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Mit Lügen gegen die „Lügenpresse“: Pegida fälscht „Spiegel Online“-Überschrift

Die Facebookseite von Pegida bot ihren über 150.000 Abonnenten heute einen Knüller:

Angeblich hat „Spiegel Online“ einen Artikel über die Situation am Bahnhof der mazedonischen Kleinstadt Gevgelija, wo Hunderte Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak versuchen, in einem Zug Richtung Serbien zu gelangen, kurzzeitig mit der Überschrift „Asylbetrüger besteigen Eurocity aus Mazedonien Richtung Germany“ versehen.

In der Logik der Fremdenfeinde von Pegida bedeutet das, dass „Spiegel Online“ versehentlich kurzzeitig die Wahrheit gesagt hat. Ein Volontär hätte vermutlich vergessen, den internen Arbeitstitel vor dem Veröffentlichen zu ändern.

Wenn das stimmen würde, hätte „Spiegel Online“ sehr schnell reagiert: Um 18:55 Uhr veröffentlichte Pegida den Eintrag mit dem Link und der vermeintlich entlarvenden „Spiegel Online“-Überschrift. Schon drei Minuten später kommentierte jemand, die Überschrift sei anscheinend bereits geändert. Bei Google finden sich keinerlei Spuren von der angeblichen ursprünglichen Headline.

Die Erklärung dafür ist leicht: Pegida hat die Überschrift gefälscht. Das ist verblüffend einfach. Man kann, wenn man bei Facebook Links postet, die automatisch von der fremden Seite übernommene Überschrift ändern und durch einen beliebigen eigenen Text ersetzen. Einfach so.

Hier ein von mir selbst gerade angefertigtes Beispiel:

Man benötigt keine zehn Sekunden und null Fachwissen, eine Überschrift entsprechend auszutauschen. Das sollte man wissen, wenn man über Links mit erstaunlichen Titeln bei Facebook stolpert.

Die Pegida-Leute aber sind nicht nur Lügner, sondern auch Stümper. Denn die falsche Überschrift, die sie „Spiegel Online“ untergeschoben haben, kann schon formal gar keine „Spiegel Online“-Überschrift sein. „Spiegel Online“-Artikel-Überschriften enthalten immer einen Doppelpunkt. Vor dem Doppelpunkt steht das, was auf der Startseite die Dachzeile ist. Im konkreten Fall heißt die richtige Überschrift entsprechend: „Flüchtlinge in Mazedonien: Panik vor dem Zaun“. Schon rein formell kann die behauptete Überschrift „Asylbetrüger besteigen Eurocity aus Mazedonien Richtung Germany“ also nicht echt sein.

„Spiegel Online“ hat der Pegida-Darstellung inzwischen ausdrücklich widersprochen und will rechtliche weitere Schritte prüfen behält sich weitere Schritte vor. Die Pegida-Leute bleiben bei ihrer Darstellung.

Nachtrag, 11:20 Uhr. „Spiegel Online“ hatte übrigens den eigenen Artikel schon am Samstag, also lange vor der Behauptung auf der Pegida-Seite, auf Twitter beworben. Auch daraus kann man die tatsächliche Überschrift erkennen:

Nachtrag, 16:40 Uhr. Der Facebook-Eintrag von Pegida ist nicht mehr vorhanden.

Nachtrag, 18:00 Uhr. Auf der Pegida-Seite heißt es nun, dass man den „Spiegel Online“-Link auf Bitte des „Spiegel“ und nach Rücksprache mit der Anwältin gelöscht habe. Man könne „nicht ausschließen“, dass der Link gefälscht wurde, bevor der Artikel auf der Facebook-Seite geteilt wurde. „Auszuschließen ist jedoch, dass die Überschrift vom Administrator der Pegida-Facebook-Seite gefälscht wurde. Entsprechendes kann an Eides statt versichert werden.“ Pegida unternehme „Anstrengungen“, „den Urheber des streitigen Links zu ermitteln“.

Wie George W. Bush nicht über den „Spiegel“ lachte

Irgendwie sind sie stolz beim „Spiegel“. Denn auf Fotos, die jetzt veröffentlicht wurden, sieht man den George W. Bush im Weißen Haus, wie er mit seinem Vize Dick Cheney über einen „Spiegel“-Titel lacht.


Quelle: U.S. National Archives

Aber irgendwie ist der auch doof, der Bush. Denn der amerikanische Präsident kam in dem Heft damals „denkbar schlecht weg“, wie „Spiegel Online“ verblüfft feststellt.

Der SPIEGEL-Titel vom 27. Oktober 2008 zeigt einen schwer angeschlagenen George W. Bush in Rambo-Outfit, den Arm in einer Patronenschlinge, die linke Hand auf einer Maschinenpistole abgestützt. Hinter ihm steht sein missmutig dreinblickender Vizepräsident Dick Cheney, hinter diesem wiederum eine amazonenhafte Außenministerin Condoleezza Rice mit zerborstenem Schwert.

Ein desolates Panorama mit eindeutig negativer Botschaft. In dem Artikel „Ende der Vorstellung – Die Bush Krieger“ ging es um den misslungenen Feldzug der Vereinigten Staaten gegen „das Böse“. Vertreter der Bush-Regierung hatten im Vorfeld selbst gravierende Fehler im Irak-Krieg zugegeben.

Hunderttausende Iraker und Tausende US-Soldaten starben in dem Krieg, der die Region nachhaltig destabilisierte. Doch Bush-Junior scheint sich wider Erwarten beim Betrachten der Illustration prächtig amüsiert zu haben.

Bloß: Das ist gar nicht der beschriebene „Spiegel“, den Bush auf dem Foto in der Hand hält. Das Titelbild von 2008 griff ein Titelbild von 2002 wieder auf, als die „Bush-Krieger“ noch gar nicht „schwer angeschlagen“ und „völlig abgehalftert“ dargestellt wurden, sondern wild entschlossen, in Saft und Kraft. Statt der Zeile „Ende der Vorstellung“ stand auf dem „Spiegel“-Titel „Amerikas Feldzug gegen das Böse.“

2002:

2008:

Dieser Titel von 2002 wird im „Spiegel Online“-Artikel auch erwähnt. Aber der anonyme Autor hat unerklärlicherweise nicht gemerkt, dass es das Cover dieses Heftes ist, das Bush amüsiert in der Hand hält. Kein Wunder: Das Foto ist aus dem Jahr 2002.

