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Ein lebenslanger Makel: Warum Springer Kachelmann 635.000 Euro zahlen soll

Bei „Bild“ verstehen sie nicht, wie sie vom Landgericht Köln dazu verurteilt werden konnten, Jörg Kachelmann mehrere Hunderttausend Euro Geldentschädigung zu zahlen. „Gibt nun mal Urteile, die man nicht versteht“, twitterte die stellvertretende Chefredakteurin Tanit Koch. Und: „Ganz im Ernst: Wenn ich das erklären könnte, müßten wir ja nicht in Berufung.“ Lustig.

Vielleicht hat sie nur die Pressemitteilung ihres Verlages gelesen, nach deren Lektüre man tatsächlich nicht verstehen kann, warum das Gericht Kachelmann eine Rekordsumme zugesprochen hat. Vielleicht hätten ihr ein paar Stellen aus der Urteilsbegründung beim Verstehen geholfen. Diese zum Beispiel:

[…] Der Kläger [Kachelmann] wurde durch die Berichterstattung der Beklagten [„Bild“] als gewaltaffiner und frauenverachtender Serientäter charakterisiert, der aus eigensüchtigen Motiven nicht nur mehrere Partnerinnen gleichzeitig gehabt, sondern diese auch systematisch zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse belogen haben soll. Dass eine den Kläger derart abqualifizierende Berichterstattung nicht nur eine erhebliche Prangerwirkung entfaltet und zu einer sozialen Isolation führt, sondern den Kläger zudem mit einem Makel belegt, den er trotz des Freispruchs sein Leben lang mit sich führen wird, bedarf sicherlich keiner weiteren Erörterung.

Tatsächlich stellte das Gericht fest, dass es keine konkreten Anhaltspunkte fand, dass „Bild“ „hinsichtlich der rechtswidrigen Persönlichkeitsrechtsverletzungen vorsätzlich und mit Schädigungsabsicht gehandelt hätte“. Ihr könne „nur der Vorwurf gemacht werden, auf einem außerordentlich schwierigen Gebiet der Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen die rechtliche Grenzziehung fahrlässig verfehlt zu haben“. Diese Zitate finden sich in der Pressemitteilung von Springer.

Allerdings belegt das Gericht äußerst detailliert, wie „Bild“ diese Grenze wieder und wieder und wieder und wieder verfehlte. Es spricht von einer „wiederholten und hartnäckigen Verletzung der Privatsphäre des Klägers“. Insgesamt 18 Mal sei Kachelmann von der „Bild“-Berichterstattung „schwerwiegend in seiner Privat- bzw. Intimsphäre verletzt“ worden. Dadurch, dass „Bild“ Kachelmanns private Kommunikation veröffentlichte, ohne dass es einen Zusammenhang zu dem Verfahren gegen ihn gab. Dadurch, dass „Bild“ „detailreich über seine vermeintlichen sexuellen Beziehungen mit diversen Frauen“ berichtete. Dadurch, dass „Bild“ „mehrfach und entgegen der Unschuldsvermutung über vermeintliche weitere sexuelle Übergriffe“ berichtete, „obschon lediglich die Aussage des vermeintlichen Opfers als vermeintliche Beweistatsache vorlag“. Und dadurch, dass „Bild“ „unter hartnäckiger Verletzung der Privatsphäre des Klägers mehrfach Fotos [veröffentlichte], die ihn als Häftling in der JVA und im Hof der Kanzlei seiner Verteidigerin zeigten, ohne dass er die Möglichkeit gehabt hätte, dieser – mitunter heimlichen – Nachstellung zu entkommen“.

Es geht, wie man an dieser Aufzählung erahnt, in diesem Prozess nur am Rande um knifflige Grenzfälle bei der Berichterstattung über ein Strafverfahren, bei dem ein Prominenter einer Vergewaltigung angeklagt wird. Um Fragen wie die, ob das, was vor Gericht verhandelt wird, in jedem Fall auch öffentlich berichtet werden darf.

Ausschlaggebend für die hohe Geldentschädigung waren viele Fälle klarer, schwerer Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Die „Bild“-Leute nahmen – wie andere Medien und insbesondere die des Burda-Verlages auch – den strafrechtlichen Vorwurf als Vorwand, alle möglichen, dafür irrelevanten Details und Behauptungen über das Privat- und Intimleben von Kachelmann öffentlich zu machen. Dass schon die Berichterstattung über Kachelmanns Festnahme, die Anschuldigungen und den Prozess sein Image nachhaltig schädigten, ist sicher richtig. Aber hier geht es um Berichte, die sich in keiner Weise mit einem irgendwie gearteten Informationsinteresse der Öffentlichkeit rechtfertigen lassen – und schon gar nicht mit der Unschuldsvermutung vertragen.

Bleiben wir noch einmal kurz bei den Fotos, die „Bild“ heimlich von Kachelmann beim Hofgang im Gefängnis aufnahm und veröffentlichte. Und staunen, wie die Rechtsabteilung von „Bild“ sie laut Gericht rechtfertigt:

Hinsichtlich der Fotos des Klägers in der JVA sei sich der Kläger der Beobachtung durch Fotografen bewusst gewesen und habe es billigend in Kauf genommen, dass er während des Hofgangs fotografiert worden sei. Ferner zeigten die Fotos den Kläger im Innenhof der JVA, der vom öffentlichen Straßenraum aus einsehbar sei. Zudem habe die Beklagte in Ausübung ihrer „Wachhundfunktion“ aus Anlass einer jeweils neuen Entwicklung im Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den Kläger aufgrund eines aktuellen Berichterstattungsinteresses berichtet, so dass die Darstellung der Fotos im Zusammenhang mit dem Strafprozess gegen den Kläger, insbesondere der Untersuchungshaft in der JVA, seinem Umgang mit der wiedergewonnenen Freiheit nach Aufhebung des Haftbefehls und der Gewährung eines Prozessurlaubs in Kanada, stünde.

Das Gericht sieht darin hingegen einen Eingriff „in den Kernbereich der Privatsphäre“:

Denn der Kläger befand sich in einer Situation, in der er nicht erwarten musste, von der Presse behelligt zu werden, wobei dies vorliegend umso mehr gilt, als sich der Kläger in der betroffenen Situation nicht in einem öffentlich zugänglichen Verkehrsraum bewegte. Ein besonderes Gewicht kommt auch der Tatsache zu, dass die Beklagte die Bilder heimlich, d.h. ohne Kenntnis des Klägers und unter Ausnutzung von technischen Mitteln aufnahm.“

Die „Bild“-Zeitung habe die Fotos allein zur Befriedigung der Neugier der Öffentlichkeit veröffentlicht, obwohl sie hätte erkennen können, dass sie dadurch

den Kläger gegenüber der Öffentlichkeit als Häftling in einer Situation vorführte, in der er der Verfolgung durch die Fotografen – selbst wenn er sie wahrgenommen hätte – nur unter Aufgabe des täglichen Hofgangs hätte entkommen können, ihr mithin ausgeliefert war.

„Bild“ veröffentlichte auch rechtswidrig Textnachrichten, die Kachelmann der zeitweise bekannten Popsängerin Indira Weis schrieb (Überschrift: „Er schickte ihr 50 heiße Flirt-SMS“). Das Gericht nennt die Weitergabe und wörtliche Veröffentlichung mit allen Einzelheiten des Ausdrucks mehr als eine „bloße Indiskretion“, nämlich „eine komplexe Preisgabe der Person des Klägers an die Öffentlichkeit.“ Der „Bild“-Zeitung sei insofern

eine rücksichtslose Verfügung über die Person des Klägers vorzuwerfen. Denn der Beklagten war schon aufgrund der Umstände – der Kläger befand sich in Untersuchungshaft, das Ermittlungsverfahren dauerte an – bewusst, dass dieser keine Einwilligung zur wörtlichen Veröffentlichung der betreffenden SMS-Nachrichten erteilen würde.

„Bild“ verbreitete mehrmals Vorwürfe von anderen angeblichen Affären Kachelmanns, wonach er zum Beispiel ihnen gegenüber gewalttätig geworden sei – auch dann, wenn jeder Beweis für die Richtigkeit dieser ihn stigmatisierenden Behauptungen fehlte:

Basiert […] der Vorwurf einzig auf einer Anzeige/Aussage einer Person, gehört es zu der journalistischen Pflicht eines Presseorgans auch, die Glaubhaftigkeit derselben zu hinterfragen. Dies ist hier offenkundig nicht geschehen, obschon der Beklagten diese Pflicht hätte bekannt sein müssen. […]

Im Ergebnis bleibt der den Kläger stigmatisierende Verdacht, eine weitere Frau misshandelt zu haben, stehen, ohne dass seitens der Beklagten ausgewogen berichtet worden wäre.

„Bild“ veröffentlichte Auszüge aus privaten Emails, die „keinen über die allgemeine charakterliche Abqualifizierung des Klägers hinausgehenden Bezug zu der ihm vorgeworfenen konkreten Tat, seinen vermeintlichen Motiven, anderen angeblichen Tatvoraussetzungen oder der Bewertung seiner Schuld“ herstellten. Das Gericht schreibt:

Vor diesem Hintergrund läuft der Kläger aber Gefahr, ungeachtet der rehabilitierenden Wirkung eines Freispruches von dem Vorwurf der schweren Vergewaltigung und gefährlichen Körperverletzung in den Augen einer breiten Öffentlichkeit weiterhin mit dem Makel eines charakterlich defizitären, lügnerischen und perfiden Verhaltens gegenüber Frauen gebrandmarkt zu sein, ohne dass ein über die Befriedigung der bloßen Neugier hinausreichendes Informationsinteresse erkennbar wäre.

Das Gericht räumt ein, dass das Berichterstattungsinteresse über das Strafverfahren aufgrund der Prominenz Kachelmanns und der Schwere des Vorwurfs immens gewesen sei.

Gleichwohl rechtfertigt dieses außergewöhnlich große Informationsinteresse der Öffentlichkeit […] nicht jedwede Berichterstattung, da gerade bei der Berichterstattung über das Bestehen eines Verdachts der Begehung einer Straftat durch die Medien besondere Gefahren für den jeweils Betroffenen bestehen. Denn Verdächtigungen, Gerüchte und insbesondere Berichterstattungen durch die Medien werden oft für wahr genommen, ihre später erwiesene Haltlosigkeit beseitigt den einmal entstandenen Mangel kaum und Korrekturen finden selten die gleiche Aufmerksamkeit wie die Bezichtigung, insbesondere wenn es später zu einem Freispruch unter dem Gesichtspunkt in dubio pro reo kommt. Deswegen gebietet die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zu Gunsten des Angeklagten sprechende Unschuldsvermutung eine entsprechende Pflicht der Medien, die Stichhaltigkeit der ihr zugeleiteten Informationen unter Berücksichtigung der den Verdächtigen bei identifizierender Berichterstattung drohenden Nachteile gewissenhaft nachzugehen, und eine entsprechende Zurückhaltung, gegebenenfalls einhergehend mit einer Beschränkung auf eine ausgewogene Berichterstattung.

Die Entschädigung, die Kachelmann zugesprochen wurde, soll zum einen den ihm entstandenen (immateriellen) Schaden wieder gutmachen, andererseits aber auch abschrecken – das Gericht spricht von „Kompensationszweck“ und „Präventionsgedanken“: Durch die Höhe der Geldentschädigung solle „Bild“ „verdeutlicht werden, in Zukunft bei der Berichterstattung über vergleichbare Geschehnisse eine größere Sorgfalt und Zurückhaltung an den Tag zu legen“.

