere vermeintlich seriösen Blätter da mitmachen.
Und ausgerechnet der SPIEGEL packt Enke sogar auf seine Titelseite.
Man kann dieser Tage gar nicht so viel essen, wie man kotzen möchte!
@ Stefan Niggemeier: Ich glaube, Armenius stellt die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien gar nicht in Abrede. Mit seinem Post „Muss man Informationen zurückhalten um Selbsttötungen zu vermeiden?“ möchte er vielmehr sagen: Die Suizide sind als Kollateralschaden der – auch bei diesem Thema unumschränkt Gültigkeit besitzenden – Informationspflicht der Medien zu sehen und hinzunehmen.
Er greift damit deine moralische Position, die sich mit „Verantwortungsethik geht vor Gesinnungsethik“ zusammenfassen lässt, im Grundsatz an.
…was Armenius‘ Position meines Erachtens noch unerträglicher macht als die von Dir unterstellte Leugnung wissenschaftlicher Tatsachen.
Auch ich bekenne mich schuldig, direkt nach dem Suizid von Robert Enke auf meinem Blog darüber berichtet zu haben (http://www.uiuiuiuiuiuiui.de/robert-enke-tot-selbstmord) und weil ich die Tat eben nich verklärt habe, für unausweichbar gehalten habe und Robert Enke gerade nicht heoisiert habe, musste ich mir wüsste Beschimpfungen in den Kommntaren anhören und E-Mail und Telefonterror ertragen.
Allerdings denke ich nicht, dass der Werther-Effekt richtig interpretiert wird. Ich denke nicht, dass sich aufgrund der Berichterstattung generell mehr oder weniger Menschen umbringen. Ich denke, dass sich aufgrund der Berichterstattung mehr oder weniger Menschen unmittelbar danach umbringen.
Die Berichterstattung trägt nicht zur Erhöhung/Senkung derdurchschnittlichen Selbstmordrate bei, sondern setzt eher die Zeitpunkte des Entschlusses zum Suizid. Die Meldung wegzulassen führt aber nicht dazu, dass sich der Suizidale entscheidet, sich doch nicht umzubringen.
Angesichts des objektiv zu erwartenden Anstiegs eben dieser Selbstmordmethode, frage ich mich, ob die Zugführer in Deutschland – so makaber es auch sein mag, so verantwortlich es aber wäre – auf ein erhöhtes Auftreten von Suiziden vorbereitet werden. Kann man das überhaupt?
Ach, Herr Niggemeier, es ist immer wieder schön, dass einer meint zu wissen, wie Journalisten an und für sich so ticken.
Was Sie zuvor zum Fall Enke gepostet haben, schien mir sinnvoll und unterstützenswert. Nun aber wird es etwas sehr oberlehrerhaft.
Natürlich sollte es common sense sein, nicht über Suizide (ich vermeide den Begriff Selbstmord) zu berichten. Bis auf eine Handvoll Gazetten tun dies wohl auch alle Redaktionen. Aber im Falle eines derart prominenten Sportlers, dessen Tod zudem viel mit dem zu tun hat, was im Sport falsch läuft? Da darf man sicherlich anderer Meinung sein.
Wieder einmal meinen Sie (leider), Sie müßten Dinge zuspitzen („Medien treiben Suizide in die Höhe“), um sich Gehör zu verschaffen. Sie begründen das mit allgemeinen Statistiken, können aber konkret nichts belegen. Auch das könnte man boulevardistisch nennen.
Den Einwand von Niklas („vorgezogene Suizide“) würde ich an ihrer Stelle nicht unterschätzen.
Und irgendwann stellt sich bei all dem natürlich auch die Frage, ob nicht nur die Berichterstattung über Suizide, sondern auch die Berichterstattung über diese Berichterstattung lediglich gesinnungsethisch motiviert ist.
@Manuel, Niklas: Ich kann das nicht vollständig ausschließen (weil ich auch nicht annähernd den Überblick über die ganze wissenschaftliche Literatur habe), aber es gibt Studien, die genau das untersucht haben und behaupten, es sei nicht nur ein zeitliche Verschiebung.
Und wer kann nun nachweisen, dass sich die Suizidenten nicht sowieso irgendwann umgebracht hätten, aber durch diesen Anstoss das vorgezogen haben? Dann wäre es doch nun eh egal gesamtgesellschaftlich gesehen.
Ich kann das nicht mehr sehen, wie viele Leute hier schreiben, daß das doch eigentlich egal ist, die bringen sich eh alle irgendwann um. Das ist ein argumentatorisches Muster, wie man es neuerdings immer öfter sehen kann (die Politiker machen eh alle, was sie wollen, Ich geh trotz Überwachungsskandal zu Lidl, weil die Discounter sind da doch eh alle gleich, etc. pp). Hier wird nur versucht, das Gewissen reinzuhalten, in dem die Ursache auf ein für die Privatperson unabänderliches Naturgesetz geschoben wird. Dann ist man fein raus. Im übrigen hat jeder Mensch, der auch nur noch eine Woche länger lebt, eine Woche mehr Zeit, um die Depressionen in den Griff zu bekommen/Hilfe zu suchen/wasauchimmer.
@Stefan: Welche denn? Bzw. wie kann eine Studie das untersuchen? Meines Wissens nicht die Selbstmordrate in Deutschland seit 1980 konsequent ab, aber das hängt nicht mit der Berichterstattung, sondern der Enttabuisierung psychischer Erkrankungen und der besseren ärztlichen Vesorgung zusammen.
Ich stimme zwar im Ergebnis mit diesem Beitrag überein, weil ich die Berichterstattung über Enkes Tod auch geschmacklos bis hin zur Unerträglichkeit finde.
Das mit der Verantwortungsethik halte ich aber für ein zweischneidiges Schwert. Käme man als in diesem Sinne verantwortungsbewusster Journalist nicht auch auf die Idee, nicht mehr über Missstände in diktatorischen Regimen zu berichten, weil man damit ja Unzufriedenheit in der Bevölkerung auslöst und bei den folgenden Aufständen dann viele Menschen sterben? Käme man nicht überhaupt auf die Idee, dass es doch viel wichtiger ist, mit seiner Berichterstattung ein bestimmtes Ziel zu erreichen, als die Wahrheit zu sagen? Die Bild-Zeitung handhabt das ja heute schon gerne so und Fox-News in den USA ist vielleicht noch ein bisschen weiter.
Sensationslust widert mich auch an, aber ich mag lieber Journalisten, die die Wahrheit berichten – gerne mit Anstand und ohne unnötige Details -, als solche, die immer zuerst daran denken, was sie mit ihren Worten bewirken.
Ivh wüsste wirklich nicht, wie die ethisch sicher korrekten Schablonen auf den fall Enke anzuwenden wären. 15-Zeiler auf der dritten Sportseite? „Enke von Zug erfasst Lokführer unter Schock“?
Ihre Argumentation entspricht ja in etwa dem, was schon auf 11 Freunde und – ausführlicher – beim Spiegelfechter zu lesen war.
Was mir fehlt ist eine echte, eine realistische Alternative zur Berichterstattung, wie wir sie hatten.
Guter Artikel, in der Tat. Den Hinweis von @Niklas #9 finde ich aber auch bedenkenswert.
Zudem: Warum spricht eigentlich niemand von den LokführerInnen, die durch die Bahn-Suizide völlig unverschuldet schwer traumatisiert werden? Wäre es nicht auch wünschenswert, wenn in der Berichterstattung nach so einem Promi-Suizid wenigstens darauf hingewiesen würde, dass auf diese Weise auch noch andere Menschen schwere Schäden erleiden und dass es „verträglichere“ Formen des Freitods gibt?
@yeda: Oder noch simpler: Jeder Mensch, der eine Sekunde länger lebt, lebt eine Sekunde länger.
Ich unterstütze die von Ihnen genannten Thesen aber möchte noch etwas off topic sagen. Ich weiß nicht ob es mir entgangen es aber ich hätte es sehr anständig gefunden wenn von Seiten der Familie (auch indirekt über einen „Sprecher“), des Vereins, DFB´s oder ähnlichen beteiligten ein Wort des Bedauerns in Richtung des Zugführers gekommen wäre der hier, so unschön es klingt, als Tötungswerkzeug mißbraucht wurde. Ggf ist die Belastung für diese Person nurch den prominenten Status von Herrn Enke sogar noch größer. Sollte mir dies entgangen sein oder (so unglaublich es in diesem Fall erscheinen mag) auf direkten Weg ohne Einbezug der Medien geschehen sein, ist der Kommentar natürlich hinfällig.
Als sich Anfang des Jahres Herr Würth aufgrund finanzieller Probleme seiner Firmen vor einen Zug geworfen hatte, machte einer seiner Söhne danach sein Bedauern gegenüber dem Zugführer deutlich. Dies fand ich eine sehr passende Geste.
Nachvollziehbare Argumente einerseits, keine Frage. Andererseits konnte ich bei mir selber feststellen, wie groß mein Interesse an der Geschichte war. Dabei fand ich es zwar total peinlich wie Reporter vorm DFB-Hotel stehen und erzählen, dass alle furchtbar betroffen sind (Ach!) und auf einmal jeder in den Tag hineinspekuliert. Aber Fakten haben mich schon interessiert. Was ich damit sagen will: Wo eine Nachfrage besteht, wirds auch immer jemanden geben, der sie bedient
Sehr geehrter Herr Niggemeier,
Gegen Ihre Betrachtungen kann man nicht viel einwenden. Ähnliche Dinge stehen ja derzeit überall und Sie bleiben dazu auch noch sachlich.
Gestatten Sie mir jedoch einen kleinen Hinweis. Prozentzahlen, sie werden gerade wieder in der Migrationsdebatte und beim allgmeinen TED zu allen Lebenslagen hoch gehalten, bedürfen, um einer gerechten Bewertung stand zu halten, immer der realen Basis und der Angabe eines Zeitraumes. Also, z.B. ihre sicher irgendwo zu findende Prozentzahl an Folgesuiziden, bezogen auf die betrachtete Population und auf den Zeitraum nach dem Indexereignis.
Sie können natürlich auch als Ersatz für eigenen Text, einen entsprechenden Link setzen.
Die Angabe, dass ein medial verkündetes persönliches Drama Nachahmer- und Folgehandlungen auslöst, ist unbestritten, jedoch, ob das die Zahl der Suizide, bezogen auf eine Population und ein Jahr tatsächlich wesentlich beeinflusst, dagegen schon. Das gilt auch für so genannte „Amok“-Taten, ja sogar für Erpressungen und spektakuläre Raubüberfälle, für die es Nachahmertaten gibt, aber keine Dauereinflüsse nachgewiesen werden können.
Ob Nachahmertaten nur getriggert wurden, also depressive oder sonst Verzweifelte, nicht doch auch ohne diese „Vorbildhandlung“ selbst gehandelt hätten, das ist, es liegt in der Natur der Sache sehr schwer zu untersuchen und noch viel schwerer zu beweisen. Wenn Sie dazu differenziert berichten wollen, brauchen Sie sicher mehr Belege und Verweise.
Umgekehrt haben solche tragischen Ereignisse auch einen Effekt. Die Aufmerksamkeit der Einzelnen gegenüber Mitmenschen wird erhöht, bei Institutionen, seien es Sportverbände, Vereine, seien es Firmen, wie z.B. derzeit in Frankreich, muss gehandelt werden. Mit der Öffentlichkeit, wenn sie behutsam schaut, geht es unter Umständen schneller und besser.
Übrigens führen Suizide in beschützten Einrichtungen oder Kliniken, in Schulen die von Schülertoden betroffen sind, immer zu erheblichen Diskussionen. Auch hier können Berichte über Häufungen, spektakuläre Fälle, mangelnde oder abgewehrte Aufklärung, deutlich helfen.
Ansonsten, Ihren Wunsch, die Print- und TV-Medien, aber auch das Bloggeruniversum zu mehr Sachlichkeit und Wahrung der guten Sitten anzuhalten, begrüße ich aus vollem Herzen.
Liebe Grüße
Christoph Leusch
Also wenn in diesem Blog noch ein Artikel über Herrn Enkes Ableben oder die Berichterstattung darüber erscheint sehe ich mich gezwungen vor einen Zug zu springen.
Verdammter Werther-Effekt aber auch.
@ 28 Hendrik
Falls es dir hilft, auf der Trauerfeier am Sonntag hat einer der Redner auf das Schicksal des Lokführers hingewiesen, ging aber ein bißchen unter. Ich glaub Herr Wulff wars.
Da viele Menschen, die Suizid begehen an einer Depression leiden finde ich es sehr wichtig in jedem Artikel, der über den Tod von Herrn Enke berichtet, diese Tatsache zu unterstreichen und Hilfsmöglichkeiten aufzuzeigen.
Jedoch, wenn man den Umgang der Medien mit dem Thema genau beobachtet, erkenne ich zu mindestens einen sehr sorglosen Umgang im „Unterhaltungsbereich“ sowie eine völlige Unkenntnis der verantwortlichen Fiktion-Redakteure: in Soaps, bei Krimis oder in dramatischen Filmen. Ich fände es daher dringlich, wenn hier nicht nur von Seiten der Journalisten sondern vor allem auch der Autoren mehr Rücksichtnahme herrschen würde bzw. das Thema komplett vermieden würde! Jedoch wird immer wieder der Suizid glorifiziert und nicht als das gezeigt, was er ist: Der schlimmst möglichste Krankheitsverlauf einer Depression.
@ 29. Nietnagel: Dreh‘ das Argument doch um. Wo keine Nachricht, da keine Nachfrage (siehe Wien). Und im Fall Enke geht es ja um eine umsichtigere, weniger heroisierende Berichterstattung, die Dir deine Fakten auch geliefert hätte.
Es hätten doch folgende Basisfakten völlig ausgereicht:
1) Enke hatte Depressionen
2) Enke beging Suizid
3) Enke lehnte eine stationäre Behandlung ab, aus Angst, sein richtiges Leben im Falschen breche in sich zusammen (im Zuge dessen kann Aufklärung darüber betrieben werden, wie man sich helfen lassen kann, wenn man psychische Probleme hat und das man sich nicht dafür schämen muss)
Nur ganz knapp bin ich daran vorbei geschrammt hier -angestachelt von 28 Einträgen- meinen Senf dazu zu geben. Ist das nicht auch schon eine Art „Werther-Effekt“? Und, wer schützt die Geldinstitute vor mir wenn morgen über Bankraub berichtet wird?
Es ist auch nicht unbedingt so, daß die Nachahmungstäter sich sowieso irgendwann umgebracht hätten. Die Suizidrate sank doch, als das im Haushalt verfügbare Gas nicht mehr giftig war. Und die Brückenspringer, die überlebt haben, haben sich auch nicht später alle umgebracht.
Ich persönlich denke, es geht, wie so oft, nicht ums ‚ob‘, sondern ums ‚wie‘: Natürlich läßt sich nicht geheimhalten, wenn ein Prominenter sich ums Leben bringt, und das soll ja auch gar nicht.
Aber ähnlich wie bei Amokläufen gibt’s auf einmal kein anderes Thema mehr, es wird dutzende male live zum Station geschaltet (N24, meine ich, noch am selben Abend), wirklich JEDER wird um einen Kommentar gebeten und es wird spekuliert ohne Ende. Diese ganze Aufgeregtheit: DAS ist die Parallele zu Amokläufen etc. und genau das feuert Nachahmer an. Und nicht die sachliche Meldung in Tageszeitung/Fernsehen.
Und bei mir selber (hatte selbst mal eine „mittelschwere Episode“) merke ich, dass es mich runter zieht. Wie muss eine Berichterstattung dann erst auf jemanden wirken, der sich gerade in einer akuten Phase befindet?
Nachahmungseffekte gibt es fast ueberall. Selbstmorde, Amoklaeufe, etc. Wenn die Tat nur spektakulaer ist, dann sichert es dem Taeter den Abgang mit grossem Knall. Genau an dem Punkt wirken Medien entscheidend mit.
Traurig finde ich, dass diese Mitverantwortlichkeit hinter einer plakativen Betroffenheit versteckt wird. Wenn dann televisionaer ein Psychiater oder Psychologe interviewt wird und der Fachmann Dinge sagt wie „Entstigmatisierung notwendig, Klnikaufenthalt bei Hr. E. waere wichtig gewesen“, dann geht das alles sofort wieder unter in der Berichterstattung wieviele Menschen jetzt trauern, wie schlimm alles ist, was fuer ein guter Mensch Hr. E. doch war und wir schwer er es in seinem Leben hatte. Nicht einmal, dass Medien nicht berichten duerften. Selbst dem Gedanken einer „Gesinnungsethik“ folgend, kann man nicht zufrieden sein, weil die allgemeine Berichterstattung nicht sinnvoll ueber den Zusammenhang zwischen Depression und Suizidalitaet aufklaert.
@28 Hendrik: Das war glaube ich nicht Herr Würth sondern Herr Merckle.
Ansonsten bleibe ich bei diesem Thema bei meiner Meinung: Viele Details gehen mich nichts an (auch wenn da die Familie selber teilweise ein großes Mittteilungsbedürfnis zu haben scheint), deshalb muss über sie auch nicht berichtet werden.
Die Krankheit Depression in den Mittelpunkt zu rücken ist gut, kann aber auch ohne die ausufernde Berichterstattung gelingen.
Mich wundert ein bißchen, wie hier so mancher in Zweifel zieht, daß prominent beworbene Suizide Nachahmer fänden. Selbst wenn sich die schiere Zahl der Selbsttötungen nicht ändern würde, so sprechen die Studien ja auch noch über andere Faktoren, vor allem die Art der Tat. Wenn ein weiterer Selbstmord durch Geisterfahrt, der zusätzlich zum Suizidenten auch noch den Insassen des entgegenkomenden Fahrzeugs das Leben kostet, durch entsprechend zurückhaltende Berichterstattung verhindert werden kann, dann sollte versucht werden, es zu verhindern. (Dies nur als Beispiel.) Auch wenn dann ein Haufen interessierter Mediengaffer in seinem verfassungsmäßigen Recht auf freie Information beschnitten wird.
Auch schön, dass man sich nun von Stern.de-Autoren als herzlos titulieren lassen muss, bloss weil man bei dem widerwärtigen Schauspiel nicht mitmacht.
Siehe hier: http://www.stern.de/kultur/tv/tod-von-robert-enke-wenn-die-medien-trauer-tragen-1522262.html
„Hinterher nahm die Zahl der Eisenbahnsuizide bei jungen Männern um 175 Prozent zu.“
Sind das nun 3500 – anstatt zuvor 2000?
Oder sieben Suizide bei vorher vier ?
Also 2500 mehr? … Oder vielleicht zufällig „nur“ 3 mehr?
@ 34 – Seb –
Vor allem zu 3) … Ja! Genau darum möge es den Berichterstattern gehen!
ups, „1500 mehr“ (nicht: „2500 mehr“).
Auch bei den 60% weniger in Wien: waren es vorher 5 und nun „nur“ noch 2? Oder doch eine sehr viel größere Zahl? Will sagen: Manchmal bringen Prozentzahlen nicht viel, oder verschleiern sogar.
Die Kriterien sind nachvollziehbar und jedenfalls dann zu beachten, wenn der Selbstmord im konkreten Fall die negativen Berichterstattungsfolgen keinesfalls aufwiegen kann. Das ist bei den meisten Suiziden der Fall.
Im Fall Robert Enke ist das aber anders.
Zum einen wurde hier gegen einige Kriterien nicht von „den Medien“ verstoßen, sondern von der Polizei Hannover via Pressemitteilung und von Teresa Enke und dem betreuenden Psychotherapeuten im Rahmen einer Pressekonferenz. Sind hier Vorwürfe berechtigt?
Natürlich hätten viele andere Punkte in der Berichterstattung allerdings tatsächlich stärker Berücksichtigung finden müssen. Insbesondere war es z.B. vollkommen unnötig, die Nummer des Regionalzugs zu nennen oder aber auch den genauen Unfallort. Natürlich hätte auch in den Folgetagen durchaus verstärkt auf Auswege im Falle einer Depression hingewiesen werden können.
(Die von mir sehr geschätzte Margot Käßmann hat mit ihrer anrührenden und treffenden Trauerrede vieles, was in den letzten Tagen kritisiert wurde, richtig gemacht: Sie thematisierte ausdrücklich das Leid der Hinterbliebenen und ungewollt Betroffenen und sie adressierte direkt mögliche Nachahmungstäter.)
Nur: Gegenüber einem Großteil der Kriterien halte ich das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit für vorrangig. Bei solchen Güterabwägungen ist m.E. insbesondere der Umstand zu berücksichtigen, dass es sich bei der erhöhten Suizidgefahr um eine abstrakte Gefahr handelt – es ist nicht mit konkreten, individualisierbaren Menschenleben abzuwägen.
Ich räume allerdings ein: Über die Berichterstattung in diesem Fall kann man durchaus geteilter Meinung sein. Vielleicht ist es einfacher, den Grundkonflikt anhand der anderen Beispiele nachzuvollziehen: Ist es nämlich so, dass die abstrakte Lebensgefahr jedes andere Gut überwiegt, dann hätte weder „Tod eines Schülers“ gezeigt noch der „Der Werther“ veröffentlicht werden dürfen. Dass sich bei dieser Konsequenz Bauchschmerzen einstellen, deutet für mich darauf hin, dass die Inkaufnahme des Werther-Effekts durchaus abwägungsfähig ist. Und am ehesten wird dem ein Kompromiss gerecht – was möglicherweise zumindest die Bebilderung, das Verständnis, und, ja, das gute alte „de mortuis nil nisi bene“ (vulgo: Heroisierung!?) legitim erscheinen lässt.
Weder in New York noch in Wien spielte das Internet eine Rolle. Kennt jemand aktuellere Untersuchungen, ob sich das heutzutage eher negativ (einschlägige Foren o.ä.) oder positiv (aufklärerisch) auswirkt?
Wenn wir Enke ausnahmsweise mal ausblenden: Suizid ist ansonsten wohl DAS Thema, bei dem sich die Medien übergreifend und nahezu immer an die „Spielregeln“ halten, also nicht berichten (was auch daher rühren dürfte, dass die Polizei hier in vielen Fällen keinerlei Pressearbeit betreibt und viele Suizide keine Auswirkungen im öffentlichen Raum haben, im Gegensatz zum Sprung vor den Zug. Und selbst der findet beim Nicht-Nationaltorwart lediglich als Meldung im Lokalteil statt, wenn überhaupt).
So gut es sein mag und so ernst der Werther-Effekt zu nehmen ist – ich finde es zumindest eine spannende Frage, was wäre, wenn über Suizide größer berichtet würde. Könnte es nicht sein, dass etwa ein erheblicher Anstieg an Suiziden in dieser oder jener gesellschaftlichen Schicht gar politische Auswirkungen haben könnte (und die nicht so umfangreiche Berichterstattung nicht nur den Werther-Effekt vermeidet, sondern auch der Politik ganz gut in den Kram passt?). Das einzige, was in dieser Richtung in den Medien stattfindet, sind spektakuläre Fälle (die genannten Schulen, Behörden, so was.. das ist zwar wichtig, etwa wenn es um Mobbing geht, von außen ist es aber auch einfacher auf eine einzelne Schule zu zeigen als sich größere Gedanken über die Gesellschaft zu machen. Und in diese Richtung geht die Berichterstattung in solchen Fällen eher nicht). Ich gebe aber zu: auf der anderen Seite ist die Frage, wie lang (oder nicht lang) es ginge, bis eine Abstumpfung eintreten würde. Grundsätzlich sollte man jedoch auch Regeln wie die obigen hinterfragen dürfen, denke ich.
Mir erschließt sich der Diskurs über Verantwortungsethik und Gesinnungsethik nicht. Enke ist wie Lady Di das völlig falsche Beispiel, da werden Symbole aufgeladen. Ich halte Journalismus insgesamt für verantwortlicher. Ich habe mal eine brisante interne Meldung aus einer großen Firma gebracht und meine geschützte Quelle brachte sich um. Er war vielleicht etwas zu unvorsichtig und dazu (das lernte ich später) schwer depressiv. Würde ich die Meldung wieder bringen im Wissen um einen depressiven Menschen? Ich würde. –Detlef
„Dann seien wir aber auch ehrlich genug zu sagen, was der Preis für diese vermeintliche Informationspflicht und diesen Verkaufswettkampf ist. Er lässt sich in Menschenleben zählen.“
Enke hat sich vor ziemlich genau 6 Tagen das Leben genommen. Seitdem sind die Medien voll damit. Was haben Ihre Recherchen denn ergeben? Wieviele Menschen mehr als normal haben sich seitdem vor einen Zug geworfen? Welche Auskunft hat die Bundesbahn hierzu geben? Was hat der Verkehrsverbund Hannover gesagt?
Zum Thema „Die hätten sich eh umgebracht“: Ich denke, der einfachste Beleg dürfte die zitierte Studie über den Rückgang während des neunmonatigen Zeitungsstreiks sein: Alle kurzfristigen Effekte sollten in diesen neun Monaten locker untergehen — jeder einzelne „zurückgegangene“ Selbstmord in dieser Zeit ist ein Mensch, der neun (oder sechs oder drei) Monate länger gelebt hat. Das ist ein Zeitraum, den muss die Gerätemedizin erst einmal hinbekommen …
Davon abgesehen halte ich es aber für saugefährlich, Informationen nach Gutdünken zurückzuhalten. Da wird aus dem Gut Gemacht schnell ein Gut Gemeint … Selbstzensur ist auch Zensur.
Das rechtfertigt aber nicht im Mindesten die momentane Aufmachung. Ich verspüre noch immer Ekel und Abscheu über alle, die zB für die Ausstrahlung der Ankunft von Frau Enke an der Unglücksstelle Mitverantwortung tragen. Ja, es muss berichtet werden. Aber nicht so. Bei weitem nicht so.
Ich wollte mit meinem Einwand natürlich nicht die Tragik eines Suizides relativieren. Und ich sehe auch ein, dass, sollte ich in vielen Fällen recht behalten, die Lebenszeit der Suizidenten verkürzt wird. Das an sich ist schon tragisch genug.
Aber den Zusammenhang zwischen einigen Zeitungsartikeln und einem Suizid muss man differnzierter sehen als die einfache, zweigliedrige Kausalitätskette, die sich aus dem Artikel ableiten lassen könnte.
Auch wenn ich mich wiederhole, der Artikel ist trotzdem absolut gerechtfertigt und mehr als nötig. Gerade in der heutigen Zeit, in der das Leben eines Menschen einen nennbaren Wert hat, und nur ein weiterer berechenbarer Faktor bei dem Bestreben ist, mehr Geld zu verdienen.
Ich würde eher sagen, sie geht gegen 1.
@ Detlef (#47)
Stellvertretend für viele, die es in den letzten Tagen geschrieben haben: Ich halte die leichtfertige Gleichsetzung der Schicksale von Enke und Lady Di in vielerlei Hinsicht für völlig unstatthaft. Um nur einen Aspekt zu nennen: Es gibt insbesondere in der Region Hannover unbestreitbar eine große Betroffenheit, die – gemessen an Lady Di – auf sehr unmittelbaren Eindrücken beruht. Es gibt viele Menschen, die solche Erfahrungen machen durften und denen sich seine Menschlichkeit nicht nur über ein künstliches mediales Zerrbild vermittelte. Insofern war Enke weit mehr als ein bloßes Symbol.
„Die Erkenntnis, dass es am besten wäre, wenn Medien über die meisten Suizide gar nicht berichten würden, widerspricht also nicht nur dem Wettlauf um Auflage und Quote, sondern auch ganz fundamental dem journalistischen Selbstverständnis eines ganzen Berufsstandes.“
Ist das so? Vielleicht lese ich die „falschen“ Zeitungen – aber ich lese praktisch nie Berichte über Selbstmorde. Gibt es diese Selbstverpflichtung der Journalisten, die sie fordern, nicht schon längst (zumindest faktisch)?
Vorweg: Ich gebe Stefan in allem Recht, was er hier geschrieben hat, wende aber ein, dass sich realistischerweise die Sensationsberichterstattung in diesem Fall nicht hätte vermeiden lassen.
Selbst wenn die Nachricht zunächst nur ein einer Art „Police Blotter“ aufgetaucht wäre, spätestens nach dem nächsten Spiel der Nationalmannschaft hätte doch alles seinen sensationellen Lauf genommen, nur eben mit Verspätung. So oder so, die Witwe landet irgendwann bei Kerner …
Das öffentliche Interesse (und das schließt die Profijournalisten mit ein) ist einfach zu groß, empirisch belegter Bodycount hin oder her, um solche Nachrichten zu unterdrücken oder kleinzuschreiben. Aus demselben Grund funktioniert auch der gut gemeinte Resozialisierungspresseblackout für die verurteilten Mörder von Walter Sedlmayr nicht.
Überlegungen, wie sich das öffentliche Interesse austricksen lässt sind da m.E. nach Zeitverschwendung, unserer Verantwortung für Selbstmordgefährdete und Resozialisierungsbedürftige kämen wir alle besser nach, in dem wir weiter daran arbeiten, eine Gesellschaft zu bauen, in der depressive Menschen die Hilfe und ehemalige Täter die Chancen bekommen, die sie brauchen.
solche einträge mag ich. danke.
Glaubt eigentlich jemand, dass solche – eigentlich verdienstvollen – Debatten irgendetwas an unserer Medienpraxis ändern? Das Hochkochen von Emotionen – ob positiv oder negativ – gehört längst zur großen Beeinflussungsmaschinerie in einer Zeit ohne Visionen und Perspektiven. Die kommerziell verfassten Medien fiebern schon dem nächsten Event entgegen. Mehr:
http://www.blogsgesang.de/2009/11/16/manisch-depressive-republik/
Die BWL sähe in diesem Zusammenhang Suizid übrigens ganz prakmatisch als „verdecktes Bedürfnis“: Ein Bedürfnis, das latent vorhanden ist, aber erst geweckt werden muss.
Na, da sehen wir mal, wie die BWL so „prakmatisch“ alles zu definieren weiß, nur den Menschen nicht.
