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Qualitätsjournalismusersatz

Die meisten Zeitungen zahlen ihren freien Mitarbeitern erbärmliche Honorare. Eine gängige Antwort auf die Frage, wie die freien Journalisten denn davon leben sollen, lautet: Die meisten müssen ja gar nicht davon leben, sondern verdienen noch anders ihr Geld. Das könnte sogar stimmen.

Unten auf der Ostvorpommern-Seite der „Ostsee-Zeitung“, zum Beispiel, erschien gestern ein Artikel über die Zeugnisübergabe an der Außenstelle Bandelin der Berufsfachschule Greifswald:

Es scheint eine wunderbare Schule zu sein, deren Absolventen wirklich allerbeste Voraussetzungen haben.

(…) Die 23-jährige Greifswalderin hat ab August einen Job beim hiesigen Diakonieverein und fühlt sich für die Herausforderungen im Therapiebereich gut gewappnet.

Mit 18 Jahren startete Katharina in Bandelin die zweijährige Ausbildung zur Sozialassistentin. Anschließend
hängte sie an der Außenstelle der Berufsfachschule Greifswald, einem Unternehmen der Medigreif Gruppe, noch drei Jahre dran und ist nun Heilerzieherin. (…)

Für das neue Schuljahr sind die Klassen für die Zweige Sozialassistenz und Erzieher mit je 28 Schülern bereits
komplett belegt, wie Gerlinde Beyer sagt. „Lediglich bei den Heilerziehungspflegern haben wir noch einige Plätze frei.“ Die Berufsschüler kommen aus ganz Mecklenburg-Vorpommern nach Bandelin, ergänzt Dr. Barb Neumann, die Leiterin der Berufsfachschule. (…)

Nun weiß ich natürlich nicht, was „Ostsee-Zeitungs“-Autor Dirk Lenz, dessen Kürzel „D. L.“ unter dem Artikel steht, für ein Zeilenhonorar bekommen hat für den Text. Aber ich nehme an, er wird auch mit ein paar Cent zufrieden gewesen sein. Dirk Lenz arbeitet bei der Medigreif Gruppe, die die Berufsfachschule betreibt, und verantwortet deren Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Mecklenburg-Vorpommern. Aber das steht natürlich nicht in der „Ostsee-Zeitung“.

[mit Dank an Thomas Niehoff]

Die „Tagesschau“. Wo man schöne Inszenierungen nicht blöd hinterfragt.

Vielleicht könnte die „Tagesschau“ jemand anderes finden, der öffentlich auf Kritik an ihrer Arbeit reagiert? Jemanden, für den eine „Diskussion“ etwas anderes ist als eine Ansprache, der ein irgendwie ausgleichendes Wesen hat und womöglich sogar noch ein Bewusstsein dafür, dass er von uns Zuschauern bezahlt wird? Jemanden, der nicht alles noch schlimmer macht? Kurz gesagt, jemand anderes als Kai Gniffke?

Es gibt ja gerade ein bisschen Aufregung um die Bilder von den Staats- und Regierungschefs beim großen „Republikanischen Marsch“ in Paris am vergangenen Sonntag. „Le Monde“ berichtete, dass die gar nicht in dem Sinne den Zug anführten, wie man es aufgrund der Berichte in den Nachrichtensendungen und der Fotos in den Zeitungen glauben mochte. Sie waren nicht wirklich Teil der Menschenmenge; vor und hinter ihnen war die Straße offenbar abgesperrt. Die „taz“ und „Spiegel Online“ meldeten sogar, dass es sich um eine „einsame Nebenstraße“ gehandelt habe.

Ich kann verstehen, dass Menschen das ärgert, wenn sie das erfahren. Wenn sie Grund haben anzunehmen, dass Journalisten ihnen etwas vormachen und Komplizen bei einer Inszenierung sind, anstatt diese Inszenierung kenntlich zu machen. Natürlich ist jede Auswahl eines Fotos oder eines Filmausschnittes eine subjektive Entscheidung. Es ist aber nicht die Aufgabe von Journalisten, den Aufmarsch von mehreren Dutzend Staats- und Regierungschefs durch eine geschickte Wahl der Perspektive besonders eindrucksvoll wirken zu lassen.

Die Chefredakteurin der „taz“, Ines Pohl, verknüpfte diesen Fall mit der heutigen Kür des Begriffs von der „Lügenpresse“ zum „Unwort des Jahres“. Sie sagte: „Leider belegt der Umgang mit den Bildern des Pariser Marsches der Mächtigen, dass das Wort ‚Lügenpresse‘ nicht nur ein Hirngespinst der Pegida-Anhänger ist, sondern dass die Wirkung der Bilder – übrigens auch für deutsche Medienmacher – manchmal wichtiger ist als die Dokumentation der Realität.“

Das hat bei ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke eine Halsschlagader platzen lassen. Im „Tagesschau“-Blog schreibt er:

Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt wieder richtig auf die Fresse bekomme: Mir langt’s.

Der Vorwurf der Inszenierung sei eine „wilde Verschwörungstheorie“ und „kompletter Unfug“.