Der entstandene Schaden für Kachelmann sei aber auch immens und anhaltend:

Zum anderen ist zu beachten, dass der Kläger zumindest auch durch die seine Intim- und Privatsphäre verletzende sowie in weiten Teilen reißerische Berichterstattung der Beklagten nicht nur während des Zeitraums derselben, sondern auch in Zukunft als frauenverachtender und gewaltbereiter Wiederholungstäter stigmatisiert wurde bzw. bleiben wird, wodurch sowohl sein berufliches Wirken als auch sein Privatleben massiv beeinträchtigt wurden bzw. bleiben werden.

Die „Bild“-Zeitung hingegen meinte laut Gericht, dass „sämtliche zum Beleg einer angeblich systematischen Verletzung seiner Privatsphäre genannten Berichterstattungen harmlos seien“. Auch hätte sie ihn nicht diffamiert, „da jeweils die Auseinandersetzung in der Sache im Vordergrund gestanden habe“. Und weiter:

Jedenfalls habe der Kläger sich durch den persönlichen Rundumschlag gegen Justiz, die Presse, das vermeintliche Opfer und die Frauenwelt in seinem Buch selbst hinreichend Genugtuung verschafft und Details zu seinem Intim- und Sexualleben preisgegeben. Es gebe deshalb keinerlei Grund, ihm zusätzlich nun auch noch eine Geldentschädigung in Millionenhöhe zuzusprechen.

In Millionenhöhe nicht, entschied das Kölner Landgericht. Aber in Höhe von 635.000 Euro.

Der Böse ist immer der griechische Finanzminister

Also doch! Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis hat am Wochenende zugegeben, ein als vertraulich eingestuftes Treffen mit seinen Kollegen aus der Euro-Zone aufgezeichnet zu haben. So melden es aufgeregt die Agenturen, so steht es in den deutschen Medien.

Mann, der Varoufakis. Immerhin leugnet er die Vorwürfe nicht mehr, die … von wem nochmal ursprünglich erhoben worden waren? Ach richtig, von Varoufakis.

Der Minister hatte mit dem Magazin der „New York Times“ gesprochen und dabei Berichte dementiert, dass er beim Finanzministertreffen in Riga im April von seinen Kollegen beschimpft und beleidigt worden sei. Er habe die Treffen aufgenommen, sagte er der Journalistin, könne sie aber wegen der Vertraulichkeit nicht veröffentlichen.

Wenn die deutschen Medien nun also unisono berichten, dass Varoufakis „eingeräumt“, „zugegeben“ oder gar „jetzt doch zugegeben“ habe, die Gespräche mitgeschnitten zu haben, dann meinen sie nicht, wie man als treuherziger Leser und Benutzer der deutschen Sprache denken könnte, dass er auf entsprechende Vorwürfe von irgendwelchen Gegenspielern oder Journalisten reagieren und klein beigeben musste. Sie meinen damit, dass Varoufakis noch einmal bestätigte, was er ohnehin selbst gesagt und in die Öffentlichkeit gebracht hatte.

Man würde das angesichts der Art, wie die deutschen Agenturen und Medien berichten, nicht ahnen. Die Nachrichtenagentur dpa beginnt ihre Meldung am Sonntag mit dem traurigen Satz:

Der griechische Finanzminister Gianis Varoufakis sorgt wieder einmal für Aufregung: (…).

Und verbrämt die Tatsache, dass es Varoufakis selbst war, der zuerst von den Aufnahmen erzählt hatte, in der Formulierung:

Erste Informationen zu den Aufnahmen waren in der Zeitschrift „New York Magazine“ [sic!] vergangene Woche erschienen.

Bei Reuters heißt es:

Griechenlands Finanzminister Yanis Varoufakis hat zugegeben, ein als vertraulich eingestuftes Treffen mit seinen Kollegen aus der Euro-Zone aufgezeichnet zu haben.

Und bei AFP:

Der griechische Finanzminister Giannis Varoufakis hat eingestanden, vertrauliche Gespräche bei einem Treffen mit seinen EU-Kollegen Ende April mitgeschnitten zu haben.

Über die Frage, woher der vermeintliche Vorwurf der Aufnahme stammte, informiert AFP angestrengt indirekt:

Varoufakis bestätigte mit seinem Blogeintrag Angaben der „New York Times“. Die US-Zeitung hatte am Mittwoch in einem langen Text über den griechischen Finanzminister, der auch Interviewpassagen enthielt, über die Aufzeichnungen in Riga berichtet.

Bei „Spiegel Online“ meinen sie sogar, Varoufakis habe die „Nachricht“, dass er die Aufnahmen „eingeräumt“ habe, in einem Blog-Beitrag „versteckt“ – wie auch immer man sich das vorstellen muss.

Sie alle können oder wollen nicht anders über Yanis Varoufakis berichten. Vermutlich können sie ihn gar nicht mehr anders sehen. Er ist für sie ein eitler Idiot, der dumme Dinge tut, und alles, was er tut, bestärkt sie in dieser Wahrnehmung und Darstellung, und selbst wenn er nur bei seiner eigenen Darstellung eines Sachverhaltes bleibt, schaffen sie es, den Eindruck zu erwecken, er habe – widerwillig, womöglich auf öffentlichen Druck – einen peinlichen Fehler zugegeben.

Wenn dpa schreibt, Varoufakis sorge „wieder einmal für Aufregung“, ist das natürlich Unsinn, denn es ist die Agentur selbst, die für Aufregung sorgt. Die ganze Art, wie die deutschen Medien in den vergangenen Tagen das Mitschneiden der Gespräche skandalisiert haben, ist bezeichnend.

Nehmen wir die „Süddeutsche Zeitung“. Vom ersten Satz an trieft der Bericht des Brüsseler Korrespondenten Alexander Mühlauer von spöttischer Verachtung für Varoufakis:

Die Fotos sind wieder toll geworden, nicht ganz so toll wie jene im Penthouse seiner Frau, aber immerhin sieht Yanis Varoufakis wahrhaft blendend aus. Wie er so über den Syntagma-Platz in Athen schlendert, das Hemd offen und natürlich nicht in die Hose gesteckt, könnte man meinen, er ginge ins Kaffeehaus. Dabei ist er auf dem Weg in sein Ministerium. Dorthin hat ihn ein Fotograf des „New York Times Magazine“ begleitet.

Doch Varoufakis wäre nicht Varoufakis, hätte er es bei den Fotos belassen. Und so erzählte er dem Magazin, wie es ihm als Finanzminister so ergeht.

Kurz innegehalten: Die SZ wirft hier dem Finanzminister vor, dass er nicht nur Fotos von sich machen lässt, sondern dem „New York Times Magazine“ erzählt, wie es ihm als Finanzminsiter so ergeht? Was bildet der Mann sich ein! Der Vorwurf taucht in Variationen übrigens immer wieder in der Presse auf: Dass Varoufakis dauernd mit der Presse spricht. Man könnte das schizophren finden.

Weiter im Text:

Er erinnert sich an das Treffen der Euro-Gruppe im April in Riga, das für ihn nicht gerade optimal verlief. Ihm wurde vorgeworfen, auf Zeit zu spielen. Nun sagt Varoufakis: „All diese Berichte, dass ich beleidigt wurde, als Zeitverschwender bezeichnet wurde und all das: Lassen Sie mich sagen, dass ich das mit jeder Faser meines Körpers dementiere.“ Er könne das beweisen, behauptet er, schließlich habe er die Gespräche in der Euro-Gruppe mitgeschnitten. Doch wegen der Regeln über Vertraulichkeit könne er diese Aufnahmen nicht veröffentlichen.

Ob das stimmt, weiß nur Varoufakis selbst. Aber immerhin schafft er es mit dieser Äußerung, seine Ministerkollegen erneut zu verärgern. Aus deutschen Regierungskreisen verlautete: „Wir erwarten von der Euro-Gruppe, dass der Sachverhalt aufgeklärt wird. Die Vertraulichkeit der Gespräche muss gewahrt bleiben.“

Ist das nicht traurig? Selbst für eine Selbstverständlichkeit, eine Standard-Feststellung, dass vertrauliche Gespräche vertraulich bleiben müssen, fand sich für die SZ als Stichwortgeber nur ein anonymer Irgendwer „aus deutschen Regierungskreisen“?

Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem sagte am Donnerstag: „Treffen der Euro-Gruppe sind vertraulich. Wir verlassen uns auf jede anwesende Person, diese Vertraulichkeit zu respektieren.“

Ja. Gut. Schön, das mal hingeschrieben zu haben. Bislang scheint niemand ja diese Vertraulichkeit gebrochen zu haben – ach so, Moment, außer den Gegnern von Varoufakis, die der Presse erzählt haben, dass die anderen Finanzminister ihn dort beschimpft hätten. Komischerweise handelt der Text aber gar nicht von diesem Bruch der Vertraulichkeit, sondern nur dem vermeintlich drohenden durch Varoufakis.

In Brüssel hieß es, dass es keine Regeln gebe, die das Aufnehmen verböten. Theoretisch könne das jeder Teilnehmer tun – allerdings nur für den Eigenbedarf.

Aha! Nach Ansicht von „Brüssel“ hat Varoufakis also gar nichts Verbotenes getan. Das ist aber ein bisschen enttäuschend als Fazit, und so fügt die SZ sicherheitshalber hinzu:

In Deutschland wäre ein solcher Mitschnitt strafbar. In Paragraf 201 des Strafgesetzbuches heißt es unter „Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes“: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer unbefugt das nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen auf einen Tonträger aufnimmt.“

Es sei Varoufakis eine Warnung für seine nächste Konferenz in Deutschland. Die, um die es geht, fand in Riga statt.

Die „Welt“ berichtet über Varoufakis‘ Mitschnitt unter dem Zitat „Unverschämt, eine Zumutung“ und nennt ihn einen „Affront“. (Online trägt das Stück den Titel: „Dreistigkeit bewahrt Varoufakis vor dem Rauswurf“.) Der Artikel von Jan Dams und André Tauber beginnt damit, allen, die in den vergangenen Monaten womöglich keine deutschen Medien gelesen haben, daran zu erinnern, was dieser Varoufakis für eine erbärmliche Gestalt ist:

Janis Varoufakis ist inzwischen als ein Mann bekannt, der polarisiert. In Griechenland hat der Finanzminister durchaus seine kompromisslosen Fans. Es gibt Plakate, auf denen steht, V für Varoufakis – wie V für Victory eben, also Sieg. Zu seinen Auftritten kommen die Groupies, weibliche Fans jeden Alters. Politisch, unter seinen Kollegen, gilt der Mann dagegen als erledigt. Das allerdings nicht erst seit dieser Woche.

Ein Politiker, den nur ein paar radikale Griechen und sonst nur Frauen „jeden Alters“ mögen. Hahaha.

Varoufakis‘ Äußerungen gegenüber dem „New York Times Magazine“ bezeichnen die deutschen Journalistenmänner als „möglicherweise ebenso unbedacht wie eitel“ und schreiben dann:

Es ist eine Provokation, ein Affront. „Das ist absolut unüblich“, sagt ein europäischer Sitzungsteilnehmer. Das sei „unverschämt, eine Zumutung.“ Und angeblich sogar verboten.