So sehr ich dieses Blog liebe: Das sind hundert Zeilen flammender Empörung für Nichts. Eine einzige kurze Recherche (z.B. beim Journalistenverband) hätte ergeben, dass Tageszeitungen in Deutschland nicht über Selbstmorde berichten, es sei denn, die Umstände sind tatsächlich so außergewöhnlich wie bei Robert Enke.
Es ist wirklich nicht wahr und tut Leuten Unrecht, zu behaupten, dass Journalisten glauben, „die Pflicht zu haben, über Suizide zu berichten — unabhängig davon, ob diese Berichterstattung zu weiteren Suiziden führt…“.
Meines Wissen entstand die stillschweigende Selbstverpflichtung, auf diese Berichterstattung zu verzichten, vor mehr als zehn Jahren, ausgehend von der Wiener Tagespresse, die sich als erstes dazu durchrang. Danach folgte ein entsprechender Zeitungsversuch in Nürnberg, der erneut bestätigte, dass es weniger Suizide gab, solange nicht darüber berichtet wurde. Seitdem gibt es so gut wie keine Zeitungsmeldungen mehr zu diesem Thema.
Hat sich wohl einfach nicht zu allen Medienjournalisten herumgesprochen.
@51: eher geht die Wahrscheinlichkeit, dass die BILD den Brief NICHT NICHT abdruckt, gegen 1 ;)
Ich habe ein Problem mit der Trennung zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik: wer ersterer folgt, also „verantwortlich“ veröffentlichen will, tut das doch auch nach ethischen Grundsätzen. Nach anderen zwar, als dem schlichten Grundsatz, nach dem die Wahrheit ans Licht müsse – aber immerhin. Also ist das dann doch auch Gesinnungsethik…?
Mal an alle mit der Meinung, dass sich die Nachahmer doch eh umgebracht hätten:
Wer sagt denn, dass (nahezu) jeder an Depressionen gelitten haben müsste? Könnte es nicht auch Fälle geben, in denen man in einer Art Kurzschlussreaktion nahe an den Gedanken gelangt, dass Suizid eine Lösung wäre? Auslösende Faktoren in diese Richtung könnten z.B. sein: Beziehung zu Ende, Arbeit verloren, viel Geld verloren/verspielt, schwerer Streit mit Familie etc. All diese „Probleme“ würden sich langfristig lösen lassen und die Betroffenen würden das – soweit sie dann nicht schon tot wären – genauso sehen.
Und da man bei diesen „Kleinigkeiten“ nicht zwangsweise Suizid begeht aber eben durchaus in einen temporären Graubereich gelangen kann, in dem Die Abschreckung vor Suizid stark geschwächt und der Reiz dazu stark erhöht ist, könnte es eben passieren, dass diese kurze Phase genau kurz vor oder kurz nach einer breiten öffentlichen Berichterstattung über Suizid stattfindet. Wer dann empfänglich für Nachahmungen ist (wie es ja z.B. allgemein die Werbung ausnutzt), könnte durchaus über die Schwelle des Todes gezogen werden, obwohl er zwei Wochen später schon wieder kilometerweit davon entfernt gewesen wäre.
Nun möchte ich natürlich nicht über Prozentzahlen sinnieren, aber das gedachte Szenario dürfte sicherlich kein unmögliches Theorem sein, sondern sich in einer deutlichen Zahl der Fälle bemerkbar machen.
Der Unterschied ist doch eigentlich nur, ob man sich aufgrund eines Auslösers „spontan“ zu einem Suizid entschließt oder sich über lange Zeit immer stärker „hindenkt“. Die Gründe sind aber erstmal die selben „Kleinigkeiten“ (außer dass man sich in der langfristigen Variante noch weitere einfangen kann).
Wie wär es mit einem Bericht über betroffene Lokführer oder die, die die Sauerei wegmachen dürfen und vielleicht auch Depressionen bekommen und nicht mehr arbeiten können.
Alter Schwede.
ich hab noch nie einen niggemeierischeren Text gelesen als diesen.
Gehts noch?
Ob man es nun Werther-Effekt nenn will, oder sonst wie, ist was den eigentlichen Effekt angeht unerheblich.
Ich möchte es einfach ausdrücken: wird viel Fußball gezeigt, spielen viele Kinder Fußball, ist ein deutscher Tennisspieler erfolgreich und prominent in den Medien, spielen viele Bürger Tennis. Läuft einer mit einer Uzi durch die Schule, machen es Ihm andere nach. Stürzt sich ein Prominenter vor den Zug -.
Es ist unglaublich wichtig die Qualität der Berichterstattung, besonders im aktuellem Fall zu kritisieren, keine Frage. Aber medialer Berichterstattung und den Menschen dahinter (in-)direkt einen Beitrag zu Selbsttötungen vorzuwerfen, halte ich für total niggemeierisch. Mehr geht gar nicht mehr.
Das was im Beitrag beschrieben wird, ist aus soziologischer und psychologischer Sicht hochinteressant – aber sich so so so so soooo weit aus dem Fenster zu lehnen und einen deratigen Pauschal-Tiefschwinger in die Presserunde zu hauen, ist so abstrus, dass ich grad nochmal unvermittelt lachen muss.
Ich hoffe schwer, dass dieser Beitrag von anderen Blogs aufgriffen, würdig und eloquenter als von mir kommentiert wird.
@ Martin (62)
Ich habe noch nie so oft wie in den letzten Tagen Berichte über Lokführer und entsprechende Beileidbekundungen gelesen.
Wobei es i.d.R. meiner Meinung nach keine Beileidsbekundungen waren, sondern Statements von Traueraufpassern, die sich auf allen Äußerungshaufen on- und offline mit den Worten einschalteten: „Kann denn nicht einer mal an die Lokführer denken?“
Das habe ich auch in bezug auf die Trauerfeier oft gelesen. Und auch von professionellen Kommentatoren. Tatsächlich haben 3 der 4 Redner explizit auch die Lokführer und Hilfskräfte mit guten Wünschen versehen. Nicht nur deshalb halte ich diesen Vorwurf nicht für mitleidsmotiviert, sondern für extrem scheinheilig.
@62, Martin F.:
Dazu ist in den vergangenen Tagen doch schon reichlich publiziert worden (vorher übrigens auch).
Für mich ist der Mensch das höchste Gut!
@ Sebastian
„… auf der anderen Seite ist die Frage, wie lang (oder nicht lang) es ginge, bis eine Abstumpfung eintreten würde.“
Ich glaube Sie haben das Problem noch immer nicht erfasst: Es wird keine Abstumpfung geben. Wenn sie Sich ein Bein brechen wird es auch nicht dadurch besser, dass Jemand Ihnen immer wieder davor tritt. Depressionen bekommt man doch nicht über Druck in den Griff! Das Leid der Betroffenden ist real, es ist eine Krankheit. Genau diese Art der Fehlinformation die Sie hier verteilen steckt in den Köpfen vieler Menschen. Das führt dazu, das Betroffene sich für Ihre Krankheit schämen und sich keine Hilfe Suchen.
Ihre Äußerungen machen mich wirklich wütend, da sie scheinbar schon so weit weg von der Menschlichkeit sind, dass Sie sogar den Tod eines Menschen in kauf nehmen, nur um eine Theorie zu bestätigen.
@ Detlef Borchers
Gleiches gilt für Sie. Wenn Sie den Fehler gemacht haben und eine mögliche Krankheit eines Informanten nicht erkannt haben, so ist die eine Seite. Dieses Handeln jedoch wiederholen zu wollen ist für mich Zeichen von absoluter Beratungsresistenz und geistiger Begrenztheit. Sinn von Fehlern besteht doch daraus, aus ihnen zu lernen!
Meine Güte, haben Sie wirklich so wenig Verantwortungsgefühl und Respekt gegenüber Ihren Zuschauern bzw. Lesern?
Man sollte vielleicht darauf hinweisen, dass es eine Studie gibt, die behauptet, dass die erwähnte Studie zu „Tod eines Schülers“ eine falsche Basis hatte und nicht haltbar ist.
Zuerst waren die Journalisten in diesem Blog nur „Aasgeier“. Jetzt sind es auch noch – auf Umwegen, zugegeben – Mörder. Was kommt als nächstes? Bitte zurück auf den Boden der Tatsachen!
Tatsächlich fordert die Polizei häufig mit dem selben Argument, dass mit so wenigen Details wie nur möglich über Banküberfälle berichtet wird. Vor allem bei der erbeuteten Summe herrscht arge Zurückhaltung. Könnte sich ja rumsprechen, dass sich die Sache lohnt! Und dann stellt sich bei der Recherche heraus, dass das Geldinstitut bei den Sicherheitsvorkehrungen massiv geschlampt hat. Weil ich das schon erlebt habe, bin ich ein überzeugter Anhänger der Gesinnungsethik. Journalismus MUSS die Welt so wiedergeben, wie sie ist. Das ist unsere verdammte Aufgabe! (Auf einem anderen Blatt steht, dass viele Zeitungen die Enke-Geschichte seit Tagen völlig überdrehen.) Im Ernst: Wenn ich mir jedesmal vor einer Story überlegen müsste, wen ich damit auf welche Ideen bringen könnte – dann würde ich wohl sofort mit dem Schreiben aufhören. Da gäbe es viel zu viele (berechtigte) Anliegen zu berücksichtigen.
Zurückhaltend oder im Zweifelsfall gar nicht über Suizide zu berichten, ist Common Sense. Und hat sicher auch seinen Grund. Diese Vorgabe darf aber nicht zum Maulkorb werden. Wenn sich jemand auf die Autobahn schmeißt und deswegen Tausende stundenlang im Stau stehen, dann haben die Menschen ein Recht, zumindest knapp den Grund zu erfahren. Deswegen muss man die Tat ja nicht heroisieren. Oft hilt es schon, das böse Wort „Suizid“ nicht in die Überschrift zu packen. Haben die Studien ja auch festgestellt.
„Niggemeierisch“. Puh. Früher nannte man das einfach moralistisch. Ein Grund, warum ich Erich Kästner so schätze, ist, dass er ganz selbstverständlich Moralist war. Heute gilt es ja als erstrebenswert, möglichst meinungslos zu sein und bloß ja nicht so uncool den Zeigefinger zu heben. Ich finde, es werden viel zu wenig Zeigefinger gehoben!
[…] Medien arbeiten seit einer Woche daran, die Zahl der Selbstmorde in Deutschland in die Höhe zu treiben. (Stefan […]
@ nemo
An Depression erkrankte Menschen (wir reden hier über 7–13 % aller Deutschen) zeichnen sich nun einmal aus durch ihre besondere Verletzlichkeit, die das normale Maß überschreitet, da sie eine Hirnfunktionsstöhrung haben. Diese Verwundbarkeit oder auch Risikofaktoren äußern sich in besonderer Empfindsamkeit gegenüber dem Verlust externen Regler. Der Verlust kann dabei real oder symbolisch sein, wie z.B. ein geschilderter Suizid in den Medien.
Kriminalität hingegen ist KEINE Krankheit! Wenn Menschen aus böswilligem Antrieb eine Tat, die sie im Fernsehen gesehen haben, wiederholen, so haben sie die Wahl dazu. Depressive Menschen hingegen besitzen diese Wahlmöglichkeit nicht und sind sowohl schutz- als auch wehrlos dem Journalisten/Autor ausgeliefert.
Moral hin oder her – die Frage, die sich mir beim Lesen des Posts gestellt hat (und die auch schon hier mehrfach gestellt worden ist): Wie hätte die Alternative ausgesehen? Gar nicht berichten? Bei einem so Prominenten sicherlich nicht möglich. Nur berichten „Robert Enke ist tot“? So sympathisch der Gedanke ist, realistisch in der Informationsgesellschaft ist das sicher kaum – die Spekulationen, die das ausgelöst hätte, mag ich mir gar nicht vorstellen.
Ich bin in der Tat hin- und hergerissen zwischen der Argumentation des Hausherrn und der Argumentation einiger Kommentatoren, die (wie ich finde zurecht) auf die „Schere im Kopf“ hinweisen, die sicherlich nicht erstrebenswert ist.
@71: Ok, dieser Kommentar mildert meine Hin- und Hergerissenheit tatsächlich.
@52, Johannes: Gerade als Hannoveraner habe ich das so gemeint.
@66, Jo: Man sieht einem internen Tipp nicht an, in welcher Verfassung der Mensch ist, der den Whistleblower wagt. Gerade darum ist das Räsonnieren über Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Journalismus im Einschub de des geschätzten Medienkritikers daneben. Mal ab davon dass Weber über Politiker und Wissenschaftler nachdachte. –Detlef
@JO: Ja, das tut mir leid für die Depressiven. Keine Ironie. Ich glaube aber auch, wie schon @45 gut formuliert hat, dass die abstrakte (!) Gefahr (!) eines Selbstmords durchaus abwägungsfähig ist. Und das es, selbst wenn man das mit Magengrimmen zur Kenntnis nehmen mag, daneben andere wichtige Güter gibt. Man kann diese Menschen ja auch nicht vor allen Umwelteinflüssen abschirmen, nur um einen Suizid zu verhindern. Wichtig wäre eine „aufklärende“ Berichterstattung, die nicht nur Hintergründe nennt, sondern auch Hilfsangebote an die Betroffenen macht. Und, wie schon gesagt, kein übermäßiges Aufgeigen solcher Meldungen. Die fette Bild-Hauptzeile samt Bild von der Unfallstelle ist einfach Mist.
Wir sind in Deutschland langsam aber sicher sowieso auf dem Weg zu einer vollkommen politisch korrekten Berichterstattung, die auch noch die Bedürfnisse der letzten Randgruppe berücksichtigt. Mehr und mehr entfernen wir uns damit von der Realität der Menschen. Ich glaube, dass guter Journalismus durchaus Klartext sprechen sollte. Damit kann man dann auch Verletzungen hervorrufen, aber das ist der Preis.
@71 Die Grenzen zwischen Krankheit und freiem Willen sind doch willkürlich. Triebtäter sind auch oft krank. Und kriminell. Hatten sie jetzt die Entscheidungsmöglichkeit oder nicht? Ausserdem gibt es genetische Prädisposition zu aggressivem Handeln. Sind solche Menschen ihren Genen jetzt auch schutzlos ausgeliefert? Und so weiter. Die Frage die bleibt, ist, ob der Mensch überhaupt eigenständig Entscheidungen treffen kann. Ich bin der Meinung: „Ja.“
Aber die Argumentation mal angenommen. Wohin würde das denn führen? Es gibt viele Sachen, bei denen „die Medien“ Verantwortung übernehmen könnten. Wer entscheidet, was zu tun ist, und was nicht? Letztendlich ist das die Frage nach der Erziehung eines Volkes. Und davon halte ich wenig.
Anstelle der Symptome sind die Ursachen zu bekämpfen oder erstmal auszumachen. Warum gibt es so viele depressive Menschen?
Ich kann nur hoffen, dass durch die Berichterstattung über Robert Enkes Tod kein Werther-Effekt ausgelöst wird. Vielmehr sollte eine Diskussion darüber stattfinden, dass Menschen eben nicht nur Helden und Übermenschen sind, sondern jeder sein Päckchen mit sich trägt, und man auch den Mut haben sollte und darf, Schwächen zu zeigen.
@manuel, #23: Einfach auf die Links klicken, und lesen.
Wären die Suizide nur vorverlegt, so würde sich statistisch erst ein Anstieg wg. der Berichterstattung, und dann ein Absinken zeigen, bevor das übliche Niveau sich wieder einpendelt. Also beispielsweise von 500 Fällen bundesweit auf 550 pro Monat, auf 450 im nächsten, und wieder auf 500. Oder in 2-monats-Schritten zurück: 500, 550, 470, 480, 500.
Jahreszeitliche Schwankungen rauszurechnen, wenn diese bekannt sind, ist auch kein Hexenwerk.
Am besten ist es, Studien zu bezweifeln, aber nicht selbst reinzuschauen.
@Detlef Borchers
„Ich habe mal eine brisante interne Meldung aus einer großen Firma gebracht und meine geschützte Quelle brachte sich um. Er war vielleicht etwas zu unvorsichtig und dazu (das lernte ich später) schwer depressiv. Würde ich die Meldung wieder bringen im Wissen um einen depressiven Menschen? Ich würde.“
Würden Sie dann bitte, sollten Sie tatsächlich die Selbstgefährdung Ihrer „Quelle“ erkennen, die nächsten Angehörigen warnen.
In dem vollkommen anders gelagerten Fall des vorverurteilten jungen „Datenräubers“ hätte die wichtige Information über seine psychische Verfassung den Haft-Suizid möglicherweise verhindert.
Beim Thema Suizid-Berichterstattung gilt es zu bedenken, dass in jeder Information an potentielle Leser auch eine Botschaft steckt. Wenn man sich bewusst macht, dass man gerade keinen Artikel für das Fachpublikum aus der Rechtsmedizin oder Psychologie verfasst, sondern mit schockierenden Beschreibungen oder Bildern JEDEN trifft, kann man seine eigenen Artikel mit etwas gutem Willen doch auch auf „versteckte“ Botschaften untersuchen, die sich vielleicht nur psychisch gefährdeten Lesern erschließen oder man formuliert halt gleich etwas einfühlsamer. Diese Art von Sensibilität gegenüber der Leserschaft hat für mich nichts mit journalistischer Weicheierei zu tun, sondern ist ein Zeichen von Aufklärung und Verantwortung.
„Man sieht einem internen Tipp nicht an, in welcher Verfassung der Mensch ist, der den Whistleblower wagt“
Gerade dass haben sie in Ihrem hypothetischen Beispiel weiter oben doch selbst vorausgesetzt.
„Würde ich die Meldung wieder bringen im Wissen um einen depressiven Menschen? Ich würde. –Detlef“
Damit können Sie sich also nicht herausreden.
Ihre in diesem Zitat geäußerte Einstellung finde ich, gelinde gesagt, äußerst grenzwertig. Denn Sie insinuieren, man dürfe nicht nur das hypotehtisch mögliche (Werther etc), sondern auch das konkret wahrscheinliche (!) Ableben eines Menschen gegen den Willen zur Veröffentlichung abwägen. Überspitzt: Wenn die Story groß genug ist, ist (mir) Ihre Veröffentlichung ein Menschenleben wert.
Vielleicht ist das nicht, was sie gemeint haben. Geschrieben haben Sie es.
(warum deswegen „das Räsonnieren über Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Journalismus im Einschub de des geschätzten Medienkritikers daneben“ sein soll, erschließt sich mir nicht. Aber das ist eine andere Baustelle)
PS: In dem Posting oben ist ein echter Hypotehtisch versteckt. Wer ihn zitiert, bekommt ein (sic!) gratis dazu.
Ich würde ganz klar sagen, dass die „gesinnungsethische“ Sicht richtig ist. Es ist nicht Aufgabe der Medien, das Volk zu erziehen.
Als Journalist sollte man die Wahrheit schreiben, ehrlich (und enstprechend gekennzeichnet) seine Meinung kundtun und die Persönlichkeitsrechte derer achten, über die man berichtet. Damit hat es sich.
Die „darüber darf man nicht berichten weil die Leue es nicht vertragen“ Argumentation ist strukturell genau jene, die in Staaten wie China zur Zensur von Pornographie, bestimmten Religionen oder politisch abweichender Meinungen genutzt wird.
In naiver Weise setzen Niggemeier und fast alle Kommentatoren das negative Suizidbild der christlichen Wertvorstellungen voraus. Sind sie _so_ sicher dass das Leben immer die bessere Alternative ist? Wer gibt Ihnen das Recht dazu, anderen Menschen durch kartellhafte Absprachen das REcht auf neutrale Information zu nehmen. Journalistische Grundfragen „wer ist betroffen, wo fand das Ereignis statt etc.) sollen bewusst verheimlicht werden.
Der Paternalismus ist ein Meister aus Deutschland.
dass sich der niggemeier aber auch gar nicht schämt, wie niggemeier zu schreiben…
ernsthaft: ich habe den eindruck, dass viele kommentatoren das ungeheuer dämliche wort vom selbst“mord“ vermieden haben. auch im artikel finde ich es an den mir wichtigen stellen nicht verwendet.
das finde ich gut.
.~.
@ 45 Johannes:
„Zum einen wurde hier gegen einige Kriterien nicht von „den Medien” verstoßen, sondern von der Polizei Hannover via Pressemitteilung und von Teresa Enke und dem betreuenden Psychotherapeuten im Rahmen einer Pressekonferenz.“
Ganz falsch: Es wurde allerhöchstens „nicht NUR von ‚den Medien‘ verstoßen“: Unabhängig davon, was die Polizei oder Betroffene dazu verlautbaren, hat jeder Verleger, jeder einzelne Journalist eine ver*#%te Pflicht und Schuldigkeit, selbst zu prüfen und zu erwägen, ob und wie etwas veröffentlicht wird. Kein Fehler eines anderen ist eine Ausrede, ihn selbst zu wiederholen.
Und nicht umsonst gibt es ja im Pressecodex speziell die Verpflichtung, mit Selbsttötungen besonders zurückhaltend umzugehen, auch wenn es im Fall von Prominenten Ausnahmen erlaubt. Meiner Meinung nach – und darum spricht mir Stefan Niggemeiers Artikel aus dem Herzen – haben die Medien im aktuellen Fall nicht bloß die Selbsttötung eines Prominenten vermeldet, unter Hinweis auf die Krankheit Depression und ihre Behandlungsmöglichkeiten, sondern sind so ziemlich durch die Bank und weit über den Boulevard hinaus dem Sensationsbedürfnis erlegen. Und fange bitte keiner damit an, dass es ein Sensationsbedürfnis des Publikum gab – siehe oben: Das entbindet keinen Medienschaffenden von seiner eigenen Verantwortung.
tut mir leid, Johannes, aber das ist Schwachsinn.
„Der Paternalismus ist ein Meister aus Deutschland.“
Mannmann, Dein Phrasenschwein möchte ich haben.
Auch Journalisten tragen Verantwortung. Das als Paternalismus abzutun ist ebenso billig, wie auf das „negative christliche Suizidbild“ oder gar chinesische Verhältnisse zu verweisen.
Es gibt Situationen, in denen ein Weiterleben die schlechtere Wahl ist, das ist richtig. Einem Menschen, der z.B. an Muskelschwund leidet und durch vorzeitige Selbsttötung in Würde sterben will, statt qualvoll zu ersticken, sollte man dies ermöglichen, wenn es sein freier Wille ist.
Die überwiegende Mehrheit aller Selbsttötungen beruht auf Depression, einer KRANKHAFTEN Stimmungstrübung. Diese Menschen töten sich NICHT aus freier Entscheidung, verdammt noch mal! Die Gesellschaft ist verpflichtet, diesen Menschen zu helfen, ihnen nicht den Rücken zuzukehren. Sei es nun mit einem „Reiß dich zusammen“ oder einem „Mach man wie du meinst“.
@79: Aber wie erkennt man das? Ich habe die Quelle noch getroffen, sie war sehr nervös, kein Wunder bei den Fakten und trug eine Art Clowns-Jackett. Auffälliger ging es eigentlich nicht. Ich habe mich dann für die Fakten entschieden.
Und damit zu @80: ich will mich nicht herausreden – ich erzähle den Fall – , ich will darauf hinaus, dass die Überlegungen zur Verantwortungsethik nach Weber in die völlig falsche Richtung gehen.
Überwiegend per Mail arbeitende Online-Journalisten wie ich sind in der Regel nicht in der Telefonseelsorge ausgebildet und übersehen vielleicht die Warnzeichen, wie Sport-Journalisten auch. Es geht nicht um die große Story, das ist völlig absurd. Es geht um die nächste Story und die nächste. –Detlef
PS: Na, hier ist aber was los. Also: 85 bezieht sich @82….
@ O aus H, #84
Dass bestimmte Formen der Berichterstattung, wie sie auch hier im Blog dokumentiert worden sind, nicht nur unnötig, sondern widerlich, abstoßend und amoralisch sind, ist glaube ich unstrittig.
Meiner Meinung nach war Stefans Kritik aber insbesondere auch an Zeitungen gerichtet, die sich nicht als Boulevard verstehen. Und da geht es in vielen Fällen meiner Meinung nach nicht um absolute Grenzverletzungen, sondern um die Frage, inwieweit man sich auch in einem solchen Fall an die formulierten Kriterien zum empfohlenen Umgang mit Suizidberichterstattung halten muss.
Und Stefans sehr schweren Vorwürfen ist eben nach meiner Auffassung auch entgegenzuhalten, dass auch Polizei, Witwe und Therapeut entsprechende Kriteriumsverlertzungen begangen haben. In diesem Sinne meinte ich genau das, was sie auch einräumen: „Es wurde nicht NUR von Medien gegen diese Kriterien verstoßen.“
Dass ich auch die Berichterstattung der Qualitätszeitungen in weiten Teilen legitim finde, schrieb ich ja bereits weiter oben.
@Johannes (82)
Es geht nicht um Paternalismus, es geht um Verantwortung. Und dieser möge sich bitte jeder Journalist und jede Journalistin gewahr werden und entsprechend handeln. Nichts anderes erwartet man von jedem anderen, der Verantwortung, in welcher Form auch immer, trägt. Und es verlangt in der Tat niemand, die Unwahrheit zu schreiben. Es geht lediglich darum, die oben genannten Punkte zu beachten, um keinen Schaden anzurichten. Und wer spricht hier eigentlich immer von „Wahrheit“? Zählt dazu jetzt auch wildes Herumspekulieren wie in den letzten Tagen oft genug gelesen?
@ dot tilde dot
Ernsthaft: das wundert mich auch.
@86:
Ok, das mit der Verantwortungsethik ist angekommen. Mir ging es um diesese Zitat:
„Würde ich die Meldung wieder bringen im Wissen um einen depressiven Menschen? Ich würde. –Detlef”
Das liest sich so, dass sie die Story auch gebracht hätten, wenn Sie gewusst hätten wie sie ausgeht, nämlich dass der Mann sich umbringt. Das habe ich kritisiert und dabei bleibe ich auch. Das haben Sie wahrscheinlich nicht so hineinschreiben wollen, man liest es aber hinaus.
@ Stefan Niggemeier
Was mich außerdem noch interessieren würde:
– Das mit dem Überbietungswettbewerb bzgl. „exklusiver Abschiedsbriefe“ ist in diesem Fall offenkundig Quatsch. Es ist in der Formulierung etwas unklar, inwieweit das auf diesen Fall bezogen sein soll, aber konkret ist es ja so, dass die einzigen Informationen in Sachen Abschiedsbrief in der Pressekonferenz vom behandelnden Psychotherapeuten genannt worden sind.
– Die beklagte „grenzenlose Heroisierung“ kann ich ebenfalls nicht erkennen. Gemessen an dem, was Enke offenbar tatsächlich (für viele) gewesen ist, bewegen sich die Nachrufe und Trauerreden exakt in dem Rahmen, in dem sich Nachrufe und Trauerreden in unserer Gesellschaft üblicherweise eben bewegen. Also: Ich halte den Vorwurf der Heroisierung schon für nicht nachvollziehbar. Und dass die auch noch „grenzenlos“ sein soll, scheint mir ein Stilmittel zur Stärkung der eigenen Argumentation. Das finde ich in diesem Fall unangemessen, da damit indirekt Enke herabgewürdigt wird, indem eine erhebliche Differenz zwischen Bericht und Wirklichkeit suggeriert wird.
Danke für den gut ausgearbeiteten Beitrag. Der ist mal wieder typisch Niggemeier. Dort hat wohl wieder viel Arbeit drinn gesteckt.
@89: Aber das ist der Punkt – Journalisten, die sachlich über einen Selbstmord dieser Kategorie berichten, handeln auch verantwortungsvoll. Nur definieren sie diese Verantwortung eben anders. Sie machen sie nicht am einzelnen Leser fest (weil das schlicht unmöglich ist, wie ich meine), sondern denken eben in Kategorien wie Wahrheit. Und dazu gehört für sie eine möglichst umfassende Information ihrer gesamten Leserschaft. Information an und für sich ist für sie nicht „schlecht“ oder „gut“. Nun unterstellen manche Kommentatoren aber gerade, es gebe auch „schlechte“ Informationen, die man lieber nicht weitergeben solle. Die Frage ist dann nur, wer dies festlegt. Und wo die Grenzen sind. In China werden die anders gezogen als in Deutschland. Journalisten sind darauf trainiert, die Schere im Kopf zu vermeiden. Deshalb lassen sie sich ungern solche pauschalen Vorschriften machen, auch wenn diese mit den besten Vorsätze formuliert werden. Bei Verboten oder Tabus jeder Art werden sie in der Regel besonders skeptisch und schauen genau hin, das ist sozusagen Berufskrankheit.
Spekuliert übrigens hat ja wohl nur der Boulevard. Den darf man aber nicht über einen Kamm scheren mit „normalen“ Tageszeitungen. Das passiert in dieser Debatte gerne.
@86:
Ich wollte Sie nicht wegen des bedauerlichen Vorfalls angreifen, sondern habe auf Ihre Aussage, Sie würden sich im Wiederholungsfalls ganz genauso verhalten, reagiert. Das konnte ich mir -ehrlichgesagt- nicht vorstellen.
Wie sehr man eine Suizidgefährdung nicht (rechtzeitig) erkennen kann, zeigt das Beispiel von Herrn Enke. Sollte man aber etwas ahnen oder fühlen oder ein mulmiges Gefühl haben, wäre es sehr mutig und angebracht, dieses anzusprechen.
Zitat aus einem Artikel „Sprechen ist besser als Schweigen“ aus „Wendepunkt“ (Informationen zu Depression und Angststörungen I 1/2007):
http://www.depression.ch/documents/Wendepunkt_DS_1_2007.pdf
„Niemand wird Suizid begehen, weil wir ihn darauf ansprechen. Menschen werden aber vielleicht Suizid begehen, wenn wir sie nicht auf Suizidgedanken und Krisen ansprechen.“
Selbst wenn es nur um die nächste Story und die nächste geht, stehen Menschen hinter den Informationen. Ich bin nur Mitleserin, selbst keine Journalistin. Vielleicht könnte man bei besonders brisanten oder für Einzelpersonen vielleicht verhängnisvollen Informationen beim Whistleblower kurz anfragen, wie er mit dem Ergebnis einer Veröffentlichung zurecht käme, was dies für ihn bedeuten könnte, ob er damit klar käme…
Ich weiß leider keine bessere Antwort.