Er wirft dann mehrere Nebelkerzen und stellte fest, dass es „immer eine Inszenierung“ sei, wenn sich Politiker vor eine Kamera stellen, dass die französische Polizei ihren „Job verfehlt“ hätte, wenn sie die Politiker nicht von den anderen Menschen abgetrennt hätte (was kaum jemand ernstlich bestreitet), und dass, „sorry“, Kameraleute und Fotografen eben nicht immer einen Hubwagen zur Hand hätten. Und nach einem rätselhaften Einschub – „bei aller Selbstkritik“ – beklagt er sich schließlich darüber, dass solche Kritiker seine sensiblen Kollegen ganz kirre machten:

Ich wehre mich dagegen, über jedes Stöckchen zu springen, dass uns Verschwörungstheoretiker hinhalten. Denn sonst sickert noch viel mehr des Giftes der Furcht in unseren Berufsstand ein. Denn diese Diskussionen hinterlassen Spuren in den Redaktionen. Statt unser Bewusstsein für Qualitätsjournalismus zu schärfen, sind sie dazu angetan Redaktionen zu verunsichern.

Mit keinem Wort geht er auf die zentrale Frage ein, warum „Tagesschau“ oder „Tagesthemen“ nicht – und sei es noch so beiläufig, durch einen Halbsatz oder einen Kameraschwenk – deutlich machten, dass die Politiker in einem gehörigen Sicherheitsabstand vom eigentlichen Marsch ein kleines Stück für die Fotografen liefen. Warum seine Redaktion die Menschen nicht in einer Weise informiert hat, die verhindert hätte, dass offenbar eine erhebliche Zahl von ihnen, inklusive mehrerer Zeitungsredaktionen, sich in die Irre geführt fühlten, als sie später das Szenario aus anderer Perspektive sahen. Warum ARD und ZDF mit ihren Formulierungen den Eindruck erweckten, die Politiker hätten sich unter die Massen gemischt und „Seite an Seite“ mit dem Volk demonstriert.

Natürlich ist der Vorwurf einer „Verschwörung“ absurd, wenn etwa das Erste selbst am Nachmittag in seiner Live-Übertragung auch gezeigt hat, wie die Politiker getrennt vom Rest der Menschenmenge liefen. Aber deshalb ist doch nicht die Kritik an den Medien absurd, die in ihren Nachrichten und Fotos einen gegenteiligen Eindruck erweckt haben. Deshalb ist doch nicht die Frage unberechtigt, ob unter anderem die „Tagesschau“ ihren Zuschauern nicht diese Information hätte mitliefern sollen.

Ja, Herr Gniffke, fast alles ist Inszenierung. Und je häufiger Medien in einer Welt, in der das Publikum skeptisch geworden ist und sich aus ungezählten anderen Quellen informieren kann, diese Inszenierungen kenntlich machen, indem sie einfach mal einen Schritt zurücktreten, aufzoomen, zur Seite schwenken, umso größer ist ihre Chance, auch in Zukunft noch als glaubwürdig zu gelten. Wir brauchen viel, viel mehr Dekonstruktionen der Inszenierungen und Scheinwirklichkeiten. Dass Gniffke das nicht nur nicht versteht, sondern auch noch zurückpöbelt, lässt für die „Tagesschau“ das Schlimmste befürchten.

Wenn er weniger wütend gewesen wäre, hätte er es vielleicht geschafft, einen Teil der Kritik sachlich zu entkräften. Die Aufnahmen entstanden nämlich nicht in einer einsamen Seitenstraße, sondern durchaus auf der Strecke, die auch für den Trauermarsch genutzt wurde: auf dem Boulevard Voltaire. Insofern ist die Aussage nicht ganz falsch, dass die Politiker den „Republikanischen Marsch“ anführten – nur halt mit erheblichem Abstand.

Davon liest man bei Gniffke allerdings nichts. Stattdessen appelliert er:

Halten wir es doch einfach mal aus, dass es eine große Geste von Millionen von Menschen und zahlreichen Politikern gab, an der nichts auszusetzen ist.

Andere Journalisten hatten durchaus eine Menge an dieser „großen Geste“ auszusetzen, und das kann man mögen oder lästig finden, aber das gehört durchaus zur Aufgabe eines Journalisten, ein schönes, gefühliges, scheinbar stimmiges Bild zu stören. Es spricht Bände über das Selbstverständnis des Chefredakteurs von ARD-aktuell, dass er lieber die perfekte Inszenierung bewahren will, den Schein, das gute Gefühl: Halten wir das doch einfach mal aus.

Nachtrag, 14. Januar, 18:10 Uhr. Kai Gniffke hat im „Tagesschau“-Blog einen im Ton versöhnlichen Nachtrag veröffentlicht.

Von Putinverstehern und Journalistenverstehern

Man kann es sich natürlich so einfach machen wie Udo Grätz, der stellvertretende Chefredakteur des WDR. Der twitterte als Reaktion auf meinen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ über die wachsende Kritik an den etablierten Medien:

Weiterhin. Er hätte angesichts der vielstimmigen und keineswegs immer unbegründeten Kritik an der Arbeit auch seiner Redaktionen wenigstens sagen können: „Noch präziser arbeiten“, aber selbst das war wohl schon zuviel verlangt.