Ein europäischer Sitzungsteilnehmer. Irgendein Unbekannter, der sich nicht einmal traut, mit seinem Namen zu seiner Einschätzung zu stehen. Dessen anonymes Zitat und Beschimpfung von Varoufakis ist für die „Welt“ gut genug, um daraus die Überschrift zu machen.

Danach zählt sie Gründe auf, warum die anderen Minister wahrscheinlich nicht gegen Varoufakis vorgehen werden:

Erstens hat der griechische Minister bislang die Vertraulichkeit nicht gebrochen, Informationen nicht an die Presse gegeben. Er wehrt sich nur gegen die Behauptung, die Kollegen hätten ihn beschimpft.

Tatsache: Varoufakis hat bislang die Vertraulichkeit gar nicht gebrochen. Man würde denken, dass angesichts dessen die Aufregung ein bisschen übertrieben ist. Aber nein.

„Möglicherweise hat er auch – anders als er jetzt behauptet – die Sitzung gar nicht aufgenommen, sondern erzählt es nur, um seine Version der Sitzung zu untermauern“, mutmaßt einer der anderen Unterhändler. Wer weiß das schon bei Janis Varoufakis?

Oho, noch ein anonymer Unterhändler. Vielleicht auch wieder der gleiche. Während Varoufakis vorgeworfen wird, ununterbrochen Interviews zu geben, scheinen die anderen Finanzminister ununterbrochen mit der Presse zu reden, aber im Hintergrund, feige, im Schutz der Anonymität. Komischerweise scheinen die deutschen Journalisten damit kein Problem zu haben.

Toll ist aber auch die Theorie der „Welt“, dass Varoufakis sich das mit den aufgezeichneten Gesprächen womöglich nur ausgedacht hat. Entweder ist der Typ also böse, weil er Gespräche mitschneidet. Oder weil er nur behauptet, Gespräche mitgeschnitten zu haben. Böse ist er in jedem Fall.

Weiter im Text:

Zweitens, heißt es in Verhandlungskreisen: Es gebe keine Bestimmungen, wonach Mitschnitte verboten wären. Und tatsächlich scheinen außer Varoufakis auch andere das Wort „Amateur“ bei dem fraglichen Treffen nicht gehört zu haben. Bleibt tatsächlich die Frage, wer das Ganze damals an die Nachrichtenagentur Bloomberg weitergegeben hat.

Na sowas, „in Verhandlungskreisen heißt es“, Mitschnitte seien gar nicht verboten. Zwei Absätze weiter oben hatte die „Welt“ noch irgendein anderes anonymes Verhandlungskreismitglied erwähnt, das behauptete, es sei verboten. Vielleicht hätte man das dann besser weggelassen? Und, noch einmal, es findet sich wirklich niemand, der nicht Varoufakis heißt, der on the record eine Aussage darüber träfe?

Und nebenbei erwähnt die „Welt“ nun, dass es selbst bei ihren Quellen Zweifel gibt, ob Varoufakis in Riga von seinen Kollegen so kritisiert wurde, wie es deutsche Medien großflächig berichtet hatten.

Wäre das nicht ein Skandal? Wenn irgendwelche Teilnehmer aus der vertraulichen Sitzung Dinge berichten? Dinge, die womöglich nicht einmal stimmen? (Außer der „Welt“ berichteten auch FAZ und „Handelsblatt“ am Freitag, dass Varoufakis‘ Kollegen ihn vermutlich doch nicht als „Spieler, Amateur und Zeitverschwender“ bezeichnet haben.)

Och jö. Die „Welt“ schreibt:

Einerseits ist überliefert: Es gibt inzwischen einige Kollegen des Griechen, die von dessen selbstgefälligen Auftritten und ausschweifenden Referaten genervt sind. Der eine oder andre könnte deshalb schon mal Dinge weitererzählen, die Varoufakis schaden. Andererseits ist allen klar, viel hat der Mann in Athen ohnehin nicht mehr zu sagen. Warum sich also über ihn aufregen?

Kein Affront, kein Skandal. Und alles, was passiert, spricht immer gegen Varoufakis. Den bösen, eitlen Mann, der die Vertraulichkeit des Finanzministertreffens nicht gebrochen hat, anders als die unzuverlässigen anonymen Teilnehmer, denen die deutsche Presse vertraut.

Viel Nichts um Rauch

Es ist nicht das erste Mal, dass Dieter Janecek vorschlägt, den Handel und Konsum von Cannabis zu erlauben. Wundert aber auch nicht. Janecek ist Bundestags-Abgeordneter der Grünen, und da gehört es quasi zum Stellenprofil, das zu fordern. Seit gut 20 Jahren predigen die Grünen, was es für Vorteile hätte, dürfte man legal kiffen. Und diese Woche hat es Janecek geschafft, das Thema nochmal richtig prominent zu platzieren – mit Hilfe von „Bild“:

"Bild" Screenshot 9.12.2014

An dieser Stelle müssen wir das Gähnen kurz unterdrücken. Neu ist an dieser, laut „Bild“: neuen Steuer-Idee allenfalls, dass „Bild“ sie für neu hält. Cannabis als Genussmittel in geringen Mengen freizugeben und auf den Verkauf eine Steuer zu erheben, schlägt so ungefähr alle zwei Monate jemand vor. Was sie auch bei „Bild“ hätten wissen können, würden sie zum Beispiel „Bild“ lesen. Im Jahr 2009 sagte die drogenpolitische Sprecherin der Linken, Monika Knoche, dem Blatt:

Auch vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise halte ich eine Legalisierung von Cannabis und Marihuana für richtig. Dann hätten wir eine Gleichstellung aller Drogen und der Staat könnte durch Steuereinnahmen auch noch etwas einnehmen.

Das war natürlich eine Steilvorlage für „Bild“, die sie mit dem Slogan „Kiffen gegen die Krise“ verwandelte, weil solche Slogans immer gut kommen. Auch Janecek hatte schon mal einen, im Frühjahr, als er in der „Huffington Post“ über eine „vernunftgeleitete Drogenpolitik“ schrieb.

"Huffington Post" 17.4.2014

„Kiffen für die Kassen“ – schon mal nicht schlecht, aber so richtig geknallt hat das damals nicht, denn der Text hatte zwei Fehler: Er war nicht griffig genug. Und er stand in der „Huffington Post“.

Da hat Janecek jetzt nachgebessert. Er äußert sich in „Bild“, erreicht also viel mehr Menschen. Er formuliert knapp, offenbar einleuchtend und, ganz wichtig: Er hat einen neuen Slogan, der hübsch populistisch ist: „Kiffen für die schwarze Null“. Den hatte zwar unlängst erst das „Neue Deutschland“ als Überschrift, aber, ach: Passt schon. Immerhin ist ja die schwarze Null, also ein Verzicht auf neue Staatsschulden, populär im Moment. Angela Merkel sprach diese Woche noch auf dem CDU-Parteitag darüber, weil gerade alle darüber reden, weil Schäuble damit angefangen hat. Und Janecek – nutzt das geschickt, um sein Thema zu platzieren.

Man kenne halt Journalisten, und dann unterhalte man sich, erzähle von Themen, sagt Janecek auf Nachfrage am Telefon. Er beobachtet aus den USA, wie sich seine Steuer-Idee hierzulande verbreitet, und er kann sich freuen, denn die Deutsche Presse-Agentur griff die „Bild“-Meldung auf, und seither steht sie unter anderem bei „Stern“, „Focus“, „Abendzeitung“, „Huffington Post“ und „T-Online“.

Janecek und den Grünen kommt das zupass. Die Legalisierung weicher Drogen ist eines ihrer Kernthemen, im vorigen Jahr haben sie damit auch Wahlkampf gemacht. Und derzeit sitzen die Grünen, wie aus der Partei zu hören ist, an einem umfangreichen Gesetzentwurf zur Legalisierung, der im Frühjahr 2015 vorgelegt werden soll. Da kann es nicht schaden, schon mal ein bisschen Wind zu machen. Zumal das Thema Legalisierung, wie die schwarze Null, einen Nerv trifft: Seit ein paar Monaten wird wieder intensiv über eine Legalisierung geredet, nicht nur bei den Grünen, und nicht nur in Berlin oder Hamburg, wo Bürger über aggressive Dealer in öffentlichen Parks klagen.

Aber rechnen wir kurz nach, was uns die Grünen vorrechnen. Janecek sagt, man könnte rund 1,8 Milliarden Euro durch die Cannabis-Steuer einnehmen. Er geht dabei von rund 2,5 Millionen erwachsenen Konsumenten in Deutschland aus. Würden die im Monat je 20 Gramm verbrauchen, bei einem Gramm-Preis von sechs Euro, und würde der Staat nach Janeceks Vorschlag 50 Prozent Steuern auf den Verkauf erheben, käme man auf den Betrag. Und zu den Einnahmen könnte man nochmal so viel einsparen, sagt Janecek, da durch eine Legalisierung Polizei und Gerichte entlastet, also Kosten gesenkt würden.

Mal abgesehen von dem Fehler, dass in einem Zitat Janeceks bei „Bild“ und dpa zu viele Tonnen Cannabis pro Jahr angegeben werden, nämlich 6.000 statt 600 („Bild“ hat das inzwischen still korrigiert), hat Janeceks Rechnung an sich schon mehrere Schwachstellen.

Die Zahl von den 2,5 Millionen Konsumenten stammt aus dem aktuellen REITOX-Report der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht. Sie stimmt, allerdings gibt sie lediglich die 12-Monats-Prävalenz der befragten 18- bis 64-Jährigen an, das heißt: 2,5 Millionen Erwachsene haben in den zwölf Monaten vor Erhebung der Daten Cannabis konsumiert. Wie viel, sagt die Zahl nicht aus. Mal auf einer Party einen Joint probiert? Oder jeden Tag zwei Tüten aufm Sofa geperzt? Man weiß es nicht. Die Zwölf-Monats-Prävalenz weist lediglich aus, dass diese 2,5 Millionen Leute mindestens ein Mal etwas konsumiert haben. Eine Regelmäßigkeit lässt sich nicht ableiten.

Janecek rechnet trotzdem damit, dass all diese 2,5 Millionen Menschen rund 20 Gramm pro Kopf und Monat einnehmen, was als Durchschnittswert schon ganz schön hoch erscheint; außerdem stammt der Wert aus einer Studie, die 1998, also vor gut 15 Jahren, verfasst wurde, in einer Zeit, in der Cannabis noch nicht so hochpotent und wirksam war wie heute. Kurz: 20 Gramm pro Kopf und Monat, das ist nicht nur viel, sondern auch ein ganz schön oller Wert für ein aktuelles Steuerzahlenspiel. Und sechs Euro pro Gramm sind natürlich auch nur ein grober Schätzwert, der sich am Schwarzmarktpreis orientiert.

Es ist also fraglich, ob man nach einer Legalisierung, wie Janecek vorrechnet, rund 1,8 Milliarden Euro Steuern einnehmen und rund 1,8 Milliarden Euro an Polizei- und Gerichtskosten sparen könnte. Der Deutsche Hanfverband (DHV) schließt zwar nicht aus, dass es mehr sein könnte, rechnet aber zunächst wesentlich konservativer: mit rund 1,4 Milliarden Euro – und zwar für beides zusammen, neue Einnahmen und Ersparnis. Janecek kommt da auf rund 3,6 Milliarden Euro.