[entdeckt von Mathias Schindler]

Nachtrag, 21:30 Uhr. „Spiegel Online“ hat sich korrigiert – und entsprechend den ganzen Artikel umgeschrieben.

Falsche Wolken über der Ukraine? Die Photoshop-Arbeiten des Kreml und die Fehler der Bellingcat-Analyse

Mehrere Satellitenfotos, die das russische Verteidigungsministerium nach dem Abschuss von Malaysia-Airlines-Flug MH17 veröffentlicht hat, sollen gefälscht sein. Die Bürgerjournalisten-Rechercheplattform Bellingcat behauptet, das in einer „forensischen Untersuchung“ nachgewiesen zu haben.

Und wenn Bellingcat das behauptet, behaupten die deutschen Medien das auch. Dabei gibt es erhebliche Zweifel an den Methoden und Schlussfolgerungen. Ausgerechnet der Erfinder der Fotoauswertungs-Software, die Bellingcat benutzte, distanziert sich deutlich von dem Bericht und nennt die Analyse „fehlerhaft“.

Bellingcat gibt mehrere Belege dafür an, dass die Fotos, die die russische Regierung vorgelegt hat, gefälscht sein müssen. Darunter diese:

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1. Aus den Metadaten der Fotos gehe hervor, dass sie nachträglich mit Photoshop bearbeitet wurden.

Ja, bloß: Das bedeutet nichts. Man hätte nicht einmal in die Metadaten der Fotos schauen müssen, um zu wissen, dass sie mit einem Programm wie Photoshop manipuliert wurden. Es wurden nämlich, wie man sieht, nachträglich Beschriftungen hinzugefügt.

Bearbeitet wurden die Fotos auch insofern, als sie für die Veröffentlichung auf der Seite des Verteidigungsministeriums verkleinert werden mussten.

Die Fotos sind also zweifellos nachbearbeitet, und zwar offenbar mit „Creator Tool Adobe Photoshop CS5 Windows“. Dass zusätzlich zu den offensichtlichen Änderungen aber auch Manipulationen im Sinne einer Fälschung des Bildinhaltes vorgenommen wurden, besagen die Metadaten in keiner Weise.

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2. Die Fehlerstufenanalyse („Error Level Analysis“, ELA) eines der entscheidenden Fotos zeige, dass sein Inhalt mit großer Wahrscheinlichkeit verändert wurde. Konkret seien nachträglich Wolken hinzugefügt worden, vermutlich um irgendwelche anderen Bildinhalte zu verdecken.

Die ELA macht verdächtige Stellen in der Komprimierung von Fotos im JPEG-Format sichtbar. Zugegeben: Ich habe die Details dieser Art der Analyse nicht verstanden – aber die Bellingcat-Leuten anscheinend auch nicht. Die behaupten zum Beispiel, bei einem nicht-manipulierten Foto sollten alle Bildinhalte in etwa das gleiche „Fehlerniveau“ haben. Weil das nicht der Fall ist und zum Beispiel für die Wolken auf einem der zentralen Bilder ein anderes Fehlerniveau angezeigt wird, schließen sie daraus, dass diese Wolken „mit hoher Wahrscheinlichkeit digital hinzugefügt“ wurden.

Nur geht die Fehlerstufenanalyse keineswegs davon aus, dass „echte“ Fotos ein konstantes Fehlerniveau haben. Bereiche mit mehr Details haben zum Beispiel ein höheres Niveau als glatte Oberflächen und erscheinen auf den ELA-Bildern deshalb heller.

Bellingcat hat für die ELA-Untersuchung die Seite fotoforensics.com benutzt, bei der jeder Fotos hochladen und testen lassen kann (und die davor warnt, die Aussagekraft dieser Analyse zu überschätzen). Hinter dieser Seite und dieser Analyseform steht der Computerwissenschaftler Neal Krawetz. Eben dieser Neal Krawetz bescheinigt den Bellcat-Leuten unmissverständlich, dass ihre Analyse mit seiner Methode fehlerhaft sei. Er twitterte, es sei ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man Bildanalyse nicht durchführen sollte.

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3. Der Vergleich mit Satellitenfotos auf Google Earth beweise, dass die Bilder, die das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht hat, zu einem anderen Zeitpunkt als angegeben entstanden sein müssen.

Es gibt ein Problem, wenn man Satelliten-Aufnahmen bei Google Earth benutzt, um den genauen Zustand einer Landschaft zu einem exakten Zeitpunkt zu bestimmen: Die Datumsangaben sind unzuverlässig. Teilweise kennt Google selbst nicht den exakten Zeitpunkt, zu dem die Fotos entstanden sind. Bellingcat erwähnt dieses Phänomen nicht einmal und erklärt deshalb auch nicht, warum es womöglich Grund zur Annahme gab, dass die Google-Earth-Angaben im konkreten Fall dennoch zweifelsfrei korrekt sind.

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All das bedeutet nicht, dass der Bericht von Bellingcat, der noch weitere Analysen enthält, insbesondere was die Datierung von Fotos angeht, vollständig falsch ist. Und schon gar nicht bedeutet das, dass die Fotos, die das russische Verteidigungsministerium vorgelegt hat, echt sind.

Aber die so hochtrabend klingende „forensische Untersuchung“ weist einige Ungereimtheiten und haarsträubende Kurzschlüsse auf. Und das in einem Bericht, der Bellingcat zu dem eindeutigen Schluss führt, dass die Satellitenbilder von Russland gefälscht wurden, „in einem eindeutigen Versuch, die Öffentlichkeit, die Weltgemeinschaft und die Familien der Opfer des Fluges MH17 nur Tage nach dem Abschuss in die Irre zu führen“.

Es gibt Anlass, an Details des Bellingcat-Berichts zu zweifeln, Fragen zu stellen, ihn mit Vorsicht zu interpretieren. Stattdessen machen führende deutsche Medien sich seine Aussagen weitgehend zu eigen.