Nicht beirren lassen, das ist eine Reaktion auf den spürbaren Gegenwind, den die Mainstream-Medien derzeit erfahren. Was mich, je nach persönlicher Stimmung, wütend macht oder besorgt, ist diese Selbstgewissheit, die aus manchen Reaktionen etablierter Medien auf die Kritik spricht (und natürlich vor allem auch den Nicht-Reaktionen); die Überzeugung, dass man sich nichts oder jedenfalls nichts Gravierendes vorzuwerfen hat; die Diffamierung der Kritik als von Russland gesteuert.

Ich weiß es ja auch nicht. Ich weiß nicht, wie viele Kommentatoren von Russland gekauft sind, so wenig wie ich weiß, wie viele Journalisten von den Vereinigten Staaten gekauft sind. Vielleicht bin ich da naiv, wenn ich in beiden Fällen die jeweilige Verschwörungstheorie so lange für unwahrscheinlich halte, wie ich das Verhalten der Betroffenen auch anders erklären kann.

Und es sind ja, im Fall der Kritiker, nicht nur irgendwelche anonymen „Trolle“, die das Gefühl haben, dass sie von den Medien nicht umfassend informiert werden. Es sind nicht nur die Paranoiker und Leute, die mit Hysterie Geschäfte und Politik machen wie Ulfkotte und der Kopp-Verlag oder die Bindestrichphobiker von den „Deutschen Wirtschafts Nachrichten“. Es sind zum Beispiel auch die Nachdenkseiten von Albrecht Müller, die einer politischen Nähe zu Kopp & Co. unverdächtig sind. Und es sind, glaube ich, tatsächlich unauffällige, politisch interessierte und zunehmend von den Mainstream-Medien desillusionierte Menschen.

Ein Leser schreibt mir:

Ich selbst gehöre auch zu den Einwohnern Deutschlands, deren Vetrauen in die Medien dieses Landes in den vergangen Wochen besonders gelitten hat. Um jegliches Missverständnis auszuräumen: Ich habe nie in einem Internetformum oder im Kommentarbereich irgendwelcher Medien Beiträge gepostet oder mich als Troll betätigt.

Ich habe mir einfach nur eine kritische Berichterstattung zu den Dingen gewünscht, sei es in der Ukraine, Syrien oder von einem der sonstigen Kriesenherde der Welt.

Als besonders frustrierend dabei habe ich empfunden, wie Medien teilweise die von den Zuschauern/Lesern angebrachte Kritik beim Thema Ukraine aufgenommen haben: Als Antwort darauf wurden auch auf den Seiten der FAZ Artikel darüber veröffentlicht, dass vom Kreml gesteuerte Agenten die Foren zumüllen und Propaganda betreiben. Nicht gerade das was man souverän nennt.

Ich selbst hatte vor einigen Jahren das Buch von Peter Scholl Latour über Russland gelesen. Meine Meinung zum aktuellen Konflikt fußt wesentlich auf diesem Buch. Mir dann pauschal zu unterstellen, ich wäre mit meinen Ansichten Opfer oder gar Teil eines von Moskau gesteuerten Netzwerks, finde ich schon ein besonders starkes Stück. Wie soll ich dann solchen Institutionen Vetrauen schenken? Man wundert sich eben.

Auf Twitter schrieb mir jemand:

Ich habe mich erkannt. Ich bin in den 80ern in der BRD aufgewachsen. Grundkoordinate war, dass „wir“ die „Guten“ sind, nicht die DDR. Ich habe am 2. Mai das Odessa Massaker im Livestream gesehen, wie aus Fenstern Fallende am Boden liegend tot geschlagen wurden. Die deutschen MSM [Mainstream-Medien]: Bei einem Unglück (!) sind auf unbekannte Weise (!) durch einen Brand (!) Menschen verstorben. Das hat alles, an was ich geglaubt habe (wir sind die Guten!), zerstört und eine lodernde Wut entfacht, die bis heute andauert.

Marco Herack schrieb schon im April in seinem FAZ.net-Blog „Wostkinder“:

Und fürwahr, es gab in den letzten Jahren wohl nur wenige Diskurse, in denen die Meinung zwischen den Gatekeepern und den Bürgern soweit auseinanderging wie in Bezug auf die Ukraine. Während die Artikel klar gen bösen Putin weisen, erschöpfen sich viele Leserkommentare in genau dem Gegenteil. Nicht Putin ist der Böse, man äußert ein gewisses Verständnis und zweifelt an dem Treiben der eigenen Regierung. Umfragen deuten darauf hin, dass es sich hierbei keineswegs um Russen handelt, die im Auftrag von Putin die Kommentarspalten bevölkern. Die öffentliche Meinung, die Bürger dieses Landes, sind schlichtweg anderer Meinung und äußern sie.

Die Reaktion auf diese andere Meinung der Bürger war im Politik-Bereich dieser Zeitung genau das, was man der Lesermeinung vorwarf. Verschwörungstheorie, geäußert von Julian Staib. Aber auch andere Zeitungen zogen nach, zum Beispiels Jens Bisky in der Süddeutschen. Das zeigt vor allem, dass man nicht bereit ist den Fehler bei sich selbst zu suchen. Und warum Worte wie „Systemmedien“ in Mode sind. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Bestsellerlisten Büchern führen, die davon handeln, dass Meinungen unterdrückt werden.