Cannabis zu legalisieren, birgt – neben Gefahren – natürlich Vorteile, nicht nur steuerlich. Konsumenten könnten dann zum Beispiel endlich Marihuana kaufen, das nicht, wie so oft auf dem Schwarzmarkt, mit schädlichen Streckmitteln versetzt ist. Die Debatte um eine Legalisierung ist an sich also nicht falsch, im Gegenteil: Es ist wichtig und richtig, sie zu führen. Sachlich. Befeuert man die Debatte aber, wie Janecek und die Grünen, mit einem wackeligen Zahlenspiel, schreibt das zwar ganz sicher irgendwer von „Bild“ auf und alle anderen schreiben es ab – am Ende bleibt statt Erkenntnis aber bloß viel Rauch und etwas grüner Populismus übrig.

Exklusiv im „Focus“: Das erstletzte Interview mit Schweinsteiger nach der WM

Na, endlich. Gut fünf Monate nach der Fußball-Weltmeisterschaft hat der „Focus“ in der aktuellen Ausgabe mal was im Blatt, worauf alle viele Fußballfans gewartet haben: „Bastian Schweinsteiger in seinem ersten Interview nach dem WM-Titel“. Das erste Interview also. Exklusiv.

"Focus" Titel 8.12.2014

Okay, gut, am 14.7.2014, einen Tag nach dem WM-Endspiel, war da schon mal so ein Interview mit Bastian Schweinsteiger in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Aber das ist ja nur die NOZ, die lesen sie beim „Focus“ wahrscheinlich nicht so oft. Naja, und dann gab es allerdings am 21.8.2014 noch so ein exklusives Interview mit Bastian Schweinsteiger in „Bild“.

Ausschnitt "Bild"-Titel 21.8.2014

Jetzt redet er: „39 Tage nach dem WM-Triumph bricht Bastian Schweinsteiger sein Schweigen“, steht da in „Bild“. Und im Innenteil, auf Seite 16, ganz oben:

"Bild" 21.8.2014

„Focus“ hat das „1. Interview nach dem WM-Triumph“ damals auch gemeldet:

Focus Online Screenshot 21.8.2014

Und ein paar Wochen nach dem ungefähr ersten Nach-WM-Interview in „Bild“ hatte die „Welt“ ein Interview mit Bastian Schweinsteiger. Und vor ein paar Tagen hatte „Bravo Sport“ noch was Exklusives im Heft und online. So ein Exklusiv-Interview mit, ähm: Bastian Schweinsteiger.

Screenshot bravo.de 7.12.2014

Und dann hat noch – das sollte man jetzt keinesfalls unterschlagen – der achtjährige Lemmy ein Interview geführt. Mit Bastian Schweinsteiger. Für den „Disney Channel“. Am 23.8.2014, kurz nach dem zweiten, dritten oder vierten ersten Interview in „Bild“.

Und dann war da wohl noch irgendein Exklusiv-Interview bei Sky, kurz vor Lemmy, und vielleicht waren da auch noch ein paar. Aber nach all diesen exklusiven ersten Nach-WM-Interviews mit Bastian Schweinsteiger hat der „Focus“ nun wirklich das erste exklusive Interview mit Bastian Schweinsteiger nach der Fußball-WM geführt. Das muss man der Münchner Illustrierten schon lassen.

Nachtrag 9.12.2014, 11:22 Uhr. Besonders peinlich scheint es den Redakteuren beim „Focus“ ja nicht zu sein, dass sie ihr aktuelles Interview mit Bastian Schweinsteiger vollmundig als „erstes Interview nach dem WM-Titel“ verkaufen, obwohl das nicht stimmt. Wenigstens online mal korrigieren? Ach, Quatsch. Dort brüstet sich die Illustrierte weiter damit. Trommelwirbel, bitte:

Über sein grandioses Spiel im Finale der WM sprach der 30-Jährige nie öffentlich. Bis jetzt. Im FOCUS-Interview sagt der neue Kapitän der Nationalelf: „Durch den WM-Titel bin ich sogar noch gieriger auf Titel geworden. Gesättigt bin ich noch lange nicht.“

Wenn man ein Zitat so hervorhebt und als Ankündiger für ein Interview nutzt, muss das ja eine Neuigkeit sein, nicht? Oder eine ganz besondere Stelle aus einem ganz besonderen Interview. Schauen wir mal in die Druckfassung:

[…] Durch den WM-Titel bin ich sogar noch gieriger auf Titel geworden. Gesättigt bin ich noch lange nicht! Ich weiß jetzt, wie man große Fußballtitel holt. Und diese Momente, den Pokal in die Höhe zu halten, will ich wieder haben. Immer und immer wieder. Ich gebe sogar zu: Große Titel machen süchtig. […]

Und nun schauen wir in das Interview, das „Bild“ mit Bastian Schweinsteiger bereits am 21.8.2014 geführt hat:

Ich bin durch den WM-Titel eher noch gieriger geworden. Etwas Großes zu gewinnen, löst bei mir kein Gefühl der Sättigung aus. Das habe ich schon nach dem Champions-League-Triumph mit Bayern gemerkt. Im Gegenteil: Ich weiß jetzt, wie man die ganz großen Fußball-Titel holt. Und ich will diese Momente, in denen man die Pokale hochhält, immer wieder haben. Solche großen Titel können süchtig machen.

Aber, wurscht, wenn der halt auch immer dasselbe redet. Als „Focus“-Redakteur haut man das halt nochmal raus und vergisst dabei einfach, dubdidu, dass das längst in „Bild“ gestanden hat. Weil die bei Springer das nämlich auch längst vergessen haben. Jetzt, mit Bezug auf das „Focus“-Interview, titelt „Bild“:

Schlagzeile "Bild" Online 7.12.2014

Experten erwarten mehr Ebola-Panikfälle in Deutschland

Beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in Bonn bekommen sie in letzter Zeit ständig diese Fragen gestellt. Wie gefährlich das Ebola-Virus denn nun ist. Und wie groß die Gefahr, dass es auch hierzulande auftaucht. „Das Informationsbedürfnis in Deutschland ist nach wie vor hoch“, schreibt das BBK. Und damit er nicht ständig dasselbe predigen muss, hat BBK-Präsident Christoph Unger heute eine Pressekonferenz gegeben, um ein paar Dinge klarzustellen. Laut Nachrichtenagentur dpa sagte er zum Beispiel:

Eine Ausbreitung des gefährlichen Virus hierzulande sei […] nach wie vor sehr unwahrscheinlich.

Und Lars Schaade, der Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts, sagte:

Eine Ausbreitung in Deutschland sei praktisch ausgeschlossen.

Dass Ebola in Deutschland auftritt und sich ausbreitet, kann man also irgendwo zwischen „sehr unwahrscheinlich“ und „praktisch ausgeschlossen“ verorten. Man könnte deshalb über eine entsprechende Nachricht schreiben: „Robert-Koch-Institut: Ebola in Deutschland ‚praktisch ausgeschlossen'“ Oder: „Keine Panik: Ebola-Gefahr in Deutschland gering“. Oder man macht es wie dpa und schreibt drüber, was nun unter anderem in „Focus“, „Welt“ oder „Main-Post“ steht:

Focus.de Screenshot 10.11.20144

Stimmt. Und klingt doch gleich viel fetziger. Wenn da „mehr Ebola-Verdachtsfälle“ erwartet werden, steigt doch auch die Wahrscheinlichkeit, dass da ein paar drunter sind, die tatsächlich Ebola haben und alle anderen anstecken, nicht wahr?

Dabei hat BBK-Präsident Unger bloß gesagt, dass mehr Verdachtsfälle auftreten könnten, weil bald einige Ebola-Helfer aus Westafrika heimkehren werden und die Grippesaison beginnt. Bekommt zum Beispiel einer der Helfer Fieber, wenn er wieder hier ist, wird er sich untersuchen lassen – sicherheitshalber. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat er eine Grippe; die Anfangssymptome sind ähnlich. Mit großer Wahrscheinlichkeit hat er demnach also kein Ebola. Aber „Bild“ rüstet sich trotzdem schon mal und macht aus der Entwarnung von BBK und Robert-Koch-Institut heute das:

Bild.de Screenshot 10.11.2014

So ernst wie der Mann im Schutzanzug blickt, sind wir alle fast tot, oder? Und dass die WHO den „Höhepunkt der Seuche“ nicht in Deutschland erwartet, wie man annehmen könnte, sondern in Afrika, wo sie 1976 erstmals auftrat – ach, egal. „Bild“ betont im Text ja auch zwanghaft die deutsche Restwahrscheinlichkeit und warnt:

Das gegenwärtige Risiko einer Einschleppung der Seuche nach Deutschland erachten sie [die „Experten“] dennoch als gering. Ein Import einzelner Fälle ist aber nicht auszuschließen!

Oder:

Die Gefahr, dass Reisende die Krankheit nach Deutschland mitbringen, ist gering – aber möglich!

Die Gefahr ist also möglich. Und zur Sicherheit noch mal in der Bildunterzeile:

Bild.de Screenshot 10.11.2014

Nein, stimmt, ausschließen kann man ja auch nicht, dass morgen die Sonne aufs Berliner Springer-Haus kracht. Mit „weiteren Ebola-Fällen in Deutschland“ meint „Bild“ wohl: die ersten. Bisher wurden drei Menschen, die bereits im Ausland erkrankt waren, in deutsche Kliniken gebracht und dort behandelt. Einer davon starb, einer ist wieder gesund, und ein weiterer noch in Behandlung.

Hier, in Deutschland, hat sich bis dato aber niemand mit Ebola infiziert. Die Verdachtsfälle, die es gab, waren jedes Mal – Verdachtsfälle. Und trotzdem wurden sie vom medialen Panikorchester begleitet. Dabei leiden Fieberpatienten, die aus Westafrika kommen, viel häufiger an etwas anderem, sagt das Robert-Koch-Institut: „In manchen Monaten werden in Deutschland monatlich 40 bis 50 Fälle von Malaria bei Personen diagnostiziert, die aus Westafrika einreisen.“

Ebola bisher, wie gesagt: null.

Das Robert-Koch-Institut erklärte heute auch noch mal, dass Deutschland ohnehin „gut aufgestellt“ sei mit sieben Isolierstationen bundesweit. Steht auch so in „Bild“, teilweise aus einem älteren Artikel rüberkopiert: Da steht, wo die Kliniken sind, und dass man auf die Behandlung von Fieberpatienten „gründlich vorbereitet“ sei. Geringe Gefahr also. Weil aber noch irgendwo etwas Restfurcht übrig war, haben sie das am Anfang des Artikels so zusammengefasst:

Retter befürchten, dass sie im Ernstfall nicht ausreichend vorbereitet sind.

Aber, gut, angesichts der Schlagzeilen der vergangenen Wochen laufen sie bei „Bild“ inzwischen sowieso mit Mundschutz rum. (Und mit Hitze-Schutz, der Sonne wegen.) Anfang August verkündete „Bild“ noch:

Bild Screenshot 7.8.2014

 

Aber dann befiel die Redaktion eine besonders tückische Seuche: das Vergessen.

BILD Screenshot 10.8.2014

BILD Screenshot 20.8.2014

BILD Screenshot 9.10.2014

Bild.de Screenshot 12.10.2014

Bild.de Screenshot 5.11.2014

Bild.de Screenshot 6.11.2014

Na, und wenn zwischendurch noch das Foto eines vermummten Arztes rumliegt, der in Liberia gegen die „Todesseuche“ kämpft, während in Leipzig gerade jemand, der aus Liberia heimgekehrt ist, Fieber und Durchfall hat – why not?