Bei „Spiegel Online“, das groß mit dem Bericht aufmachte, waren die letzten Zweifel, die ein „offenbar“ in der Überschrift und im Vorspann noch ausdrückte …

… am Ende des Artikels verschwunden:

Doch nun haben die Experten von Bellingcat eben diese Aufnahme als Fälschung enttarnt.

In zwei weiteren Artikeln am selben Tag gab es dann keine Zweifel mehr:

(„Spiegel Online“-Korrespondent Bidder* hat dabei übrigens die Bellingcat-Argumentation teilweise offenbar nicht richtig verstanden. Er schreibt über die verschiedenen vermeintlich verdächtigen Bereiche, die Bellingcat auf einem Foto ausgemacht und mit Buchstaben markiert hat:

Die farbige Linie im Bereich B zeige, schreiben die Experten, dass das Foto unten mit einem Streifen überdeckt worden sei. „Oben wurde dieser Streifen an das Foto angesetzt. Der dunkle Bereich E ist wahrscheinlich durch eine Aufhellung bzw. Kontrastverstärkung des Fotos entstanden. Dieser Bereich ist sozusagen überbelichtet.“

Ja, nur: Diese beiden Auffälligkeiten findet Bellingcat nicht besonders problematisch, da sie sich durch den Bildinhalt erklären lassen. Vor allem der Bereich B (das ist der türkis markiert schmale Streifen ganz unten) entsteht einfach durch die graue Fläche, die oben und unten über das Satellitenfoto gelegt wurde. Eigentlich problematisch findet Bellingcat den Unterschied zwischen den Flächen D und C.)

Bei tagesschau.de verschwand die journalistische Distanz noch schneller. Es passierte zwischen Überschrift …

Russland soll Fotos gefälscht haben

… und Vorspann:

Mithilfe von Satellitenfotos wollte die russische Regierung belegen, dass die Ukraine für den Abschuss des Fluges MH-17 verantwortlich ist. Die Recherchegruppe Bellingcat hat nun nachgewiesen, dass die Fotos manipuliert worden sind.

Die „Süddeutsche Zeitung“ machte es genau umgekehrt. Im Text behält Hans Leyendecker Distanz zu den Bellingcat-Urteilen:

Die Investigativ-Plattform Bellingcat, die bislang in diesem Propagandakrieg mit sauberer Recherche aufgefallen ist, hat jetzt in einem Untersuchungsbericht die russischen Fotos auf Echtheit überprüft; und das Ergebnis ist aus Sicht der Prüfer klar: Es handelt sich um Fälschungen. Die Analyse soll „unzweifelhaft“ ergeben haben, dass die Satellitenfotos falsch datiert und durch die Software Adobe Photoshop CS5 „digital verändert“ worden seien.

Aber die Überschrift lautet:

Stümper und Fälscher

Bei der „Frankfurter Rundschau“ blieben erst gar keine Fragen offen:

Manipulierte MH17-Bilder

Die Internet-Recherche-Plattform Bellingcat weist nach, dass Russland Satellitenaufnahmen gefälscht hat

Derselbe Artikel trug bei der „Berliner Zeitung“ die Überschrift:

Das Blaue vom Himmel

Wie Russland Satellitenbilder fälschte, um eine ukrainische Schuld am Absturz von MH17 zu belegen

Die FR- und „Berliner Zeitung“-Autorin glaubt genau zu wissen, wie es war:

Das Verfahren ist alles andere als neu. Photoshop-Verfahren sind als Softwareprogramme im Netz allgemein zugänglich. [sic!] Jedes Urlaubsfoto lässt sich mit ihrer Hilfe verschönern. Im vorliegenden Fall wurde der Himmel über der Ostukraine allerdings nicht nachträglich ein wenig blauer gestaltet, sondern im Gegenteil mit Wolken verhangen, die auf den Originalfoto fehlen.

Auch die „Welt“, die sich durchaus skeptisch mit den Bewertungen von Bellingcat auseinandersetzt, übernimmt die zweifelhafte Foto-Analyse-Bewertung im Indikativ:

Bei näherer Betrachtung der Fehlerstufenanalyse ist tatsächlich ein hochgradig unregelmäßiges Rauschen festzustellen. Ein in Gänze komprimiertes Bild würde diese Unterschiede nicht aufweisen. Wolken wurden also offenbar hinzugefügt, um weitere Details zu verdecken.

„Zeit Online“ hatte keine Fragen:

Kreml manipulierte mit Photoshop. Anhand von Satellitenfotos wollte Russland die Schuld der Ukraine am Absturz von Flug MH17 beweisen. Eine unabhängige Analyse belegt nun: Die Bilder wurden gefälscht.

Das ZDF auch nicht:

MH17-Absturz: Fotos lügen doch

Bemerkenswert ist, wie oft in all diesen Berichten von den „Experten“ von Bellingcat die Rede ist – woher genau die Expertise der Bürgerjournalisten für die konkreten Auswertungen kommt, ist völlig unklar. Es handelt sich in der Regel um interessierte und engagierte Laien. Über den Mann, der für die „forensische Analyse“ zuständig gewesen sein soll, ist nur der Name „Timmi Allen“ bekannt. Auch der WDR, der ihn interviewt hat, erwähnt keinerlei fachlichen Hintergrund, sondern nennt ihn nur „Mitglied“ der Investigativplattform.

Noch einmal: All das belegt nicht, dass die Fotos keine Fälschungen sind, und Bellingcat nennt weitere Indizien dafür als die oben genannten. Aber die Vorgehensweise von Bellingcat hat erhebliche Mängel. Das macht es problematisch, die vermeintlichen Ergebnisse einfach zu übernehmen.

Der Bellingcat-Bericht:

Die Kritik daran:

 

Nachtrag, 10.10 Uhr. „Spiegel Online“ hat jetzt ein Interview mit dem Foto-Forensiker veröffentlicht, in dem der Bellingcat „Fehlinterpretationen“ und „Kaffeesatzleserei“ vorwirft, und plötzlich sind es nur noch „angebliche“ russische Foto-Manipulationen.