Einer dieser Bestseller ist Udo Ulfkottes Buch „Gekaufte Journalisten“, kommende Woche auf Platz 6 der „Spiegel“-Liste. Ulfkotte ist in vielerlei Hinsicht irre, aber ich halte es für falsch, so zu tun, als gäbe es ihn nicht und als wäre sein Buch kein Erfolg. Es enthält neben absurden Übertreibungen und Verdrehungen bekannte, aber tatsächliche journalistische Skandale, und die atemberaubende Mischung aus beidem macht das Buch brisant und für manchen Leser womöglich glaubwürdig.

Ein anderer Bestseller ist „Wir sind die Guten“ von Mathias Bröckers und Paul Schreyer. Es stellt viele unbequeme Fragen, an die Rolle der Amerikaner und des Westens im Ukraine-Konflikt — vor allem aber auch an die Medien, die diese Rolle so wenig hinterfragen. Es ist von seiner Haltung und seinem Tonfall mit Ulfkottes Pamphlet nicht zu vergleichen, aber es hinterlässt umso mehr das Gefühl, dass es hier eine Leerstelle gibt in der Berichterstattung der etablierten Medien.

Und dieses Gefühl wird dadurch verstärkt, dass es in eben jenen Medien keine große Auseinandersetzung gibt über das Buch. Dass es nicht als Anlass gesehen wird, sich mit den Fragen, die es aufwirft, auseinanderzusetzen — und sei es, sie nüchtern und klar zu beantworten und der Analyse zu widersprechen.

Ich kenne mich da nicht aus. Ich weiß sehr wenig über die Ukraine, und ich bin — anders als gefühlt erstaunlicherweise jeder andere — kein Experte für ukrainische Geschichte, russische Psyche oder die Grenzen des Völkerrechts. Umso mehr bin ich darauf angewiesen, Menschen, die darüber berichten, zu vertrauen. Es gibt vielleicht Dinge, die ich nachprüfen kann, und Aspekte, die mit meinem Vorwissen übereinstimmen. Aber am Ende bleibt ein großer Teil, bei dem ich einem Augenzeugen, einem Reporter, einem Kommentator, einem Medium schlicht vertrauen muss.

Dieses Vertrauen ist an vielen Stellen angeknackst.

Ich glaube nicht, dass viele deutsche Journalisten in irgendeinem engeren oder weiteren Sinne gekauft sind. Ich glaube aber, dass sie nicht unvoreingenommen sind. Dass die Berichterstattung tatsächlich, vermutlich oft unterschwellig und unbewusst, geprägt ist von einer klaren Überzeugung, dass es hier eine gute Seite und eine böse Seite gibt. Dass man den Aussagen der einen Seite prinzipiell glauben kann, bis das Gegenteil erwiesen ist, und den Aussagen der anderen Seite prinzipiell nicht glauben kann, bis das Gegenteil erwiesen ist.

So ließen sich auch die vielen, oft kleinen Fehler erklären, die in der Berichterstattung zuungunsten der russischen Seite zu passieren scheinen. (Die Seite der Kritiker erliegt natürlich demselben Phänomen und interpretiert die Berichterstattung ausschließlich vor der Schablone, dass sie vermutlich falsch, gesteuert und anti-russisch ist und hat eine entsprechend gefärbte Wahrnehmung, die zu Fehlurteilen führt. Viele Anti-Mainstream-Medien-Blogs sind insofern mindestens so voreingenommen.)

Um ein vergleichsweise läppisches Beispiel zu nehmen: Im Frühjahr, als die umstrittene Abstimmung auf der Krim über den Anschluss an Russland stattfand, sahen die deutschen Medien, dass dort durchsichtige Wahlurnen verwendet wurden, und nahmen das als weiteres Indiz dafür, dass es kein Wahlgeheimnis gab und die Wahl also eine Farce sei. Tatsache ist, dass in der Ukraine solche durchsichtigen Wahlurnen Tradition haben. Tatsache ist sogar, dass die OSZE den Einsatz solcher Urnen als vertrauensbildende Maßnahme aktiv unterstützt.

Aber weil die Organisatoren des Referendums böse waren, war klar, dass auch hinter dem Einsatz der für uns ungewöhnlichen Kisten eine böse Absicht stecken musste. Dafür ist gar keine Absprache, keine Verabredung, kein „Kauf“ der Journalisten nötig, nur eine entsprechende Voreingenommenheit, die den Blick auf alles, was passiert, entsprechend prägt — und trübt.

Ich habe bewusst ein kleines Beispiel gewählt, weil es in größeren Zusammenhängen natürlich schnell unübersichtlich und komplex wird; zum Beispiel etwa, wenn es darum geht, welche Vorgänge verfassungswidrig sind. Die Abspaltung der Krim von der Ukraine? Die Absetzung Wiktor Janukowitschs als Präsident?

Mein subjektiver (und natürlich zu pauschaler) Eindruck ist, dass die Berichterstattung über die Vorgänge in der Ukraine von solcher Voreingenommenheit geprägt ist. Dass die etablierten deutschen Medien sich erstaunlich wenig mit den zweifelhaften Umständen der Revolution beschäftigt haben — Bröckers und Schreyer liefern Beispiele dafür.