Ich stehe den genannten Vorschlägen eines „verantwortungsvollen“ Journalismus skeptisch gegenüber. Will man alle Empfehlungen umsetzen, könnte man eine Berichterstattung auch gleich sein lassen. Wenn man rein nichts Konkretes darstellen darf, nicht mal über eine Motivation, erübrigt sich jeder Bericht. Neugier und Mythen werden provoziert. Mit einer Argumentation über „Verwantwortung“ kann man viele Medieninhalte überflüssig machen. Krimis und Actionfilme hätten keine Existenzberechtigung. Entscheidend ist die Eigenverantwortung von Menschen und das Sich-Abfinden-Müssen mit einem allgemeinen Lebensrisiko. Man möge mir eine emotionale Kälte vorwerfen, für mich trifft ein solcher Vorwurf nicht den Kern. Die Konsequenzen, die sich aus einem guten Willen der „Verwantwortung“ ergeben, sind absurd. Und dies als Ausfluss des Wunsches andere Menschen vor sich selbst zu schützen und ihnen ihre Eigenverantwortung abzunehmen, geht für mich zu weit.
Der Niggemeier beklagt einen Verfall der Sitten und glaubt, dass die gesamte Journaille für aktuell reihenweise Selbsttötungen verantwortlich ist; nemo schwant etwas von Zensur-Ideen und raunt dauernd „China“.
Liebe Leute, kann man die ganze Sache nicht etwas niedriger hängen, vulgo sachlicher? Natürlich ist zum Fall Enke unendlich viel geplappert worden, und vieles davon war sicherlich überflüssig. Und natürlich ist Zensur etwas Böses.
Einigen wir uns doch darauf: es schadet nicht, bei Suiziden – wie auch sonst im Leben – journalistische Sorgfalt walten zu lassen. Und im Normalfall wird das ja auch so gehandhabt. Aber, mal abgesehen vom Ausufernden der Berichterstattung:
– es wurde nicht sehr viel spekuliert (ab Mittwoch)
– es wurde auf die Situation von z.B. Lokführern hingewiesen
– es wurde das Thema Depression vertieft
– es ging auch darum, was man als Außenstehender tun kann
– es ging um die oft brutalen Mechanismen im Profisport
Somit war nicht alles so schlecht wie hier zuweilen dargestellt. Und, bitte nicht vergessen: Enke war kein „no name“.
Warum hier, ausgehend vom Verfasser des Blogbeitrages, inständig ein solch heftiges Tremolo geraunt wird, kann ich nicht ganz verstehen. Mal abgesehen davon, dass ich immer etwas allergisch reagiere, wenn einer sich als moralischer Lehrmeister aufspielen möchte. Da steckt dann doch viel Ego in den Zeilen.
„Zapp“ hat am Sonntag bewußt nichts zum Thema Enke/Berichterstattung gemacht. Mit der sicherlich nicht ganz unlogischen Begründung, damit wäre man ja doch wieder ein Teil dessen, was man selbst kritisiert.
Puh. Erstmal danke für die kontroverse und weitgehend sachliche Diskussion.
1.) Vermutlich sollte ich noch ein paar Anmerkungen machen zum Thema Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Ich habe diesen Exkurs gemacht, um zu zeigen, dass nicht nur Sensationalismus und Quotengeilheit zu Berichten führen, die gegen die Empfehlungen zur Suizidprävention verstoßen, sondern auch das journalistische Selbstverständnis. Dass die Wahrheit ans Licht gehört, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Gesinnungsethik ist kein Synonym für Verantwortungslosigkeit und keine irgendwie schlechtere Ethik — es gibt gute Gründe dafür, sich beim Schreiben nicht von den möglichen Folgen beeinflussen zu lassen. Es gibt aber auch gute Gründe dafür, von diesen Prinzipien abzuweichen.
Ein dramatisches Beispiel für den Zusammenprall dieser beiden Prinzipien war der Streit um die Mohammed-Karikaturen: Die eine Position sagt, man muss aus Prinzip so etwas veröffentlichen dürfen, und deshalb veröffentlichen wir es auch (Gesinnungsethik). Die andere Position sagt, wenn die Folge der Veröffentlichung, Mord und Totschlag ist, sollte man es nicht veröffentlichen (Verantwortungsethik). Für beide Positionen gibt es gute Argumente.
Aber wichtig ist auch: Beide Kriterien zur Beurteilung des „richtigen“ Handelns schließen einander nicht aus. Ich kann als Journalist auf meine Prinzipien pochen — und trotzdem nach Abwägung der möglichen Folgen auf eine Veröffentlichung verzichten.
2.) An alle, die mir vorwerfen, Journalisten quasi zu Mördern gemacht zu haben. Die Logik meiner Argumentation ist doch relativ schlicht: Es gibt eine überwältigende Zahl von Hinweisen darauf, dass eine bestimmte Art der Berichterstattung über Suizide dazu führt, dass die Zahl der Suizide steigt. Wenn Journalisten trotzdem genau so berichten und flächendeckend entsprechende Empfehlungen zur Prävention ignorieren, nehmen sie eine mögliche Steigerung der Suizidrate zumindest in Kauf.
3.) Die Argumentation, dass die Medien sonst ja sehr vorbildlich mit dem Thema Selbstmord umgingen (vielleicht lese ich zu viel „Bild“, um das zu glauben, vgl. z.B. hier), es aber bei einem Fall wie Enke unausweichlich sei, gegen all die Empfehlungen zu verstoßen, führt ins Leere. Wie ich schon im Eintrag versucht habe zu erklären: Gerade die Suizide von so prominenten Menschen mit so massiver Berichterstattung sind diejenigen, die die meisten Nachahmer provozieren. Gerade in diesen Fällen wäre besondere Zurückhaltung geboten.
Und ich hätte diesen Eintrag vermutlich nicht geschrieben, jedenfalls nicht mit dieser Empörung, wenn die Medien nach meiner Wahrnehmung nicht wirklich jede Empfehlung massiv ignoriert hätten. Mag ja sein, dass man so einen Todesfall nicht nüchtern auf Seite 17 abhandeln kann (wobei: Warum eigentlich nicht? Was wäre so schlimm daran?). Aber man hätte, um nur ein Beispiel zu nennen, völlig problemlos darauf verzichten können, die exakten Umstände, wann, wie und wo er sich das Leben nahm, zu nennen. Dass die Polizei diese Details nannte, entlässt Medien wie die Nachrichtenagentur dpa nicht aus ihrer eigenen Verantwortung, finde ich.
oh, diese diskussion ist, obwohl ich die konsequenz eher zwiespältig sehe, interessanter als sie zu beginn vermuten lässt.
wie sieht es aus, wenn dieser werther-effekt zu einem allgemeinen konsens ? oder darüber hinaus, verpflichtende praktiken nach sich zieht ? wie lange dauert es, bis die ersten klagen gegen zeitungen und fernsehsender kommen, weil aufgrund ihrer (übertriebenen) berichterstattung neue selbstmorde ausgelöst wurden ?
der prozess gegen judas priest vor vielen jahren hatte da eine gewisse parallele.
es beruhigt mich, dass es auch kritische stimmen zu dem traurigen fall des herrn enke und den damit verbundenen trauerfeierlichkeiten gibt – ich dachte schon ich sei zu unsensibel ; danke für die ausführungen zu dem ‚werther‘-effekt, der hoffentlich nicht eintritt.
ps. pardon, aber ich muss es hier loswerden: ich habe mich sehr gefreut, dass sie für ihre wertvolle medienarbeit den hans bausch mediapreis 2009 am 18.11.09. erhalten – herzlichen glückwunsch!!!!
Mal etwas ganz anderes: Robert Enke ist seit dem seinem Tod einen Zentimeter gewachsen – so steht es jedenfalls in Wikipedia.
Seine Tochter Lara starb zwischenzeitlich schon 2005.
Ach ja, und Fußballer Niedersachsens war er wohl nur 2006 – jetzt ist es raus.
Es ist schon interessant, mit welchem Eifer sich Menschen an der Fortschreibung der „Geschichte“ beteiligen.
Okay, es muss ja alles korrekt sein.
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Robert_Enke&action=historysubmit&diff=66657028&oldid=66114260
Danke, Herr Niggemeier, übrigens für den Beitrag weit oben der Kommentare.
Zum Abschluss etwas Nachdenkliches: In Nienburg an der Weser, kurz vor Eilvese, starb am Wochenende wieder ein Mensch auf den Gleisen. Über einen Selbstmord wird nicht berichtet – und ich frage auch nicht nach. http://www.dieharke.de/content/artikel.php?a=10007
Ich lese:
„Zapp” hat am Sonntag bewußt nichts zum Thema Enke/Berichterstattung gemacht. Mit der sicherlich nicht ganz unlogischen Begründung, damit wäre man ja doch wieder ein Teil dessen, was man selbst kritisiert.
Ich finde:
Vorbildlich! Dennoch liebe ich Diskussionen wie hier, die den Fall einmal zum Anlass nehmen, wieder über stille Vereinbarungen zu schreiben. Und dazu gehört: Selbstmorde sind kein Stoff, dessen Aufmerksamkeit durch Berichterstattung gepuscht werden sollte.
Nächtle!
@ Detlef Borchers
Es geht eben um mehr als nur die Story. Haben Sie sich genug Zeit genommen und lange genug mit ihm geredet? Haben Sie SEINE Geschichte verstanden und hinreichend ergründet, warum er Ihnen überhaupt das Material gab? So hätten Sie die Chance gehabt, ihn in seinem Handeln zu verstehen und gegebenenfalls aufzuhalten.
In solchen Fällen tragen Sie die alleinige Verantwortung und das ist mit eines der großen Risikos im Journalismus. Eine nicht zurechnungsfähige Quelle kann Ihnen nämlich genauso gut Müll als Material unterschieben wollen – schon mal daran gedacht? Ebenso wie der wohl wichtigste Punkt: Man muss seine Quellen schützen und sei es mit dem eigenen Leben: Manchmal vor anderen – und manchmal eben vor sich selbst. Dieses Gut und Prinzip ist viel wichtiger als irgend eine Story, die man über eine anderen Weg oder eine andere Quelle ebenso gut sonst recherchieren kann. Die Wahrheit kannten Sie ja. Die Zeit muss man sich nehmen, für die Wahrhaftigkeit und für die Menschen. Das dauert zwar dann was länger, aber so definiere ich nun mal Qualitätsjournalismus.
@ Mumpakl, 62: Vom geplanten bis zum tatsächlich ausgeführten Suizid ist es ein relativ weiter Weg. Auch die von dir angesprochenen Lebenskrisen kann eine gefestigte Persönlichkeit gut wegstecken, bringt sich jemand daraufhin hin um, ist im Regelfall eine Umfangreiche Vorgeschichte vorhanden. Jemand, der sich nicht wirklich suizidieren will, lässt sich auch nicht durch penetrante und geschmacklose Berichterstattung über einen Sportler vom Gegenteil überzeugen.
@ Martin F., 63: Prinzipiell eine gute Idee. Im Normalfall macht das der Bestatter und lässt sich das auch gut bezahlen.
zapp hat das thema diskutiert und nicht ins programm genommen. als fernsehmagazin hätten sie die schlagzeilen und berichte, die sie anprangern wollen, in gänze und erneut versenden müssen. damit hätten sie sich gemein gemacht. verpixelungen hätten dort nicht weiter geholfen.
@71 – JO:
„…zeichnen sich nun einmal aus durch ihre besondere Verletzlichkeit, die das normale Maß überschreitet, da sie eine Hirnfunktionsstöhrung haben. […………………] …
Kriminalität hingegen ist KEINE Krankheit! …“ Welch groteske Gegenüberstellungen. Und was ist das normale Maß der Verletzlichkeit?
Und werter Herr Niemand (Nemo) @75, warum akzeptieren Sie ein solches Geschwurbel?
Gruß von Polyphem (Bedarfsethiker)
Stefan,
ich fang mal von hinten an: ihr Vorschlag, „die Medien“ hätten auf Einzelheiten („wann, wo, wie“) verzichten sollen, hätte meines Erachtens wenig gebracht. Dass Enke sich vor einen Zug geworfen hat, kreiste am besagten Dienstag schon lange durch Blogs, bevor „etablierte“ Medien dazu kamen. Dann wären die „Etablierten“ zwar raus aus der Sache, aber die Nachfolgetaten hätte es dennoch gegeben.
Dann die Sache mit der Ethik. Ihr Vergleich mit den Karikaturen hinkt. Denn wieso kann man nicht für einen Abdruck derer sein und das Ganze sogar verantwortungsethisch begründen? Auch hier gefällt mir ihr Schwarz-weiss-Denken gar nicht.
Vielleicht haben Sie mit all dem Recht, was Sie schreiben. Vielleicht auch nicht. Was mich stört, ist ihre Gewissheit und – zuweilen – auch Selbstgerechtigkeit, mit der Sie ihre Meinungen vertreten. Da ist offenbar kein Raum für Zweifel, für ein „ich bin mir nicht sicher“.
Und das ist, finde ich, vor diesem Hintergrund besonders bedauerlich. Denn zuletzt entspricht es ja auch nicht ihren eigenen Maßstäben.
@ Polyphem
Ja, Depressionen sind Störungen im Ablauf der Hirnfunktion und durch Psychopharmaka zu behandeln. Einen Normalwert gibt es bei biologischen oder medizinischen Phänomenen übrigens immer. Das ist die Gausche-Glockenkurve und sie ist normiert. Daran lässt sich auch der Grad einer Verletzlichkeit einer Person herleiten und diagnostizieren.
Gegenübergestellt habe ich die Krankheit Depression und Kriminalität übrigens als Antwort auf (#68) nemos Ausführungen über Bankraube, daher auch das „@ nemo“ zu Anfang.
@treets: Hä? Welches Schwarz-Weiß-Denken? Ich habe doch gerade gesagt, dass sich beides nicht ausschließt. (Wobei Sie mir das erklären müssen, wie man für den Abdruck der Karikaturen sein kann, weil es danach Tote gibt.)
Und es geht mir nicht um die Tatsache, dass sich Enke von einem Zug hat überrollen lassen (ich glaube, von Werfen kann keine Rede sein). Es geht mir um die genauen Details, wann und wo das war, was mit seinem Auto und seiner Brieftasche war — all das glaubte dpa verbreiten zu müssen.
Und wenn Blogs auch das schon verbreitet haben — warum muss ich dann die Wahrscheinlichkeit eventueller negativer Wirkungen dadurch vergrößern, dass ich die Reichweite solcher Angaben vergrößere?
Ich weiß nicht, an welcher Stelle ich besonders gewiss sein soll. Es geht um Wahrscheinlichkeiten — die Wahrscheinlichkeit, durch eine bestimmte Form der Berichterstattung die Suizidrate zu erhöhen. Ich habe mir viele von den Studien angesehen und halte den Zusammenhang zwischen Berichten und Suiziden für plausibel. Ich finde, dass da die Medien, die glauben, Tag für Tag gegen die Empfehlungen zur Suizidprävention verstoßen zu könnenn, in der Beweispflicht sind, warum all diese Studien und Empfehlungen falsch sind.
Sicher bin ich mir allerdings, dass die Art der exzessiven und vermutlich gefährlichen Berichterstattung nicht nötig gewesen wäre. Und da reden wir (darum ging es mir in diesem Eintrag) nicht nur über Geschmacksfragen, sondern Verantwortung.
@ Stefan
In bezug auf den Vorschlag mit Seite 17: Das würde bedeuten, dass ein Todesfall, über den, wäre ein Unfall, ein Verbrechen oder eine Krankheit die Ursache, nach allen Relevanzkriterien groß berichtet würde, aufgrund der Tötungsart zur Randnotiv degradiert würde. Und das hielte ich dann auch wieder für unangemessen, gerade weil es ja nun eine lange Geschichte der Marginalisierung von Selbstmördern gibt.
Ich glaube, dass die tatsächliche Berichterstattung durchaus eine Reihe positiver Facetten hatte. Aber vor allem denke ich – wie gesagt – dass die Gefahr, die von der Berichterstattung ausgehen kann, nicht der einzige Aspekt ist, der bei dieser Frage legitimerweise zu berücksichtigen ist.
Setzte man die abstrakte Lebensgefährdung als absoluten Ausschlussgrund, dann müsste man sich nicht nur gegen den Original-Werther, sondern noch gegen viele, viele andere Dinge wenden. Ich plädiere deshalb dafür, den Werther-Effekt unbedingt zu berücksichtigen, ihn aber eben nicht zum alleinigen Maßstab der Berichterstattung zu machen. Vor allem eben nicht in Fällen, in denen andere wichtige Güter relevant sind. Und so verhält es sich hier.
Welches wichtige Gut wird dadurch verteidigt, das man die Einzelheiten vom Bahnübergang, Auto, Abschiedsbrief, Entfernung zum Grab der Tochter etc. kennt? Hat doch alles überhaupt nix mit der Ursache zu tun, die war ja die Depression.
Und am Fall Deissler kann man ja auch sehen was passiert wenn man die andere mögliche Lösung wählt und sich der zu belastenen Situation entzieht, die Medien trampeln dann trotzdem noch auf einen rum UND DAS wollte Enke nicht riskieren!
Interessant, dass hier ausgerechnet die vielgescholtenen Blogs für die althergebrachten Medien die Rolle des sozialen Gewissens übernehmen müssen. Tatsächlich habe ich in den letzten Tagen viel zum Thema Werther-Effekt und Umgang mit dem Thema Suizid in den Medien gelernt. Aber ausschließelich online.
Vielen Dank für diesen interessanten Exkurs.
Danke Herr Niggemeier für diesen exzellenten Eintrag und Ihren Ausführungen in den Kommentaren.
Danke JO.
@106 polyphem: Sie wissen nichts, gar nichts, oder wollen Sie nichts über Depression wissen?
Als besonders abstrus in Hinblick auf Nachahmungstaten empfand ich die Süddeutsche Zeitung vom vergangenen Mittwoch:
Hier befassten sich der Aufmacher auf Seite 1 (ohne Foto) sowie die Seiten 2 und 3 mit Enkes Selbstmord. Auf Seite 2 widmete sich die Rubrik Aktuelles Lexikon dem Thema: Werther-Effekt.
Ob die Berichterstattung über den Werther-Effekt auch einen Werther-Effekt hat?!
[…] Moral als anständigster Journalist von allen brav hochhaltend. Und aktuell? Beschreibt Niggemeier in diesem Artikel den so genannten „Werther-Effekt“. Auf den Punkt gebracht besagt dieser Effekt, dass […]
[…] dazu hier http://www.stefan-niggemeier.de/blog/ueber-enke-und-werther/ KategorienAllgemeines Tags: Enke, Selbstmord, Stefan Niggemeier, Werther Kommentare (0) […]
[…] Thema Robert Enke hier nur eins: Der lesenswerte Beitrag von Stefan Niggemeier über die Verantwortung der Medien bei prominenten […]
Zwischen Hanau und Fulda gestern Morgen der nächste.
Ich kann die Argumentation von Stefan zu 100% nachvollziehen. Es ist genau dasselbe mit Amokläufern.
Die Suizidrate erhöt sich. Das ist Fakt. Und was soll heißen vorgezogen? Wenn ein Gefährdeter das liest und sich dann im kurzschluss dazu entschließt sich umzubringen ist das nicht vorgezogen da er sich im Laufe der Zeit es vielleicht noch anders überlegen könnte.
Ein Menschenleben ist unersetzlich. Da sollte sich der Profit ganz hinten anstellen. Aber da wären wir mal wieder beim Grundproblem von so vielem…
In Nordheim bei Heilbronn hat sich am 12.11. auch ein Mensch auf den Gleisen das Leben genommen. Bericht in der regionalen Tageszeitung darf natürlich nicht fehlen:
http://stimme.de/heilbronn/polizei/art1491,1689767
SN: „(Wobei Sie mir das erklären müssen, wie man für den Abdruck der Karikaturen sein kann, weil es danach Tote gibt.)“
Wo, bitte, hatte ich das geschrieben?
Grandioser Text!
Ich empfehle den hervorragenden Comic „Watchmen“ für die emotionale Beantwortung der Frage zum Konflikt „Gesinnungsethik vs. Verantwortungsethik“.
Abgesehen davon ist das mit der Wahrheit (auf die sich die Vertreter der Gesinnungsethischen Berichterstattung ja gerne beziehen) ja auch so ein Problem – Es gibt keine objektive Wahrheit, alles ist subjektiv gefilterte Wahrnehmung…und auch wenn wir an der Art des Filters nicht aktiv eingreifen können – die Verantwortung dafür müssen wir schon übernehmen. (Wer 37 Minuten Zeit hat, der Vortrag zum Thema „Wahrnehmung“ hier: http://www.youtube.com/watch?v=DDbBUuQ8hzE ist sehr sehenswert)
Bei uns im Ort hat sich gestern ein jugendlicher das Leben genommen. Wie Enke legte er sich auf die Gleise!
Das zum Thema!
Wie oft kommt sowas in einem kleinen Ort vor? Nie! Wie groß mag wohl der Zufall sein das es ausgerechnet jetzt, so kurz nach Enkes Suizid und der daraus resultierenden großen Medienparty, dazu kam???? Die Frage sollte sich jeder selbst beantworten…..
Es ist tatsächlich so, dass es seit langer Zeit eine stille Übereinkunft unter den deutschen Medien gibt, nicht über Selbsttötungen zu schreiben. Meist wird das befolgt. Im Fall Enke war das aber unvermeidlich, und es gab ein berechtigtes Interesse daran – das zeigt die ungewöhnlich intensive, kollektive Trauer.
Dazu gab es gestern in der FAZ einen exzellenten Kommentar, in dem auf den Zusammenhang von rituellem Totengedenken und Zivilisation hingewiesen wurde: Es gibt ein Bedürfnis der Öffentlichkeit, teilzuhaben und Trauer zu zeigen. Ich glaube nicht, dass die Medien dies hervorrufen oder unterdrücken könnten. Und ich glaube nicht, dass der „Werther-Effekt“ im vorliegenden Fall mehr Schatten wirft, als die doch meist sehr abgewogene Aufklärung über die Themen Depression und (humanitäre) Lage im Profifußball an Licht ins Dunkel gebracht haben.
Verantwortungs- oder Gesinnungsethik? Diese Frage ist hier nicht nach einem simplen Schwarz-Weiß-Schema zu beantworten. Dennoch ist es richtig, sie zu stellen.
Wahrscheinlich gäbe es auch viel weniger Penner, wenn wir sie komplett aus dem Blickfeld der Innenstädte verbannten. Und wenn man dann noch Berichte über andere Aussteiger unterbände, dann funktionierte unsere Gesellschaft bestimmt reibungsloser.
Was kommt danach? Sender wie Kabel1 für ihre Auswandershows rügen, weil durch diese Beispielabgeberei dem deutschen Staate ein gesamtwirtschaftlicher Schaden entsteht? (Stimmt wahrscheinlich noch nicht einmal, sind ja nur die Loser, die ihr Glück in der Fremde suchen…)
Die Non-sequitur-Medaille 2009 geht an drikkes (126).
Berechtigtes Intresse an intensiver kollektiver Trauer? Waren am Sonntag also die 40.000 engsten Freunde anwesend?
Spätestens seit dem 11. September ist es in Mode, sich sofort persönlich betroffen zu fühlen, wenn irgendwo auf der Welt etwas Schlimmes passiert, frei nach dem Motto „Person XYZ hab ich mal im Stadion / Fernsehen / Aldi / Herrenklo gesehen, also sind wir beste Freunde“. Das empfinde ich als anmaßend, weil man damit in den meisten Fällen eine Verbundenheit suggeriert, die zu Lebzeiten nie bestanden hat.
off topic
gerade läuft „Berlin – Zeitschriftentage 2009 – Neue Zeiten, neue Wege“ auf Phoenix. Hubert Burda jetzt live über Onlinedienste.
Patrick Neser
(former Haarspalter)
[…] Langer, aber unbedingt lesenswerter Text von Stefan Niggemeier über die Berichterstattung über den Suizid Robert Enkes und die potentiellen Folgen. […]
Ich war fast davon überzeugt, ich bin die Einzige, die diese Art von Berichterstattung mehr als befremdlich findet…gemessen an den Suiziden Nicht-Prominenter, suizidgefährdeten Kindern und Jugendlichen, ist dieser Hype wie ein Schlag ins Gesicht. Danke für diesen Artikel.
Der Fall Enke ist nicht typisch für Suizide und die Berichterstattung darüber.
Erstens weil es hier um eine Person ging, die sehr in der Öffentlichkeit stand. Da wäre die Berichterstattung in jedem Fall größer gewesen als als bei anderen Suiziden.
Und zweitens, weil die Witwe selbst am auf den Suizid folgenden Tag an die Öffentlichkeit gegangen ist, und die Hintergründe erläutert hat. So ein Verhalten konnten die Medien nur als Carte Blanche verstehen, und wie ich finde, durchaus nicht zu Unrecht.
Natürlich entschuldigt bzw. rechtfertigt das nicht jede Form der Berichterstattung ( Die Sache mit dem Video vom Unfallort war meiner Ansicht nach unverzeihlich ), aber wenn das Umfeld desjenigen, der sich umgebracht hat, den Suizid und seine Hintergründe in so einer Weise an die Öffentlichkeit bringt, wie es in diesem Fall geschehen ist, muss sich nun wirklich keiner wundern, wenn die Medien darauf anspringen.
Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland viele tausend Menschen das Leben. Wenn ich Wikipedia trauen kann, waren es 2007 über 9.000, also fast 30 pro Tag. Die Berichterstattung in den meisten Fällen ist minimal, wenn überhaupt berichtet wird.
Von der Ausnahmesituation Robert Enke auf den Rest zu schliessen, finde ich daher etwas übertrieben.
Stefans Hinweise sind berechtigt, schiessen aber in diesem Fall etwas übers Ziel hinaus.
Nach der Lektüre des Blogs und sämtlicher Kommentare bin ich immer noch zweigeteilt, was meine Meinung betrifft. Depressionen und Suizid sind ein sensibles Thema und es erscheint mir unter Berücksichtigung des genannten Werther-Effekts vollkommen richtig, über Suizide nicht zu berichten, um die Möglichkeit von Imitationen zu verringern.
1) Mir stellte sich dennoch die Frage, ob nicht auch die Möglichkeit besteht, dass depressive Menschen durch die Erfahrung eines Suizids vor selbigem „bewahrt werden“? Ich habe sicherlich keinen stichhaltigen Beweis für diese These, aber habe es in meiner eigenen Erfahrung erlebt, dass gerade Menschen, die sich nicht in Depressionen, sondern in „Graubereichen“ des Lebens befanden, vor einem Suizid zurückschreckten, nachdem sie mit dem Suizid einer anderen Person konfrontiert wurden.
2) Ich stimme mit denen grundsätzlich überein, die sich mehr Zurückhaltung der Medien wünschen, z.B. hat die Geldbörse auf dem Autositz, die Zugnummer etc. nichts in einem Artikel zu suchen, allein aus Respekt gegenüber dem Suizidenten.
3) Dennoch hat erst die Berichterstattung von Suiziden, ebenso wie der Roman „Die Leiden des jungen Werther“ zu einer Enttabuisierung vom Suizid geführt, der wir es zu „verdanken“ haben, dass wir Suizide heute nicht nur als Todsünde oder als Mittel der letzten Freiheit (der Philosphenselbstmord Senecas oder der Suzid des Ehepaars Zweig) verstehen und sehen. Es bleibt also die Frage, in wie weit diese Berichterstattung gerade im Zusammenhang mit der Krankheit Depression (wie bei Enke) nicht zu einer wünschenswerten Enttabuisierung führt.
4) Die vielen Reaktionen und Emotionen nach dem Suizid von Enke haben die Zerrissenheit und Scheinheiligkeit aufgezeigt, die immer auftritt, wenn Amokläufer oder prominente Suizidenten ins mediale Kegellicht „treten“: Alle beschwören die gesellschaftlichen Mängel, die meisten erkennen darin auch – man fragt sich dann doch, woher manche Menschen ihre Indizien nehmen, nachdem sie scheinbar jahrzehntelang in die andere Richtung gelaufen sind – die Gründe für die Erscheinungen selbst, kurzum: Jeder spricht davon, sich und die Gesellschaft ändern zu müssen, auf den nächsten mehr achten zu müssen, Leitartikler jeder Zeitung, Blogger, Lehrer, Schüler, Politiker, alle reden vom gesellschaftlichen Wandel, vom „Aufeinanderzugehen“, dass sich etwas ändern müsse, dass (wie Ministerpräsident Wulff meinte) „die Welt nicht im Lot“ sei…einen siderischen Monat später hat es dann jeder vergessen…aber in gewisser Hinsicht ist auch darin ein zarter Keim von Aufklärung zu sehen und ein Wille zur Besserung ist besser als Ignoranz.
5) Ein letztes noch zu Teresa Enke. Das Leid dieser Frau vom grünen Tisch aus abzukanzeln und Enke im Nachhinein Angst vorden Medien vorzuwerfen ist nicht nur unsensibel, sondern auch dumm. Der Schritt von Teresa Enke hat bestimmt auch unter vielen Bloggern und Kommentatoren ein zweigeteiltes Echo hervorgerufen. Es lässt sich auch für mich nicht genau sagen, ob es gut oder schlecht war, diesen Schritt zu wagen. Wir reden hier von Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie keinen anderen Weg sehen, als das eigene Leben (und Leid) zu beenden. Das wir uns in einer Grauzone befinden scheinen manche Kommentatoren vergessen zu haben. Hier lässt sich vieles durch Statistik und Wissenschaft erklären, aber nicht alles.