Nachtrag, 4. Juni. Im SPIEGELblog räumt „Spiegel Online“-Chefredakteur Florian Harms ein: „Selbstkritisch müssen wir festhalten: Diese professionelle Skepsis im Umgang mit der Quellenlage, das Hinterfragen der Quelle hätten wir bereits in den vorherigen Artikeln stärker zum Ausdruck bringen sollen. Wir lernen daraus und nehmen uns vor, dies in künftigen Fällen zu beherzigen.“

*) Korrektur 9. Juni. Ich habe oben Benjamin Bidder persönlich für einen Fehler kritisiert. Der konkrete Artikel ist aber gar nicht von ihm.

Der Böse ist immer der griechische Finanzminister

Also doch! Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis hat am Wochenende zugegeben, ein als vertraulich eingestuftes Treffen mit seinen Kollegen aus der Euro-Zone aufgezeichnet zu haben. So melden es aufgeregt die Agenturen, so steht es in den deutschen Medien.

Mann, der Varoufakis. Immerhin leugnet er die Vorwürfe nicht mehr, die … von wem nochmal ursprünglich erhoben worden waren? Ach richtig, von Varoufakis.

Der Minister hatte mit dem Magazin der „New York Times“ gesprochen und dabei Berichte dementiert, dass er beim Finanzministertreffen in Riga im April von seinen Kollegen beschimpft und beleidigt worden sei. Er habe die Treffen aufgenommen, sagte er der Journalistin, könne sie aber wegen der Vertraulichkeit nicht veröffentlichen.

Wenn die deutschen Medien nun also unisono berichten, dass Varoufakis „eingeräumt“, „zugegeben“ oder gar „jetzt doch zugegeben“ habe, die Gespräche mitgeschnitten zu haben, dann meinen sie nicht, wie man als treuherziger Leser und Benutzer der deutschen Sprache denken könnte, dass er auf entsprechende Vorwürfe von irgendwelchen Gegenspielern oder Journalisten reagieren und klein beigeben musste. Sie meinen damit, dass Varoufakis noch einmal bestätigte, was er ohnehin selbst gesagt und in die Öffentlichkeit gebracht hatte.

Man würde das angesichts der Art, wie die deutschen Agenturen und Medien berichten, nicht ahnen. Die Nachrichtenagentur dpa beginnt ihre Meldung am Sonntag mit dem traurigen Satz:

Der griechische Finanzminister Gianis Varoufakis sorgt wieder einmal für Aufregung: (…).

Und verbrämt die Tatsache, dass es Varoufakis selbst war, der zuerst von den Aufnahmen erzählt hatte, in der Formulierung:

Erste Informationen zu den Aufnahmen waren in der Zeitschrift „New York Magazine“ [sic!] vergangene Woche erschienen.

Bei Reuters heißt es:

Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis hat zugegeben, ein als vertraulich eingestuftes Treffen mit seinen Kollegen aus der Euro-Zone aufgezeichnet zu haben.

Und bei AFP:

Der griechische Finanzminister Giannis Varoufakis hat eingestanden, vertrauliche Gespräche bei einem Treffen mit seinen EU-Kollegen Ende April mitgeschnitten zu haben.

Über die Frage, woher der vermeintliche Vorwurf der Aufnahme stammte, informiert AFP angestrengt indirekt:

Varoufakis bestätigte mit seinem Blogeintrag Angaben der „New York Times“. Die US-Zeitung hatte am Mittwoch in einem langen Text über den griechischen Finanzminister, der auch Interviewpassagen enthielt, über die Aufzeichnungen in Riga berichtet.

Bei „Spiegel Online“ meinen sie sogar, Varoufakis habe die „Nachricht“, dass er die Aufnahmen „eingeräumt“ habe, in einem Blog-Beitrag „versteckt“ – wie auch immer man sich das vorstellen muss.

Sie alle können oder wollen nicht anders über Yanis Varoufakis berichten. Vermutlich können sie ihn gar nicht mehr anders sehen. Er ist für sie ein eitler Idiot, der dumme Dinge tut, und alles, was er tut, bestärkt sie in dieser Wahrnehmung und Darstellung, und selbst wenn er nur bei seiner eigenen Darstellung eines Sachverhaltes bleibt, schaffen sie es, den Eindruck zu erwecken, er habe – widerwillig, womöglich auf öffentlichen Druck – einen peinlichen Fehler zugegeben.

Wenn dpa schreibt, Varoufakis sorge „wieder einmal für Aufregung“, ist das natürlich Unsinn, denn es ist die Agentur selbst, die für Aufregung sorgt. Die ganze Art, wie die deutschen Medien in den vergangenen Tagen das Mitschneiden der Gespräche skandalisiert haben, ist bezeichnend.

Nehmen wir die „Süddeutsche Zeitung“. Vom ersten Satz an trieft der Bericht des Brüsseler Korrespondenten Alexander Mühlauer von spöttischer Verachtung für Varoufakis:

Die Fotos sind wieder toll geworden, nicht ganz so toll wie jene im Penthouse seiner Frau, aber immerhin sieht Yanis Varoufakis wahrhaft blendend aus. Wie er so über den Syntagma-Platz in Athen schlendert, das Hemd offen und natürlich nicht in die Hose gesteckt, könnte man meinen, er ginge ins Kaffeehaus. Dabei ist er auf dem Weg in sein Ministerium. Dorthin hat ihn ein Fotograf des „New York Times Magazine“ begleitet.

Doch Varoufakis wäre nicht Varoufakis, hätte er es bei den Fotos belassen. Und so erzählte er dem Magazin, wie es ihm als Finanzminister so ergeht.

Kurz innegehalten: Die SZ wirft hier dem Finanzminister vor, dass er nicht nur Fotos von sich machen lässt, sondern dem „New York Times Magazine“ erzählt, wie es ihm als Finanzminsiter so ergeht? Was bildet der Mann sich ein! Der Vorwurf taucht in Variationen übrigens immer wieder in der Presse auf: Dass Varoufakis dauernd mit der Presse spricht. Man könnte das schizophren finden.