Gerade das wäre aber nötig. Gerade in einem Konflikt, der so gefährlich ist und uns so sehr betrifft. Viele Medien wirken, als betrachteten sie sich als Teil der Auseinandersetzung; sie kämpfen mit und für „den Westen“ gegen Russland und seinen irren, gefährlichen, skrupellosen Präsidenten. Es ist nicht nur Gut gegen Böse, sondern sogar Wir Guten gegen Die Bösen.

Bröckers und Schreyer schreiben:

Ob sie es selbst nun merkten oder nicht, viele Journalisten hatten im Frühjahr 2014 bereits in den Kriegsmodus geschaltet, dessen Logik vor allem besagte: Traue niemals dem Feind. (…)

Im Ergebnis dient das Vehikel der „russischen Propaganda“, ebenso wie der in anderen Zusammenhängen häufig verwendete Begriff „Verschwörungstheorie“, einer pauschalen Abwertung und Ausgrenzung jeglicher missliebigen Information. Da die vorgeblichen Fakten ja vom Feind stammen und der Feind bekanntlich gerne lügt, ist eine weitere Diskussion von Einzelheiten überflüssig. Ende der Debatte also. Wir sind doch nicht blöd und glauben am Ende noch den Russen — so der mehr oder weniger unterschwellige Tenor.

Es geht dabei nicht darum, der russischen Propaganda blauäugig gegenüberzutreten. Es geht darum, zu erkennen, dass dem russischen Propagandafeldzug nicht auf der anderen Seite Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gegenübersteht; dass auch „der Westen“, die Nato, die „westlich orientierte“ Regierung der Ukraine diesen Kampf um die Meinungshoheit mit allen Mitteln führt. Und zu erkennen, dass es die Aufgabe freiheitlicher Medien ist, gerade auch diese vermeintlich eigene und vermeintlich gute Seite besonders kritisch unter die Lupe zu nehmen.

Ich vermisse dieses Bewusstsein in der Berichterstattung.

Die WDR-Chefredakteurin Sonia Seymour Mikich schreibt im „Medium Magazin“:

Trotzdem gewinne ich dem Rauschen aus dem Netz einiges ab, denn er schärft mein Selbstverständnis als Journalistin. Von Zeit zu Zeit muss das sein! Erst beim Irak-Krieg stellten wir die Grundsatzfrage, ob wir „embedded“ arbeiten dürfen. (Als ob Kriegsreporter zuvor nicht auch mit einer der Parteien „reingingen“.) Erst als CNN beim Bombardement von Bagdad News in Real Time lieferten, beschäftigten wir uns mit den Folgen der beschleunigten Übertragungswege. Und ja, erst bei dieser neuen Eiszeit zwischen Ost und West verdrängen wir nicht mehr, dass unsere Arbeit Propagandastrategien direkt und indirekt beeinflusst. Wir sind Kriegsteilnehmer, ob wir es wollen oder nicht.

Das stimmt, und doch ist der vorletzte Satz erstaunlich umständlich formuliert. Die Arbeit von Journalisten beeinflusst nicht nur Propagandastrategien, sie ist auch von Propagandastrategien beeinflusst — und Journalisten scheinen da erstaunlich wenig Widerstand oder Selbst-Bewusstsein zu entwickeln.

Bei einer Diskussion bei der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises Ende Oktober an Golineh Atai sagte Mikich:

Wir erleben hier einen qualitativen Sprung sondergleichen, mit dem Internet als Echo-Raum. Wo alles, was wir sagen, zehnfach zurückkommt. Verzerrt, gehässig, manchmal kritisch und gut, aber auf jeden Fall schwierig, Arbeit machend und so weiter. (…) Wir machen Nachrichten, Berichte in einer Empörungsdemokratie, die da im Internet unendlich stark auf uns einwirkt, und zwar so einwirkt, dass man sich verkrampft. (…) Wir verkrampfen uns. (…) Ich verkrampfe mich. Wenn ich jetzt überlege, Golineh will einen Bericht machen, meinetwegen über junge russische Demokraten: Macht sie das, um einer Öffentlichkeit, um dieser Internetgemeinde zu sagen, wir sind ja gar nicht so, wir sehen das auch? Oder macht sie das, weil sie journalistische Neugier hat. Diese Verkrampfung halte ich wirklich für einen ganz großen Schaden, und der ist dem Internet vor allem geschuldet.

Ich verstehe, was sie meint, und natürlich dürfen sich Journalisten nicht einschüchtern lassen, nicht von einem oft maßlos formulierenden und unfassbar aggressiv agierenden Mob, und schon gar nicht von persönlichen Drohungen, denen sich Korrespondenten wie Atai offenbar ausgesetzt sehen.

Andererseits höre ich Sätze wie „Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht unter Druck setzen lassen“, wie sie „Spiegel“-Autor Christian Neef formulierte, mit einem Unbehagen. Weil das auch ein bequemes Abtun der Kritik bedeuten kann.