Dennoch war es so wohl besser, als es auf Kerners Sofa auszuplaudern und hat nicht nur ihr, sondern auch vielen Fans geholfen, diesen sinnlosen Tod zu verstehen…hat am Ende also diese Äusserung Leben gerettet? Kann man es wissen?
Mein persönliches Fazit ist (ich bin für Gegenüberstellungen dankbar!), dass der Umgang mit dem Suizid von Robert Enke überzogen war und teilweise eine reine Geldmacherei, dass aber die Berichterstattung in manchen Punkten nicht nur vom „Werther-Effekt“ her beurteilt werden darf. Verantwortungsethik ist wie Ethik im Allgemeinen Ganzheitlich zu betrachten. Da es keine Studien gibt über diejenigen, die sich nicht suizidieren, es keine Studien gibt, wie viele Depressive jetzt wohl den Gang zur Klinik wagen, bewegt man sich hier, wie bereits erwähnt, in einer Grau- und Grenzzone.
@ 128: Seltsame Einstellung, das. Muss man ein „enger Freund“ sein, um trauern zu dürfen? Verbietet sich das für alle anderen? Die 40.000 im Stadion, von „Bild“, „Stern“, N24 und RTL dorthin getrieben wie dumpf wiederkäuendes Vieh? Nein, nein und wieder: Nein. Das war echt. Wenn Sie es nicht gefühlt haben, muss es doch nicht falsch sein.
eine frage zur Gesinnungsethik nach Weber:
Seit wann sind Journalisten daran interessiert, WAHRE Dinge zu berichten? und seit wann berichten die wirklich über WAHRE Dinge?
[…] (kommentiert bei stefan-niggemeier.de/) […]
„Der amerikanische Soziologe David Philipps wies vor 35 Jahren nach, dass immer, wenn die „New York Times” prominent über einen Selbstmord berichtet hatte, die Zahl der Selbstmorde signifikant anstieg.“
Bereits das klassische 1974er Paper von diesem Sozialpsychologen stützte sich übrigens auf weitaus mehr als nur die NY Times.
http://www.jstor.org/pss/2094294
Hallo Herr Niggemeier,
vielen Dank!
Statistiken aus den angesprochenen Studien oder Quellen würden noch interessant/hilfreich zur Belegung Ihrer Thesen sein.
Ich finde es sehr gut, dass Sie die kritische Stimme in dieser ausufernden und sehr geschmacklosen/unaufrichtigen Berichterstattung übernommen haben.
Die Medien scheinen sich leider schon vor langer Zeit verloren zu haben. Vor allem die Qualitätszeitungen und Zeitschriften. Allen voran der Spiegel.
Grüße aus Berlin. nb
@ Suse: Wahrheit ist ohnehin ein Totschlagargument.
Aber mit dieser hingeworfenen Bemerkung befinde ich mich potenziell schon mitten in einer hochphilosophischen und erkenntnistheoretischen Debatte unter besonderer Berücksichtigung a) der gebotenen Neutralität und b) der nie in Reinform erreichbaren, aber oft behaupteten Objektivität des Journalisten. Deshalb ziehe ich Satz 1 dieses Kommentars hiermit lieber wieder zurück :-).
Tatsächlich kann es um Wahrheit und Wahrhaftigkeit nur auf dem jeweils aktuell erreichbaren Erkenntnisstand gehen. Umso mehr verstört es mich übrigens, wenn Journalisten die Recherche vernachlässigen. Es geht zudem auch immer um Relevanz vor einem eher nebulösen, recht ungeordneten Interessen- und Kriterienhorizont, was viel zu wenig reflektiert wird. Mehr dazu eventuell ein anderes Mal: Das sind echte Hammer-Themen für eine Vielzahl Kommentare auf weitere Blogbeiträge, auf die ich mich schon freue.
—Zitat:—
Selbstmord ist ansteckend. Berichterstattung über Suizide erhöht die Zahl der Suizide. Das ist der sogenannte „Werther”-Effekt, benannt nach Goethes Roman. Nachdem er erschienen war, soll sich eine Reihe von Lesern in ähnlicher Form das Leben genommen haben wie die liebeskranke Titelfigur.
—Zitatende—
Interessanterweise konnten Literaturwissenschaftler und Literaturhistoriker inzwischen nachweisen, dass nach der Veröffentlichung von Goethes Briefroman die angebliche Zahl von Nachahmungssuiziden nicht existent war. Das Zitieren von Zitaten führte dazu dass über tatsächlich nur zwei Fälle derart oft berichtet wurde, so dass es erschien, als hätte es eine Welle von Selbstmorden im Stil des Romanhelden gegeben.
Damit will ich aktuellen Studien ihre Ergebnisse nicht in Abrede stellen. Ich wollte nur darauf hindeuten, dass auch derartige Angaben immer einer kritischen Überprüfung bedürfen. Noch heute finden sich in Werken zur Literaturgeschichte eben jene längst widerlegten Aussagen. Aber Mythen leben nun mal länger, wie sich an den von Herrn Niggemeier angegebenen Quellen zeigt.
Da ich die weiteren, zitierten Studien nicht kenne, enthalte ich mich eines Urteils über deren Aussagekraft und mögliche Verwechslungen von Kausalität und Korrelation.
Mit freundlichem Gruß
@JO, @Patrick.
Ja, ich weiß wenig über Depression und möchte gern mehr wissen. Ich möchte z.B. wissen, ob es bei Naturvölkern oder bei Menschengruppen, wo es keinen Stress gibt (wenn es das gibt), ob es dort Depressionen und daraus folgende Suizide gibt.
Und eine kleine Anmerkung und noch eine Frage: Hellhörigkeit. bzw. extreme Geräuschempfindlichkeit kann man mit Oropax lindern. Wie wirken die Psychopharmaka, die gegen Depression eingesetzt werden? Mindern sie (durch Unterdrückung wie Oropax) die seelische Hellhörigkeit oder führen sie Stoffe zu, die dem Depressiven in seinem Hirnstoffwechsel fehlen und somit zu „Funktionsstörungen“ führen? Ich halte den Unterschied der Wirkungsweisen (Unterdrückung, Sedierung oder ersatzweise Zuführung fehlender Stoffe) für sehr bedeutend für die Diskussion. Ich weiß, dass z.B. bei Parkinsonkranken bestimmte Botenstoffe fehlen, die ersatzweise per Medikament zugeführt werden können.
@SvenR – 118: Schon vor Enke wurden täglich auf deutschen Gleisen durchschnittlich drei Suizide begangen; aber es wurde nicht darüber berichtet.
kann es nicht sein, dass das Problem ein ganz anderes ist? Dass die Tabuisierung des Themas Depression dazu beigetragen hat, dass kaum jemand Krankheit als Krankheit erkennt? Vielleicht ist es ja die Verdrängung des Themas aus den Medien, die dazu geführt hat, dass so viele Depressive ihre Krankheit nur als persönliche Schwäche ansehen können und daran zerbrechen. Vielleicht betrachten durch diese Verdrängung so viele einen Selbstmord immer noch automatisch als freie Willensentscheidung und nicht als das, was es ist: das Handeln eines Menschen, dessen Geist krankheitsbedingt nicht in der Lage ist, einen rettenden Gedanken zu finden, der ihn von der Selbsttötung abhalten könnte.
Ich finde die Studien zum Werther-Effekt absolut nachvollziehbar. Aber hat schon einmal jemand gefragt, wieviele Selbstmorde es täglich gibt, weil ein Depressiver nicht die richtige Hilfe bekommt, weil die Krankheit Depression völlig falsch wahrgenommen wird?Meine Hoffnung ist groß, dass die Berichterstattung über den Fall Enke dabei viel Aufklärungsarbeit geleistet hat.
Die Empfehlung, auf die Berichterstattung über Suizide zu verzichten, um den Werther-Effekt weitgehend auszuschließen, bezieht sich doch letztlich nur auf solche Suizide, wo das realistisch möglich ist – nämlich bei Suiziden durch unbekannte Menschen.
Für prominente Menschen zeichnet der Artikel von Ziegler/Hegerl ja durchaus ein differenzierteres Bild. Hier können der Tod ansich und dessen Umstände ja gar nicht geheim gehalten werden. Interessant sind hierzu insbesondere die Ausführungen zur Berichterstattung über Kurt Cobains Suizid. Hier wurde es ausdrücklich als positiv bewertet, daß über die Ursache, nämlich die unbehandelte Depression berichtet wurde.
Natürlich sind die Boulevard-Medien mal wieder an der Aufgabe gescheitert. Die Berichterstattung in den seriöseren Zeitungen fand ich aber durchaus angemessen. Insbesonderen fand ich, daß SZ und FAZ das Thema vernünftig aufgearbeitet haben. Aber auch die Berichterstattung im Hamburger Abendblatt fand ich durchaus gelungen. Eigentlich habe ich nirgends einen Bericht gerfunden, der die Tat ansich heroisiert. Einige konnten sich die Romantisierung, daß Enke ja nun bei seiner Tochtzer Lara sei, nicht verkneifen (vorwiegend aber wieder der Boulevard).
Alles in allem finde ich es daher falsch, alle Medien über einen Kamm zu scheren.
@polyphem #118: Das wären ca. 1.100 im Jahr bei ca. 11.000 Suiziden insgesamt! Haben Sie für diese Zahl eine Quelle?
@ Sven (140): Wir können den Effekt ja Kerner-Effekt nennen und es ändert sich nichts an den Ergebnissen. Oder möchten Sie die Existenz der sog. Jesusechse (sie kann so schnell laufen, dass sie auch
in Milch schwimmtüber die Wasseroberfläche läuft) leugnen, wenn sie nicht daran glauben, dass Jesus über den See Genezareth gelaufen ist?Nochmal: Das hat keine Auswirkung auf die Ergebnisse. Und warum sollte man die Bezeichnung kritisch beleuchten, wenn jeder versteht, was gemeint ist?
(Vielleicht könnten sich zukünftige Journalisten, die hier kommentieren, andere Namen ausdenken als „journalist“ – es sind nämlich in diesem Strang jetzt schon 2 verschiedene Leute, die sich so nennen. Warum diese Leute nicht einfach ihren Namen angeben, verstehe ich eh nicht, aber ein bisschen Originalität zur Unterscheidbarkeit wäre hilfreich. Danke.)
[…] Den sehr lesens- und empfehlenswerten Beitrag zu dem Thema findet man im Blog von Stefan-niggemeier.de. […]
@ 146: Der von 11:55 war ich nicht. Ich bin der andere.
Die Kritik an der Pressekonferenz von Teresa Enke in einigen Kommentaren befremdet. Frau Enke hat mit dieser PK erreicht, daß den Spekulationen über Motive im Keim ein Ende gesetzt wurde. Zudem hat sie erreicht, daß in praktisch jedem Medium (auch im Boulevard) neben der Bereichterstattung über den Suizid auch in breitem Umfang über Depressionen berichtet wurde. Und am wichtigsten: Der Tod von Enke war von Beginn an mit dem großen Leid seiner Frau verbunden.
Wenn man Ziegler/Hegerl aufmerksam liest, könnte man eher folgern, daß diese PK geradezu vorbildlich war, um den Werther-Effekt zu minimieren. Oder mit Niggemeiers Pathos: Frau Enke hat zwahlreiche Menschenleben gerettet. Ich würde da freilich noch ein zaghaftes „vermutlich“ hinzusetzen…
@ polyphem
Mit Informationen über den Sachverhalt bei Naturvölkern kann ich ihnen nicht dienen.
Nehmen Sie als Einstieg die Artikel der Wikipedia über Depression
http://de.wikipedia.org/wiki/Depression
Über die Wirkweise eines Medikaments als Beispiel Mirtazapin
http://de.wikipedia.org/wiki/Mirtazapin
Das Ganze weniger „wissentschaftlich“ jedoch mit Erfahrungsberichten und Hilfegesuchen Kranker und Betroffener
http://www.adhs-anderswelt.de/index.php?action=forum
Hier ist eine Registrierung erforderlich.
Gruß
@148: Lustigster Kommentar ever!
Stefan, ich bin überhaupt nicht Deiner Meinung.
Wenn’s nach Dir ginge könnte man ja gar nichts mehr schreiben, weil ja quasi immer irgendwem irgendwie geschadet wird. Dass es so viele Leute gibt, die sich durch die Berichterstattung in den Selbstmord stürzen, liegt nicht an der Berichterstattung. Die waren schon vorher da. Man sollte die Ursachen bekämpfen, nicht die Symptome.
Das hier erinnert mich irgendwie an die Diskussion bei der Bankenkrise, als einige Journalisten sich fragten, ob sie über Fast-Pleiten von Banken überhaupt berichten sollten. Damit führen sie nämlich die Pleite zur Vollendung, da Kunden dann plötzlich ihr komplettes Kapital von dieser Bank abziehen. Auch das ist nicht Schuld des Journalisten, sondern der Bank oder des Systems.
Aufklärung hilft.
Im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Anschauungen kann man nur zustimmen, dass die penetrante Berichterstattung über Selbstmörder ein Ende finden sollte.
Persönlich aber bin ich stark der Ansicht, dass all die Selbstmorde groß beleuchtet werden sollten. In einer Großzahl von Suiziden wird vom „Opfer“ die Gesellschaft als Grund genannt. Auch bei Amokläufen im Übrigen. Anstatt also das Argument der Nachahmung als Strohmannargument vor sich herzuhalten, sollte man sich doch vielleicht einmal damit befassen, dass mit unserer Gesellschaft etwas nicht stimmt. Gefühlskälte, Leistungsdruck, etc. sind nur einige Schlagworte…
Lieber Herr Niggemeier, dies ist bereits Ihr x-ter Artikel zum Thema Robert Enke im Blog, es sind sechs oder sieben, zum Nachzählen habe ich keine Lust, aber Sie bemerken die Doppelmoral wahrscheinlich selbst.
@Patrick: Danke. Es interessiert mich wirklich. Ich werde mal die Wikipedia-Einträge versuchen zu verstehen.
@SvenR. Ja, bahninside. „Störungen im Zugverkehr“ sind nicht selten durch diese verschwiegenen Ereignisse ausgelöst. Und was ich zu dem Thema von Betroffenen außerdem erfahren habe, gehört zu dem, was „Verantwortungsethiker“ nicht öffentlich schildern.
Herr Niggemeier, vielen Dank für diesen Beitrag. Er trägt vielleicht dazu bei, die Diskussion dorthin etwas zu öffnen, wo wir alle bislang im Dunkeln tappen – und wir sollten uns auch trauen, dies zuzugeben.
Welche Verantwortung für und welchen Einfluss auf Selbsttötung von Mitmenschen haben wir in unserem gesellschaftlichen Zusammenleben? Und: Wie stark berührt uns das *wirklich* im Sinne eines Denkanstosses und inwieweit werden (heimliche?) Wertvorstellungen befriedigt oder geraten aus den Fugen? Auch bei Enke profitieren viele Medien, und damit Menschen wirtschaftlich, wieder von dem Diana- oder Jackson-Effekt, auch wenn in letztgenannten Fällen kein Suizid die Todesursache war: Ein Vorbild, also eine Identifikationsfigur für viele Menschen, stirbt. Wieso? Was bedeutet das für den Fan, die Verehrerin und seinen/ihren Lebenswandel, seine/ihre Rolle in der Gesellschaft?
Bei den vielen BILD-typischen sensationslüsternen Behandlungen von Enkes Tod handelt sich ohne Frage um eine leider nur zu gut bekannte Form der unmittelbaren emotionalen Ansprache auf der Ebene einfacher und häufig von den gleichen medialen Organen geschürter Denkmuster. Wer war Enke privat, wie tickt seine Frau, was ist eigentlich wo exakt passiert, wie und wo genau bringt man sich denn um? Das unterscheidet sich nicht grossartig von der zunehmenden internationalen Geilheit auf Privatsphären-Berichterstattung bei diversen anderen Prominenten.
Fast immer geht es dabei aber um Folgendes: Wie gehen wir – oder vielmehr: wie gehe ich ganz persönlich – mit der Erkenntnis um, wenn sich ureigene Ängste in bestimmten Ereignissen spiegeln? Bin ich auch depressiv, tablettensüchtig, alkoholkrank, getrieben, instabil, verkannt, überfordert…? Darf ich mir diese Fragen überhaupt stellen in einer scheinbar wohlhabenden und hoch entwickelten Gesellschaft? Bin ich krank, depressiv, bin ich geeignet für diese Gesellschaft? Ist depressiv „krank“, was bedeutet „krank“? Charakterisierend für die Sensationsgeilheit ist dabei, dass wir bei den sogenannten starken Gliedern der Gesellschaft, also den einflussreichen und erfolgreichen Menschen, nach vermeintlichen Fehlern oder nach Störungen schauen. Wir schauen besonders gerne bei jenen Menschen hin, deren Status, Erfolg und Aussehen uns täglich als erstrebenswert aufgetischt wird. Dieses Verhalten ist umso nachvollziehbarer bei Teilen der Gesellschaft, die selbst am Existenzminimum kratzen und eine große und gern ignorierte aber bedeutende Gesellschaftsschicht einnehmen.
Ich denke daher, ein jeder kann und sollte versuchen zu differenzieren was die Bewertung der medialen Behandlung im Fall Enke angeht. Wenn dieser prominente Fall (und auch der bisweilen irritierende Mut von Enkes Witwe) dazu beiträgt, dass wir eine neue, offene und vorbehaltlose Diskussion über Depressionen im Speziellen und Wertvorstellungen unserer Gesellschaft im Allgemeinen eröffnen, dann darf das nicht „Tabu“ sein, sondern könnte Die Chance eines Gesundungsprozesses, einer Kurskorrektur, bergen.
Und ja: Dies muss gut moderiert werden, auch und insbesondere von den öffentlichen Medien. In der Presse, im TV, im Netz.
Darüber hinaus sollten wir uns alle trauen, im Alltag nicht wegzuschauen sondern Hilfe anzubieten, wie und soweit es uns möglich ist. Statt die Probleme im eigenen Umfeld durch das Abliefern von „mehr Leistung“ zu kompensieren, sollten Ruhepausen gegönnt und als wichtig wahrgenommen werden. Für jeden, den Fabrikarbeiter und die Leistungssportlerin.
Und zu guter Letzt: All diese vielleicht idealistisch anmutenden Vorstellungen sehe ich nicht im Widerspruch zu einer evolutionär durch Fortschritt und Verbesserung getriebenen Gesellschaft. Ich sehe sie *als Teil* eines möglichen evolutionären Entwicklungsschritt. Und der Fortschritt besteht nicht zuletzt darin, dass wir den kritischen Blick in die eigene Geschichte wagen und uns fragen, welche Zeiten welche Probleme und welche Art von fatalen „Lösungen“ hervorgebracht haben.
@134
Wenn man Gast bei einer Trauerfeier ist, erwarte ich schon ein persönliches Verhältnis. Ansonsten bewegt sich das irgendwo zwischen Wichtigtuerei und Gaffertum. Diese Form der Trauerfeier ist auch das einzige, was mich an Teresa Enkes Rolle in dieser Angelegenheit wundert. Dass sie solch einen Zirkus mitmacht, kann ich mir eigentlich nur mit der Schocksituation erklären.
Das Aufklärungsargument in Sachen Depressionen kann ich so aber auch nicht gelten lassen. Gerade prominente Suizide, die im Nachhinein mit Depressionen begründet werden, gibt es doch immer mal, da braucht man sich nur mal die wikipedia-Liste zu diesem Thema vorzunehmen. Wer Depressionen bisher nicht als Krankheit wahrgenommen hat, aber genau JETZT seine Meinung ändert, war die letzten (mindestens) 20 Jahre entweder in einer dunklen Kammer eingesperrt oder lag im Koma. Im Gegenteil, gerade in ihrer Betroffenheit brachte doch jeder sofort Verständnis für Enkes Schritt auf: „Ja, wenn man Depressionen hat, kann so was schon passieren.“ Wer meint, an dieser Stelle noch weiter aufklären zu müssen, hat eher ein Feigenblatt für die eigene Berichterstattung in der Hand als ein Argument.
Und ob nun Hemmschwellen fallen, über die eigene Depression zu sprechen, halte ich auch für spekulativ. Nicht jeder, der depressiv ist, denkt sofort an Selbstmord. Und wenn ich mich selbst in dieser Hinsicht offenbaren wollte, wäre das letzte, was ich hören wollte, ein Robert Enke als mahnendes Beispiel („du, das war bei dem doch auch so…“).
Konkret würde ich mir in einem vergleichbaren Fall wirklich wünschen, dass man irgendwo an einer unscheinbaren Stelle das Thema in 3 Sätzen abhandelt. Dazu maximal noch ein oder zwei Sätze, warum man das im Gegensatz zu allen anderen Medien so macht. Eine solche Entscheidung erfordert natürlich Mut, weil man kurzfristig vermutlich mit einem Proteststurm und Auflageeinbrüchen rechnen darf. Am ehesten leisten können sich das große, renommierte Blätter. Insofern erwarte ich gerade hier eine Vorreiterfunktion.
no comment.
http://www.stern.de/kultur/tv/tod-von-robert-enke-wenn-die-medien-trauer-tragen-1522262.html
[…] ich nicht erwartet hätte, ist der meiner Meinung nach falsche Einwand, den Stefan Niggemeier in seinem Beitrag erhoben hat: Nach Berichten über prominente Selbstmorde steigt erwiesenermaßen die […]
@ 157: Journalisten sollen ethisch handeln, aber die Bewertung, welche Trauer ehrlich sei und welche nicht, die mögen sie doch bitte den Gedankenlesern und Moralrichtern überlassen, die in ihren Reihen im Grunde nichts verloren haben.
@polyphem #155: Hm, dass ist keine belastbare Quelle, dass sind Gerüchte. Ich habe auch zwei Freunde bei der Bahn (den einen im Stellwerk am Hauptbahnhof in Frankfurt, die andere im Personalwesen) und die sagen beide was vollkommen anderes (als der andere und als Sie). ich will damit nicht sagen, dass das was Sie schreiben falsch ist. Ich hätte es gern konkreter.
Was meinen Sie mit „Betroffenen“?
Sehr geehrter Herr Niggemeier,
Ihre Forderungen öffnen natürlich der (Selbst-)Zensur Tür und Tor. Werden nun bald die Biographen von Sylvia Plath, Georg Trakl, Yukio Mishima und Kurt Cobain moralisch verdammt? Dürfen wir noch erfahren, was mit David Foster Wallace geschah?
„Interessante“ Zeiten brechen da an, wo über das tragische Schicksal von Menschen nicht mehr berichtet werden soll. Mit der Berichterstattung über den Selbstmord verschwindet dann natürlich auch das Bewußtsein dafür, daß es gesellschaftliche Mißstände gibt, die Menschen in den Tod treiben können.
Den Themenkomplex totzuschweigen mag vielleicht kurzfristig dämpfende Wirkung auf die Selbstmordstatistik zeitigen, auf lange Frist gerechnet, glaube ich, daß es höchst notwendig ist, die Bevölkerung darüber zu informieren, daß manche Menschen in unserer Gesellschaft ihr Leben als unerträglich und nicht lebenswert empfinden. Nur so läßt sich an den tieferen Ursachen der Depression und des Selbstmordes etwas ändern, was auf Dauer dann vielleicht wirklich Leben rettet. Ihre Vorschläge führen bloß dazu, daß unerträgliche Lebensbedingungen im Verborgenen um so Üppiger gedeihen.
@Alberto Green (145):
Es ging mir um die Richtigkeit der dargestellten Informationen. Und die Zitierbarkeit der Quellen. Vielleicht bin ich aufgrund meiner Sozialisation auch so geprägt, aber Fehler (oder zumindest fehlende Beleuchtung eines Sachverhaltes von allen Seiten) machen einen Beitrag nicht besser.
Immer heißt es Recherche sei die erste Pflicht eines Journalisten. Neutralität in seinen Aussagen folgt meist an zweiter Stelle. Einzig darum ging es mir.
Außerdem finde ich die impliziten Folgen dieser Diskussion interessant. Was würde es denn bedeuten, wenn Journalisten aus eben jenen Gründen nicht mehr über Suizide schreiben würden (oder gar dürften)?
Selbstzensur der Presse, wenn nicht gar Fremdzensur wäre dann doch oberste Journalistenpflicht. Und nein, dem kann und will ich mich nicht anschließen.
Denn folglich dürfte beispielsweise nicht mehr über Fehler der Politik geschrieben werden, würde damit doch die Politikverdrossenheit gefördert – dadurch dann die Wahlbeteiligung sinken, wodurch der Journalismus das demokratische Fundament unserer Gesellschaft aushöhlen würde.
Ethik ist immer das, was man daraus macht. Und unbestritten gibt es einige (oder sehr viele) schwarze Schafe. „Only bad news are good news…“ Scheinbar so zynisch wie wahr im tagtäglichen Geschäft. Und trotzdem muss ein Journalist/Redakteur/Chefredakteur nicht alles mitmachen. Was jedoch immer eine Einzelfallabwägung bleibt (orientiert beispielsweise am Pressekodex).
Ein Journalist, der sich jedoch von Anfang an dem Diktat einer vermeintlichen Gutmenschen-Zensur unterwirft, wird seiner Aufgabe auch nicht gerecht werden.
Widerspreche ich mir? Möglicherweise. Ziel der Aussage: Immer wieder, jedes mal aufs Neue die ethischen Selbstansprüche mit dem täglichen Handeln als Journalist vergleichen. Selbstkritisch die eigne Arbeit beleuchten – damit wäre dem Berufsstand und seinen Veröffentlichungen sehr geholfen.
Mehr als eine handvoll Beiträge eines Herrn Niggemeier (den ich witziger Weise meist zu schätzen weiß) zum Fall Enke konterkarieren jedoch obiges Erheben des moralischen Zeigefingers. Zumal auch nur der geringste Hinweis auf Selbstkritik fehlt. Ein blinder Fleck? Ich weiß es nicht.)
@160: In einem Interview mit Radio Hamburg sagte der Vorsitzende einer Lokführergewerkschaft (weiß nicht mehr welche), daß sich täglich oder wöchentlich (weiß ich auch nicht mehr) 5 Personen auf den Gleisen das Leben nehmen. Ich gebe zu, das war jetzt etwas ungenau.
Genau habe ich aber eine andere Zahl behalten: Statistisch wird jeder Lokführer in Deutschland während seiner Laufbahn 2x(!) einen Selbstmörder mit dem Zug überfahren. Die Zahl kommt mir absurd hoch vor, aber wenn man von 1500 Schienentoten im Jahr ausgeht und die berifliche Laufbahn eines Lokführers 45 Jahren dauern kann, häufig mehr als ein Lokführer unmittelbar betroffen ist, ist es vielleicht doch nicht völlig unplausibel.
„Journalisten (nicht nur) in Deutschland fühlen sich, wie unschwer zu erraten ist, ganz überwiegend einer Gesinnungsethik verpflichtet und lehnen Verantwortung für die Folgen ihres Handelns ab. So glaube sie, die Pflicht zu haben, über Suizide zu berichten — unabhängig davon, ob diese Berichterstattung zu weiteren Suiziden führt.
Die Erkenntnis, dass es am besten wäre, wenn Medien über die meisten Suizide gar nicht berichten würden, widerspricht also nicht nur dem Wettlauf um Auflage und Quote, sondern auch ganz fundamental dem journalistischen Selbstverständnis eines ganzen Berufsstandes.
Aber dem besinnungslosen Kampf um Aufmerksamkeit, Auflage und Quote widerspricht es natürlich auch, und vermutlich lässt sich nur so die flächendeckend grotesk verantwortungslose Berichterstattung der vergangenen Tage erklären.“
Nach inhaltlich gleichem Muster fand auch die Berichterstattung über die Verhaftung der Sängerin N.B. im April dieses jahres statt. Unter Berufung auf die Pressefreiheit verliert man jegliches Maß. Sensationen und Erhöhung der Auflage um jeden Preisi. Hauptsache man bleibt im Gespräch. Der Pressokodex des Deutschen Presserates ist Makulatur – Egon Erwin Kisch Geschichte.
Auf der anderen Seite sehe ich in einer Veröffentlichung der Geschichte – wie die des Robert Enke die Chance einer Sensibilisieung für das Thema Depression. Leider wird heute in vielen Fällen noch der Gang zu einem Therapeuten, Psychiater, mit einer „Geisteskrankheit“ in Verbindung gebracht. Das der Körper, die Materie Schaden nehmen kann ist offensichtlich und daher akzeptiert. Das die Seele Schaden nehmen kann, krank werden kann, ist für viele nur schwer verständlich da die Seele nicht greifbar, nicht sichtbar ist. Insofern wundert es nicht das es zu einer Haltung von „das ist doch alles Spinnerei“ kommt.
MfG
Stellt Euch mal ein Leben ganz ohne Massenmedien vor! Das wäre nicht nur konsequent in Bezug auf Werther-Effekte, sondern würde unvorstellbare Potentiale für ein völlig neues Miteinander bergen.
@ladylazarus: ich denke, Stefan ging es eher darum, zu sagen, dass man auch über gesellschaftliche Mißstände, die Menschen in den Suizid treiben, oder auch Depressionen berichten kann, ohne das notwendige Maß Anstand und Zurückhaltung in der Art der Berichterstattung zu verlieren.
Von Totschweigen oder gar Zensur kann hier also keine Rede sein.
Anders formuliert: Berichterstattung über Depression als Ursache für Suizid ja, ausschlachten der tragischen Einzelschicksale für die Quote nein.
Wer seriös über Depression und das Leid der Betroffenen berichten und informieren will, kann das auch ohne ganzseitige Fotos und Videos vom Unfallort tun.
@Sven #163: Außer Ihnen fordert hier niemand, dass „Journalisten aus eben jenen Gründen nicht mehr über Suizide schreiben würden (oder gar dürften)“.
Erkennen Sie wirklich nicht den Unterschied zwischen „nicht über jedes noch so nichtige Detail tagelang auf Seite 1 mit aufmerksamkeitsheischenden Überschriften und pompösen Fotos“ und „gar nicht“ berichten?