Weiter im Text:

Er erinnert sich an das Treffen der Euro-Gruppe im April in Riga, das für ihn nicht gerade optimal verlief. Ihm wurde vorgeworfen, auf Zeit zu spielen. Nun sagt Varoufakis: „All diese Berichte, dass ich beleidigt wurde, als Zeitverschwender bezeichnet wurde und all das: Lassen Sie mich sagen, dass ich das mit jeder Faser meines Körpers dementiere.“ Er könne das beweisen, behauptet er, schließlich habe er die Gespräche in der Euro-Gruppe mitgeschnitten. Doch wegen der Regeln über Vertraulichkeit könne er diese Aufnahmen nicht veröffentlichen.

Ob das stimmt, weiß nur Varoufakis selbst. Aber immerhin schafft er es mit dieser Äußerung, seine Ministerkollegen erneut zu verärgern. Aus deutschen Regierungskreisen verlautete: „Wir erwarten von der Euro-Gruppe, dass der Sachverhalt aufgeklärt wird. Die Vertraulichkeit der Gespräche muss gewahrt bleiben.“

Ist das nicht traurig? Selbst für eine Selbstverständlichkeit, eine Standard-Feststellung, dass vertrauliche Gespräche vertraulich bleiben müssen, fand sich für die SZ als Stichwortgeber nur ein anonymer Irgendwer „aus deutschen Regierungskreisen“?

Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem sagte am Donnerstag: „Treffen der Euro-Gruppe sind vertraulich. Wir verlassen uns auf jede anwesende Person, diese Vertraulichkeit zu respektieren.“

Ja. Gut. Schön, das mal hingeschrieben zu haben. Bislang scheint niemand ja diese Vertraulichkeit gebrochen zu haben – ach so, Moment, außer den Gegnern von Varoufakis, die der Presse erzählt haben, dass die anderen Finanzminister ihn dort beschimpft hätten. Komischerweise handelt der Text aber gar nicht von diesem Bruch der Vertraulichkeit, sondern nur dem vermeintlich drohenden durch Varoufakis.

In Brüssel hieß es, dass es keine Regeln gebe, die das Aufnehmen verböten. Theoretisch könne das jeder Teilnehmer tun – allerdings nur für den Eigenbedarf.

Aha! Nach Ansicht von „Brüssel“ hat Varoufakis also gar nichts Verbotenes getan. Das ist aber ein bisschen enttäuschend als Fazit, und so fügt die SZ sicherheitshalber hinzu:

In Deutschland wäre ein solcher Mitschnitt strafbar. In Paragraf 201 des Strafgesetzbuches heißt es unter „Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes“: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer unbefugt das nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen auf einen Tonträger aufnimmt.“

Es sei Varoufakis eine Warnung für seine nächste Konferenz in Deutschland. Die, um die es geht, fand in Riga statt.

Die „Welt“ berichtet über Varoufakis‘ Mitschnitt unter dem Zitat „Unverschämt, eine Zumutung“ und nennt ihn einen „Affront“. (Online trägt das Stück den Titel: „Dreistigkeit bewahrt Varoufakis vor dem Rauswurf“.) Der Artikel von Jan Dams und André Tauber beginnt damit, allen, die in den vergangenen Monaten womöglich keine deutschen Medien gelesen haben, daran zu erinnern, was dieser Varoufakis für eine erbärmliche Gestalt ist:

Janis Varoufakis ist inzwischen als ein Mann bekannt, der polarisiert. In Griechenland hat der Finanzminister durchaus seine kompromisslosen Fans. Es gibt Plakate, auf denen steht, V für Varoufakis – wie V für Victory eben, also Sieg. Zu seinen Auftritten kommen die Groupies, weibliche Fans jeden Alters. Politisch, unter seinen Kollegen, gilt der Mann dagegen als erledigt. Das allerdings nicht erst seit dieser Woche.

Ein Politiker, den nur ein paar radikale Griechen und sonst nur Frauen „jeden Alters“ mögen. Hahaha.

Varoufakis‘ Äußerungen gegenüber dem „New York Times Magazine“ bezeichnen die deutschen Journalistenmänner als „möglicherweise ebenso unbedacht wie eitel“ und schreiben dann:

Es ist eine Provokation, ein Affront. „Das ist absolut unüblich“, sagt ein europäischer Sitzungsteilnehmer. Das sei „unverschämt, eine Zumutung.“ Und angeblich sogar verboten.

Ein europäischer Sitzungsteilnehmer. Irgendein Unbekannter, der sich nicht einmal traut, mit seinem Namen zu seiner Einschätzung zu stehen. Dessen anonymes Zitat und Beschimpfung von Varoufakis ist für die „Welt“ gut genug, um daraus die Überschrift zu machen.

Danach zählt sie Gründe auf, warum die anderen Minister wahrscheinlich nicht gegen Varoufakis vorgehen werden:

Erstens hat der griechische Minister bislang die Vertraulichkeit nicht gebrochen, Informationen nicht an die Presse gegeben. Er wehrt sich nur gegen die Behauptung, die Kollegen hätten ihn beschimpft.

Tatsache: Varoufakis hat bislang die Vertraulichkeit gar nicht gebrochen. Man würde denken, dass angesichts dessen die Aufregung ein bisschen übertrieben ist. Aber nein.

„Möglicherweise hat er auch – anders als er jetzt behauptet – die Sitzung gar nicht aufgenommen, sondern erzählt es nur, um seine Version der Sitzung zu untermauern“, mutmaßt einer der anderen Unterhändler. Wer weiß das schon bei Janis Varoufakis?

Oho, noch ein anonymer Unterhändler. Vielleicht auch wieder der gleiche. Während Varoufakis vorgeworfen wird, ununterbrochen Interviews zu geben, scheinen die anderen Finanzminister ununterbrochen mit der Presse zu reden, aber im Hintergrund, feige, im Schutz der Anonymität. Komischerweise scheinen die deutschen Journalisten damit kein Problem zu haben.

Toll ist aber auch die Theorie der „Welt“, dass Varoufakis sich das mit den aufgezeichneten Gesprächen womöglich nur ausgedacht hat. Entweder ist der Typ also böse, weil er Gespräche mitschneidet. Oder weil er nur behauptet, Gespräche mitgeschnitten zu haben. Böse ist er in jedem Fall.