Gerade angesichts der vielfältigen Kritik müsste es doch ein viel stärkeres Problembewusstsein geben in den Redaktionen. Stattdessen passieren absurde Pannen wie der gleich mehrfache grob irreführende Einsatz von alten Fotos zur Illustration aktueller Vorgänge im WDR. Man sollte doch denken, dass Journalisten inzwischen so sensibilisiert sind — sensibilisiert, nicht verkrampft — dass sie den Einsatz jedes Symbolfotos zu diesem Konflikt doppelt hinterfragen. Wie viele „reine Unaufmerksamkeiten“ können denn passieren? Ja, Fehler passieren immer und überall und lassen sich nicht vermeiden, aber kann man vom Qualitätsjournalismus wirklich nicht verlangen, unbestätigte Meldungen über angebliche russische Truppenbewegungen in der Ukraine nicht mit Fotos von russischen Truppenbewegungen in Russland zu bebildern, wie es die „Frankfurter Rundschau“ gerade wieder gemacht hat?

Und wie ist es zu erklären, dass ARD-Korrespondent Udo Lielischkies, der von den Kritikern besonders massiv angegangen wird, nach der Parlamentswahl in der Ukraine in der 20-Uhr-„Tagesschau“ zur Legitimation dieser Abstimmung sagte: „Mit einer Wahlbeteiligung von gut 52 Prozent immerhin höher als der Durchschnitt der letzten drei Parlamentswahlen“ — wenn es mit Abstand die niedrigste Wahlbeteiligung war?

(Soviel zum Thema „weiterhin journalistisch präzise arbeiten“, Herr Grätz.)

ZDF-Chefredakteur Peter Frey hat bei der Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis-Diskussion gesagt, das ZDF habe eine Art internen Qualitätszirkel eingerichtet und die eigene Berichterstattung kritisch reflektiert.

Natürlich müssen wir das beachten, was uns da entgegenschlägt. Es darf uns aber nicht im Mark verunsichern. Denn: Die Glaubwürdigkeit der Nachrichtensendungen hat nicht Schaden gelitten. Das Interesse der Zuschauer ist doch groß. Einen Glaubwürdigkeitsverlust der großen Plattformen, „Tagesschau“, „heute“, „heute-journal“, „Tagesthemen“, kann ich nicht erkennen. (…) In dieser Situation ist es gar nicht möglich, keinen Fehler zu machen. Aber am Ende seien wir doch selbstbewusst, dass unsere Redakteure und Korrespondenten, jedenfalls zu 98 Prozent hier, einen Prima-Job gemacht haben.

Es gab Applaus an dieser Stelle.

Ich bin nicht so überzeugt. Ich glaube, dass wir von unseren Qualitätsmedien erwarten können, dass sie genauer berichten. Dass sie weniger Fehler machen, vor allem, wenn es um Krieg und Frieden geht. Dass sie sensibilisiert sind für eine mögliche eigene Voreingenommenheit, was die Berichterstattung kleiner Details angeht, aber auch das große Ganze. Dass sie in einem viel größeren Maße ihre Rolle reflektieren, die Position, die sie einnehmen. Dass sie bewusst die Perspektiven wechseln und sich nicht als Kriegs- oder Konfliktpartei verstehen. Und dass sie sich kritisch und selbstkritisch mit Vorwürfen, wie sie zum Beispiel Bröckers und Schreyer erheben, auseinandersetzen — all das, was die staatlich gelenkten russischen Propagandamedien nie tun würden.

Auf dem Fahrrad zu Al-Qaida: Freie Journalisten werben wie die „Zeit“

Die „Zeit“ hat vor ein paar Tagen eine etwas merkwürdige Werbekampagne gestartet, in der man einigen ihrer Autoren beim Laufen, Fahren und Gefahrenwerden zusehen und beim Reden zuhören, aber nicht beim Reden zusehen kann. Das hat bestimmt irgendetwas zu bedeuten, soll aber hier gar nicht das Thema sein.

Die „Freischreiber“, der Verband der freien Journalisten (bei dem ich Mitglied bin), fanden das jedenfalls eine wunderbare Vorlage für eine Parodie. Für eigene Filme („ebenfalls hochemotionale, sehr persönliche Erzählstücke“), die nicht das Autorensein poetisch illustrieren, sondern sich mit den Bedingungen beschäftigen, unter denen freie Autoren arbeiten.

Anstelle von Wolfgang Bauer, der auf dem Fahrrad fährt und dabei über Al Qaida redet („Ich glaub, die Welt wird zusammengehalten von Emotionen und gesteuert durch Emotionen“) …

… sehen wir zum Beispiel Jakob Vicari, der auf dem Fahrrad zu Al-Qaida fährt („Ich habe dann lange versucht, ein richtiges Gefährt zu bekommen. Ich wollte einen Panzerwagen, wenigstens einen Jeep. ‚Das Fahrrad reicht‘, hat die Redaktion gesagt“):

Auf der „Freischreiber“-Seite kann man sich alle fünf Originale und Parodien ansehen. „Wir begrüßen das Ansinnen, die Menschen und Bedingungen zu zeigen, die Qualitätsjournalismus schaffen“, erklärt der Verband. Der Vorsitzende Benno Stieber sagt: „Gerne nehmen wir diese Einladung an. Lassen Sie uns gemeinsam für Autoren und faire Produktionsbedingungen im Journalismus werben.“

Lichtgestalten, die uns mit Prothesen wärmen: Der „Stern“ malt sich den Fall Pistorius aus

Mein vorläufiger Lieblingssatz des Jahres stand vergangene Woche im „Stern“ und lautet so:

Eine überraschende Wendung scheint bislang nicht in Sicht.