@peter wolf #164: Diese „Statistik“ habe ich schon mehrfach gehört. Auch mir erscheint sie absurd hoch. Man fragt sich spontan, ob das nur der Fernzugverkehr sein soll, oder mit S-, U-Bahnen und Straßenbahnen? Was ist mit Rangierverkehrlokführern? Zählen die mit?
Wie gesagt, ich hätte es gern konkreter.
@ 166: Stimmt. Und alle die Dinge, die man ganz neu erführe – etwa dass z.B. Kriege, Epidemien und das Wetter wieder so eine Überraschung für den einfachen Menschen wären wie in den besten Zeiten des Mittelalters. Keine oberflächlichen Bestseller, ja keine Bücher mehr, die nicht liebevoll handgeschrieben wären, keine Panikmache, keine Promi-Gerüchte, keine Wahlen (man würde die Kandidaten eh‘ nicht kennen), keine Katastrophen (von denen man wüsste) – ach.
Und was man als Journalist plötzlich für eine Zeit hätte. Endlich sich des Wesentlichen annehmen! Wie zum Beispiel, äh… und …
laut der SZ sind es 3 pro Lokführer.
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/969/436715/text/
In dem von der SZ beschriebenen Fall hatte der Lokführer sogar insg. 4 „Unfälle mit Personenschaden“. Sowas wünscht man wirklich niemandem.
[…] das Bundesgesundheitsamt vor erhöhter Selbstmordgefahr. Ausgelöst durch das so genannte „Werther-Virus„, dessen Ursprung aus Sicht der Experten bei dem 32-jährigen Profifussballer Robert E. zu […]
Zur Trauerbewältigung gehört der Abschied, das aktive Verabschieden des Toten. Herrn Enkes Tod hat vor allem natürlich die, die mit ihm zu tun hatten, getroffen.
Aber er war auch eine Person des öffentlichen Lebens, sein Tod hat viele wirklich massiv getroffen, Tausende waren geschockt und bewegt. Das liegt natürlich auch am „zerstörten Mythos“, aber einfach auch daran, dass die Menschen ihn kannten, ihn jeden Sonntag im Fernsehen gesehen haben, mit ihm gefiebert, sich gefreut und mit ihm gelitten haben. Ich denke, die große Trauerfeier im Stadion war diesen Erwägungen geschuldet. Bei jeder Trauerfeier wird der Sarg sichtbar aufgebahrt, das ist richtig und für viele Menschen wichtig. Das Ausmaß ist hier ein anderes, aber Herr Enke war eben sehr prominent.
Jeder Dorfsportverein hätte das nächste Spiel abgesagt, wenn der Mannschaft so etwas widerfahren wäre. Den Spielern Ihre Trauer, das Innehalten zuzugestehen, gehört für mich zwingend zu der Kultur, die ich für wünschenswert halte. Sogar wenn -rein hypothetisch!- ein Mitspieler das Schicksal von Herrn Enke nicht nahe gegangen sein sollte. Wenn die Familie um die entfernte Tante trauert, verhält man sich angemessen, auch, wenn man nicht getroffen ist. Herrn Ballack, Herrn Bierhoff und den anderen glaube ich Ihre Trauer. Ich finde es weder gut noch schlecht, dass das Spiel abgesagt wurde, aber ich gestehe es Ihnen zu.
Aber es dreht sich hier um den DFB, um ein Länderspiel. Natürlich muss sich der DFB äußern, und natürlich berichtet die Presse, national wie international. In der Pressekonferenz hat Herr Zwanziger die Situation beschrieben und wie ich finde, die richtigen worte gefunden.
Die Forderung, Enkes Tod wie normale Suizide „klein zu halten“ kann nicht erfüllt werden, ja, es wäre falsch. Die betroffenen Menschen müssen Abschied nehmen können, was in dieser Größenordnung nicht ohne mediale Aufarbeitung funktioniert.
ABER:
-Die Art und Weise, wie sich BILD, PRO7 und andere AASGEIER auf das Thema stürzen, ist einfach nur zum Kotzen. Zu zeigen, wie Frau Enke zum Ort des Geschehens eilt (mit Untertiteln), ist das allerletzte. Die Verantwortlichen sollen sich in Grund und Boden schämen!
-Die Frage nach dem Warum…ich kann sie nicht mehr hören. Es geht hier eben nicht um den rätselhaften, tiefen Fall eines Übermenschen. Herr Enke hatte schwere Depressionen, eine Krankheit, die oft zum Tode durch Suizid führt. Auf dieses Thema sollten sich die Medien stürzen, das bewegt die Gesellschaft und betrifft viele Menschen. Sie stehen nicht im Tor oder im Rampenlicht, sie werden oft noch nicht einmal ernst genommen. Jeder ist ja mal schlecht drauf, heißt es.
-Das Bild von Fußballern muss sich ändern. Verbände, Fans und Medien müssen alles dafür tun, dass Menschen nicht ausgegrenzt werden. Warum gibt es z.B. keine schwulen Fußballer? Warum darf sich ein Profi keine Blöße geben, keine Schwäche zeigen? Der Fall Deisler hat gezeigt, was dann passiert. Er stand zu seiner Erkrankung. Und wurde diskriminiert, zumindest nicht mit Verständnis behandelt. Es ist reine Spekulation, aber Herr Enke hätte sich vielleicht in stationäre Hilfe begeben, wenn er nicht davon hätte ausgehen müssen, dass dies das Ende seiner Karriere gewesen wäre. Und vielleicht würde er heute noch leben.
Es ist schrecklich, was Herrn Enke, seiner Frau und seinen Angehörigen -und dem Lokführer- widerfahren ist. Lassen wir sie in Ihrer Trauer alleine und reden wir über die Lehren, die wir aus diesem Fall ziehen können. Diese Debatte zu moderieren, ihr einen Raum zu geben, darin sehe ich eine Aufgabe der Medien. Und nicht, Klickstrecken zum Aufstieg und Fall des Robert Enke zusammenzubasteln.
@167 Eine gewissenhafte biographische Betrachtung läßt sich meines Erachtens dennoch nicht mit den genannten Forderungen in Einklang bringen. Natürlich sollte man nicht unbedingt ein Bild der Leiche von David Fosters Wallace auf die Titelseite bringen. Dennoch: Der Ort und die Art und Weise der Ausübung des Suizids verrät sehr viel über einen Menschen. Suizid ist oft, und gerade bei Dichtern, eben auch Kommunikation. Auch sehe ich nicht, wieso man eine Identifikation mit dem Suizidenten zu verhindern suchen sollte. Nur dadurch wird es doch überhaupt möglich, das Spiel der Kräfte zwischen Gesellschaft und Individuum emotional zu begreifen, das Leiden des Betroffenen nachzuempfinden. Gesellschaftliche Mißstände ohne konkrete Einzelne, die diese erleiden, die daran zugrundegehen, ist emotional nicht begreifbar.
[…] würde ich einen Praktikanten empfehlen, der den hastig veröffentlichten Unfug, mit dem man, ohne groß nachzudenken, auf Besucher- und Voyeuristenfang ist, nochmals begutachtet. […]
„Das Bild von Fußballern muss sich ändern. Verbände, Fans und Medien müssen alles dafür tun, dass Menschen nicht ausgegrenzt werden. Warum gibt es z.B. keine schwulen Fußballer? Warum darf sich ein Profi keine Blöße geben, keine Schwäche zeigen? Der Fall Deisler hat gezeigt, was dann passiert. Er stand zu seiner Erkrankung. Und wurde diskriminiert, zumindest nicht mit Verständnis behandelt.“
Das stimmt doch überhaupt nicht! Deisler wurde sehr viel Verständnis entgegen gebracht. Und der FC Bayern (in Person von Uli Hoeneß) hat sich vorbildlich verhalten.
Zudem muss man auch mal festhalten, daß die Ängste im Zuge einer Depression sehr häufig irrationale Ängste sind. So war Enkes Angst, man würde ihm die Adoptivtochter wegnehmen, weil er depressiv war, irrational. Genauso war es irrational zu glauben, Hannover 96 hätte Enke aufgegeben, wenn er sich für eine stationäre Behandlung entschieden hätte. Wenn überhaupt ein Spieler mit Verständnis für seine Krankheit hätte rechnen können, dann doch wohl Robert Enke in Hannover.
Die Irrationalität, in der der Erkrankte gefangen ist, ist ja gerade das tückische an der Krankheit.
Das Statistische Bundesamt hat 2006 das Thema Suizid genau untersucht.
2006 kamen 627 Menschen durch „Vorsätzliche Selbstbeschädigung durch Sichwerfen oder Sichlegen vor ein sich bewegendes Objekt“ zu Tode (siehe Seite 6).
Was ich sehr wichtig finde, steht auf Seite 8, das Alter der Suizidalen. In den meisten Fällen handelt es sich nämlich um Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren, die sich das Leben nehmen. Daher stelle ich die Frage, ob wir in dieser Diskussion nicht auch die Seiten des Jugendschutzes genauer betrachten sollten?
@david, #124: „Wie oft kommt sowas in einem kleinen Ort vor? Nie! Wie groß mag wohl der Zufall sein das es ausgerechnet jetzt, so kurz nach Enkes Suizid und der daraus resultierenden großen Medienparty, dazu kam???? Die Frage sollte sich jeder selbst beantworten…..“
Nein, die Frage muß man Dir beantworten, weil Du offenbar von falschen Vorstellungen ausgehst. Es gibt einige zehntausend kleine Orte. Gäbe es jetzt in jedem einen Suizid, so wären das einige zehntausend Suizide zusätzlich. Im Falle Marilyn Monroe hat man aber nur (dieses ’nur‘ nicht wertend verstehen) etwa 200 zusätzliche Suizide in den USA gezählt.
Einen einzelnen Fall der breiten Berichterstattung anzulasten dürfte schwierig sein, und müßte sich auf konkrete Indizien stützen.
Lottohauptgewinne sind auch sehr selten, aber wenn sich der Gewinner selbst zu Wort meldet, und erklärt, daß es eigentlich gar nicht hätte vorkommen können, so unwahrscheinlich sei es, so übersieht man leicht, daß er sich ja deshalb zu Wort meldet, weil das Ereignis bereits eingetreten ist. Irgendeinen wird es schon treffen, und irgendwo in Deutschland legt sich leider täglich jemand auf die Gleise. Das jemand aus einem derartigen Ort hier mitliest, und das Ereignis meldet, ist vielleicht nicht so unwahrscheinlich.
Anders betrachtet: Wenn in den USA eine Prominente die Statistik so beeinflußt hat, daß man statt 1500 1650 Fälle im Monat hatte, also einen Anstieg um ca. 10%, und wenn man annimmt, daß es sich bei uns ähnlich verhält, dann sind immernoch 9 von 10 Suizide solche, die es so oder so gegeben hätte.
Aus einem Einzelfall kann man gar nichts ableiten, auch wenn die Versuchung groß ist.
@175:
Man verzeihe mir meine unbedarfte Einschätzung der Situation, wenn ich Uli Hoeneß‘ Verhalten falsch beurteilt habe. Wenn die ‚Offiziellen‘ sich in Wahrheit besser verhalten haben, freut mich das.
Meine Erinnerung an den Umgang mit Deisler ist anders. Ich erinnere mich an viele Äußerungen, er habe halt Pech gehabt, solle sich mal zusammen reißen usw. Vielleicht habe ich diese in persönlichen Gesprächen erfahrene Ignoranz auf die „Offiziellen“ übertragen.
Soweit ich weiß, hat er selbst von dummen Sprüchen berichtet, denen er sich ausgesetzt sah.
Das enspricht dem Bild von Depression, das leider vielfach in unserer Gesellschaft vorherrscht.
Dass Enkes Angst, von seinem Verein fallen gelassen zu werden, irrational war, glaube ich nur allzu gern. Dass die BILD ihn in Ruhe gelassen hätte, nicht.
Fest steht: In Fußball und Gesellschaft gibt es problematische Themen, über die mehr gesprochen werden sollte. Homophobie ist eines, Leistungsdruck und Depressionen weitere. Möge Robert Enkes Tod dazu ein Anstoß sein.
@157: „Wenn man Gast bei einer Trauerfeier ist, erwarte ich schon ein persönliches Verhältnis. Ansonsten bewegt sich das irgendwo zwischen Wichtigtuerei und Gaffertum. Diese Form der Trauerfeier ist auch das einzige, was mich an Teresa Enkes Rolle in dieser Angelegenheit wundert. Dass sie solch einen Zirkus mitmacht, kann ich mir eigentlich nur mit der Schocksituation erklären.“
Finde ich bemerkenswert, wie Sie hier mal eben so ihre Ansichten zum allgemeinen Handlungsmaßstab erklären. Auch so kann man natürlich den kategorischen Imperativ interpretieren. Dass Sie die Witwe für aktuell nicht zurechnungsfähig erklären, ist zudem noch sehr großzügig…
@ B.Schuss #170: Die Zahlen aus der SZ können so nicht stimmen.
Die GDL schreibt in einer Pressemitteilung vom Donnerstag
(Quelle: http://www.gdl.de/redaktionssystem/sitecontrol.php?action=showarticle&mode=news_artikel/1258035501.html)
Dort findet man auch, dass es 2006 knapp 20.000 Lokführer gegeben hat bei ca. 233.000 Mitarbeitern. Heute gibt es nach dem Zwischenbericht 2009 der Deutschen Bahn AG insgesamt 236.000 Mitarbeiter.
Wenn man also mit ca. 20.000 Lokführern, 1.000 Suiziden pro Jahr und 2 Suiziden pro Lokführer rechnet, dann müssen die Lokführer durchschnittlich 40 Jahre als solche arbeiten. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.
Wenn man aber mit den selben ca. 20.000 Lokführern, den 1.100 Suiziden pro Jahr nach peter wolf und den 3 Suiziden pro Lokführer nach SZ rechnet, dann müssen die Lokführer durchschnittlich 54,5 Jahre als solche arbeiten. Das ist offensichtlich unmöglich.
Das Zahlenwerk ist nicht stimmig.
Ich glaube zwar auch, dass in Deutschland die Grenzen des guten Geschmacks überschritten werden. Immerhin noch nicht so weit wie im Fall des brasilianischen Senders „Canal Livre“. Wallace Souza sitzt übrigens inzwischen im Knast.
Was ich allerdings in Bezug auf den Fall Enke nicht glaube ist, dass man die kommerziellen Medien per Ehrenkodex an der Berichterstattung über prominente Suizide hindern kann.
Ich finde es auch komisch zu behaupten, dass die Aufmerksamkeit für Enke nun positiv den Blick auf die „Volkskrankheit Depression“ lenken würde. Ist die Darstellung eines leidenden Robert Enke nicht einfach Teil der Zirkusvorstellung?
Wie lange soll ein Lokführer denn arbeiten? Der tritt mit 17 bis 19 Jahren ins Berufsleben ein und arbeitet dann im Idealfall bis zur Rente, also ~45 Jahre. Nun werden einige später dazukommen, andere früher aussteigen. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß der ein oder andere Führerstand (nennt man das so?) doppelt besetzt ist und ja nicht von 1000, sondern „weit mehr als 1000“ Fällen die Rede ist, sind die Zahlen wieder einigermaßen plausibel.
Ich habe eher Zweifel an den 20.000 Lokführern. Die GDL hat bei einem Organisierungsgrad von bis zu 80% schon 35.000 Mitglieder, wobei ich aber nicht weiß, ob das alles wirklich Lokführer sind.
Naja, wenn’s am Ende eine Zahl zwischen 1 und 2 ist, ist das auch überraschend hoch. Wir hatten doch wohl alle eher angenommen, daß man als Lokführer ziemliches Pech haben muss, wenn einem das passiert. Offensichtlich muss man von Glück sprechen, wenn es einem nicht passiert.
[…] Stefan Niggemeier hat über den Werther-Effekt geschrieben, dass Selbstmord ansteckend sei und die Medien seit einer Woche daran arbeiteten, „die Zahl der Selbstmorde in Deutschland in die Höhe zu treiben.“ […]
@SvenR:
Ein Beispiel für Statistik sollte erlaubt sein:
http://www.neue-oz.de/information/_aktuelles/2009-11/16/lokfuehrer.html
@ 157
Beeindruckend, wie schnell man doch der Welt seine eigenen Vorstellungen überstülpen kann.
„Wenn man Gast bei einer Trauerfeier ist, erwarte ich schon ein persönliches Verhältnis.“
Es ist schön für sie, das sie das so erwarten, zum Glück sieht das in der Realität anders aus und Menschen, die zu etwas sensibleren Einschätzungen fähig wären, auch über den Tod eines Menschen betroffen sein können, den sie nicht kennen.
Ich sehe es genau umgekehrt: Schlimmer als Menschen, die ohne persönliche Bindung, aber mit echten Emotionen (!) zu eier Trauerfeier erscheinen sind die, die nur der persönlichen Bindung wegen hingehen. DAS (!) ist die von ihnen beschriebene Effekthascherei.
Wollen sie es 40000 Menschen übelnehmen, für die Enke ein Idol war, dass sie trauernd vor dem Sarg eines Mannes sitzen, den sie gar nicht kannten?
Sie sprechen Millionen von Menschen ihre Emotionen ab, das mit einem fadenscheinigen ästhetischen Urteil.
Und ich stimme mit treets (180) darin überein, dass Teresa Enke ja wahnsinniges Glück hatte, von ihnen so eine gute Beurteilung zu erhalten.
Ein weiterer wichtiger Schritt gegen Suizide und Depressionen wäre das Ende von Küchenpsychologie und dem Fehlglauben, sich in alles und jeden hineinversetzen und als Folge daraus über alles und jeden urteilen zu können.
Das hat etwas abgeschmacktes…
@polyphem #184: Sie missverstehen mich gründlich. Ich will die Belastung, den Schmerz, das Furchtbare für den einzelnen Lokführer keinesfalls herunterspielen. Ich will aber auch keinem Taschenspieler-Voodoo-Zahlentrick auf den Leim gehen.
Wir nehmen jetzt nochmal die Zahl von @JO #176 vom Statistische Bundesamt und die Zahl der GDL, die sie aus dem Geschäftsbericht der Bahn haben will. Beide sind aus 2006
Höchstens 627 Tote und 19.611 Lokführer bei der Deutschen Bahn ergeben eine Berufsverweildauer von 62,5 Jahren bei durchschnittlich 2 und 93,75 Jahren bei 3 Toten je Lokführer. Nicht berücksichtigt dabei sind, dass man sich ja auch von eine Bus oder Auto überfahren lassen kann und dass es Lokführer gibt, die nicht bei der Deutschen Bahn angestellt sind.
Bei den 19.611 Lokführern und 627 Toten kann man sich leicht ausrechnen, dass die Wahrscheinlichkeit 3,2 % in 2006 betragen hat, als Lokführer jemanden getötet zu haben. D. h. bei konstanten Verhältnissen hätte jeder Lokführer 31 Jahre und 3 Monate zu arbeiten, um statistisch einen Toten zu verursachen. Bei einem Beruf, den man ab 21 Jahren ausüben kann erscheinen mir die 31 Jahre und 3 Monate als Berufsverweildauer nicht vollkommen unrealistisch.
Nochmal, nicht dass Sie mich in die falsche Ecke drängen, auch wenn Lokführer durchschnittlich „nur einmal“ in ihrer Leben jemanden töten, ist das mehr, als ich erwartet habe und an sich schrecklich. Es ist nur nicht nötig das auch noch aufzubauschen.
Wer bessere Zahlen hat möge mich berichtigen.
Ich hab jetzt nicht alle 186 Kommentare durchgelesen, aber zumindest per Suchfunktion zu checken versucht, ob das schon verlinkt wurde (anscheinend nicht):
http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=le&dig=2009%2F11%2F17%2Fa0030&cHash=fd59cd63f3
Ein Kommentar von Markus Völker in der heutigen taz zum Gesamtkomplex. Ich finde den ziemlich differenziert und mit dem richtigen Tonfall geschrieben – mich würde interessieren, ob das vielleicht mal ein Positivbeispiel für Stefan Niggemeier sein könnte, wie Journalismus richtig geht.
[…] der ganze Rest « minima de malis Werther 17. November 2009 Mit aktuellem Anlass: Stefan Niggemeier vs. Frédéric Valin […]
wie viele Menschenleben mag wohl dieser Blog-Eintrag gekostet haben…
*tsts*
@187: Die Positivbeispiele sind i.d.R. mit dem Autorenkürzel SN gekennzeichnet.
;-)
@Jeeves
Von 7,63 auf 21.
http://books.google.com/books?id=q6LOIdoYliQC&pg=PA96&lpg=PA96&dq=Schmidtke+Häfner+175+7,63+21&source=bl&ots=_7YN2STvJ4&sig=vXA0z8MJAsF6fcBxkNCLu7fdyNM&hl=en&ei=AhcDS7-CNJnwmwPI7O3eDw&sa=X&oi=book_result&ct=result&resnum=1&ved=0CAgQ6AEwAA#v=onepage&q=Schmidtke%20Häfner%20175%207%2C63%2021&f=false
Mein Opa war Lokführer hat nach eigener Auskunft vier Leute überfahren und dafür nicht mal 45 Jahre gebraucht. Betreut wurden die damals (bis in die 80er) aber nicht oder nur unzureichend. Die Lokführer, nicht die Toten.
@SvenR: „D. h. bei konstanten Verhältnissen hätte jeder Lokführer 31 Jahre und 3 Monate zu arbeiten, um statistisch einen Toten zu verursachen.“
Da steckt wohl die fehlerhafte Annahme – Konstanz über die Zeit. Aus der Statistik des Bundesamtes ergibt sich, daß es 1980 insgesamt doppelt so viele Selbsttötungen gab wie heute. Diese Zahl ist nicht aufgeschlüsselt nach Tötungsarten, aber daß diese über 40 Jahre stabil sind, muß ja auch nicht sein.
Wikipedia hat auch einen Artikel „Schienensuizid“ http://de.wikipedia.org/wiki/Schienensuizid – letztlich führt diese Arithmetik zu wenig Erkenntnis, außer, daß es viel häufiger vorkommt, als erwartet. Für Personen mit Berufswunsch Lokführer bestimmt eine relevante Information, ja.
—
Mir geht übrigens auch nicht in den Kopf, was einen Fan zu einer gigantischen Trauerfeier zieht. Ich finde auch, daß das etwas für den privaten Kreis ist, für Angehörige, Freunde und Personen, die den Toten persönlich gekannt haben, d.h. die er auch gekannt hat. Aber das ist wohl überkommene Romantik. Wieso soll man aus Trauer kein Event machen?
Könnten bitte alle mal aufhören zu berechnen, nach komma-wie-viel Jahren ein Lokführer jemanden überrollt?
Himmel, schick Hirn!
[…] Und das beschränkt sich nicht nur auf den inoffiziellen Meinungsführer der Medienkritikblogger, Stefan Niggemeier. Sie nähren bei mir die Hoffnung, dass der Menschenschlag mit Gaffermentalität, der sich am Elend […]
Wollen wir auch noch Churchill bemühen?
Eines stimmt jedenfalls: Der Lokführer, den es erwischt, ist kein Ausnahmefall, der Pech hatte. Dabei ist sicher egal, ob der Anteil, bezogen auf die gesamte Dauer der Ausübung dieses Berufs, über oder unter 50 Prozent liegt. Man braucht Glück, um nie jemanden zu rädern, das ist der entscheidende Fakt.
Im übrigen ist die Erklärung mit den schweren Depressionen verdammt einfach. Aktive Ausübung von Leistungssport und tiefe Hoffnungslosigkeit passen nämlich nicht so recht zusammen. Wenn man sich schon in dieses Thema vertiefen will, wäre ein wenig Reflektion darüber durchaus angebracht.
Ich glaube, unsere Medien gehen ganz gut damit um. Auf deutsche Befindlichkeiten gezogen, bedeutet Robert Enke schließich etwas wie Kurt Cobain.
@Stefan W. #193: Sie haben vollkommen recht,
Und das es anhand des Datenmaterials sehr unwahscheinlich ist, dass die für mich unvorstellbare Zahl der SZ stimmen kann.
@Rox #194: Warum?
@Fahrdienstleiter #196: So recht Sie mit ihrem zweiten Absatz haben, so falsch liegen Sie mit dem dritten.
@196 Fahrdienstleiter
Vorurteil geräuschlos zu 100 Prozent übernommen; ich gratuliere.
Ich empfehle Ihnen sich mit den Symtomen der Depression auseinanderzusetzen und anschließend nochmal Ihre Äusserung im dritten Absatz zu überdenken.
Dennoch einen kleine Starthilfe: Wenn Sie wie Herr Enke in eine Organisation eingebunden sind fällt es über eine geraume Zeit recht leicht, mit der Krankheit umzugehen. Zumindest nach aussen.
Allerdings: Depression ist schleichend. Mit zunehmendem Alter wird sie übermächtig und dann beginnt das Chaos im Lebenslauf.
——
An dieser Stelle würde mich interessieren ob Herr Enke wegen Depression behandelt wurde.
Da so oft von Selbstverständnis, aber weitaus seltener vom Pressekodex gesprochen wurde, die m.E. aber durchaus zusammengehören, schadet es sicher nicht, ihn nochmals zu lesen:
„Richtlinie 8.5 – Selbsttötung
Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist beispielsweise dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt.“ http://www.presserat.info/76.0.html
Ich gehe davon aus, daß dieser Passus gerade vor dem Hintergrund des Werther-Effektes so formuliert worden ist.
Insbesonder die Situation, daß jemand, der zu Lebzeiten immense Vorbildfunktionen besaß, verlangt meiner Meinung nach eine besondere Abwägung, was und wie darüber berichtet wird.
Auch bei gleichem Bekanntheitsgrad ist die Vorbildfunktion eben nicht identisch, auch das sollte Berücksichtigung finden.
Die einfache Berufung ‚auf zur Wahrheit verpflichtet‘ macht es sich zu einfach. Das mag am Mythos der ‚objektiven Berichterstattung‘ liegen, die es schlicht nicht gibt. Allein über Themenauswahl und Informationsdichte findet schon eine subjektive Wertung statt, Platzierung, Format und eingeräumter Raum sind die nächsten Subjektivfilter, wenn auch vielleicht nicht mehr im eigenen Verantwortungsbereich.
Zudem werden zahlreiche Themen doch häufig genug zeitversetzt veröffentlicht, was in der aktuellen Nachrichtenlage keinen Platz findet, wird doch gerne zum Stopfen des Sommerlochs verwendet. So wäre es durchaus möglich, daß erstmal nur vom Tod berichtet wird und somit dem durchaus berechtigten Interesse nach öffentlicher Trauer um einen öffentlichen Menschen gerecht wird. Eine ‚Sensation‘ bei späterer Berichterstattung über die konkrete Ursache kann und wird es wohl immer noch geben, aber die zeitliche Trennung von der akuten Trauerphase bietet m.E. mehr Chancen, sich konstruktiver mit den Gründen auseinanderzusetzen.
Nicht alles, was man zurückhält ist mit (Selbst-)Zensur zu betiteln.
Bei den Mutmaßungen über die Beweggründe der Witwe vermisse ich den kritischen Blick auf die eigenen Arbeitsweisen. Öffentlichkeit gehörte zum Lebensalltag und sicherlich muß und wird jeder damit seinen eigenen Umgang entwickelt haben. So liegt es durchaus im Möglichen, daß der Schritt in die Öffentlichkeit auch den Erfahrungen geschuldet ist, daß der Versuch, Privatsphäre zu erhalten, nahezu unmöglich ist und man hartnäckige Rechercheversuche im Keim ersticken möchte, um wenigstens etwas Ruhe zu haben.
Die hier oft vertretene Meinung, daß das Thema Depression durch solch einen Aufhänger tatsächlich dauerhaft die notwendige Öffentlichkeit bekommt und vor allem etwas bewirkt, teile ich nicht. Die wenigen Experteninformationen gehen offensichtlich unter – als kleines Beispiel sei nur genannt, daß auch die verlinkte und zitierte Kritik des Spiegelfechters scheinbar gedankenlos vom Freitod spricht.
Der Diskussion täte es m.E. auch gut, nicht von Schuld sondern Gründen und Ursachen zu sprechen, um falsche Moralisierungen zu vermeiden.
Und wie verhält sich Berichterstattung über die Folgen für Lokführer etc auf den Werther-Effekt?
@ 179, 185
Mir ist es egal, ob jemand meinen Standpunkt übernimmt oder nicht. Ich habe aber auch keine Lust, jeden meiner Sätze mit einem Disclaimer zu versehen, dass es sich um eine bloße Meinungsäußerung handelt.
—
Den taz-Artikel finde ich gar nicht schlecht. Mich wundert ein bisschen, dass man überhaupt einen Prominenten als Bezugspunkt benötigt, um sich mit seelischen Abgründen und einem Trauererlebnis zu beschäftigen. Gibt es dafür nicht immer auch Möglichkeiten im eigenen Umfeld? Oder haben die Leute diesen Aspekt des Lebens bisher immer ausgeblendet?
Darf man jetzt sagen „Die Presse ist ein Mörder“? *scnr*
Unter berücksichtigung des Werther-Effekts mag es gut sein, nicht oder nur in einem sehr niedrigem Umfang über solche Vorfälle zu berichten. Was bei Herrn Enke passiert ist, finde ich ohnehin absolut übertrieben. Nur weil er eine Person in öffentlicher Wahrnehmung war alles so aufzublasen. Es werden sich tagtäglich Menschen vor Züge, von Brücken etc. – die bleiben anonym und werden oft als „Feige“ abgetan. Bei einem Herrn Enke dagegen sieht es ganz anders aus.
Hype.
@— treets — 16. November 2009, 16:59 #
kritik zu äusern, zu hinterfragen oder oppositionele haltungen einzunehmen find ich spannend und lehrreich. von oben herab belehrungen, so wie ichd die ihrige empfunden habe, verpassen den ton der sachlichkeit und werden persönlich. das ist bedauerlich gewinnt man den eindruck das es um recht haben besserwissen und eine art „schlauer als der rest“ geht. das mag ich ihnen nicht unterstellen und erhoffe mir in ihrer nächsten öffentlichen verkündigung einen sachorientierten ton.