Weiter im Text:

Zweitens, heißt es in Verhandlungskreisen: Es gebe keine Bestimmungen, wonach Mitschnitte verboten wären. Und tatsächlich scheinen außer Varoufakis auch andere das Wort „Amateur“ bei dem fraglichen Treffen nicht gehört zu haben. Bleibt tatsächlich die Frage, wer das Ganze damals an die Nachrichtenagentur Bloomberg weitergegeben hat.

Na sowas, „in Verhandlungskreisen heißt es“, Mitschnitte seien gar nicht verboten. Zwei Absätze weiter oben hatte die „Welt“ noch irgendein anderes anonymes Verhandlungskreismitglied erwähnt, das behauptete, es sei verboten. Vielleicht hätte man das dann besser weggelassen? Und, noch einmal, es findet sich wirklich niemand, der nicht Varoufakis heißt, der on the record eine Aussage darüber träfe?

Und nebenbei erwähnt die „Welt“ nun, dass es selbst bei ihren Quellen Zweifel gibt, ob Varoufakis in Riga von seinen Kollegen so kritisiert wurde, wie es deutsche Medien großflächig berichtet hatten.

Wäre das nicht ein Skandal? Wenn irgendwelche Teilnehmer aus der vertraulichen Sitzung Dinge berichten? Dinge, die womöglich nicht einmal stimmen? (Außer der „Welt“ berichteten auch FAZ und „Handelsblatt“ am Freitag, dass Varoufakis‘ Kollegen ihn vermutlich doch nicht als „Spieler, Amateur und Zeitverschwender“ bezeichnet haben.)

Och jö. Die „Welt“ schreibt:

Einerseits ist überliefert: Es gibt inzwischen einige Kollegen des Griechen, die von dessen selbstgefälligen Auftritten und ausschweifenden Referaten genervt sind. Der eine oder andre könnte deshalb schon mal Dinge weitererzählen, die Varoufakis schaden. Andererseits ist allen klar, viel hat der Mann in Athen ohnehin nicht mehr zu sagen. Warum sich also über ihn aufregen?

Kein Affront, kein Skandal. Und alles, was passiert, spricht immer gegen Varoufakis. Den bösen, eitlen Mann, der die Vertraulichkeit des Finanzministertreffens nicht gebrochen hat, anders als die unzuverlässigen anonymen Teilnehmer, denen die deutsche Presse vertraut.

Breaking News: Merkel sagt zum 5. Mal, dass der Islam zu Deutschland gehört

„Spiegel Online“ macht gerade mit der Nachricht auf, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel sich den Worten des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff angeschlossen habe: Der Islam gehöre zu Deutschland. Auch die meisten anderen großen Online-Medien vermelden das groß und prominent als Neuigkeit. Die Nachrichtenagenturen haben entsprechend berichtet.

Das ist verblüffend, denn Merkel hat sich Wulffs Aussage schon kurz nach seiner berühmten Rede im Oktober 2010 zu eigen gemacht. Und seitdem immer wieder.

2010:

2011:

2012:

2014:

Natürlich ist es eine Nachricht, wenn Merkel auch und gerade in der aktuellen Debatte nach den Anschlägen von Paris diesen Satz wiederholt und damit ein politisches Zeichen setzt. Aber das ist eine ganz andere Nachricht als die, die gerade auf den meisten Nachrichtenseiten steht und so tut, als habe Merkel etwas getan, was sie vorher noch nicht getan hat.

Müsste man nicht erwarten können, dass politische Journalisten wissen, dass Merkels Satz keine Premiere ist, und das entsprechend einordnen?

[Disclaimer: Ich habe jetzt nicht nachgeschaut, ob es wirklich erst das fünfte Mal war.]

Nachtrag, 22:40. Auf tagesschau.de ist aus der Formulierung „Kanzlerin Merkel hat sich das bekannteste Zitat von Ex-Präsident Wulff zu Eigen gemacht“ nun „… erneut zu Eigen gemacht“ geworden.

Nachtrag, 13. Januar. Die Tageszeitungen von heute:

Eine besonders irreführende Art, die Opfer des Gaza-Krieges darzustellen

Auf „Spiegel Online“ steht ein Diagramm, das illustrieren soll, wie sich die Zahl der Todesopfer im gegenwärtigen Gaza-Krieg entwickelt hat. Die Redaktion hat die vermutlich abwegigste Art gewählt, diese Entwicklung darzustellen.

Wenn Sie mal schauen mögen:

Darauf muss man erst einmal kommen. „Spiegel Online“ zeigt nicht die wachsende Gesamtzahl der Opfer. „Spiegel Online“ zeigt auch nicht den täglichen Zuwachs an Opfern in absoluten Zahlen. „Spiegel Online“ zeigt, um wie viel Prozent die Zahl der Opfer an diesem Tag im Vergleich zur bisherigen Gesamtzahl angestiegen ist.

Das ist aus mehreren Gründen eine sehr schlechte Idee. Es reduziert einzelne Opfer auf eine Prozentzahl, auf einen bloßen Anteil an einer Gesamtzahl. Es ist weder intuitiv verständlich noch anschaulich. Vor allem aber vermittelt es einen völlig falschen Eindruck vom Verlauf dieses Krieges.

Auf den ersten Blick (und ich würde wetten, für die meisten Betrachter auch auf den zweiten oder dritten) sieht es so aus, als ob der Krieg mit fortschreitender Dauer weniger tödlich wurde. Denn die Balken werden, grob gesagt, nach unten immer kürzer.

Das liegt aber daran, dass die Bezugsgröße jedes Balkens immer größer wird. Ein Zuwachs entspricht einem immer kleineren Prozentsatz, weil die Gesamtzahl der Opfer immer weiter ansteigt. Der relativ kurze Balken ganz unten steht für 193 Tote. Der lange Balken ganz oben steht für 34 Tote.