BILD Screenshot 31.8.2014

Nachtrag, 13.11.2014. Wie in den Kommentaren bereits bemerkt: Mein Überschriftenvorschlag „Robert-Koch-Institut: Ebola in Deutschland ‚praktisch ausgeschlossen‘“ ist nicht ganz korrekt. Richtig müsste es heißen, dass das Robert-Koch-Institut praktisch ausschließt, dass sich Ebola hierzulande verbreitet. Die Gefahr, dass Ebola eingeschleppt wird, ist zwar gering, das RKI schließt es aber nicht aus.

Dumme Nüsse

Halten Sie sich bitte fest, es ist alles ganz schlimm! Ebola. Syrien. Ukraine. Gaza. AfD. Und dann ist kürzlich in einer Redaktion noch jemandem eingefallen, dass es im Frühjahr in der Türkei ja diese eine Nacht gegeben hat, in der es so frostig war, dass durch die Eiseskälte Haselnuss-Sträucher beschädigt wurden. Das ist schlecht, auch weil gut zwei Drittel aller Haselnüsse aus der Türkei kommen. Weltweit. Und wenn es früh friert, fällt die Ernte geringer aus. Mal viel geringer, mal weniger.

In der Redaktion dachten sie sich dann: Hm? Und nach einer Weile dachten sie: Haselnüsse? Und dann: Wo sind die noch mal drin? Was ihnen eingefallen ist, haben sie anschließend ins Netz oder in eine Zeitung geschmiert, und nun hat es sich ausgedehnt. Vergessen Sie deshalb, was Sie oder die Welt derzeit bewegt.

Denn wir erleben:

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Ja, richtig. Eine Nutella-Krise. Offenbar so schlimm, dass die „Berliner Morgenpost“ die Meldung dazu auch auf der Titelseite der Print-Ausgabe bringt.

Der erste Artikel, den man zu dieser Krise hierzulande findet, steht am 16.8.2014 im Wirtschaftsteil der FAZ. Überschrift: „Haselnuss-Preis im Höhenflug“. In der Unterzeile schreibt die FAZ, dass Ferrero, der Hersteller des Brotaufstrichs, wegen des Frosts für die „Nutella-Zutat“ mehr zahlen müsse. Im Text wird das, was in der Überschrift so klar klingt, dann aber wieder eingeschränkt, gleich im ersten Satz:

Der Preis für Haselnüsse ist angeblich auf einem Zehnjahreshoch, was für den Hersteller von Frühstückscremes wie Nutella, Ferrero, einen Kostenschub bringt.

Angeblich. Und ein paar Sätze später noch mal: angeblich. Die FAZ scheint also das, was sie da verbreitet, nicht so genau zu wissen, auch eine Quelle nennt sie nicht.

Aber da kann ja sicher die „Süddeutsche Zeitung“ helfen, die vier Tage später in ihrem Wirtschaftsteil nachlegt. Falls Sie diesen Wirtschaftsteil eher meiden, weil Sie denken, dort ginge es arg sachlich-fachlich zu – schauen Sie mal wieder rein! Der Artikel über die Nusspreise und deren Folgen hat schon mal eine flockige Überschrift: „Auf die Nuss“. In der Unterzeile des Print-Artikels verkündet die SZ: „Schlechte Ernte lässt die Preise steigen – mit Folgen für Nutella“. Offenbar ganz kausal: Ernte schlecht = Preise hoch = Nutella teurer. Und dann haben sie im Wirtschaftsressort der SZ Kerzen angezündet. Und Glühwein aufgesetzt.

Was soll jetzt nur aus Aschenbrödel werden? Weihnachten steht quasi schon wieder vor der Tür und damit auch der Filmklassiker. Die Prinzessin in spe braucht also dringend ihre drei Haselnüsse – die sind in diesem Jahr aber extrem knapp und viel teurer als sonst.

Ein Einstieg, der wirklich fesselt, vor allem Ende August. Laut SZ wissen sie also nicht mal mehr im Märchen, woher sie drei dumme Nüsse kriegen sollen, weil die so knapp sind dieses Jahr. Den Wirtschafts-Autor ängstigt das: „Wird jetzt Nutella auf dem Frühstücksbrot zum Luxusgut?“ Schließlich bestehe „die Creme zu 13 Prozent aus Haselnüssen, sogar der Kakaoanteil ist geringer.“ Krass, oder? Zu 13 Prozent! Das sind ja nur 87 Prozent weniger als 100 Prozent! Nicht auszudenken, was los ist bei der „Süddeutschen“, wenn der Zucker-Preis steigt.

Dass der Text bloß aufgeblähte Mutmaßung ist, erfährt der Leser, wenn er es nicht längst ahnt, im vierten Absatz:

Ob damit aber die Süßigkeiten-Produktion sichergestellt ist oder ob nun Preiserhöhungen drohen, dazu mochte Ferrero zunächst nichts sagen.

Und das ist der Haken: Zwar war es (wie immer mal wieder) frostig in der Türkei; zwar wurden dadurch Pflanzen beschädigt; zwar stieg der Preis pro Tonne Haselnüsse – die Hersteller aber sagen gar nicht, dass die Preise ihrer Produkte deshalb ebenfalls steigen. Oder dass es gar, wie auch geschrieben wird, zu Nachschub-Problemen kommen könnte. Laut dpa will Ferrero die Preise nach eigener Aussage im Oktober abstimmen, weil erst dann klar sei, wie die Ernte ausgefallen ist – und wie folgenreich der Frost war. Der Konzern sagt sogar, er wolle die „Auswirkungen auf den Endverbraucher“ so gering wie möglich halten.

Aber das reicht ja schon, um Journalisten komplett austicken zu lassen:

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(Welt kompakt, 21.8.2014)

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(Stern.de, 22.8.2014)

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(Blick.ch, 20.8.2014)

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(Bild.de, 19.8.2014)

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(Yahoo Finanzen, 21.8.2014)

Nutella-Knappheit! Krise! Droht! Ich bin gerade ganz froh, dass ich niemandem aus einem ärmeren Land erklären muss, wie das in dieser Form hierzulande überhaupt nur annähernd zu einer Meldung werden kann. Wobei: hierzulande?

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(The Independent, England, 14.8.2014)

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(20 minutes, Frankreich, 20.8.2014)

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(Huffington Post, Kanada, 18.8.2014)

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(Hindustan Times, Indien, 24.8.2014)

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(NBC News, USA, 19.8.2014)

Auch Nachrichtenagenturen berichten über die so genannte Nutella-Krise. Die Deutsche Presseagentur warnt noch vor wenigen Tagen: „Schlechte Zeiten für Naschkatzen“. Und lässt wissen: „Auch der Schokoladenhersteller Ritter Sport schließt höhere Preise nicht aus.“ Merke: Er schließt auch nicht aus! Als Beleg für die Journalistenblödformel liefert dpa folgendes Zitat:

„Da wir die Einkäufe auf längere Sicht planen, können wir noch keine Auskünfte geben, ob die Preise steigen werden“, sagte Sprecherin Elke Dietrich.

Die Sprecherin von Ritter Sport schließt nichts ein, nichts aus, sie will oder kann derzeit einfach „keine Auskünfte geben“. Was aber, wenn man bei dpa arbeitet, bedeutet, dass da eine Restwahrscheinlichkeit ist. Also raus damit.

Die SZ müht sich derweil, dem Schrecken noch etwas Gutes abzuringen, etwas, das Hoffnung macht, wenn auch nur bei einer bestimmten Gruppe von Lesern:

Profiteure der derzeitigen Nuss-Krise könnten die Allergiker sein: Sie dürfen angesichts der Knappheit darauf hoffen, dass die Lebensmittelindustrie – aus Kostengründen – auf die berühmten „Spuren von Haselnüssen“ in allen möglichen Produkten verzichtet.

Was für ein Blödsinn. Die Hersteller rieseln nicht freundlicherweise „Spuren“ in ihre Produkte, weil das so super schmeckt. Eigentlich Nuss-freie Lebensmittel können lediglich deshalb „Spuren von Haselnüssen“ enthalten, weil in derselben Produktionsstraße mal Nüsse verarbeitet wurden. Ein Reinigungsproblem. Völlig egal, wie teuer oder billig die Nüsse sind. Aber, kurz zur Wiederholung: Das steht so im Wirtschaftsteil der „Süddeutschen Zeitung“, Rubrik: „Nahaufnahme“.

Alles total wirr.

Und zuweilen liest es sich, als würden Journalisten den Konzernen schon mal Tipps geben, wie sie, im Fall eines Falles, erhöhte Preise plausibel erklären könnten. Oder als hätten die Nutella-Werbetexter einen tollen neuen Job bei Bild:

Konsistenz: cremig-weich. Farbe: schokoladig-glänzend. Suchtfaktor: hoch!

Für viele Deutsche ist ein Frühstück ohne Nutella kein Frühstück.

Für Nutellaholics eine echte Horror-Meldung…

Bei Ferrero müssen sie sich durmelig freuen über so viel kostenlose Werbung. Noch ist nichts gewiss, aber die halbe Medienwelt trommelt schon mal schön. Man kann nur hoffen, dass das bis Weihnachten geklärt ist. Wegen Aschenbrödel.

Nachtrag, 6.9.2014, 14:13 Uhr. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat ihren Artikel inzwischen mit einer Anmerkung versehen. Dass die Lebenmittelindustrie aus „Kostengründen“ auf „Spuren von Haselnüssen“ verzichte, sei ironisch gemeint gewesen. Da das nicht alle Leser verstanden hätten, habe man den Absatz gekürzt. (Danke für den Hinweis in den Kommentaren hier.)

Das „Hamburger Abendblatt“ hat indes auch geschrieben, es gebe gute Nachrichten für Allergiker, da künftig „eine größere Auswahl an fertigen Nahrungsmitteln zur Verfügung stehen wird, die bisher ‚Spuren von Haselnüssen‘ enthielten, weswegen auch immer.“  Ist aber wohl ebenfalls Ironie, auch wenn es sich nur schwerlich so liest. Immerhin steht „Glosse“ drüber. (Danke für den Hinweis an @rakeeede.)

Die scheinheilige Empörung über Schumachers gestohlene Krankenakte

Was wäre so schlimm daran, wenn jemand die medizinischen Informationen über Michael Schumacher veröffentlicht würde? Ich frage für Michael Konken, den Vorsitzenden des Deutschen Journalisten-Verbandes, der am Dienstag vorsorglich an die Medien appellierte, die gestohlenen Daten keinesfalls zu veröffentlichen, dem dafür aber kein guter Grund einfiel: Das sei „Sensationsjournalismus ohne Substanz und Relevanz“, formulierte er hilflos; der Inhalt der Akte habe „weder politische noch gesellschaftliche Bedeutung“.

Dass ein Inhalt weder politische noch gesellschaftliche Bedeutung hat, kann nicht im Ernst ein Grund sein, seine Veröffentlichung zu untersagen. Und genau genommen wäre es Sensationsjournalismus ohne Relevanz, aber mit Substanz: Er würde ja zur Abwechslung mal nicht auf Spekulationen und Hörensagen, sondern auf gesicherten Informationen eines behandelnden Arztes beruhen.