@Patrick Neser, #199: so wie ich das verstanden habe, war Enke bereits seit längerem in Behandlung bei einem Therapeuten. Der hat ja auch bei der PK ein Statement abgegeben.
Was die ganze „wer trauert wie glaubhaft und vor allem zu Recht“ Sache angeht, das ist doch absurd. Jeder kann trauern wie er will, und jeder kann diese Trauer so zeigen, wie er will. Es steht niemandem zu, darüber zu urteilen, schon gar nicht, wenn man keine der beteiligten Personen tatsächlich kennt.
wer mag die verantwortung auf sich nehmen zu behaupten „die hätten sich sowieso suzidiert – ob nun früher oder später….“ wer möchte mit der veröffentlichung seines textes das datum festlegen wann „früher“ gekommen ist?
der effekt ist wissenschaftlich bewiesen. und es wird von „glaube ich nicht dran“ gesprochen?
Es stellt sich mir die Frage, was naiver oder dümmlicher ist:
1. Das menschliche Handeln dadurch lenken und verbessern zu können, indem man Informationen vorenthält, abstrahiert oder derart simplifiziert, dass Tatsachen unterschlagen werden
oder
2. zu glauben, dass eine über alle Maße und alle Realitäten übersteigende Darstellung von beispielsweise prominenten Suizidfällen dazu beiträge, die Menschen auf etwas aufmerksam zu machen, nämlich auf zwischenmenschliche Probleme.
Wie so oft muss es auch hier einen goldenen Mittelweg geben: Suizidfälle beim Namen zu nennen und anhand prominenter Fälle Identikation bei den Lesern hervorzurufen halte ich nicht für falsch. Das damit verbundene Mitleid ist niemanden vorzuwerfen, der es aufrichtig empfindet. Letztlich sind Identifikation udn Mitleid grundlegende und unentbehrliche Momente unseres Daseins, welche unser menschliches, gesellschaftliches Miteinander einen.
Aber: Geheucheltes, nur synthetisiertes, weil kollektiv bewirktes, Mitleiden kann nicht Sinn und Zweck der Sache sein. Eine artifizielle Identifikation mit Prominenten, die man nicht einmal richtig in persona kannte, erscheint doch lächerlich. Der Leser sollte, initiiert durch guten Journalismus, dazu bewogen werden, selbst zu reflektieren: Was ist es an der Person XY (von Enke bis Falco), das mich dazu bringt, mich in seine Situation versetzen zu können? Die Tatsache, dass er prominent ist o d e r die, dass auch ich Familie habe, Freunde und eigene Sorgen und Nöte, dass auch ich oft nicht weiß, wie ich meine Probleme bewältigen soll (wenngleich ohne den Gedanken sich umzubringen). Und wenn es diese letzteren Lebenswege des Leidens sind, die mich und anscheinend auch andere betreffen, sollte ich dann nicht auch in meinem Umfeld nach anderen Menschen sehen, denen es ebenfalls so geht? Sollte ich nicht auch mit ihnen Mitleid haben, ihnen helfen, bevor es zu spät ist?
Was also an der Darstellung von Suizidfällen in den Medien fehlt ist nicht mangelnde Distanz. Im Gegenteil: Nähe zu schaffen ist der richtige Weg, jedoch fehlt die Schlussfolgerung, das reflektieren und das Erkennen, welches aus Beobachtungen erfolgt. Andererseits verkommen Medien sind zu einer Maschinerie der Kontemplation: reinste Anschauung, ohne Erkenntnis.
Wenn ich durch einen Zeitungsartikel inspiriert ein Buch schreiben würde, für das ich dann den Literaturnobelpreis bekäme, fände ich es sehr befremdlich wenn sich bei der Preisverleihung der Journalist des Artikels auf die Bühne drängen würde um zu verkünden, dass ja eigentlich er dafür verantwortlich wäre und den Preis bekommen sollte.
Genauso kann ich mir vorstellen, dass ein Selbstmörder diesen Akt vor allem als Zeichen der Eigenständigkeit inszeniert, nach dem Motto „ich habe so lange versucht es der Welt recht zu machen, jetzt tue ich einmal das, was ich will.“
Zwischen Inspiration und Beeinflussung scheint mir jedenfalls doch noch eine ziemliche Lücke zu klaffen. Und wer einer Inspiration folgt, ist dafür ganz alleine verantwortlich.
@205 B.Schuss
Danke für die Information.
Fürchterlich, dass weder Behandlung noch die Liebe seiner Familie ihn davon abhielten.
@ T.S.
Die Anzahl an Suiziden ist in den letzten 30 Jahren stark zurückgegangen, wie die von mir bereits genannte Studie zeigt. Sicher liegt es daran, dass die Medizin, die Psychologie sowie die angrenzenden Sozialwissenschaften sich stets weiterentwickelt haben. Geholfen hat sicher dabei auch die „Richtlinie 8.5 – Selbsttötung“ des Presserates und dass sich viele Massenmedien auch daran gehalten haben.
Klar ist, dass hinter einem Suizid kein (zwischenmenschlicher) Konflikt steht. Gerade im Fall Enkes erkennt doch jeder, dass selbst ein Mensch mit einem tollen Partner an der Seite, einer tollen Karriere, genug Geld und vielen Fans einen so irrationalen Schritt geht und Suizid begeht. Es lag eben nicht am Umfeld, es lag an seiner Depression, die ihn seine Umwelt so verzerrt gezeigt hat, dass er keine positiven Lösungen mehr erkennen konnte.
Daher ist es meines Erachtens der Todesfall Enke kein Startpunkt, um über Probleme in der Gesellschaft oder im deutschen Fußball zu sprechen. Viel mehr sollte dadurch in das Bewusstsein der Menschen gerufen werden, dass es Gedanken gibt, bei denen man sofort den nächsten Arzt aufsuchen muss, um sich Hilfe zu holen.
@ The_Vanguard
Inspiration ist KEINE Krankheit, Depressionen schon.
Es freut mich für Sie persönlich, dass Sie ein solches Dankschemata im Kopf haben, wenn Sie über suizidale Phantasien nachdenken – es beweist, dass Sie persönlich KEINE Depression haben. Depressive Menschen hingegen denken und fühlen anders, auch wenn man ihnen das nicht ansieht. Sie haben da ein falsches Bild der Realität in Ihrem Kopf.
@JO 210
Doch gerade, damit Menschen eben zum Arzt gehen, wenn sie ‚eigenartige Gedanken‘ bei sich feststellen, muss die Stigmatisierung aufhören. Depressionen werden oftmals abgetan – eine Looserkrankheit, an der man so halbwegs selbst Schuld trägt. Man solle sich halt zusammenreißen.
Viele Betroffene schämen sich, haben Angst vor Ausgrenzung, als irre zu gelten. Und gehen nicht zum Arzt.
Dies zu ändern, das allgemeine Bewusstsein zu wecken, ist natürlich eine gesellschaftliche Aufgabe.
Gerade Herrn Enkes Schicksal verdeutlicht die Heimtücke psychischer Krankheiten und die Unschuld der Betroffenen. Deshalb könnte und sollte sie ein Anknüpfungspunkt für diesen notwendigen Prozess sein.
@210 JO:
Depression wird aber vermutlich nicht von Zeitungsartikeln verursacht. Wer sich jetzt umbringt um Enke nachzueifern wird das wohl eher aus anderen Gründen tun.
Ich persönlich will mir nicht anmaßen beurteilen zu können, wie ein völlig fremder Mensch denkt. Das schließt aber auch mit ein, dass ich keine Verantwortung für Taten übernehmen kann, zu denen er sich durch mich inspiriert fühlt.
@212 The_Vanguard:
Niemand behauptet, Zeitungsartikel verursachten Depressionen. Es geht auch nicht um ‚Vermutungen‘. Die Verbindung zwischen Berichterstattung und ansteigenden Selbsttötungen ist offenbar erwiesen und weithin anerkannt.
Aus der Kenntnis dieser Zusammenhänge erwächst selbstverständlich eine Verantwortung, derer man sich als Journalist bewusst sein muss. Bei der Entscheidung, ob (und wie!) eine Berichterstattung erfolgt, muss dies mit einbezogen werden. Im Normalfall wird es zu einer totalen Zurückhaltung führen, wie im Pressekodex vorgesehen. In einem Spezialfall wie dem von Hern Enke hätte es uns allen viele Auswüchse erspart.
Auf Unwissenheit abzustellen, um sich seiner Verantwortung zu entziehen, ist zu einfach. Wenn Sie eine Ode an die Selbsttötung als freien Akt der Befreiung verfassen und in den nächsten Wochen töten sich signifikant mehr Menschen – wollen Sie dann im Ernst behaupten, sie könnten nichts dafür, weil sie die Menschen nur ‚inspiriert‘ haben?
@213 seven:
„Wenn Sie eine Ode an die Selbsttötung als freien Akt der Befreiung verfassen und in den nächsten Wochen töten sich signifikant mehr Menschen – wollen Sie dann im Ernst behaupten, sie könnten nichts dafür, weil sie die Menschen nur ‚inspiriert’ haben?“
Genauer gesagt haben sich die Menschen dann selbst inspiriert, aber ja, genau das ist mein Standpunkt. Da sich sicher nicht jeder umbringen wird, der meine Ode liest (ich bin ja nicht Sutter Kaine), zeigt sich, dass die endgültige Entscheidung über diesen Akt beim Konsumenten liegt.
Was hier unter den Tisch fällt ist die Anerkennung der Interpretationsmöglichkeit. Mancher wird die Ode für eine Satire halten, mancher einfach nur für bekloppt. Einige werden sie kitschig finden, andere werden sich schaudernd abwenden, aber sie gleich wieder vergessen haben. Und wenn ich dann zum Ausgleich danach eine Ode auf eine sommerliche Blumenwiese schreibe wird das zum Selbstmord eines Blinden führen, der es nicht ertragen kann solche Schönheit nie wieder sehen zu können.
Die Verbindung zwischen Bericht und Nachahmung stelle ich auch nicht in Frage. Mir geht es nur um die Frage nach der Verantwortung, die dadurch entsteht. Unwissenheit will ich dabei auch ganz bewusst ausklammern. Dementsprechend habe ich argumentiert, dass die Berichterstattung zwar Inspiration liefert, aber nicht manipuliert. JO meinte dann „Inspiration ist KEINE Krankheit, Depressionen schon“ wozu ich klarstellen wollte, dass ich auch die Depression nicht durch die Journalisten verursacht sehe.
Wer im Glashaus sitzt, …
In diesem Blog:
11. November 2009, 14:31
12. November 2009, 18:09
12. November 2009, 19:58
13. November 2009, 16:49
13. November 2009, 18:02
14. November 2009, 17:17
16. November 2009, 16:21
Oder denken sie, dass hier kein Mensch liest, der Nachahmer sein könnte?
@ (#211) Seven
Dito! Medien sind nicht die Ursache von Depressionen, Medien können aber triggern.
@ The_Vanguard
Sie brauchen nicht selber das beurteilen zu müssen, das ist nicht ihr Job. Dafür gibt es ja Tausende Mediziner, Psychotherapeuten, Sozial- und Naturwissenschaftler, die sich seit Jahrzehnten mit dieser Krankheit täglich auseinandersetzen und nach Lösungen suchen. Die Ratschläge dieser Experten jedoch als kompletter Laie abzulehnen, wie nenne Sie das? Ignoranz? Vermessenheit? Sie kennen nun den Wether-Effekt und Sie wissen, was er bewirken kann. Passiert nun etwas, durch einen Artikel von Ihnen, durch Ihren Impuls, durch Ihren Trigger den Sie in die Öffentlichkeit tragen, tragen Sie dafür die Schuld. Eben so gut können Sie nicht mit 100 km/h durch eine geschlossene Ortschaft fahren und hinterher die Schuld für einen Unfalltoten verleugnen à la:“ Das Kind hätte ja auch stehen bleiben können.“ Wenn Sie mit Verantwortung nicht klarkommen wollen oder können, dann lassen Sie es doch bitte einfach mit dem Journalismus – niemand zwingt Sie dazu.
@ (#215) Wolfgang
Abstrakte und reflektierte Gespräche auf der Metaebene sind keine Trigger für einen Suizid.
Und ja, ich gehe sogar schwer davon aus, dass Herr Niggemeier bewusst dieses Blog führt, um Nachahmer im Kreise der Journalisten zu produzieren die mit dem Thema Suizid in der angemessenen Form umgehen – eben damit kein Leser und Zuschauer einen solchen begeht.
@ 216 JO
Na na, jetzt mal auf dem Teppich bleiben. Ich merke, dass das Thema sie auch emotional sehr angeht, und vielleicht bin ich ja tatsächlich etwas ignorant. Haben sie einfach etwas Nachsicht mit mir, vielleicht lerne ich hier ja noch was.
Allerdings ist mir nicht ganz klar, wo ich die Empfehlungen von Experten abgelehnt habe. Ich zwiefele nicht an dem Werther-Effekt und finde vieles, was bei der Berichterstattung um Enke passiert ist verabscheuungswürdig. Aber selbst wenn es ein besonders dicker Tropfen fauligen Abwassers ist, der das Fass zum Überlaufen bringt, ist er doch nur einer von vielen. Sie haben selbst gesagt, dass depressive Menschen ein falsches Bild der Realität im Kopf haben – wie soll so eine singuläre Gedankenwelt schon vorher miteinkaluliert werden (siehe auch mein Beispiel mit dem Blinden)?
Das Beispiel mit dem Auto hinkt deshalb dabei, weil dies eine Situation ist, die für jeden Menschen tötlich wäre. Treffender wäre wohl der Vergleich damit, dass ich wahllos Leuten Erdnüsse in den Mund stecken würde, ohne zu wissen ob sie dagegen vielleicht allergisch sind. Dem lässt sich allerdings dagegen halten, dass Medienkonsum eben vom Konsumenten aus gesteuert wird.
Zumindest bei der Bild hätte ich aber nichts dagegen, wenn die in Zukunft einen „Warnung: Kann schädlich für ihre geistige Gesundheit sein“ Warnhinweis auf die Titelseite drucken müssten.
Willkommen & auf Nimmerwiedersehen, Trigger und Metaebene.
@218:
Sie argumentieren ad absurdum. Der Zusammenhang zwischen Berichterstattung und steigender Zahl von Selbsttötungen ist vorhanden, auch Sie bestreiten ihn nicht.
Verzichten wir mal auf Autos, Erdnüsse und sonstige Hinkvergleiche:
Wenn die Berichterstattung nachweislich zu Toten führt, oder anders gesagt, der Verzicht auf Berichterstattung Menschenleben rettet, dann kann man sich nicht damit herausreden, dass andere Faktoren auch eine Rolle spielen. Journalisten tragen hier Verantwortung, mit der sie angemessen umzugehen haben.
Dieser verweigern Sie sich schlicht und einfach. Ihre Argumentation läuft auf ein schlichtes „ist mir egal“ hinaus. Das ist inakzeptabel.
@JO, #210: „Daher ist es meines Erachtens der Todesfall Enke kein Startpunkt, um über Probleme in der Gesellschaft oder im deutschen Fußball zu sprechen.“
Ich bein Depressionsexperte aber habe in meinem Umfeld einen Fall, und wundere mich auch darüber, daß von den Belastungen des Profisports gesprochen wird, als seien die mitursächlich.
Da ich kein Experte bin kann ich nicht leugnen, daß es so ist – habe aber bislang geglaubt, daß an den konkreten Umständen, in denen sich der Depressive bewegt, nichts geändert werden kann, um die Depression selbst zu lindern.
Daß man die Depression nicht stigmatisiert, so daß ein Betroffener über diese sprechen kann, ohne daß alle anfangen Klapsmühlenwitze zu erzählen, ist natürlich wünschenswert, aber es scheint mir eben kein Fall von ausgeprägtem Leistungsdruck zu sein, der bevorzugt Spitzenkräfte heimsucht, und nicht etwa auch kleine und mittlere Angestellte, Arbeiter und Arbeitslose.
Aber wie gesagt – ich bin kein Experte, der alle Spielarten der Depression kennt, oder eine Theorie der Krankheit – ich kenne nur sehr wenige Fälle.
Daher kann ich auch nur mit dem Kopf schütteln, wenn jmd. fragt „Haben Sie das nicht erkannt (die Depression, die suizidale Verfassung)?“ In der Regel sorgt der Depressive dafür, daß man das nicht erkennt. Er hat darin auch eine große Übung. Das sind keine Röteln, die ein Laie beim Draufschauen erkennt, sondern ein Therapeut wird bei einem kooperativen Patienten wahrscheinlich mehrere Sitzungen brauchen, um Gewißheit über die Depression zu bekommen.
Und Suizide kommen selbst in psychiatrischen Kliniken vor, wo ausgebildetes Fachpersonal unter erhöhter Alarmbereitschaft steht.
@220 seven:
Es überrscht mich, dass sie ein „ist mir egal“ aus meinen Worten lesen. Allein die Tatsache, dass ich mir die Mühe mache hier zu posten sollte eigentlich eine andere Sprache sprechen.
Das eine zurückhaltende Berichterstattung zu weniger Selbstmorden führt ist gut, und ich würde es begrüßen wenn das der Standart wäre. Allerdings kann ich nicht nachvollziehen, dass jede andere Form mit Mord gleichgesetzt werden soll. Wird sich jeder Depressive umbringen, der mit dem Fall Enke in Kontakt kommt?
Dementsprechend kritisiere ich auch Enke dafür, dass er einen unbeteiligten Lokführer in seinen Suizid mit hinein gezogen hat. Ich würde es ihm aber nicht anlasten, wenn dieser selbst einmal Selbstmord begehen würde.
Katja Burkhards Lispeln macht doch aus niemandem einen Selbstmörder. Diese Ehre gebührt der alkoholkranken Mutter, dem pädophilen Vater, den sadistischen Mitschülern, den mobbenden Kollegen, dem machtgeilen Chef oder wen man auch immer vor Augen hat, wenn man so eine Tat vollbringt.
@ The_Vanguard
Ja, da stimme ich Ihnen zu, das Lispeln von Frau Burkhard treibt niemanden in den Selbstmord und stört sicherlich kaum einen.
Die Worte hingegen, die sie verwenden könnte, also der Inhalt sowie die Art, diese können bei Menschen mit einer Depression zu einem Auslöser für einen Suizid werden. Und ebenso, wie niemand Frau Burkhard ihren Sprachfehler vorzuwerfen hat, der wohl auf einer Schwerhörigkeit beruht, genauso wenig sollte irgend jemand mit einer Depression die Wahl seines Selbstmordes vor geworfen werden. Herr Enke war krank und hatte deshalb keine andere Wahl in seinem Denken und Handeln.
@222:
-Ich habe kein Verhalten mit Mord gleichgesetzt. Ich spreche von Verantwortung, die sich aus dem Wissen um die Wirkungszusammenhänge ergibt.
-Die zurückhaltende Berichterstattung IST der Standard und entspricht dem Pressekodex.
-Der Fall Enke ist ein besonderer. Man kann ihn nicht wegschweigen oder kleinhalten. Deswegen sollte das, was als Werther-Effekt anerkannt ist, aber nicht völlig außer acht gelassen werden.
-Herr Enke war depressiv. Er litt unter einer krankhaften affektiven Störung, die mit irrationalem Verhalten und Wahn einhergehen kann.
Ihre Ausführungen zum ‚Lokführer-Vorwurf‘ zeigt, wie wenig sie verstanden haben. Herr Enke hat sich sein Verhalten nicht ausgesucht. Geben wir ihm nicht die Schuld. Das ist genau die Stigmatisierung, die wir bekämpfen müssen.
Mit dem Katja-Burkhard-Beispiel leugnen Sie genau den Werther-Effekt, den Sie oben noch befürworten.
Ihre Argumentation ist insofern unschlüssig und inkonsistent. Sie wischen die gewichtigen Argumente beiseite, entkräften können Sie sie nicht.
Wenn Sie den Werther-Effekt anerkennen, dann erläutern Sie doch mal Ihre persönliche Abwägung im Fall Enke und Ihre Wertung und Gewichtung der Aspekte und zu welchem Schluss sie deshalb kommen.
Oder Sie erkennen ihn nicht an, dann kommen wir eh nicht zusammen. Aber Sie müssen sich schon entscheiden.
Ihre bisherigen Auslassungen bedeuten übersetzt „Der Werther-Effekt ist schlimm, das ist richtig. Aber zum Glück gibt es ihn gar nicht.“
Das kann man als Realitätsverweigerung verstehen. Oder als „ist mir egal“.
Glückwunsch, Herr Niggemeier!
seven: Ihre bisherigen Auslassungen bedeuten übersetzt „Der Werther-Effekt ist schlimm, das ist richtig. Aber zum Glück gibt es ihn gar nicht.”
– Nein. Ich sage „Der Werther-Effekt ist schlimm, das ist richtig. Aber die Verantwortung dafür liegt nicht beim Journalisten.”
seven: Die zurückhaltende Berichterstattung IST der Standard.
– Im Fall Enke meinem Eindruck nach nicht.
seven: Herr Enke hat sich sein Verhalten nicht ausgesucht.
JO: Herr Enke war krank und hatte deshalb keine andere Wahl in seinem Denken und Handeln.
– Woher kommt diese Gewissheit? Gibt es eine typische Vor-den-Zug-werf-Depression, eine typische Pulsadern-aufschneid-Depression usw.?
seven: Wenn Sie den Werther-Effekt anerkennen, dann erläutern Sie doch mal Ihre persönliche Abwägung im Fall Enke und Ihre Wertung und Gewichtung der Aspekte und zu welchem Schluss sie deshalb kommen.
– Bei Enke fällt mir extrem auf, wie sehr er hochgejubelt wird. Da ist vom „Nationalhelden“ die Sprache, und von posthumen Ehrungen. Ich wäre sehr überrascht, wenn das keine Nachahmungstäter nach sich ziehen würde.
Ich werde aber nicht dazu gehören, da ich dieses Ereignis nicht so interpretiere, dass es eine Bedeutung für mein Leben hätte. Das bringt mich zu der Überzeugung, dass der Schlüssel dazu in der Interpretation des Empfängers liegt. Der Selbstmord ist seine eigene freie Entscheidung, weswegen auch nur er die Verantwortung dafür trägt.
@ The_Vanguard
– Woher kommt diese Gewissheit? Gibt es eine typische Vor-den-Zug-werf-Depression, eine typische Pulsadern-aufschneid-Depression usw.?
Ok, ich versuche es mal so:
Die Onkels in den weißen Kitteln fahren nicht den ganzen Tag mit ihrem Tatü-Tata herum. Zusammen mit ihren Freunden, den Biologen, Psychologen und Pharmakollogen, fragen sie Menschen, die versucht haben sich ganz doll selbst weh zu tun, warum sie das denn gemacht haben. Das macht nicht nur der Onkel Doktor heute so. Nein. Das hat schon der Uropa vom Doktor sodgemacht. Daher wissen sie auch ganz genau, was denn so im Kopf vorgeht bei Menschen die sich selbst Großes-AUA antun wollen. Manchmal stehen sie aber auch in ihrem Labor. Das ist ein großer Raum mit ganz vielen Fläschchen und Maschinen drin, fast so wie bei Miraculix. Aber aufpassen! Da können Sie sich selbst auch schnell AUA tun. Da dürfen Sie noch nicht mals mit der Mutti oder dem Papi rein.
Doch, auch Ihnen steht ein naturwissenschaftliches oder medizinisches Studium jeder Zeit zur Verfügung. Dann dürfen auch Sie da arbeiten – so nach 7-10 Jahren – wenn Sie einen Dr. haben. Spätestens dann haben Sie Gewissheit.
Aber auch nicht nur den Sportteil einer Zeitung lesen, soll angeblich in vielen Fällen zur Erhöhung des Wissenstand beigetragen haben! So munkelt man jedenfalls.
[…] Medienaufmerksamkeit auf einen Selbstmord zu richten (siehe auch Stefan Niggemeiers “Über Enke und Werther” zum Nachahmer-Effekt bei […]
@ The_Vanguard
Zu Ihren Ausführungen über „Nachahmungstäter“ und Verantwortung: „Ich werde aber nicht dazu gehören, da ich dieses Ereignis nicht so interpretiere, dass es eine Bedeutung für mein Leben hätte. Das bringt mich zu der Überzeugung, dass der Schlüssel dazu in der Interpretation des Empfängers liegt. Der Selbstmord ist seine eigene freie Entscheidung, weswegen auch nur er die Verantwortung dafür trägt,“
möchte ich Folgendes bemerken:
1. Sie liegen richtig in der Annahme, dass der Schlüssel in der Interpretation des Empfängers liegt. Wenn eine ausführlich beschriebene oder fotografierte Suizidhandlung beim Empfänger (Leser, Zuschauer) etwas auslöst, das bereits vorhandene Todeswünsche aktiviert, kann es vermehrt zu Nachahmungstaten kommen.
2. Sie liegen falsch, wenn Sie pauschal Suizide als eigene freie Entscheidungen darstellen, für die dann nur die Täter/Opfer selbst verantwortlich seien. Psychische Ausnahmezustände können Entscheidungen bedingen, die eben nicht „frei“ sind.
Vergleiche hierzu Wikipedia:
Man versteht unter Psychischer Störung erhebliche, krankheitswertige Abweichungen vom Erleben oder Verhalten; konkret betroffen sind die Bereiche des Denkens, Fühlens und Handelns.
Wenn Sie nun also wissen, dass Menschen in psychischen Ausnahmezuständen oder Menschen mit psychischen Störungen/Erkrankungen ein Ereignis als Schlüssel/Antrieb zur eigenen Suizidhandlung interpretieren könnten, sollten Sie alles vermeiden, um diesen Schlüssel durch auffällige Darstellung oder Ausschmückung eines Suizids besonders passend zu machen. Die Verantwortung hierfür liegt bei Ihnen.
JO, es tut mir sehr leid, dass ihnen dieses Thema so nahe geht. Bitte versuchen sie sich zu entspannen. Mein Standpunkt ist nur einer von vielen, und solche Verbitterung sicher nicht wert.
So einfach ist das nicht. Es nehmen sich ja auch „Fans“ das Leben, wenn deren Idole nicht durch den Akt einer Selbststötung versterben. Beispielsweise wenn die Boyband sich nur auflöst – was sagen denn die Zahlen dazu?
Meine eigene seelische Konstitution hat vor mehr als einem Jahrzehnt nach ausreichenden privaten vor allem aber beruflichen Katastrophen ihren Tiefpunkt erreicht. Ich war völlig ausgebrannt und hatte versäumt rechtzeitig die Notbremse für mich zu ziehen. Es gab aber auch gar keinen Moment „rechtzeitig“ den ich überhaupt als solchen benennen könnte in der Nachschau – insofern ja, es kann jedem passieren.
Da gab es in einem Sommer im Stern (einem sehr dünnen Stern, der typischen Sommerlochausgabe) einen großen Artikel über Depressionen – eben nur als Sommerlochfüller gebracht. Den las ich und habe für mich nur wegen diesem Artikel verstanden akut depressiv zu sein. Weil ich dort über Menschen las, auch Suizidkandidaten, mit denen ich unvergleichlich viel gemeinsam hatte. Mich hatte dieser Artikel gerettet, ich saß am nächsten Tag bei meiner Hausärztin und machte ihr deutlich, wie wichtig es ist, dass sie mich an jemanden Gutes überweist. Das habe ich auch deshalb damals dringlich vorangetrieben (das Einzige übrigens für das ich noch letzte Energie aufbringen konnte), weil ich eben in diesem Artikel auch über einen Menschen gelesen hatte, dem die Krankheit zu viel wurde und er freiwillig gegangen ist aus seinem Leben.
Ich kann also nicht zustimmen, wenn jemand sagt, bitte zu Selbstmorden möglichst keine journalistische Arbeit. Mir hat sie einmal das Leben gerettet auf ihre Weise. Es gibt eben auch hier kein reines Schwarz, noch reines Weiß.
Jede Aktion erzeugt Energie und die in der Folge Reaktionen. Das ist in der Kernenergie vielleicht einleuchtender, weil dort gesteuert gewünscht, als in der humanen Existenz, wenn ein Suizidversuch erfolgreich endet. Und solange es bei Menschen einen Wunsch nach Selbsttötung gibt, ist das eine Energie, der begegnet werden muss – auch journalistisch.
Genauso nämlich gibt es ja die Gegenreaktion – nur gibt es natürlich überhaupt keine Zahlen, weil diese Menschen damit nicht hausieren gehen – entscheiden sich sehr viele Menschen in diesen Tagen sich nur wegen Enke gegen einen Suizidversuch dafür aber für ihr Leben und eine Behandlung, die das ohne den besonderen Fall Enke nicht getan hätten und früher oder später es ihm gleich getan hätten. Da stellt sich mir nicht die Frage „ob überhaupt?“ sondern nur „wie?“ über einen solchen Fall berichtet wird. Dazu gab es in den letzten Tagen in der deutschen Presse leider nur sehr wenige Arbeiten zu denen ich sagen würde, ja, der Ansatz kann so stehen bleiben – hier wurde das eigentliche Problem erkannt.
Das Thema Depressionen ist so verflucht komplex, dass selbst die (wirklich guten) fachlichen Kompetenzen nie auch nur auf die Idee kämen würden, sie könnten das Krankheitsbild eins Einzelnen post mortem aus der Ferne diagnostizieren noch kommentieren. Übrigens auch dafür gab es in den vergangenen Tagen mehr schlechte als positive Beispiele. Eine Depression zeigt sich weder unbedingt in einem Bluttest (von sehr wenigen Arten abgesehen), noch wirft sie Schatten in einem Röntgenbild. Insofern ist eine Stellungnahme hin zur Analyse über den Selbstmörder ein absolutes Unding, da der Patient selber zu seiner höchst individuellen Krankheit und ihrem Verlauf nicht mehr Stellung nehmen kann.