Der Satz hat nicht nur dieses irre innere Flirren — denn wenn es überhaupt etwas gibt, das man mit Sicherheit von überraschenden Wendungen sagen kann, dann doch, dass sie sich nicht vorher ankündigen.

Der Satz schillert noch schöner, wenn man seinen Kontext kennt. Er steht nämlich am Ende eines Artikels über den südamerafrikanischen Sportstar Oscar Pistorius, der seine Freundin Reeva Steenkamp erschossen hat. Am Donnerstag, als der „Stern“ erschien, gab es die überraschende Wendung, dass der Hauptermittler vom Fall abgezogen wurde, weil gegen ihn wegen versuchten Mordes ermittelt wurde. Schon am Tag zuvor, als der „Stern“ in Druck war, musste die Polizei überraschend einräumen, dass sie keine Beweise habe, die die Pistorius‘ Aussage widerlegen, er habe Steenkamp versehentlich erschossen. Und am Freitag kam Pistorius überraschend gegen Kaution frei.

Das lässt den „Stern“ nicht nur alt aussehen. Es lässt ihn schlecht aussehen.

Denn die ganze große Geschichte beruht auf der Annahme, dass Pistorius seine Freundin absichtlich umgebracht hat. Natürlich weiß auch der „Stern“, dass er das gar nicht weiß und benutzt deshalb immer wieder Wörter wie „mutmaßlich“. Aber das hindert ihn nicht, all die Schlussfolgerungen zu ziehen und Interpretationen zu wagen, die man ziehen und wagen würde, wenn man wüsste, dass Pistorius der Typ Mann ist, der aus Eifersucht seine Freundin umbringt.

Und die man nur ziehen und wagen kann, wenn man als journalistisches Medium der Meinung ist, dass man spätestens fünf Tage nach einer Tat alles weiß, was man wissen muss, um zu einem abschließenden Urteil zu kommen, denn was soll danach noch Überraschendes herauskommen?

Das Elend beginnt schon im Editorial, in dem „Stern“-Chefredakteur Thomas Osterkorn die Frage stellt:

Wie kann ein gefeiertes Idol sich zu einer solchen Tat hinreißen lassen?

Gegenfrage: Was für eine Tat genau?

Ein paar Stunden klammerten sich seine südafrikanischen Landsleute an die Hoffnung, es könne ein tragisches Versehen gewesen sein.

Doch mittlerweile deutet nur noch wenig auf einen Unfall hin.

„Mittlerweile“ hier im Sinne von „zwischenzeitlich am vergangenen Dienstag“.

stern-Reporter Marc Goergen, ehemals stern-Korrespondent in Südafrika, machte sich mit dem Fotografen Per-Anders Pettersson sofort auf den Weg nach Pretoria, um Antworten zu finden. Sie sprachen mit Freunden von Täter und Opfer, mit den Ermittlern und recherchierten im Umfeld von Pistorius‘ Haus.

Die Art von großer Recherche also, die sich kaum noch jemand leisten kann. Qualitätsjournalismus.

Auf dem Cover ist die Geschichte mit der Zeile „Oscar Pistorius unter Mordverdacht: Exklusive Fotos“ angekündigt. Das fand man offenbar nicht obszön.

Goergen fängt sein Stück an wie ein Krimi:

Ein Mann, so muss man es sich nach durchgesickerten Polizei-Informationen vorstellen, trägt seine schwer verletzte Freundin die Treppe herunter. Er hält sie in beiden Armen. Sie trägt nur ein Nachthemd. Sie röchelt.

Ihre Arme und ihr Kopf baumeln leblos am Körper. Blut rinnt aus Wunden am Kopf, an der Hand, an der Hüfte. Es tropft auf den schwarzen Marmor der Treppe.

Wir lesen noch einmal, was uns Osterkorn schon erzählt hat:

Ein paar Stunden lang hält sich zunächst noch die Erklärung, Pistorius habe die Frau für einen Einbrecher gehalten, doch mit jeder weiteren Zeugenaussage, jeder weiteren Spur erscheint diese Version unwahrscheinlicher. Reeva Steenkamp, so die Ermittler, wurde mit vier Kugeln aus einer halbautomatischen Taurus, Kaliber neun Millimeter, getötet. Der Waffe von Oscar Pistorius.

Es ist ein Drama, das einen genauso erschüttert wie ratlos zurücklässt: Wie kann ein bewundertes Idol sich zu einer solchen Tat hinreißen lassen?

Es folgt eine weitere Frage, die womöglich mein zweitliebster Satz des Jahres ist:

Hat uns die Lichtgestalt mit den Karbonprothesen nicht nur gewärmt, sondern auch geblendet?

Beim dritten Lesen habe ich zwar gemerkt, dass die Karbonprothesen gar nicht das Dativ-Objekt instrumentale Adverbial des Satzes sein sollen und uns insofern auch weder gewärmt noch geblendet haben, aber der schönen Schiefe des Bildes nahm das nur wenig.