Im Original fuhr Konken noch fort: „Die Veröffentlichung wäre ein vollkommen inakzeptabler und äußerst schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Michael Schumacher.“ Ich kann nur erahnen, wie lange sie in der DJV-Pressestelle überlegt haben, ob sie ihn nicht vielleicht sogar „total super übervollkommen inakzeptabel“ sagen lassen sollen, damit niemand daran zweifelt, wie unglaublich inakzeptabel der Chef das findet, und niemand darauf kommt, ihn zu fragen, warum eigentlich.

Die Antwort liegt natürlich einerseits auf der Hand: Man muss schon moralisch sehr verkommen sein, solche Unterlagen zu stehlen, sie zum Verkauf anzubieten oder zu veröffentlichen. Aber daran gibt es doch gar keinen Zweifel. Dafür brauchen wir doch keine Pressemitteilung des DJV, um das zu sehen.

Interessant würde es doch, andererseits, dort, wo Konken erklären müsste, warum gerade diese potentielle Veröffentlichung so ein viel äußersterer schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Schumachers wäre als all die tatsächlichen Veröffentlichungen, die es in den vergangenen Monaten über seinen Gesundheitszustand gegeben hat.

All die Spekulationen und Gerüchte, all die Fantastereien und Behauptungen unter Bezug auf wissende Quellen. Wie die „Bunte“, die vor knapp zwei Wochen schrieb, was „aus Klinikkreisen zu erfahren“ sei und was sie „aus dem medizinischen Umfeld der Klinik in Grenoble“ erfahren habe: Dass zum Beispiel möglicherweise das Gehirn Schumachers stärkere Schäden davongetragen habe als bisher in der Öffentlichkeit bekannt. Oder dass „man“ in der Klinik nicht mehr an eine vollständige Genesung Schumachers glaube.

Keine Ahnung, ob die Illustrierte da einfach wild vor sich hinspekulierte oder über beste Drähte verfügte — womöglich zu jemandem, der Einblick in Schumachers Krankenakte hat? Und was von beidem wäre schlimmer, ekliger, eine größere Persönlichkeitsrechtsverletzung?

Das ist ein interessantes ethisches Labyrinth: Die Veröffentlichung der Krankenakte wäre gerade deshalb auch so empörend, weil ihr Inhalt wahr wäre. Im Gegensatz zu all dem unzuverlässigen Geraune, mit dem die Medien ihre Schumacher-Berichterstattung füllen. Und wenn sie doch, wie sie suggerieren, bestens informiert sind: Woher? Wer hat da aus dem Krankenhaus berichtet und für wieviel Geld?

Es wird ja vermutlich nicht reichen, einfach — wie anscheinend der „Focus“ — treuherzig in Richtung Krankenzimmer Schumachers zu spazieren und sich als „unerwünschter Besucher“ wieder herauswerfen zu lassen.

Die Schweizer Boulevardzeitung „Blick“ „wusste“ nach der Verlegung Schumachers von Grenoble nach Lausanne, was im Inneren des Krankentransporters vor sich ging: „Schumacher soll zwar nicht gesprochen haben. Aber er habe mit der Transportbesatzung per Kopf­nicken kommuniziert. Während der über 200 Kilometer langen Fahrt von Grenoble nach Lausanne habe er über weite Strecken die Augen geöffnet gehabt.“ Angeblich weiß „Blick“ auch, dass Schumacher viel Gewicht verloren hat.

Die „Bild“-Zeitung hatte da sogar konkrete Kilo-Angaben, sowohl was den Verlust angeht als auch den aktuellen Stand. Sie erzählte nicht nur von den Operationen, die an Schumachers Kopf durchgeführt wurden, sondern wusste auch, wann „Schumis Wille am stärksten“ war. Und sie berichtete ohne Quellenangabe, wie er atmet, ob er sprechen kann und dass er mit den Augen kommuniziere: „Sie reagieren auf Corinna deutlich stärker als auf andere Menschen“.

All das scheint den Chefsprecher der deutschen Journalisten nicht zu einem Appell herausgefordert zu haben. Vielleicht waren ihm die Türen da einfach nicht offen genug zum Einrennen.

Und man weiß ja auch gar nicht, woher „Bild“ und „Blick“ und „Bunte“ ihre Informationen hatten und ob sie überhaupt zutrafen. Nur dass sich die Medien sonst (wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, Gerüchte zu kolportieren) einig waren, dass zuverlässige Informationen ausschließlich von der Managerin Schumachers zu haben sind. Und dass diese Managerin dringend darum bat, die Privatsphäre Schumachers zu achten.

Die Aufregung um die gestohlenen medizinischen Unterlagen ist heuchlerisch. Für die Boulevardmedien ist der Fall ein Traum, weil sie so tun können, als würden sie anständig und verantwortungsvoll mit Michael Schumacher umgehen. Undenkbar, dass sie solche geheimen, gestohlenen Informationen kaufen und veröffentlichen würden – also, undenkbar in diesem einen Fall.

Aber ich bin gespannt, was passiert, wenn irgendein, sagen wir, ausländisches Medium die Akte doch noch veröffentlicht. Werden „Bild“ und „Bunte“ — und „Focus Online“ in seinem ewigen Schumacher-Live-Ticker — dann nicht berichten, was darin an Fakten stand?

Sondern stattdessen auf ihre anderen, dubiosen Quellen zurückgreifen, um gegen den Willen der Familie über Schumachers Gesundheitszustand zu spekulieren?

„Bild“ und Co. haben den Markt erst geschaffen, der Menschen glauben lässt, dass eine Kranken-Akte Schumachers viel Geld wert ist. Die einzige zulässige Berichterstattung über seinen Gesundheitszustand jenseits der offiziellen Statements der Managerin wäre: keine.

Kollektiver Kinderwahnsinn: Herzogin Kate im Verhör der internationalen Presse

Wir müssen einmal kurz über den britischen Thronfolgerfolgerfolger reden.

Am Dienstag war Herzogin Kate zu Besuch in Grimsby. Sie schüttelte ein paar Schaulustigen die Hand und nahm einen Stoffbären als Geschenk entgegen. Eine Frau in der Menge meinte gehört zu haben, wie sie sagte: „Is this for our d-“ („d“ wie „daughter“), bevor sie sich schnell korrigierte und auf Nachfragen beteuerte, sie kenne das Geschlecht ihres Babys nicht.

Tatsächlich hat sich die Frau, um die Pointe gleich vorwegzunehmen, bloß verhört. Kate sagte, wie sich später herausstellte: „Is this for us, awww.“

Keine große Geschichte, oder?

Nun:


Die Geschichte war auch auf den Titelseiten von „Daily Mail“ und „Daily Express“. Und denen von „Times“ und „Telegraph“:


Und es war nicht bloß britischer Kinderwahnsinn. Am Mittwochvormittag „meldete“ die Agentur AP:

Kate und das T-Wort: Spekulationen über Geschlecht des Babys

London (AP) — Ein unbedachter Halbsatz der Herzogin von Cambridge — und schon brodelt es in der Gerüchteküche: „Es ist ein Mädchen!“ prangte am Mittwoch als Schlagzeile über britischen Zeitungen. Dabei haben Kate und Prinz William erklärt, sie sagten nichts über das Geschlecht ihres erwarteten ersten Babys.

Die Konkurrenz von AFP berichtete:

Ist es ein Mädchen? – Schwangere Herzogin Kate soll sich verplappert haben

Bei dpa hieß die Überschrift:

Er oder sie? Spekulation um Kate und Prinz Williams Baby

Und später:

Buchstabe auf der Goldwaage — Medienhype um Kates Babybauch

Der Hauch von Unsicherheit, die Flucht auf die vermeintlich sichere Meta-Ebene, war aber für viele Medien zu seriös. „Bild“ verkündete am Donnerstag auf der letzten Seite:

Die schwangere Herzogin Kate (31) verplapperte sich beim Besuch der Hafenstadt Grimsby, verriet ihr süßes Babygeheimnis:
ES WIRD EIN MÄDCHEN!

Die „Berliner Morgenpost“ riss die News sogar auf ihrer Titelseite an. Im Inneren brach dann Thomas Kielinger, der Londoner Axel-Springer-Korrespondent und vermeintliche Königshaus-Experte, in Ausrufezeichen aus:

Rosa Babywäsche

William und Kate bekommen ein Mädchen. Die Schwangere versprach sich bei einem Ortstermin

London – Endlich! Jetzt ist es heraus! Es ist ein Mädchen! Die werdende Mama hat es ausgeplaudert, Kate, alias Catherine Middleton, Ehefrau des britischen Thronfolgers William. Es geschah im trist-grauen Hafenstädtchen Grimsby an der englischen Ostküste. Die Herzogin von Cambridge — sie sollte eine neue Gesamtschule einweihen — hatte sich um mehr als eine Stunde verspätet, es herrschte Nebel, ihr Hubschrauber konnte zunächst nicht starten. Dafür wurden die Wartenden mit einer Exklusivnachricht entlohnt, die sie für alles Frieren reichlich entschädigte.

Als Kate endlich da war (…), reichte die 41-jährige Diana Burton der Herzogin einen großen weißen Teddybär, den die Beschenkte lachend quittierte: „Thank you, I will take that for my d…“ („d“ für daughter, Tochter), um sich dann rasch zu korrigieren: „… for my baby.“ Damit aber wollte die danebenstehende Sandra Cook, 67, den königlichen Gast nicht davonkommen lassen. Als es an ihr war, die Hand von Kate zu schütteln, schoss sie mutig zurück: „Da sind Sie aber eben fast ausgerutscht, Sie wollten doch ‚daughter‘ sagen, oder?“ Kate fand sich in der Lage von Petrus, der seinen Herrn verleugnete, und sagte: „Was meinen Sie? Wir wissen noch nicht.“ Cook bohrte beharrlich nach: „Oh, ich glaube aber doch!“ Worauf Kate „Wir sagen nichts“ antwortete.

Das war so gut wie ein Geständnis. Sie hätte leicht den ersten Kommentar wiederholen können, „Wir wissen noch nicht“, aber das hätte sich zu einer Lüge hochgeschaukelt, denn natürlich wissen die Eltern fast alles, was sich im Mutterleib der im fünften Monat Schwangeren ankündigt, ob Junge oder Mädchen. So zog sie sich mit einem Allerweltswort wie „Wir sagen nichts“ aus der Affäre — und hatte doch alles gesagt, ganz unprotokollarisch.

In der „Welt“ steht Kielingers Bericht unter der Überschrift:

Kate hat sich verplappert

Wird es ein Mädchen? Eine Schaulustige entlockt der schwangeren Herzogin von Cambridge ein ungewolltes Geständnis

Und beginnt so:

Der Zug rollt, die Hysterie ist in voller Fahrt: Es ist ein Mädchen! Doch weder hat ein Paparazzo oder Societyreporter die Nachricht über das Geschlecht des erwarteten Babys der Herzogin und des Herzogs von Cambridge erlauert, noch haben Insider am Hof den Mund nicht halten können – nein, die künftige Mama selber hat es ausgeplaudert, Kate, alias Catherine Middleton, die Ehefrau des künftigen britischen Monarchen.

Das „Darmstädter Echo“ überrascht mit einem Artikel, der mit Zweifeln beginnt:

Jetzt fragt sich das Königreich: Können wir uns wirklich auf rosa Babywäsche einstellen?