Würde man nicht den prozentualen Zuwachs zeigen, sondern den absoluten Zuwachs, also schlicht: wie viele Menschenleben der Krieg an jedem Tag gekostet hat, ergäbe sich ein ganz anderes Bild:

Der blutigste Tag war der letzte in der Grafik. Aufgrund der „Spiegel Online“-Darstellung würde man das nicht erahnen.

[mit Dank an BILDblog-Leser Johann H.]

Nachtrag, 7. August. „Spiegel Online“ hat mit einem Eintrag im „Datenlese“-Blog reagiert, der einräumt, dass sich „der Informationsgehalt der Grafik nicht ganz intuitiv erfassen“ lasse. Eine nachvollziehbare Erklärung für die bizarre Darstellung enthält er nicht.

„Spiegel Online“ und ein angeblicher erster Erfolg der Sanktionen

Und dann war da noch der „Spiegel Online“-Artikel, der vermeldete, dass die verschärften Sanktionen gegen Russland, die der „Spiegel“ so vehement gefordert hat, womöglich schon erste Wirkung zeigen. Unter der Überschrift „Wie Russland auf die Sanktionen reagiert“ heißt es:

Was passiert, wenn Putin stur bleibt?

Die 28 EU-Mitgliedstaaten sind bereit, die Sanktionen nach der Dreimonatsfrist noch einmal zu verschärfen. Putin hat jetzt signalisiert, OSZE-Beobachter an der russisch-ukrainischen Grenze zuzulassen — möglicherweise ein Signal ersten Entgegenkommens. Oberstes Ziel bleibt, Moskau zu Respekt gegenüber den Grenzen und Souveränitätsrechten seiner Nachbarn anzuhalten.

Das kann nicht stimmen. Putin hat nicht jetzt erst signalisiert, OSZE-Beobachter an der Grenze zuzulassen. Russland hat sie bereits vor gut zwei Wochen eingeladen. Am 14. Juli 2014 meldete die Nachrichtenagentur AFP:

Im Streit um die Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenze sandte Moskau derweil ein Signal der Entspannung. Russland lade „als Geste des guten Willens“ Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein, sich zu den Kontrollposten Donezk und Gukowo zu begeben, teilte das Außenministerium mit. Zuvor war in einem russischen Grenzort ein Mann durch ein Geschoss getötet worden. Moskau machte die Ukraine dafür verantwortlich und drohte mit „irreversiblen Konsequenzen“.

Nach einigem Hin und Her beschloss die OSZE vor einer Woche einmütig (inklusive der Stimmen der Ukraine und Russlands) eine entsprechende Mission: 16 OSZE-Vertreter sollten „so schnell wie möglich“ an die Grenze geschickt werden und über die Situation an zwei russischen Grenzposten berichten.

Wir kommt also „Spiegel Online“ darauf, dass Putin jetzt einlenkte?

Auf meine Nachfrage erklärt die stellvertretende Chefredakteurin Barbara Hans:

An dieser Stelle war unser Text missverständlich formuliert. Unsere Autoren halten es aber — bei aller Vorsicht — für möglich, dass Putin die Einreiseerlaubnis vom Dienstag durchaus auch als versöhnliches Signal in Richtung Westen verstanden wissen will.

Wir werden den Satz folgendermaßen ändern und eine Anmerkung unter dem Text einfügen:

Putin hatte schon seit einigen Wochen signalisiert, OSZE-Beobachter an der russisch-ukrainischen Grenze zuzulassen. Dass russische Behörden sie am Dienstag einreisen und ihre Arbeit beginnen ließen, kann möglicherweise als ein Signal ersten Entgegenkommens verstanden werden.

Ja, möglicherweise.

Möglicherweise ist es auch nur die Umsetzung des von Russland vor einer Woche mitgetragenen Beschlusses der OSZE.

Und möglicherweise ist es ein Problem, dass der „Spiegel“ und „Spiegel Online“ so sehr von der Notwendigkeit und Wirksamkeit schärferer Sanktionen überzeugt sind, dass sie deren Erfolge schon herbeizuschreiben versuchen.

[via Mopperkopp]

Das „britische Erdbeben“, der „Durchmarsch“ der UKIP – und die Realität

Bei „Spiegel Online“ sind sie ganz aufgeregt. Gut, das sind sie immer, aber sie sind es auch wegen der Ergebnisse der Kommunalwahlen in England. Ein „Erdbeben“ habe sich in Großbritannien ereignet, schnappatmet der Bericht; die britische Unabhängigkeitspartei Ukip feiere einen „Durchmarsch“ und „Sieg“.

Und tatsächlich sind das ja spektakuläre Ergebnisse:

Quasi aus dem Nichts hat die United Kingdom Independence Party weit über 100 Sitze geholt. Kein Wunder, dass die anderen Parteien schockiert sind.

Winziges Detail: Die BBC-Grafik da oben ist von 2013. Es waren die englischen Kommunalwahlen vor einem Jahr, bei denen die UKIP mit ihrem Erfolg die politische Landschaft in Großbritannien erschütterte. Bei den Wahlen in dieser Woche hat sie diesen Erfolg nur in Wahlkreisen, in denen damals nicht gewählt wurde, wiederholt.

Hochgerechnet auf ganz Großbritannien hätte UKIP nach BBC-Schätzungen bei den Wahlen in diesem Jahr 17 Prozent der Stimmen bekommen. Im vergangenen Jahr waren es 23 Prozent.

Das heißt, die Zustimmung für die Partei ist gegenüber dem Vorjahr sogar ein bisschen gesunken. Das Bemerkenswerte an den Ergebnissen dieser Woche ist nicht, dass die UKIP spektakulär Stimmen gewonnen hätte. Das Bemerkenswerte ist, dass sie diesen Erfolg beinahe wiederholt hat. Es ist keine Geschichte eines Durchbruchs, sondern der Beständigkeit.

Das macht sich in einer Google-Suche, als klickträchtige Überschrift und überhaupt: für ein Medium wie „Spiegel Online“, das seinen Lesen jeden Tag die aufregendsten Nachrichten verspricht, natürlich nicht so gut wie die Zeile: „Das britische Erdbeben“.