In keinem Artikel in den vergangenen Tagen hat auch nur ein Online-Dienst die Chance in einem Artikel genutzt, die Leser mit einem Hinweis auf Seelsorge/Selbsthilfegruppe/ärztl. Betreuung zu informieren.
Wie gesagt, es gibt hier nicht die Farben Schwarz und Weiß, es gilt nur die Farbe Verantwortung. Verantwortungsvoll wird aber niemand wirklich über Enkes Selbstmord schreiben können, wer immer es in den letzten sieben Tagen mit höchster Achtung versucht hat. Ein Therapeut in der persönlichen Behandlung braucht deutlich länger, um seinen Patienten und seine besondere Krankheit verstehen zu können. Solange sich Journalisten nicht anmaßen, das schneller tun zu können, ist alles gut.
@Mitleserin:
Danke für diesen sinnvollen Beitrag. Allerdings glaube ich nicht, dass ein Suizid eine psychische Störung ist, sondern eine mögliche Folge dessen. Seinen seelischen Schmerzen ist der Kranke sicher hilflos ausgeliefert. Aber der klassische Selbstmord wird sehr bedacht ausgeführt, minutiös geplant und umsichtig vorbereitet. Es werden Abschiedsbriefe geschrieben und Testamente gemacht. Auch Robert Enke hat nicht im Affekt gehandelt.
Im Suizid selbst sehe ich deshalb die ultimative Freiheitsbekundung, die Demonstration der in letzter Instanz größten Autorität über das eigene Ich. Vielleicht werde auch ich mich mal im Alter dazu entscheiden lieber zu sterben, als von einer unheilbaren Krankheit gequält zu werden. Wenn ich das tue wird es aus der Überzeugung entspringen, dass allein ich entscheiden kann, was für mich zumutbar ist. Aber ich werde die Verantwortung dafür tragen müssen, im Leben anderer Menschen eine Lücke zu hinterlassen.
[…] Runde Cacheball * Geocaching in Schwerin: Ab Februar 2010 * …und in Paderborn: seit 2005 * Werther-Effekt * In Pink: bunte Spiegelreflexkameras von Pentax * Schlüssel zum Log: Key of Bremen * […]
Achso, hiermit wird also allen Suizidenten die Nutzung Ihres freien Willens untersagt, oder wie darf ich das verstehen? Wollte ich mich selbst vom Leben zum Tod befördern so würde ich mich weder durch ‚Vorbildhandlungen‘ noch durch Anprangern über Berichterstattung derselben, wie es hier zelebriert wird, abhalten lassen, denn auch Selbstmörder sind Menschen, die nichts weiter als die gottgegebene Freiheit auf Rückgriff auf den freien Willen und persönliche Selbstbestimmung nehmen. Spreche ich dem Selbstmörder das nachträglich ab, so spreche ihm ab ein freier Mensch gewesen zu sein. Eine infame Beleidigung post mortem. Ich sehe keinen Grund, ausser das es bei mir persönlich eine gewisse Langeweile bei der Lektüre auslöst, das nicht ausführlich über Sebstmordereignisse berichtet werden sollte.
@234:
Als ich ihren Spruch
„Achso, hiermit wird also allen Suizidenten die Nutzung Ihres freien Willens untersagt, oder wie darf ich das verstehen?“ war ich zuerst fast geneigt zu entgegnen:
Nein, hier sollte aber vielleicht Dumm-Schwaflern und Ignoranten wie Ihnen die Nutzung des freien Wortes untersagt werden.
Es gehört schon verdammt viel Nichtwissen und/oder Blindheit dazu, bei psychischen Störungen wie Depressionen den freien Willen zu beschwören.
Zur Bekämpfung ihrer „gewissen Langeweile“ empfehle ich ihnen, mal das Gespräch mit depressiven Menschen und/oder deren Angehörigen zu suchen.
Und warum ausgerechnet Sie mit ihrer Meinung vom angeblich freien Willen von „SelbstMORD“ sprechen, bleibt schleierhaft.
232 @ The_Vanguard
Philosophisch betrachtet ist Suizid für mich nur ein irrationale Fluchtakt; die Zustimmung für das „Schweigen der Welt“ gegenüber der Sinnfrage eines Denkenden, der dieser Frage nicht mehr stand hält und sich darum der Absurdität des Lebens entzieht.
Warum und wann ist Suizid Freiheit? Nennen Sie doch mal ein anderes Beispiel außer der eigene nahe Tod, aus dem klar wird wann Suizid die beste Wahl ist.
234 @ Harald Eisenmann
Richtig. So lange eine akute Fremd- oder Eigengefährdung vorliegt, darf eine Person in eine psychiatrische Anstalt überwiesen werden und sie verliert das Recht, ihren freien Willen nachzukommen und Suizid zu begehen. Nur weil der Mensch seine Mündigkeit in dieser Situation abgesprochen wird und als krank definiert wird, ist er weder entmenschtlicht noch rechtlos.
Man verzeihe mir, falls das hier schon diskutiert wurde (habe mir nicht alle 236 Kommentare vor mir durchgelesen), aber: Inwiefern kann man die FAZ ausnehmen? Die hatte seit vergangenem Dienstag auch jeden Tag mind. einen Artikel dazu im Blatt.
[…] Und das beschränkt sich nicht nur auf den inoffiziellen Meinungsführer der Medienkritikblogger, Stefan Niggemeier. Sie nähren bei mir die Hoffnung, dass […]
Herr Niggemeier. lieber Pseudo-Intellektueller… Ich bitte Sie! Es wird immer beschämender. Der wievielte Eintrag zum Thema RK ist das? Erkennen Sie die Doppelmoral nicht? Über eine Antwort würde ich mich freuen. E. Zitsch
@ 237: Das kommt noch dazu… Für mich ist das Heuchlerei.
Ok, ein letztes Mal…
„- Nein. Ich sage „Der Werther-Effekt ist schlimm, das ist richtig. Aber die Verantwortung dafür liegt nicht beim Journalisten.”
Bei wem dann? Beim Universum? Die Verantwortung für die vorher bekannten(!) Auswirkungen einer Handlung liegt natürlich beim Handelnden.
„seven: Die zurückhaltende Berichterstattung IST der Standard.
– Im Fall Enke meinem Eindruck nach nicht.“
Wie ich ebenfalls schrieb ist der Fall Enke kein Standardfall.
„- Woher kommt diese Gewissheit? Gibt es eine typische Vor-den-Zug-werf-Depression, eine typische Pulsadern-aufschneid-Depression usw.?“
Stellen Sie sich mal nicht dämlicher, als Sie sind.
Eine Depression, die wahnhaft ist, die zum Suizid führt, ist eine absolute Ausnahmesituation. Gewiss ist nichts. Aber was halten Sie für wahrscheinlicher? Dass jemand, der sich vor den Zug wirft, endlos verzweifelt ist und sich anders nicht zu helfen weiß? Oder dass er ein geltungssüchtiger Misanthrop ist, der einfach mit Karacho abgehen will?
„- Bei Enke fällt mir extrem auf, wie sehr er hochgejubelt wird. Da ist vom „Nationalhelden” die Sprache, und von posthumen Ehrungen.“
Dass die Trauerfeierlichkeiten für Herrn Enke übergroß ausfallen, liegt daran, dass sich einfach so viele Menschen mit ihm verbunden fühlen und ihn verabschieden möchten. Herrgott, der Mann war Nationaltorwart. Ich kann die Begeisterung für Fußball auch nicht nachvollziehen, aber für viele war der Mann ein wichtiger Mensch. Wenn alle zur Beerdigung kommen, die den Verstorbenen kannten, wird es bei unsereins halt eine intime Veranstaltung, bei jemand wie Herrn Enke eben ein Großereignis.
Die Berichterstattung ist teilweise unangemessen, übertrieben, sprengt die Schamgrenze, ja. Nur darum geht es doch gerade.
„Ich wäre sehr überrascht, wenn das keine Nachahmungstäter nach sich ziehen würde.“
-Ja, und das soll man einfach so hinnehmen? Sollen die Leute doch vor den Zug springen? DAS soll die angemessene Reaktion sein? Nochmal: Die überwiegende Mehrzahl von Suizidenten ist depressiv und befindet sich nicht im Vollbesitz der geistigen Kräfte.
„Ich werde aber nicht dazu gehören, da ich dieses Ereignis nicht so interpretiere, dass es eine Bedeutung für mein Leben hätte. Das bringt mich zu der Überzeugung, dass der Schlüssel dazu in der Interpretation des Empfängers liegt.
Der Selbstmord ist seine eigene freie Entscheidung, weswegen auch nur er die Verantwortung dafür trägt.“
Sie schließen von sich auf andere. Ich muss mich nicht umbringen, also müsste es keiner, also ist jeder, der es tut, selbst verantwortlich. Vielleicht sollten Sie mal eine andere Faktenbasis benutzen als Ihren eigenen Erlebnishorizont. Dann kommt vielleicht auch was tragfähiges dabei heraus.
So, und jetzt noch ein letztes Mal:
1.Übertriebene, detailreiche, sensationsgetriebene Berichterstattung über Selbsttötungen (wie auch Amokläufer) führt offenbar zu Nachahmungstaten.
2.Die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen, die sich selbst töten möchten, leiden unter Depressionen und befinden sich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Wären Sie gesund, würden Sie es nicht tun.
3. Daraus ergibt sich, dass die Medien bei der Berichterstattung über Suizide eine große Verantwortung tragen und behutsam vorgehen sollten.
Wer um die Folgen seines Handelns weiß, MUSS diese angemessen berücksichtigen.
So, und nun ist gut.
@noch ein sebastian, #237:
a) Das wurde in Beitrag 18 u. 19, 49-53, 88, 97-104, 116-133 ohne 125 und den Beiträgen 188 (teilweise) und 189-94 diskutiert.
b) Ja, ich habe gerne nochmal alles für sie durchgelesen, dann müssen Sie es nicht tun.
c) Conclusio aus den Beiträgen war: die einen meinen so, die anderen so.
Herr Niggemeier
– vielleicht liegt es auch nicht an der Berichterstattung, sondern an der weichgespülten Art der Berichterstattung. In den Medien werden nur saubere Tote, abgedeckt mit weissen Tüchern dargestellt; die haarigen, blutigen Fleischklopse werden genauso wie Sterbende völlig ausgespart. Unsere Jugendschutzbehörden scheinen das auch so zu wollen – einen Mord darf man im Film problemlos zeigen, das Leiden der Opfer und die physische Zerstörung eines Menschen nicht – das ist „zu grausam“. Das ist die Darstellungweise aus Tätersicht – bei Morden, wie Freitoden – es wird das ausgeblendet, was der Täter nicht sehen/zeigen will – die Amerikaner haben diese Methodik der schönen Bilder im Irakkrieg exemplifiziert – sie hatten schließlich auch schlechte Erfahrung mit klaren Darstellungen u.a. während des Vietnamkrieges.
Liegt die Grausamkeit nicht primär in der Tatsache der Tötungs-/Gewaltaktes selbst und nicht in seiner realistischen Darstellung? Die ständige Berieselung mit ästhetisierter Gewalt ist vermutlich eine der Mitursachen der Grenzüberschreitungen von Jugendlichen – das Opfer kriegt ein paar drauf, es schreit nicht, es fließt kaum Blut, es wird nicht geröchelt und Blut gekotzt und elendich vereckt oder lebenslang an den Folgen gelitten. Es bleibt fast immer bei kurz geschnittenen, sauberen Momenten der Eskalation.
Gerade bei den Freitoden unter Mißbrauch von Zügen, die eine große Anzahl von Menschen mit ihrem Freitod belästigen und traumatisieren, sollte man die Folgen für Täter wie Opfer durchaus plakativ und deutlich darstellen, dies würde vermutlich zumindest teilweise die Art des Freitodes auf sozialverträglichere Methoden umlenken. Seit dem ich ein paar Bekannten reale Einsatzaufnahmen von schwersten Autobahnunfällen mit Toten und jammernden, langwierig freizuschneidenden Schwerverletzten gezeigt habe, hat sich deren Fahrstil deutlich verbessert.
@226 (Vanguard):
„Bei Enke fällt mir extrem auf, wie sehr er hochgejubelt wird. Da ist vom „Nationalhelden” die Sprache, und von posthumen Ehrungen. Ich wäre sehr überrascht, wenn das keine Nachahmungstäter nach sich ziehen würde.“
Welches Medium hat denn bitte von Enke als „Nationalhelden“ gesprochen?! Google News bringt für die Suche „Enke Nationalheld“ einen(!) Treffer. In dem Artikel von der Welt wird gefragt, woher eigentlich die quasi-religiöse Form der Verehrung für Enke komme, der ja nun gerade kein Nationalheld wie Beckenbauer sei.
Ihr Zitat verdeutlicht sehr gut die Scheinheiligkeit der Diskussion hier. Sie beginnt damit, daß Niggemeier hier Verhaltensregeln zitiert, die auf den Fall Enke gar nicht anwendbar sind („Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.“ – wie soll das bitte gehen!). Sie geht weiter, indem unterstellt wird, daß die Verhaltensregeln auch für den Fall von sehr prominenten Selbstmördern, einen völligen Verzicht auf Berichterstattung vorschlagen (das tun jedenfalls die zitierten Artikel aber gerade nicht!), sie gipfelt darin, daß falsche Behauptungen über die Berichterstattung aufgestellt werden (Enke würde als „Nationalheld“ bezeichnet; niemand erwähne das Leid der Lokführer, etc.).
Mit etwas weniger (gespielter) Empörung wird man feststellen, daß in der Tat einige Medien (wie immer) über das Ziel hinausgeschossen sind.
Aber es gilt auch:
– Ein Großteil der Berichterstattung
nimmt den Fall Enke zum Anlass, generell über das Krankheitsbild Depressionen zu schreiben,
– Enkes Tat wird nahezu durchgehend nicht heroisiert, sondern als sinnlos dargestellt,
– Die Berichte differenzieren zwischen den sportlichen Erfolgen und dem Menschen Robert Enke.
Was den „Event-Charakter“ der Trauer angeht, mögen die Kritiker soch bitte auch noch mal Ziegler/Hegerl nachlesen, daß die es für positiv bewertet haben, daß bei Kurt Cobains Suizid die Menschen in ihrer Trauer nicht allein gelassen werden. Was die PK von Teresa Enke angeht, möge man doch bitte auch mal über die Alternative nachdenken: tage- oder wochenlange Spekulationen über die Motive (und zwar auch dann, wenn sich die Medien daran nicht beteiligt hätten).
Wem es wirklich darum geht, den Werther-Effekt zu minimieren, der soll doch dann bitte auch so konsequent sein, und in Anlehnuing an Ziegler/Hegerl fordern, daß die BILD ein Foto des zerfetzten Körpers von Enke auf der Titelseite hätte bringen sollen. Wem das zu weit geht, der soll dann auch so ehrlich sein, daß der Verzicht darauf einen Preis kostet, den man in Menschenleben zählen kann.
Nlage Rede, kurzer Sinn: Einiges an der Berichterstattung insbesondere des Boulevards war falsch und streckenweise verabscheuungswürdig. Vieles, vieles in den seriösen Medien und am Umgang mit dem Suizid in der Öffentlichkeit generell war aber auch gut und richtig und entsprach den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Minimierung des Werther-Effekts. Auch das hätte man erwähnen können statt alle Medien in großem Bausch und Bogen zu verurteilen.
@231 (samte):
„In keinem Artikel in den vergangenen Tagen hat auch nur ein Online-Dienst die Chance in einem Artikel genutzt, die Leser mit einem Hinweis auf Seelsorge/Selbsthilfegruppe/ärztl. Betreuung zu informieren.“
Wieder so ein Fall selektiver Wahrnehmung oder bloßer Behauptung ins Blaue hinein. Alle von mir mehr oder minder rgm. gelesenen Zeitungen (SZ, FAS, Hamburger Abendblatt, BILD) hatten solche Hinweise. Eine kurze Google-Recherche hätte gezeigt, daß die BILD beispiels weise zuletzt vorgestern wieder einen Artikel mit dem Titel „Depressionen: Wo bekommt man Hilfe?“ oder so ähnlich hatte. Bei RP online (um das andere so beliebte Negativbeispiel in diesem Blog zu nehmen) habe ich innerhalb von 30 sec. eine Infobox mit Telefonnummern zu Beratungen und Selbsthilfegruppen gefunden (für die Stadt Willich).
Herr Niggemeier,
da Sie sich doch recht intensiv über den Werther-Effekt informiert haben, verstehe ich Ihre Motivation für die Kritik an der Kerner-Sendung im FAZ-Fernsehblog nicht.
Eine der oben zitierten Empfehlungen zur Vermeidung des Werther-Effekts lautet: „Der Suizid sollte nicht als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion dargestellt werden oder als alternativlos dargestellt werden.“
Im Fernsehblog schreiben Sie: „Es wäre ein Augenblick gewesen, innezuhalten und kurz zu reflektieren, in welchem Maß sich alle in einen Rausch spekuliert hatten, auf der Suche nach Erklärungen für das Unerklärliche und rationalen Gründen für die Irrationalität einer Krankheit, zu deren Komplikationen der Suizid gehört.“
Sollen nicht genau solche Aussagen vermieden werden? Der Suizid als „Komplikation“ der Depression und damit als zum Krankheitsbild gehörend – manchmal unausweislich und alternativlos? Ist das so? Und wenn ja, warum schreiben Sie es auf im Wissen um den Werther-Effekt? Und wenn es nicht so ist, warum zeigen Sie dann nicht die Alternativen auf?
Sie schreiben weiter: „Kerner bemühte sich rührend, das Gespräch vom unbegreiflichen Thema Depression zum viel handlicheren Thema Überforderung und Druck zu lenken, worunter ja nicht nur Profi-Fußballer leiden würden, sondern zum Beispiel auch Geschäftsleute. Und er versuchte, der Tat etwas Gutes abzugewinnen und fragte in seiner unnachahmlichen Art, „ob wir möglicherweise damit rechnen müssen, dass wir in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vermehrt Fälle hören, wo Fußballprofis den Mut finden zu sagen: Auch ich war einmal in der Situation, wo ich, ganz ehrlich, das Gefühl hatte, ich kann nicht mehr.“ Und wenn nun eine offene Diskussion entstehe über die Notwendigkeit, auch Schwächen zeigen zu können: Ob das „möglicherweise einen Mini-Mini-Mini-Sinn des Freitodes von Robert Enke gewesen sein könnte“?“
Wir sind uns wohl einig darin, daß diese Spekulationen und Sinnsuche sowie das Aufzeigen von Parallelen in der Geschäftswelt im Hinblick auf den Werther-Effekt jedenfalls grob fahrlässig sind – vielleicht sogar ein Beispiel für die von Ihnen zitierte „groteske Verantwortungslosigkeit“. Aber warum um Himmels willen protokollieren Sie dann ausgerechnet diesen Teil der Sendung und machen die Spekulationen und die Sinnsuche noch mehr Menschen zugänglich? Sicher doch, um sich davon zu distanzieren, auf das Problematische an den Äußerungen Kerners im Hinblick auf den Werther-Effekt hinzuweisen, oder? Mal sehen:
„Dabei legte er den Kopf ganz treuherzig schief, bevor jemand auf die Idee kommen konnte, dass auch die Medien mit ihrer Gnadenlosigkeit gerade im Sport zu dem unmenschlichen Druck beitragen könnten.“
Nein, Sie geben Kerner sogar Recht und ergänzen die Schuldzuweisungen auch noch darum, daß gerade die Medien zu diesem Druck beitragen. Und wie machen die Medien das? Natürlich „gnadenlos“! Und wie ist der Druck? „Unmenschlich“ – also so, daß ein Mensch diesen Druck doch eigentlich nicht aushalten kann. Ist das nicht genau das (versteckte) Verständnis für den Suizid Enkes, daß man tunlichst vermeiden sollte?
Hätte es das Gebot nach Zurückhaltung bei der Berichterstattung angesichts der überflutenden Berichte, die es ohnehin schon gab, nicht nahegelegt, auf die Kritik an dem Kerner-Spezial überhaupt gänzlich zu verzichten?
Mich würde wirklich interessieren, wie Sie das sehen?
Mit besten Grüßen,
pw
@Harald Eisenmann #234: Dass Sie sich hier überhaupt noch her trauen…
Bei einem Selbstmord wie dem von Robert Enke gibt es mindestens noch ein weiteres Opfer: den Lokführer. Nicht selten erleiden diese nämlich eine schwere Traumatisierung mit nachfolgender Posttraumatischer Belastungsstörung, einer in der Regel ernsten und langwierigen Erkrankung. Und der Anblick dem nach einer solchen Tat Rettungskräfte und Bahnarbeiter ausgesetzt sind, kann sich wohl jeder selbst ausmalen, der ein wenig darüber nachdenkt.
Aber auch darüber wird in den Medien kein Wort verloren. Bei aller Anteilnahme – wer seinem Leben selbst ein Ende setzen will sollte das doch wohl so tun, dass nicht auch noch andere Menschen zu Schaden kommen. Kritische Berichterstattung – Fehlanzeige!
@249: Jetzt wird es albern. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie soviel über Lokführer gelesen, wie in den letzten Tagen. Näher an der Wahrheit wäre vermutlich die Behauptung, daß es mittlerweile in Deutschland nicht ein einziges Medium gibt, daß die Traumatisierung von Lokführern durch Suizide thematisiert hätte.
Da fehlt ein „nicht“. Gemeint war: Vermutlich hat jedes Medium in Deutschland in irgendeiner Form die Traumatisierung von Lokführern behandelt.
hier die Selbstverantwortung jedes einzelnen Menschen für sein eigenes Leben zu negieren und diese Verantwortung auf den Medien abzuschieben, halte ich für völlig abstrus.
Die Medien sind nicht für das Seelenheil der Bevölkerung zuständig, dafür gibt es Mediziner und Psychologen
@249
Ruckzuck kamen überall die Lokführer zu Wort. Aufgefallen ist mir das zuerst bei Kerner… der wiedermal ganz große Betroffenheit geheuchelt hat.
Da hier verschiedentlich von Oden die Rede war, und weiterhin schon im Titel von Goethes Werther die Rede ist, frage ich mich, ob auch die Kunst sich dann einer Selbst-Zensur unterwerfen soll, oder ob man gewillt ist, ihr eine Sonderrolle zuzugestehen (wie in der Verfassung vorgesehen) – schon der Name des hier diskutierten Phänomens legt ja nahe, daß das Jugendwerk des sonst in unserer Gesellschaft allgemein hochgeschätzten Dichters Goethe gefährlich werden, als Trigger dienen könnte.
Was würde das für die Kunst bedeuten?
Nur noch Disney,
kein George Grosz (Bilder von Suizidenten) mehr, kein Rene Crevel, kein Jean Amery, Sarah Kane wird aus dem Theaterprogramm gestrichen, ein berühmtes Zitat von Cesare Pavese darf unter keinen Umständen mehr wiederholt werden, ein biographisches Portrait von Klaus Mann und Zitate aus seinen Aufzeichnungen, die von Lebensmüdigkeit und Todessehnsucht zeugen, werden unmöglich, denn man könnte ja sein Handeln als nachvollziehbar empfinden, sich gar mit ihm identifizieren. Gefährlich ist er allein schon deswegen, weil er attraktiv und fotogen war, und über gewisse „Starqualitäten“ verfügte.
Filme wie „Control“ und die Musik Ian Curtis´müßten dann auch darauf geprüft werden, ob sie Suizidneigungen steigern könnten.
Auch das berühmte Suizid-Bild Edouard Manets dürfte nicht mehr gezeigt werden. Songs wie „Gloomy Sunday“ dürften nicht mehr gespielt werden, und was ist dann mit Johannes Sebastian Bach („Komm süßer Tod!“)? Friedrich Nietzsche dürfte wegen seiner Freitod-Philosophie im Unterricht nicht mehr besprochen werden.
Der leidende Mensch wird somit aus dem Bewußtsein der Gesellschaft verdrängt – die Spaßgesellschaft wird zur Spaßdiktatur.
Eine Gesellschaft, in der Künstler im Besonderen und Menschen im Allgemeinen ihr Leiden, und ja, auch ihre Todessehnsucht, nicht mehr ungehindert ausdrücken können, unter welchem Vorwand auch immer, erscheint mir zutiefst erschreckend.
seven (@241) hat es doch auf den punkt gebracht.
i.ü. herrschen hier eindeutig unüberbrückbare differenzen.
wie wärs also mal mit einem neuen thema: schafcontent!
@ ladylazarus
Erst einmal: Nietsche ist kein Künstler.
Dann: Diese Diskussion geht über Journalismus, der Massenmedien bedient und sich nicht wie ein Theaterstück oder eine Kunstausstellung an ein sehr „privilegiertes“ und kleines Publikum wendet. Ebenso sollten Sie bedenken, dass das Wesen der Kunst nicht das plakative Darstellen von Suiziden darstellt. Reguliert wird dies übrigens auch in der Praxis: durch die Theaterdirektoren, durch die Dramaturgen, durch die Regisseure, durch die Filmstiftungen (also die Geldgeber). So „frei“ ist die Kunst ja nun auch nicht.
Abschließend: Es geht nicht darum, dass überhaupt nicht über Suizid gesprochen werden soll, es geht darum, das eine angemessene Form gewählt werden soll, die niemanden zu einer solchen Tat motiviert und verletzt – und zwar in den Massenmedien mit der damit verbundenen Verantwortung. Ein Überdenken im Umgang mit der Thematik hingegen in Filmen und Soaps, die durch ihre oberflächliche, dumme und naive Art ein falsches Bild über Suizid einem Millionenpublikum vermitteln, wäre sicher hier angebracht.
@ Jo
Ob Nietzsche ein Künstler war, darüber kann man streiten. Immerhin war er einer der hervorragendsten Lyriker der deutschen Sprache, und meiner Auffassung nach ist er insgesamt eher ein Künstler als ein Philosoph. Weiterhin gibt es durchaus Kunst, die plakativ ist. Mishimas Suizid war eine Inszenierung. Zudem lehne ich die elitäre Vorstellung einer strikten Trennung zwischen hoher und niedriger Kunst ab. Außerdem wird etwa im Spiegel (Massenmedium) auch über Kunst und Suizid berichtet, siehe etwa die Berichte über David Foster Wallace. Daß der Kunst Beschränkungen auferlegt sind, bestreite ich nicht, und die Bestehenden sind schon schlimm genug.
Vor allem aber: Soll es eine Moral geben für das „privilegierte“ Publikum und eine für die „Masse“?
Ich denke, daß es hier um Prinzipien geht, die, wenn sie umgesetzt werden, auf die verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche überzugreifen drohen.
Zunächst: herzlichen Glückwunsch zum Hans-Flausch-Preis. Hast es Dir verdient!
Zum Thema:
Das Standardargument der Journalisten in diesem Kontext ist stets: wenn wir es nicht machen (Anm.: darüber berichten), machen es andere. Ich finde das Verhalten der Medien im Fall Enke schlicht verantwortungslos – mal wieder! Wieder eines von zahllosen Beispielen, die dies belegen. Und es gibt niemanden – aber auch wirklich niemanden, der das kontrolliert! Es ist wirklich ein Trauerspiel und eines ambitionierten Journalimus nicht würdig…
Zum Glück habe ich bei meinem letzten Besuch hier die Kommentare nicht abonniert…
Zum Thema: Mittlerweile – nach zweitem Lesen des Posts und zumindest Überfliegen aller bisherigen Kommentare – neige ich dazu, dem Hausherrn NICHT zuzustimmen.
1.) ist Selbstmord (autsch, das böse Wort) nicht ansteckend: Die intervenierende Variable zwischen Berichten über Suizide und eigenem Suizid lautet scheinbar „Depression“, das ist hier oft genug erwähnt worden.
2.) stolpere ich im Post über eine Inkonsequenz: Über eine Selbstmordserie an einer Schule darf berichtet werden, wenn dadurch Missstände aufgedeckt werden? Wenn andere Schüler an anderen Schulen mit ähnlichen Missständen das lesen und sich umbringen, ist das dann kein Werther-Effekt? Gibt es einen guten und einen schlechten Werther-Effekt? Wahrscheinlich liegt die Lösung dazu in
3.) der Forderung nach reflektierter Berichterstattung, die ich aus dem ersten Zitat des Posts lese. Ironie der Medienkritik: Gerade der hier an früherer Stelle gescholtene Pro7-Bericht zeigt das Leiden der Hinterbliebenen, führt also wie so oft gefordert die negativen Folgen des Handelns vor Augen. Zudem habe ich den Eindruck, dass die Berichterstattung im Großen und Ganzen reflektiert ist – zumindest die, die ich verfolge: Es wird z.B. sehr viel über Depression diskutiert und über die Folgen für den Lokführer.
4.) Auch wenn ich jetzt Widerspruch ernte: Ich kann die Journalisten eben nicht für die Handlungen ihrer Leser/Hörer/Zuschauer verantwortlich machen. Wer das tut, macht es sich meiner Meinung nach etwas zu einfach und überschätzt die Medien. So stark wirken Medien nicht, auch wenn vor über 35 Jahren, als die ersten hier erwähnten Studien entstanden sind, die Lehrmeinung noch eine andere war.
Vielleicht ließe ich mich überzeugen, wenn alle, die hier ins Niggermeiersche Horn blasen, sich ebenso vehement für ein generelles Alkoholverbot einsetzen: Schließlich gibt es Menschen, die (eventuell mit genetischen Prädisposition) an Alkohlismus erkranken. Damit will ich nichts relativieren: Alkoholiker sollten keinen Alkohol trinken, und wer an einer Depression leidet, sollte sich in Behandlung begeben. Aber hier wird am falschen Ende angesetzt.
@Daniel A.: Das heißt, kurz gesagt: Journalisten sollen die Empfehlungen diverser Gesundheits- und Suizidpräventionsorganisationen sowie die unzähligen Studien, die beweisen, dass sich die Zahl der Selbstmorde durch Art und Umfang der Berichterstattung über Selbstmorde beeinflussen lässt, ignorieren?