… und nach Schilderungen von erschütternder Ausführlichkeit gegen Schluss mit der Wendung schockiert:

Und jetzt gibt es eine Gegendarstellung zu dem, was Sandra Cook bezeugte. Katy Forrester, die die Herzogin im lokalen Fischerei-Museum sprach, gab gegenüber dem „Grimsby Telegraph“ an: „Ich schwöre, sie sagte, dass es ein Junge wird. Entweder habe ich es falsch verstanden oder Kate will uns alle verwirren.“ Das Rätselraten geht weiter.

Die „Berliner Zeitung“ bringt die unklare Nachrichtenlage dazu, ein weiteres Fass aufzumachen. Sie berichtet heute ausführlich über „uralte Mythen“, die darüber, ob Kate nun Mutter eines Sohnes oder einer Tochter wird, Auskunft geben könnten — „oder auch nicht“.

Bindet man den Ehering an einen Faden und lässt ihn vor dem Bauch baumeln, so die Überlieferung, schlägt er bei einem Mädchen nach links und rechts aus, bei einem Jungen beschreibt er hingegen Kreise. Diese Variante ist natürlich nur für Paare geeignet, die über den notwendigen Ring verfügen. (…)

So erwartet eine Schwangere dem Mythos nach ein Mädchen, wenn sie auf der rechten Seite schläft. Einen Jungen kann man pränatal erahnen, wenn die rechte Brust größer ist als die linke. (…)

Begegnet die Schwangere auf dem Weg ins Gotteshaus zuerst einem Mann, so die aus Bayern stammende Theorie, wird es auch einer. Und andersherum.

Und dann ist da noch das Morgenmagazin des ZDF, in dem aus irgendeinem Grund eine Frau namens Nadja Al-Chalabi herumsitzt, die als „Gesellschaftsreporterin“ vorgestellt wird.

Lustigerweise zeigt die ZDF-Moderatorin vorher deren Notizzettel in die Kamera, und Al-Chalabi sagt:

Das ist ja nur die Essenz dessen, was man vorher recherchiert. Weil ja alle immer denken: Ach, dieser Promi-Kram, der wird so rausgerotzt — so ist es nicht!

Dann rotzt sie den ganzen Promi-Kram so raus, und fasst ihre Erkenntnis zusammen: „Es wird also ein Mädchen.“

(Das „Morgenmagazin“ des ZDF trägt zum hohen „Informations“-Anteil des Senders bei, der das öffentlich-rechtliche Programm von der privaten Konkurrenz unterscheidet.)

Und das alles, weil eine ältere Frau in Grimsby sich verhört hat. Das hier ist übrigens das Video, das den verräterischen Versprecher nach Ansicht der internationalen Medienmeute belegen sollte.

Keine weiteren Fragen.

Heucheln und heucheln lassen

Stefan Winterbauer, der Blinde unter den Einäugigen beim Braanchendienst „Meedia“, hat das Spiel längst abgepfiffen. Die „taz“ sei zum wiederholten Male beim Versuch gescheitert, „Bild“-Chef Kai Diekmann vorzuführen. „Genauso wie Lucy Charlie Brown in letzter Sekunde den Ball wegzieht, lässt sich die taz immer wieder von Kai Diekmann am Nasenring durch die Medienmanege führen“, urteilte er gestern.

Die „taz“ hatte Diekmann öffentlich Fragen gestellt zum undurchsichtigen Umgang seines Blattes mit der Nachricht, die Bundespräsident Christian Wulff auf seiner Mailbox hinterlassen hatte. Diekmann machte erst einen Witz daraus, der von „Meedia“ gleich aufgeregt nacherzählt wurde, und ließ die Pressestelle dann antworten. „Die Antworten der Bild“, urteilt Winterbauer, „enthielten nichts Brisantes oder Neues, sondern ausführlich dargestellt noch einmal die Angaben zu den Abläufen und die redaktionellen Erwägungen, warum die Mailbox-Nachricht zunächst in der Berichterstattung thematisiert wurde.“

(Er meint vermutlich: nicht.)

Dabei ist die Antwort von „Bild“ in mehrfacher Hinsicht entlarvend. Zum Beispiel schreibt die Pressestelle:

Nachdem die Redaktion die Abschrift der Nachricht an das Büro des Bundespräsidenten übermittelt hatte, häuften sich bei der Axel Springer-Pressestelle Anfragen von Journalisten zum vollständigen Inhalt der Nachricht. In Gesprächen wurden einige der bereits bekannten Passagen erläutert.

Wer in seinem Beruf ein bisschen mit Antworten von Pressestellen zu tun hat, kann erahnen, dass die Formulierungen im letzten Satz wohl vor allem der Verschleierung dienen. Journalisten rufen bei Springer an, wollen den kompletten Text wissen und die Pressestelle „erläutert“ „einige der bereits bekannten Passagen“? Was bedeutet das überhaupt? Man muss vermutlich bei einem PR-affinen Unternehmen wie „Meedia“ arbeiten, um das für eine befriedigende oder gar erschöpfende Antwort von „Bild“ zu halten.

In Wahrheit war es offenbar so, dass „Bild“ mehreren Journalisten zu verschiedenen Zeitpunkten die Abschrift der Nachricht am Telefon vorgelesen hat — unter der Maßgabe, das Gespräch nicht mitzuschneiden und es nicht vollständig zu veröffentlichen.

Insofern stimmt es in einem sehr engen, sehr wörtlichen Sinne womöglich auch, wenn „Bild“ der „taz“ antwortet:

Eine Abschrift der Nachricht wurde von der Pressestelle an keine Zeitung oder Zeitschrift geschickt. Es gab keinen Auftrag an Redakteure von Bild, die Nachricht oder Passagen daraus weiterzugeben.

Nicht nur an dieser Stelle klaffen größere Lücken in der Antwort von „Bild“. Genau genommen äußert sie sich nur über ihr Verhalten vor dem 1. Januar und nach dem 5. Januar — das ist leider der „taz“ ebensowenig aufgefallen wie Winterbauer. Dabei ist gerade der Zeitraum dazwischen interessant, in dem die Geschichte in die „Süddeutsche Zeitung“ kam und dann explodierte. In dem die „Bild“-Zeitung so tat, als habe sie nichts mit der Berichterstattung zu tun. Weshalb sie dann ganz scheinheilig den Bundespräsidenten fragen konnte, ob sie die Nachricht veröffentlichen dürfe, und ganz scheinanständig darauf verzichtete, als er ablehnte.

Ich würde unterstellen, dass die Leerstellen in den Antworten von „Bild“ sehr bewusste Leerstellen sind. Es wirkt ein bisschen, als würde man gefragt, ob man eine Geschäftsbeziehung zu einem Unternehmer gehabt habe, und verneint, weil man ja nur mit seiner Ehefrau einen Kreditvertrag hatte.

Als ich den „Bild“-Sprecher für „Spiegel Online“ nach einigen dieser Leerstellen fragte, war es plötzlich vorbei mit der Transparenz, die man dem Publikum und Leuten wie Winterbauer vorgespielt hat. Es gab auf keine meiner Fragen eine Antwort. Das ist kein Wunder, denn das ist das normale Verhalten des „Bild“-Sprechers. Zu laufenden Verfahren, zu redaktionellen Entscheidungen, zu Personalspekulationen, zu Interna, zu Thema XY äußert er sich grundsätzlich nicht.

Wenn dieser Verlag, wenn dieses Blatt, jemanden anders zu Transparenz und Wahrhaftigkeit auffordert, dann ist das selbst dann ein böser Witz, wenn die Forderung berechtigt sein sollte.

Aber Kai Diekmann sagt auf kritische Nachfragen manchmal etwas Lustiges, das man aus der Ferne mit Selbstironie verwechseln könnte. Nicht nur für die Leute von „Meedia“ ist das mehr wert als jede Wahrheit. Auch deshalb kommt „Bild“ so oft mit ihren Halbwahrheiten und Heucheleien durch.

Vom Glück, „Bild“ zu sein

Ich frage mich, ob man als „Bild“-Zeitung-Macher manchmal darunter leidet, dass man es zu leicht hat. Man kann heute alle Register eines unseriösen Schmuddelblattes ziehen, und sich morgen wieder als seriöse Zeitung geben. Man hat die Wahl, Dinge zu veröffentlichen, Dinge nicht zu veröffentlichen und Dinge zu veröffentlichen, ohne sie zu veröffentlichen. Man kann es mit der Wahrheit ganz genau nehmen oder schon das Konzept „Wahrheit“ an sich als eine Erfindung von Korinthenkackern abtun. Man muss niemandem Rechenschaft ablegen oder tut es einfach nicht. Und keine Sekunde muss man sich um sein dummes Geschwätz von gestern kümmern.

· · ·

Fangen wir der Einfachheit halber ganz hinten an: Beim Auftritt von Nikolaus Blome bei Günther Jauch gestern abend. Blome ist der stellvertretende Chefredakteur der „Bild“-Zeitung. Sein Dackelblick ist in den vergangenen Monaten so etwas wie das menschliche Antlitz von „Bild“ in der Öffentlichkeit geworden.

Auch bei Jauch hatte er es leicht. Niemand wollte so recht die Rolle der „Bild“-Zeitung in dem Spektakel der letzten Wochen thematisieren; es ging um Wulff.

Immerhin stellte jemand eine berechtigte Frage: Warum es zwei Wochen gedauert hat, bis Wulffs angebliche Droh-Nachricht auf der Mailbox von „Bild“-Chef Kai Diekmann an die Öffentlichkeit kam.

Blome hatte einen originellen Erklärungsversuch: Er vermutet, dass der Auslöser die Kritik von Bundestagspräsident Norbert Lammert gewesen sei, der es an Silvester gewagt hatte zu sagen: „Auch die Medien haben Anlass zu selbstkritischer Betrachtung ihrer offensichtlich nicht nur an Aufklärung interessierten Berichterstattung.“ Daraufhin, so Blomes These, hätten die sich zu Unrecht angegriffen fühlenden Journalisten die Mailbox-Sache in die Öffentlichkeit gebracht.

Außerdem, fügte er hinzu, sei die Geschichte mit der Nachricht auf der Mailbox ja erst richtig groß geworden, nachdem Wulff selbst in seinem Interview in ARD und ZDF darüber geredet und ihren Inhalt — Blomes Ansicht nach — falsch dargestellt habe, nämlich als bloßen Versuch, einen Tag Aufschub herauszuhandeln.

Ich glaube, dass es einen Menschen auf Dauer deformiert, wenn er so etwas sagen kann, ohne dass er schallendes Gelächter erntet oder ihm jemand sachte die Hand auf den Arm legt und sagt: „Herr Blome? Der Bundespräsident musste das Interview überhaupt nur geben, weil der öffentliche Druck so groß geworden war, nachdem die Sache mit der Mailbox an die Öffentlichkeit gekommen war.“

· · ·

Was für eine bizarre Situation: In der ARD-Talkshow zitiert Jauch, was der „Spiegel“ unter Berufung auf Springer über Wulffs Anrufe bei Diekmann und Vorstandschef Mathias Döpfner schreibt, und fragt Blome, ob das richtig sei. Was der „Spiegel“ schreibt. Was er von Springer weiß. Und Blome bestätigt es.

Die „Bild“-Zeitung fragt öffentlich beim Bundespräsidenten an, ob sie den Wortlaut seiner Mailbox-Nachricht veröffentlichen darf. Als er Nein sagt, verzichtet sie, ganz das hyperseriöse Blatt, auf eine Veröffentlichung.