Und um die Sache noch spektakulärer zu machen, spricht „Spiegel Online“ sogar von einem „Durchmarsch“ der UKIP. Ein „Durchmarsch“, an dessen Ende die UKIP nach Sitzen in den Bezirken, in denen gewählt wurde, viertstärkste Partei ist, hinter Labour, Konservativen und Liberaldemokraten. Ein „Durchmarsch“, an dessen Ende die UKIP keine einzige Ratsmehrheit erobern konnte.

Wenn das Wort „Durchmarsch“ nicht bloß die Bedeutung hat: „Oh mein Gott, hier ist etwas passiert, das nach einem wahnsinnigen Erfolg aussieht“, dann war das in dieser Woche kein Durchmarsch der UKIP. Aber wenn die UKIP tatsächlich irgendwann einen „Durchmarsch“ schafft, dann wird „Spiegel Online“ schon einen entsprechenden neuen Begriff finden, der dann noch größer und durchmarschiger klingt.

Es ist ein Journalismus, dem es im Zweifel darum geht, das Adrenalin zu maximieren, nicht das Verständnis.

Die Seelen-Verkäufer von „Spiegel Online“ (3)

Angenommen, ein seriöses Nachrichtenmagazin bringt einen großen Bericht über neue Werbeformen, zeigt, wie heikel die sind, und betont dabei, dass man selbst eine weiße Weste hat: „Werbung, die aussieht wie ein Text der Redaktion, wird es nicht geben.“

Und angenommen, dann kommt raus, dass das gar nicht stimmt.

Würde man dann nicht, als seriöses Nachrichtenmagazin, in der nächsten Ausgabe seine Leser kurz informieren, dass man sie falsch informiert hatte? Gut, natürlich nicht gleich am Anfang, in der „Hausmitteilung“, da steht nur, wie toll das eigene Heft ist. Und natürlich auch nicht ganz am Ende, in der Rubrik „Rückspiegel“, da steht nur, wie toll andere das eigene Heft finden.

Aber vielleicht irgendwo dazwischen, nur eine Notiz, zum Beispiel in dem kleinen „Korrekturen“-Kasten oder auf der Meldungsseite im Medienteil?

Natürlich würde man dadurch Leser, die gar nichts mitgekriegt hatten von dem peinlichen falschen Versprechen — und das wäre womöglich die Mehrheit — überhaupt erst darauf aufmerksam machen. Andererseits würde man denen, die es mitgekriegt haben, zeigen, dass man ein Nachrichtenmagazin ist, dem man trauen kann, sogar wenn es in eigener Sache berichtet.

Wäre das nicht, wenn man es schon nicht hingekriegt hat, in seinem Online-Auftritt Werbung und Redaktion so sauber zu trennen, wie man vorgegeben hat, ein schönes Zeichen, dass man es wenigstens hinkriegt, zu seinen Fehlern zu stehen? Aufrichtig und transparent mit ihnen umzugehen?

Der „Spiegel“ hat diese Fragen offenbar mit Nein beantwortet und so steht im neuen Heft darüber, dass man mindestens ein Jahr lang genau das betrieben hat, was man bei anderen kritisierte und für sich ausschloss: kein Wort.

Aber gut, was sollte die Redaktion auch machen, um über solche Themen mit ihren Lesern ins Gespräch zu kommen? Bloggen?

Die Seelen-Verkäufer von „Spiegel Online“ (2)

Abruptes Ende einer Partnerschaft: „Spiegel Online“ hat die Unterdomain eurojackpot.spiegel.de abgeklemmt, auf der, als „Service von WestLotto“, im redaktionellen Gewand für die Lotterie geworben wurde. Geschäftsführung und Chefredaktion von „Spiegel Online“ erklärten, die Werbung hätte in dieser Form „nicht live gehen dürfen“. Dass dies dennoch geschehen sei, sei ein „Fehler“.

Es war ein erstaunlicher hartnäckiger Fehler. Denn auf diesen Seiten erschienen nicht nur ein paar einzelne Werbe-Kolumnen. Im Laufe eines Jahres wurden hier auch hundert vermeintliche Nachrichtenartikel publiziert, die im Auftrag der staatlichen Lotteriegesellschaft des Landes Nordrhein-Westfalen für das Glücksspiel warben.

Zum Beispiel:

  • Riesige Spannung – Größter Jackpot in Deutschland steigt weiter
  • Überragend: Rekordjackpot von 47 Mio. Euro wartet kommenden Freitag
  • YouTube-Star beschenkt Obdachlosen mit Lotterie-Gewinnerlos
  • Eurojackpot-Reporter beim Eurovision Song Contest
  • Ungarischer Obdachloser gewinnt Lotterie-Jackpot von zwei Millionen Euro
  • Passend zum Valentinstag: Großgewinne über ganz Europa verteilt
  • Britische Lotterie-Millionärin teilt Gewinn mit ihrem Ex-Mann
  • Weihnachtliche Bescherung für drei Eurojackpot-Tipper aus Deutschland
  • Ein Dorf wird Millionär
  • Der große Glücksatlas
  • Wenn halb Europa Lotto spielt
 und am Ende Deutschland gewinnt
  • Kellnerin in den USA erhält Lotterie-Lose als Trinkgeld und gewinnt

„In loser Reihenfolge“ wurden andere Länder vorgestellt, die auch an der Lotterie teilnehmen („Spanien: Beliebtes Reiseziel im sonnigen Süden“); der Unternehmens-Sprecher erklärte, was ein glückliches Leben ausmache und welche Rolle das Glücksspiel dabei spiele („Es ist vor allem der Traum vom Glück, der viele Lotteriespieler antreibt“), neue Forschungsergebnisse wurden mitgeteilt („Glückliche Menschen werden seltener krank“).

All diese vielen Dutzend Artikel, die plump bis halbsubtil für die Lotterie warben, erschienen im redaktionellen Design von „Spiegel Online“, gekennzeichnet bloß als „Service von WestLotto“. Von jeder „Spiegel Online“-Seite führte ein Link am Fuß zur Themenseite mit den jeweils aktuellen Beiträgen.

Und bei „Spiegel Online“ hatte bis eben niemand diesen „Fehler“ bemerkt.

[via Jan in den Kommentaren]

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