(Was den Punkt 2 angeht: Wo ist die Inkonsequenz? Es geht darum, Leben zu retten. Das kann dadurch geschehen, dass man Nachahmungstäter verhindert. Oder dadurch, dass man die Missstände abstellt, die Menschen in einer konkreten Situation dazu bringt, sich das Leben zu nehmen.)
— JO —
Nennen Sie doch mal ein anderes Beispiel außer der eigene nahe Tod, aus dem klar wird wann Suizid die beste Wahl ist.
– Ich wüßte nicht, wie man jemals nachweisen könnte, dass eine Wahl besser als eine andere wäre. Man kann nur darauf hoffen, nach einer Wahl nicht unzufrieden mit ihr zu sein. Bei einem erfolgreichen Suizid ist das höchstwahrscheinlich zwangsläufig so.
.
— seven —
Bei wem dann? Beim Universum? Die Verantwortung für die vorher bekannten(!) Auswirkungen einer Handlung liegt natürlich beim Handelnden.
– Da die Auswirkung individuell unterschiedlich ist kann sie nicht vorher bekannt sein – es lassen sich nur Tendenzen abschätzen. Ansonsten verweise ich auf meinen dritten Post, wo es heißt:
„Katja Burkhards Lispeln macht doch aus niemandem einen Selbstmörder. Diese Ehre gebührt der alkoholkranken Mutter, dem pädophilen Vater, den sadistischen Mitschülern, den mobbenden Kollegen, dem machtgeilen Chef oder wen man auch immer vor Augen hat, wenn man so eine Tat vollbringt.“
.
„Woher kommt diese Gewissheit? Gibt es eine typische Vor-den-Zug-werf-Depression, eine typische Pulsadern-aufschneid-Depression usw.?”
Aber was halten Sie für wahrscheinlicher? Dass jemand, der sich vor den Zug wirft, endlos verzweifelt ist und sich anders nicht zu helfen weiß? Oder dass er ein geltungssüchtiger Misanthrop ist, der einfach mit Karacho abgehen will?
– Warum kann nicht beides zutreffen? Um diese Frage geht es mir aber auch nicht. Ich zweifele nur daran, dass der Selbstmörder seine Mittel nicht selbst wählen kann.
Ja, und das soll man einfach so hinnehmen? Sollen die Leute doch vor den Zug springen? DAS soll die angemessene Reaktion sein?
– Nein, denn durch das Vor-den-Zug-springen werden Unbeteiligte mit hinein gezogen. Ich wüßte aber nicht, welches Recht ich grundsätzlich hätte, jemandem vorzuschreiben, was er mit seinem Leben anzufangen hat.
Nochmal: Die überwiegende Mehrzahl von Suizidenten ist depressiv und befindet sich nicht im Vollbesitz der geistigen Kräfte. Sie schließen von sich auf andere.
– Nein. Wenn ich das tun würde müsste ich sagen, dass es keinen Sinn ergibt, sich davon zum Selbstmord anstiften zu lassen und der Werther-Effekt nicht befürchtet werden müsste.
Ich muss mich nicht umbringen, also müsste es keiner, also ist jeder, der es tut, selbst verantwortlich. Vielleicht sollten Sie mal eine andere Faktenbasis benutzen als Ihren eigenen Erlebnishorizont. Dann kommt vielleicht auch was tragfähiges dabei heraus.
– Dann machen sie mal einen Vorschlag. Ich warte immer noch auf einen stichhaltigen Beweis dafür, dass Selbstmörder ihre Todesart nicht frei wählen können. Zum Glück für den von ladylazarus schon erwähnten Mishima Yukio scheint diese Einschränkung aber zumindest kulturell bedingt zu sein.
.
— peter wolf —
Welches Medium hat denn bitte von Enke als „Nationalhelden” gesprochen?!
– Die Nachrichten von Radio Energy 93.3 München
@Stefan Niggemeier/259: Ein Bericht über eine Selbstmordserie, um Missstände an einer Schule aufzudecken, würde in meinem Verständnis gleich zwei der im Post genannten Empfehlungen widersprechen: Die Opfer wären einer „Zielgruppe“ zuzuordnen, und „Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides“ müssten zwangläufig thematisiert werden, womit die eine „Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen“ gegeben wäre.
Und nein: Die Medien sollten diese Empfehlungen, gerade da sie wissenschaftlich untermauert scheinen (ich habe die Studien nicht im Original gelesen) nicht ignorieren. Andererseits sollte man das Thema Suizid in den Medien auch nicht tabuisieren.
Ich schreibe ungern Kommentare über Bildschirmhöhe, hab’s in diesem Fall dennoch getan, da solch ein Thema meiner Meinung nach eben besser nicht „kurz gesagt“ diskutiert werden sollte…
@ 260:
Mehr als meine Standpunkte klar und deutlich darlegen, kann ich nicht. Und ich habe auch keine Lust mehr.
ich bin Journalist und habe eine Frage zum Spannungsfeld von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Ich berichtete über die illegale Verfüllung von Tongruben mit Müll. Die Berichterstattung hatte war gesinnungsethisch begründet und hatte trotzdem Folgen: Die Müllfirma ging pleite, weil die Verklappung gestoppt wurde, ca 100 Leute sind arbeitslos und das kurz vor Weihnachten – habe ich mich richtig verhalten oder hätte ich lieber nicht berichten sollen?
Danke @ladylazarus (#253) für diese Gedanken! Stimme voll zu, auch wenn eine Interpretation des Werther-Effekts natürlich nichts mit einer Interpretation des Werther selbst zu tun hat (Goethe hat den Werther-Effekt nicht erfunden, das Werk „Die Leiden des jungen Werther“ wird heute kaum mehr als Trigger funktionieren:-)
Eintrag Nummer 265.
Ich denke, es ist doch im Grunde alles gesagt, vielleicht noch nicht von allen, aber im Thread wiederholt sich inzwischen sehr viel.
Die Meinungen sind ausgetauscht. Herr Niggemeier hatte einen ordentlichen Traffic für seine Seite. Ist ja auch schon mal was.
Etwas Flauschcontent käme jetzt nicht schlecht.
nebenbei: ich finde es schade, dass die schreiberei über lafontaine bislang nicht hier im blog behandelt worden ist.
Siehe auch:
http://www.spiegelfechter.com/wordpress/1171/wenn-der-spiegel-mit-dem-oskar-und-der-sahra-%E2%80%A6
Auch das ist eine ernstzunehmende Sache. Selten zuvor haben sich die angeblichen Qualitätsmedien im Konzert so daneben benommen, meine ich. Und dass die FAZ beteiligt war, wird ja wohl nicht ursächlich dafür gewesen sein, dass das Thema hier nie auftauchte.
@ treets
Flauschcontent? Es ist doch noch nicht Sonntag. Ne, bitte nicht. Das wirft sonst meinen Hormonhaushalt komplett durcheinander (so wie Feiertage an einem Donnerstag) und gehe dann am Samstag ins Büro, weil ich denke, es sei schon Montag …
Gut, JO, dann für Sie:
http://www3.ndr.de/sendungen/zapp/media/massentrauer100.html
Zapp macht die größte Heuchelei von allen. Am vergangenen Sonntag noch erklärt Moderatorin Inka Schneider, Zapp wolle nicht über Enke berichten, weil es nun wirklich genug gewesen sei. Und dann, plötzlich, siehe da, taucht doch noch ein Beitrag auf. Entweder haben die den Film aus Zeitgründen nicht gesendet und das moralisch verklärt, oder sie haben sich doch entschlossen, mit in den Hype einzusteigen.
Wie auch immer: für mich ist das wesentlich schlimmer als all die Boulevard-Geschichten. Denn hier entlarvt sich doch offenbar das moralische Möchtegern-Medien-Über-Ich. Besonders perfide finde ich bei etwa 1.48 die Formulierung (kurz bevor Oliver Bierhoff sichtlich angegriffen wirkt): „Stoff zum Mitleiden.“
Das sind sie, die jungen, zynischen Meta-Journalisten. Ich kann auf sie verzichten. Mag auch Herr Niggemeier sich mit denen verkumpeln.
Die Frage von Christian (263) ist zu interessant, um Flauschcontent zu fordern. Wie verhält sich der verantwortungsvolle Journalist, um am wenigsten falsch zu machen?
Na dann, 269 und 263:
Zunächst einmal ist die Berichterstattung in dem genannten Fall, wenn es sie denn so gab, auch verantwortungsethisch begründet.
Es geht um das Wohl der Allgemeinheit und Menschheit, und das dürfte doch das höchste Gut selbst der Niggermeierschen Verantwortungsethik sein. Ansonsten dürfte ich ja auch keinen Bericht über das Unwesen der Türsteher-Szene und der Drücker-Szene und der Sonst-Wie-Mafia machen, wenn ich an deren Arbeitsplätze denken müßte.
Da einige Kommentatoren auf die Rolle der Experten zu sprechen gekommen sind, möchte ich an dieser Stelle einwenden, daß diese Expertenschar sich mitnichten einig über die Ursachen der Depression ist. Es gibt dort sehr unterschiedliche, durchaus auch miteinander konkurrierende Modelle. Es wird gestritten über die Rolle von z.b. Erbeinflüssen, Bindungsstörungen, Streßvulnerabilität und den Einfluß von Traumatisierung. Auch die Deutung der Depression befindet sich im Spannungsfeld divergierender ideologischer Anschauungen und politisch-wirtschaftlicher Interessen.
Jüngst haben Forscher des Max Planck Instituts für Psychiatrie in München Ergebnisse veröffentlicht, welche erneut die Rolle von Traumata in der Kindheit für die Entwicklung späterer Depressionen betonen. Siehe etwa Zeit, Spiegel. Stichwort: Epigenetik.
An dieser Stelle sollte man bei der Suizidprävention ansetzen, nicht erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, und die Betroffenen bereits so labilisiert wurden, daß sie für Trigger derart anfällig geworden sind.
Überdies wird man auch kaum bestreiten können, daß reale Lebensbedingungen und Beziehungen einen enormen Einfluß auf die Schwere und vor allem Fatalität einer Depression haben können. Depressionen entstehen nicht aus dem Nichts, sie haben auch zu tun mit den Folgen gescheiterter Primärbeziehungen und den allgemeinen Lebensbedingungen eines Menschen. Das fängt schon damit an, daß ein Depressiver, dem es nicht mehr möglich ist, aufzustehen, sehr schnell auch materielle Probleme bekommen kann, wenn er nicht gerade Fußballmillionär ist. Ein gesellschaftliches Klima, das vor allem Leistung einfordert und Schwäche verurteilt und verachtet, kann dann dementsprechend dazu beitragen, daß jemand keinen Ausweg mehr sieht. Anders gesagt: Der Depressive bleibt in der Realität verankert. Es sind nicht allein krankhafte Wirklichkeitsverzerrungen, die ihn fertigmachen, sondern oft gehen mit einer Depression sehr konkrete (soziale, finanzielle, berufliche, familiäre) Probleme einher. Wie geht beispielsweise ein Arge-Berater mit jemandem um, der psychisch krank ist? (Das wäre übrigens ein Thema, dem sich die Presse ruhig mal annehmen könnte).
Dabei ist zu bedenken, daß psychische Erkrankungen gerade für den Laien nicht immer ganz einfach zu erkennen sind. Wie oft werden Depressive als faul und schlicht leistungsunwillig abgetan?
Daß soziale Bedingungen Suizide verursachen können zeigt auch das Beispiel der doch recht radikalen neuseeländischen Sozialstaatsreform in den Neunzigern. Man vergleiche nur einmal den gleichzeitigen Anstieg der Suizidraten.
Um jedwedem Mißverständnis vorzubeugen:
Es ist die moralische Pflicht der Gesellschaft, Depressiven und damit potentiellen Suizidenten in jeder erdenklichen Weise zu helfen und beizustehen. Aber diese Pflicht besteht vor allem darin, die Qual und den Leidensdruck derjenigen zu lindern, die derart stark leiden, daß sie es in Erwägung ziehen sich zu suizidieren. In einer Gesellschaft, die Individuen hervorbringt, die sich von einem Zeitungsartikel dazu verleiten lassen, sich selbst zu töten, ist bereits im Vorfeld etwas sehr sehr falsch gelaufen.
Um diese Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen bedarf es aber einer umfassenden Berichterstattung über das Thema, die sich mit den Ursachen der Depression und mit den Lebensbedingungen von Suizidenten befaßt. In diesem Zusammenhang stelle ich dann auch die Frage, inwiefern etwa durch Hartz-IV (mit-)bedingte Suizide in der Presse, aufgrund der hier angeführten Bedenken, nicht zur Sprache kommen. Was bedeutet es z.b. für einen (depressiven oder zumindest depressionsanfälligen) Menschen seine gewohnte Umgebung und seine sozialen und familiären Bezüge zu verlieren, wenn er etwa der Arbeit wegen gezwungen wird aus seiner Heimatstadt nach Stuttgart oder München zu ziehen? Zu bedenken dabei: Gerade Depressive sind oft kaum in der Lage, ihre Interessen etwa vor dem Sozialgericht durchzusetzen, und eine anstrengende Verhandlung und Einsprüche durchzustehen.
Wie etwa tragen auch Arbeitsbedingungen zur Vertiefung einer Depression und zum Suizid bei? Wie wird in den „Hochleistungssektoren“ der Gesellschaft jemand von seinen Kollegen behandelt, der nicht mehr mitkommt, der es nicht mehr schafft, die Kraft dazu aufzubringen, und dem dann vorgehalten wird, er hätte ja alles……..
Über solche Fälle, gerade wenn sie im Suizid enden, sollte mit aller Entschiedenheit berichtet werden.
(Ich gestehe, die Kommentare nur oberflächlich gelesen zu haben.)
Grundsätzlich verleitet Berichterstattung immer zu Nachahmungseffekten. Die gesamte Problematik des Terrorismus fußt hierauf: Terrororganisationen haben in diesem Sinne keine „Nachwuchsprobleme“, weil (unter anderem) die mediale Aufmerksamkeit Motor und Verstärker ihres Handelns ist. Die Akteure werden (und mit ihnen ihre Familien) zu „Helden“, was durch Öffentlichkeit potenziert wird. Die „Ziele“, die sie verfolgen, werden einer breiten Öffentlichkeit bewusst (s. München 1972 – Olympia-Anschlag/Palästinenser). Der Hype des Westens nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 hat teilweise erst zu den Effekten geführt, die von Terroristen als Legitimation für die Anschläge angeführt wurden.
Dies gilt natürlich auch im Kleinen: Wenn die Kriminalpolizei zeigt, wie Trickbetrüger an Haustüren vorgehen oder Taschendiebe Beute machen, so ist dies unter Umständen auch Schulung für neue, potentielle Kriminalität.
Im Fall Enke wird viel zu wenig darüber diskutiert, dass er sehr wohl in Behandlung war, dass es ein entsprechendes Umfeld scheinbar gegeben hat – und trotzdem muss man mit Wittgenstein konstatieren: „Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die Welt des Unglücklichen“ (Tractatus, 6.43).
Hätte man Goethe die Publikation des „Werther“ verbieten müssen, nur weil man davon ausgehen kann, dass es Nachahmungen gibt? Hätte man Strombergers „Tod eines Schülers“ verbieten müssen? (Es gab, meiner Erinnerung nach, vor und/oder nach dem Film ausführliche Diskussionen über die im FIlm thematisiert Problematik. Wird auch untersucht, wieviele Leute nach einer solchen Diskussion Hilfe aufgesucht haben?)
Es gab zu Goethes Zeiten sogenannte „Trauerspiele“ en masse – ohne derartige Folgen. Kann nicht das, was die Griechen Katharsis nannten, durchaus auch eintreten? Wer den Roman gelesen hat (bitte Hand hoch! Aha), müsste wissen, dass Goethe den Suizid nicht als alternativlos darstellt (eher im Gegenteil: in jeder Sekunde seines Handelns war Werther frei, seinen Entschluss zu ändern). Ausserdem – am Rande – Werther war nicht das, was man heute depressiv nennt. Dass die Rezeption des Buches seinerzeit bei vielen eine andere war, ist scheinbar belegt, was den Werther-Effekt begründete.
Niggemeiers Weber-Rezeption der Gesinnungs- und Verantwortungsethik (Weber hatte Politiker im Fokus seiner Betrachtungen) interpretiere ich nicht als eine Art „Maulkorb“ für Berichterstattungen, sondern als Appell an Journalisten für selbstreflexives Verhalten. Worum es gehen muss, ist die rücksichts- und würdevolle Aufarbeitung des jeweiligen „Falles“. Dass ein Medienmagazin wie „zapp“ die teilweise ekelhafte Berichterstattung anderer Medien hierzu nicht thematisieren wollte, ist mir allerdings unverständlich. Freilich darf man dies selber nicht mit dem gleichen Gestus machen, den man bei anderen negiert.
Stefan Niggemeier ist ein Moralist und wir leben in Zeiten, in denen dies ein Schimpfwort geworden ist. Der „Wert“ eines Berichtes, einer Reportage, eines Artikels wird nicht anhand qualitativer Kriterien bemessen (dafür gibt es Feigenbältter wie den Grimme-Preis o. ä.), sondern ausschliesslich in quantitativen Grössenordnungen „gemessen“. Das beginnt schon viel früher. Im Kleinen. Im Slomkaismus zum Beispiel: dem schleichenden Sprachverfall, usw. Aber wenn selbst diese Leute Preise bekommen, nur weil sie noch nicht die gröbsten Fehler machen, dann zeigt dies die Krise deutlich.
[…] dem Schicksal Robert Enkes wird die Depression als neue Volkskrankheit entlarvt, über der die Berichterstattung trotz aller Sorgfältigkeit gnadenlos […]
@258: Daniel A., du hast den Post zweimal gelesen und alle Kommentare zumindest überflogen? Darf ich eine kleine persönliche Frage stellen: Bist du wahnsinnig?
@ 271 ladylazarus:
Dem kann ich nur aus vollstem Herzen zustimmen.
@ 272 Gregor Keuschnig:
„Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die Welt des Unglücklichen” (Tractatus, 6.43).
Dazu passt auch Miltons Paradise Lost gut: „The mind is its own place, and in itself / can make heaven of hell / and hell of heaven.“
„Hätte man Goethe die Publikation des „Werther” verbieten müssen, nur weil man davon ausgehen kann, dass es Nachahmungen gibt? […] Es gab zu Goethes Zeiten sogenannte „Trauerspiele” en masse – ohne derartige Folgen.“
Tatsächlich entstand der Werther-Effekt nicht durch das Primärwerk, sondern durch den medialen Hype, der darum gemacht wurde. So gab es z.B. Werther-Nippes: Kleine Gipsfiguren, die den Proto-Emo mit gezückter Pistole darstellen. Es würde mich nicht wundern, wenn viele der damaligen Selbstmörder den Roman gar nicht gelesen hätten. Die Figur wurde aus ihrem Kontext gelöst und zur Projektionsfläche gemacht.
@ ladylazarus
Ich stimme Ihnen zu, dass viele Faktoren zu einer Krankheit führen, die unter den Begriff Depression läuft. Eine Konkurrenz und einen Streit untereinander, wie hier in dieser Diskussion, gibt es jedoch nicht, da die Forschenden an der Heilung der Krankheit Interesse haben und dass es den Betroffenen besser geht. Daher arbeiten heutzutage viele Menschen, mit unterschiedlichen Perspektiven zusammen an dem Problem und können so differenziert mit der Krankheit umgehen. Denn, sowohl der Weg hin zur Krankheit als auch der Verlauf ist extrem individuell. Soviel steht heutzutage fest.
Bei Depressionen, wie auch bei vielen anderen Krankheiten, gibt es nun Ursachen, aus denen sich hinterher die Krankheit entwickeln KANN, nicht muss. Daher werden schon seit vielen Jahrzehnten (sozial)pädagogisch arbeitende Menschen auch in den Grundlagen der psychischen Erkrankungen ausgebildet, so dass sie zu mindestens eine Grundlage haben adäquat in kritischen Situationen mit den Kindern zu arbeiten. Ebenso findet zu mindestens in Köln auch in Maßnahmen von Langzeitarbeitslosen immer eine psychologische Untersuchung statt, die von speziell ausgebildeten Sozialarbeitern, Lehrern und auch Psychologen betreut werden. Eine Forderung nach mehr Hilfsangeboten ist auf jeden Fall immer zu unterstützen, findet aber de facto bereits statt. Das Rad muss nicht neu erfunden werden.
Fatale und traurige ist nun, dass sich eine Gruppe von Menschen gegen dieses gewachsene und gut erprobte System stellt. Gemeint sind die Journalisten und Kommentatoren, die sich scheinbar zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Thema auseinandersetzen. Und, Popper hin Popper her, nein, ein Schwan kann nicht auf einem Baum schwimmen, entkräftet jedoch dadurch nicht die Aussage „ein Schwan kann schwimmen“. Über diese Methodik kann man sich keinem naturwissenschaftlichen Thema nähern. Den Stand der Diskussion finde ich daher auch nur noch grotesk, da hier das Prinzip des Wether-Effekts auf andere Gebiete angewendet wird.
Was zu sagen ist, ist gesagt.
@JO #276
Das stimmt. Keiner der Journalisten, Moderatoren, Kommentatoren, Blogger kann das Fachwissen der Mediziner/Psychologen ersetzen. Ihnen kommt bei der Thematisierung medizinischer Details aber eine gewichtende Multiplikatoren-Rolle zu.
„Was zu sagen ist, ist gesagt“
Ja, vielleicht zum fachwissenschaftlichen Teil. Aber Depression ist nicht nur eine Krankheit, sondern auch ein kulturelles Phänomen. Dazu ist noch längst nicht alles gesagt.
@JO 276:
„Gemeint sind die Journalisten und Kommentatoren, die sich scheinbar zum ersten Mal in ihrem Leben mit dem Thema auseinandersetzen.“
Tja, davon fühle ich mich jetzt angesprochen, und das hinterlässt leider einen schalen Nachgeschmack. Allerdings gehörrt die Psychologie nicht zu den Naturwissenschaften – diese Nische ist von der Neurologie besetzt.
Trotzdem, wenn es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die meinen Annahmen widersprechen, dann posten sie doch bitte einen Link zu den Untersuchungen. Dafür wäre ich wirklich sehr dankbar.
@Alberto Green/274: Wahnsinn hat – so hoffe ich – weniger damit zu tun als Einschlafprobleme… ;-)
Traurig aber wahr:
http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/In-Zuerich-Oerlikon-stehen-Zuege-still-Suizid-oder-Unfall/story/30848496
Hmm… nette Idee: Stefan geht Schafe füttern (?) und alle kloppen sich um ein Thema- was keiner merkt: Stefan scheint keinen Bock mehr zu haben [was für eine Metapher!] und lässt schreiben.
Und keiner merkt es offenbar.
Zeitgleich fällt bildblog hinten runter. Ein Zeichen, dass Blogs nur funzen wenn einer überambitioniert ist solange er/sie keine Schafe trifft ?
Ich habe mir jetzt die gesamte Diskussion durchgelesen und bin keinen Deut schlauer. Stefan plädiert für verantwortungsethischen Journalismus, da ansonsten als Effekt Bodycount möglich ist.
Ich kann das nicht nachvollziehen. Journalismus ist nicht verantwortlich, außer der Wahrheit, Journalismus kann das gar nicht sein. Darf ich über Hedge-Fonds nicht mehr berichten, die platzen, weil sonst eine Wirtschaftskrise kommt, die mittelbar tötet? Darf ich nicht über Massenmorde berichten, weil sonst ethnische Unruhen drohen?
Es kommt nur auf das *wie* an. Nicht auf das ob. Ja, sensationsheischender Journalismus ist schlechter Journalismus. Unsachlicher Journalismus ist schlechter Journalismus. Aber das ist immer und ausnahmslos so – wer so arbeitet, verdient kein Mitleid.
Wie ich gerade gesehen habe enthält die BRAVO v. 19.11. ein Poster von Robert Enke (schön traurig mit schwarzem Hintergrund).
Wenn das menschliche Leben unendlich wäre, hätte die Diskussion eine ganz neue Dimension.
Aber über jedem schwebt nunmal das völlig unvorstellbare, dass eigene ableben. Verbunden mit dem ganzen Bullshit an Ängsten.
Und umso älter man wird, umso öfter denkt man drüber nach. Und dann hat der es gut, der seine ganzen Ängste und Sorgen in der Religion abgeben darf. Und sich mit neuem Leben in der Familie umgibt. Kein Mensch kann Gott wiederlegen. Es bleibt spannend nach dem Tod.
[…] klang nach Sommerloch. Das Resultat war jedoch viel schockierender. Stefan Niggermeier hat den Werther-Effekt in den letzten Tagen treffend […]
urteil…an -den- suezitierten …
zu -was- verurteilt mann / frau… und sonstiges… einen suezitenten … eventuell – posthum- … / sprich nach’träglich / -zu’lebenslänglich- ?! … der -zu’seinem- suezid … einen -nicht’sueziden- zur durführung -seines- suezids -nötigt-
-was- ist mit dem lokführer… der den sich töten’lassenden ?! sein -lebens’lang- als video in endlosschleife im kopf hat …
kein noch so’gscheider / lesen oder schreiben -könnender- … hat aus seinem pomfineberer’tun …. dem wirklich… wirklichem -opfer- nur ein wort gewiedmed
inkl… der verpeinlichung -der- mehrheit die sich nicht- einmal- selber braucht …und ob -legenden’länglich- ? … dabei nicht zu -zeitlos- greift . . .
mit vorzüglicher hochachtung … da’brandsatz
[arno schmidt scheint noch gelesen zu werden. bravo!]
Bericht der Mopo (Hamburger Morgenpost) von heute: Laut dem Vorsitzenden von ProBahn gab es seit der Selbsttötung von Robert Enke doppelt so viel Suizide auf deutschen Gleisen pro Tag wie zuvor.
Online unter: http://archiv.mopo.de/archiv/2009/20091126/deutschland-welt/panorama/doppelt_so_viele_selbstmorde_auf_gleisen.html
Spiegel-Online berichtet heute zum Thema … über Facebook-Gruppen lebensmüder Teenager in Hongkong. Auf den Link verzichte ich.
[…] der sich vor einen Zug geworfen hat. Ich habe schon hier darüber geschrieben. In einem langen Beitrag ereiferte sich der Medienjournalist Stefan Niggemeier, dass die Berichterstattung über solche […]
Wie immer in der Soziologie sind die Studien, die auch Grundlage für den obigen Blogeintrag sind, abhängig vom Untersuchungsdesign. Vor allem die Untersuchung (Schmidtke/Häfner 1986), welche den 175% Anstieg der jugendlichen Eisenbahnsuizide (nennt man wirklich so) behauptet, steckt so voller methodischer Ungereimtheiten, dass es den Anschein hat, die Autoren hätten auf möglichst durchschlagende Ergebnisse hingearbeitet. Insofern ist es traurig, dass diese – meiner Meinung nach – unlauter gewonnenen Zahlen noch immer zitiert werden.
Die zitierte österreichische Studie übrigens zieht ihren Schluss, dass „richtige Berichterstattung zu Suiziden“ zu weniger Nachahmungstaten führe aus der Tatsache, dass nach der Einblendung der Telefonnummer einer psychosozialen Beratungsstelle im Fernsehen mehr Menschen dort angerufen haben als vorher. Ist ja auch erstaunlich, oder?
Ich will einen möglichen Werther-Effekt hier nicht leugnen, ich halte es nur für gefährlich, ihn einfach als gegeben hinzunehmen. Gerne wird nämlich dieser Effekt, der eine Spielart des abweichenden Verhaltens durch Medienkonsum erklärt, auf andere (Gewalttätigkeit, Schulmassaker etc.) übertragen. Und da machen es sich einige zu einfach.
[…] “Selbstmord ist ansteckend. Berichterstattung über Suizide erhöht die Zahl der Suizide. Das ist der sogenannte „Werther”-Effekt, benannt nach Goethes Roman. Nachdem er erschienen war, soll sich eine Reihe von Lesern in ähnlicher Form das Leben genommen haben wie die liebeskranke Titelfigur.” – so steht es im Blog des Journalisten Stefan Niggemeier. […]
[…] kämpfen. Ein klassisches Beispiel sind die Berichte über Amokläufe und Suizide, bei denen viele Medien in Kauf nehmen, dass sie die Zahl der Amokläufe und Suizide […]
[…] interessanter Artikel zu dem Thema findet sich auf stefan-niggemeier.de. Quelle: […]
[…] dem Tod von Robert Enke habe ich hier einen Eintrag über den sogenannten Werther-Effekt geschrieben. Er beginnt mit dem Satz: […]
[…] des „Kölner Stadt-Anzeigers“ haben sich entschlossen, aktiv daran mitzuwirken, die Zahl der Suizide hoch zu halten — mutmaßlich, damit sie auch in Zukunft die Gelegenheit haben, aufmerksamkeitsstarke […]
Hier könnt ihr mal zur Abwechslung einen Suizid verhindern, ihr Nasen:
http://holyfruitsalad.blogspot.com/2011/11/wohnungslos.html
[…] Erkenntnisse kritisieren viele Experten die Berichterstattung bei Selbstmorden. Medienjournalist Stefan Niggemeier fragte nach dem Freitod des Fußballers Robert Enke, ob es mit diesem Wissen nicht sinnvoller wäre, gar […]
[…] »Die Leiden des jungen Werthers 2.0« Bildblog: Etliche Beiträge zum Thema Stefan Niggemeier: »Über Enke und Werther« Share this:TwitterFacebookGefällt mir:Gefällt mirSei der Erste, dem dieser post gefällt. […]
http://jech.bmj.com/content/early/2012/04/20/jech-2011-200707.short?rss=1
[…] Über Enke und Werther […]
[…] ist es müßig, das aufschreiben, mindestens ist es naiv. Weil schon so oft darüber geschrieben wurde, sich aber kaum etwas ändert: Wie viele Journalisten und […]