Zu diesem Zeitpunkt haben Springer-Leute anderen Journalisten ausführlich aus der Abschrift der Nachricht am Telefon vorgelesen — unter der Maßgabe, nicht vollständig mitzuschreiben und das Gespräch nicht aufzuzeichnen.

Die „Bild“-Zeitung feuert die Munition, die ihr der Bundespräsident in seiner Dummheit geliefert hat, nicht selbst ab. Sie reicht sie an andere weiter. Sie kann nach dem großen Knall ihre Hände vorzeigen: keine Schmauchspuren.

Sie muss sich keinen Fragen stellen, ob es womöglich ein Vertrauensbruch war, Details aus der Nachricht zu veröffentlichen, wenn Diekmann doch gegenüber Wulff die Sache nach einer Entschuldigung als erledigt bezeichnet hatte. Sie hat sie ja nicht veröffentlicht. Außer doch.

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Letztens hat mich ein Kollege gefragt, wer eigentlich der Böse in der Geschichte sei, „Bild“ oder Wulff. Das ist die falsche Frage und in Wahrheit gar keine Alternative. Klar ist, wer der Depp ist und wer der klug Handelnde.

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Ich verstehe den Frust darüber, in welchem Maße sich die Berichterstattung auf den Bundespräsidenten konzentriert und wie wenig sie sich um die Rolle von „Bild“ kümmert. Es gibt dafür aber immerhin einen guten Grund: Es geht auf der einen Seite um die Ansprüche an das deutsche Staatsoberhaupt und auf der anderen Seite nur um die an eine Boulevardzeitung.

Anders gesagt: Wir haben in den vergangenen Wochen einiges Neues über den Charakter von Christian Wulff gelernt. Und nichts Neues über den Charakter der „Bild“-Zeitung.

Natürlich kann man sich, wenn man will, darüber empören, dass das, was man Kai Diekmann auf die Mailbox spricht, nicht vertraulich bleibt. Oder, alternativ, dass Diekmann nicht die Eier hat, die Grenzüberschreitung selbst öffentlich zu machen und mit offenem Visier zu kämpfen. Aber hat irgendjemand etwas anderes von Kai Diekmann erwartet?

Es mag allerdings sein, dass Wulff Grund zur Annahme hatte, er könne sich diese Art der Einflussnahme erlauben. Vielleicht hat das früher geklappt, Freundschaftsdienste auf diese Weise einzufordern. Auch das dürfte — angesichts der Art, wie „Bild“ für Wulff PR gemacht hat und wie sehr Wulff der „Bild“ Exklusiv-Geschichten geschenkt hat — niemanden wundern.

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Erinnert sich noch jemand an das Jahr 2004, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Pressefreiheit in Deutschland abschaffte? Durch das sogenannte „Caroline-Urteil“ wurde das Recht eingeschränkt, über Privates aus dem Leben von Prominenten zu berichten, wenn es keinem anderen Interesse dient als der Sensation oder Unterhaltung. Siebzig Chefredakteure riefen damals in einem offenen Brief „Zensur!“, weil die „wichtigste Aufgabe der freien Presse, den Mächtigen auf die Finger zu schauen, massiv behindert“ werde. Es unterschrieben in einem der traurigsten Akte fehlgeleiteter journalistischer Solidariät unter anderem die Chefredakteure von „Spiegel“, „Stern“, „Playboy“, „Das neue Blatt“, „Neue Post“, „Das Haus“ und natürlich „Bild“ und „Bild am Sonntag“.

„Bild“ beließ es nicht dabei. Öffentlichkeitswirksam kündigte Kai Diekmann damals an, Konsequenzen aus dem Urteil zu ziehen und bis auf weiteres auf Homestories über Politiker zu verzichten. Nach dem „Maulkorburteil“ sei unklar, was an kritischer Berichterstattung noch erlaubt sei. „Deshalb müssen wir umgekehrt beim Leser jetzt von vornherein jeden Anschein vermeiden, wir würden mit eingebauter Schere im Kopf nur noch Hofberichterstattung betreiben.“

Das war damals schon lächerlich. Und keine zwei Jahre später begann in „Bild“ der große (inzwischen abgeschlossene) Liebesroman „Christian Wulff und sein perfektes Privatleben“, mit Berichten über neue Wohnungen, neue Frisuren, neue Kinder, neues Glück.

Natürlich hatte „Bild“ dabei die Schere im Kopf. Es war die ganz eigene Schere der kalkulierten Hofberichterstattung über Menschen, die sich auf das Spiel von „Bild“ einlassen und ihr den Stoff geben, den sie begehrt.

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Als Nikolaus Blome von Günther Jauch gefragt wurde, ob man an der Berichterstattung über Wulff — erst rosarot verklärt, dann gnadenlos vernichtend — das berüchtigte Aufzugs-Prinzip von „Bild“ erkennen könnte, antwortete der „Bild“-Mann erst mit einer witzig gemeinten Bemerkung darüber, dass es in der Axel-Springer-Zentrale in Berlin einen Paternoster gebe. Dann fand er es abwegig, und meinte das offenbar leider nicht mehr als Witz, dass man „Bild“ vorwerfe, aus der „eher glimpflichen Scheidung“ der Wulffs „keine Schlammschlacht“ gemacht zu haben. Und schließlich sagte er noch, dass einige der PR-Schlagzeilen, die „Bild“ Wulff in den Zeiten bester Zusammenarbeit schenkte und die Jauch gezeigt hatte, bloß aus den Regionalausgaben von „Bild“ stammten. Blome sagte die Unwahrheit. Jede der gezeigten Geschichten war in der Bundesausgabe.

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Es ist schon richtig, dass an einen Bundespräsidenten andere Ansprüche an Ehrlichkeit zu stellen sind als an den stellvertretenden Chefredakteur einer Boulevardzeitung. Das bedeutet aber nicht, dass man ihm und seinem Blatt jede Lüge, jeden schmierigen Trick, jede irrwitzige Pose einfach durchgehen lassen muss.

Ein chronischer Lügner und Trickser beschuldigt jemanden, zu lügen und zu tricksen. Das ist selbst dann ekelhaft, wenn der Vorwurf — wie offenbar in diesem Fall — stimmt. Deshalb hat die langjährige Freundin von Wulff Recht, wenn sie bei Jauch rührend hilflos fomuliert, sie möchte in keinem Land leben, in dem die „Bild“-Zeitung bestimmt, was Moral und was richtig ist.

Und deshalb ist der Eindruck so verheerend, dass andere Medien sich von „Bild“ haben einspannen lassen, der „Bild“-Geschichte an den entscheidenden Stellen die eigene Seriösität leihen und Seite an Seite mit „Bild“ kämpfen.

„Es gab keinen Bruch“ in der Beziehung zwischen „Bild“ und Wulff, heuchelte Blome. Das ist sowohl angesichts der real existierenden Berichterstattung von „Bild“ als auch angesichts von Wulffs Nachricht auf der Mailbox offenkundig unwahr. Blome meint natürlich, dass es nie eine innige Beziehung zu Wulff zum beiderseitigem Vorteil gegeben habe.

Das Problem ist, dass bis heute unklar ist, was den Bruch ausgelöst hat. Es könnte einen konkreten Anlass gegeben haben; vielleicht war es auch bloß die Abwägung von „Bild“, dass sich inzwischen ein exklusiver Zugang zu Wulff samt schöner Geschichten weniger lohnt als die Möglichkeit, sich an die Spitze seiner Kritiker zu setzen.

Das ist eine größere Leerstelle in der Geschichte und sie korrespondiert mit vielen kleinen Leerstellen, die der Springer-Verlag gelassen hat. Eine Woche lang musste sich die Nation ein Urteil über eine Nachricht von Christian Wulff erlauben, das allein auf einzelnen kurzen Satzfetzen beruhte, die der Springer-Verlag lanciert oder freigegeben hat. Offenbar hat bis jetzt noch niemand außerhalb des Springer-Verlages die Nachricht selbst gehört. Quelle ist allein eine Abschrift des Telefonates.

Dadurch, dass „Bild“ das Gespräch nicht vollständig veröffentlicht hat, schützte das Blatt nicht Wulff, sondern maximierte den Schaden, weil es die Veröffentlichung weitgehend steuern und die Interpretation beeinflussen konnte. (Dass der Bundespräsident dann die geschickt später nachgeschobene Bitte von „Bild“, die Nachricht nun auch offiziell veröffentlichen zu dürfen, ablehnte, spricht natürlich wieder für seine umfassende Ungeschicklichkeit und Dummheit in dieser Sache.)

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Ein Schlüsselmoment in der Affäre ist, als der später entlassene Wulff-Sprecher Olaf Glaeseker den „Bild“-Reporter Martin Heidemanns am 6. Dezember ins Schloss Bellevue bittet. Er will die Gerüchte ausräumen, dass der zwielichtige Unternehmer Carsten Maschmeyer hinter dem Kredit für sein Haus steckt, und deshalb „Bild“ verraten, von wem das Geld wirklich stammt.

Das Dokument, mit dem „Bild“ von der Verbindung zu den Geerkens erfuhr und die Frage aufwerfen konnte, ob Wulff das niedersächsische Parlament 2010 belogen hat, bekam das Blatt also vom Präsidentensprecher selbst. Strittig ist, unter welchen Voraussetzungen: Wulff sagt, Heidemanns habe versprochen, den Namen des Kreditgebers nicht zu nennen. Das erklärt vermutlich auch seinen Zorn und seine Drohung mit strafrechtlichen Schritten. Heidemanns sagt, er habe vor Ort diese Forderung ausdrücklich abgelehnt, und Glaesekers habe ihm das Dokument dann trotzdem gezeigt.

Ich weiß natürlich nicht, wer die Wahrheit sagt. Aber ich weiß, wer Martin Heidemanns ist. Er ist bei Menschen, die mit ihm zu tun haben mussten, ein besonders verhasster „Bild“-Mann. Seine Drohungen und auf die Betroffenen erpresserisch wirkenden Methoden sind berüchtigt.

Und auf diesen Mann glaubt der Bundespräsident seine Entlastungsstrategie aufbauen zu können? Ihm lässt er die entscheidenden Dokumente zeigen? Ich weiß nicht, ob Heidemanns Stillschweigen versprochen hat oder nicht. Es ist aber auch vollständig egal, da man schon außerordentlich blauäugig sein muss, um ihm zu trauen.

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Christian Wulff ist, das zeigt auch dieses Detail, nicht darüber gestolpert, dass er sich mit „Bild“ angelegt hat, sondern darüber, dass er immer noch glaubte, mit ihr gemeinsame Sache machen zu können.

Das ist eine wichtige Erkenntnis, denn das wäre eine verheerende Lehre, die Prominente und Politiker aus der ganzen Geschichte ziehen könnten: Dass es so tödlich ist, wie man immer schon angenommen hat, sich mit „Bild“ anzulegen. Nein, tödlich ist es, zu glauben, einen Pakt mit der „Bild“-Zeitung schließen zu können und davon am Ende profitieren zu können. Im Zweifel wird nur einer von beiden von einem solchen Pakt profitieren, und das ist derjenige, der es sich erlauben kann zu tricksen und zu lügen, heute mit Schlamm zu werfen und morgen seriös zu tun, keine Rechenschaft ablegen zu müssen und sich keine Sekunde um sein Geschwätz von gestern kümmern zu müssen.

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