Der „Stern“-Reporter erklärt dann, dass viele Sportstars das Gefühl hätten, sich alles erlauben zu können, und zählt die „ziemlich lange Liste gefallener Sportstars“ auf: Mike Tyson (Vergewaltigung) O. J. Simpson (Verdacht des Mordes an seiner Frau), Tiger Woods („billiger Ringelpiez mit gleich Dutzenden Bardamen und Groupies“), Magic Johnson (HIV-positiv mit über 1000 Frauen geschlafen), Kobe Bryant (Vorwurf der Vergewaltigung).

Und Oscar Pistorius?

Auch Oscar Pistorius muss es kennen, dieses Gefühl, dass einem die Welt zu Füßen liegt.

(sic!)

Nun ist der „Stern“ aber natürlich nicht auf eine psychologische Ferndiagnose angewiesen, sondern selbst nach Südafrika geflogen, um zu recherchieren. Das hier sind die Ergebnisse:

Wen immer man nach Treffen mit Oscar Pistorius befragt, jeder betont dessen Höflichkeit. Er halte Frauen die Tür auf. Er wisse zuzuhören. Er setze sich nicht zu Tisch, bevor sein Gast Platz genommen habe. (…)

Auch Freundinnen von Reeva Steenkamp können sich nicht erinnern, dass die Erschossene jemals Andeutungen über Gewalt gemacht habe.

Der „Stern“-Reporter hat vor Ort sogar eine Freundin von Steenkamp aufgetan, die sie richtig lange kannte und sich zitieren ließ: Mirriam Ngomani. Das kleine Foto von ihr, wie sie mit irgendwem anders vor dem Fernseher sitzt und eine Sendung mit ihrer erschossenen Freundin sieht, muss auch eines der „exklusiven Fotos“ sein, die der „Stern“ auf dem Titel ankündigte, zusammen mit zwei nichtssagenden briefmarkengroßen Aufnahmen von Pistorius‘ Geschwistern vor dem Polizeirevier.

Jedenfalls:

Mirriam Ngomani kannte Steenkamp seit mehr als zehn Jahren. Sie arbeiteten für dieselbe Model-Agentur und wurden Freundinnen. Am Wochenende vor den tödlichen Schüssen waren sie noch gemeinsam auf einer Party. „Reeva hat niemals Probleme mit Oscar erwähnt. Überhaupt hat sie nicht viel über ihn gesprochen“, sagt die Freundin.

Schön, dass man das einmal dokumentiert sieht.

„Aber das war wohl, weil er so bekannt war und sie keine Gerüchte über ihn streuen wollte.“ Ngomani traf die beiden ein paarmal gemeinsam, aber auch sie hat keine düsteren Vorzeichen bemerkt. „Oscar war nett und höflich. Das war’s.“

Oder eben nicht.

Oder eben nicht. Da sind diese Mosaiksteinchen. Jedes für sich unscheinbar, doch im Licht des mutmaßlichen Mordes betrachtet …

Dies wäre vermutlich der winzige Moment gewesen, in dem der „Stern“ die Realität, die wild winkend und gestikulierend vor seinem Redaktionsgebäude stand, hätte wahrnehmen können: Wir wissen nicht, ob Pistorius wirklich einen Mord begangen hat. Wir wissen viele unscheinbare Details, denen wir eigentlich keine große Bedeutung beimessen würden. Wir schreiben ihnen nur eine Bedeutung zu, weil wir wissen, dass der Mann ein Mörder ist, was an sich schon zweifelhaft genug wäre, in diesem Fall aber noch dadurch verschärft wird, dass wir genau das nicht wissen.

Aber der „Stern“ merkte nichts und hielt nicht inne.

… doch im Licht des mutmaßlichen Mordes betrachtet, ergeben sie das Bild eines anderen Oscar Pistorius: eines Adrenalin- Junkies, der das Leben bis zum Letzten ausreizt. Pistorius besitzt mehrere Sportwagen, mit denen er gern mit 250 Stundenkilometern über die Highways bretterte. 2009 raste er mit einem Speedboat in einen Pier hinein und knallte mit dem Kopf aufs Steuer. (…)

Manchmal wirkte es, als ob ein wildes Kind im 26-Jährigen steckte.

Die Frauen an seiner Seite wechselten häufig; er sei der ultimative Playboy, gab eine Ex der Klatschpresse zu Protokoll. Eines seiner Tattoos, den Bibelvers „Ich laufe nicht wie einer, der ziellos läuft“, ließ er sich nachts um zwei spontan in einer puerto-ricanischen Kaschemme in New York in die Schulter stechen. Dann wieder schaffte er sich zwei weiße Tiger an, bis die ihm zu groß wurden und er sie abgeben musste.

Klar, dass so einer ein Mörder wird, wenn er zum Mörder wird. Auch wenn er total höflich den Frauen die Tür aufhält.

Erstaunlicherweise bleiben auch für den „Stern“-Reporter ein paar Fragen offen:

Was also ist in Pistorius gefahren?

War es Eifersucht? Waren es Drogen, Alkohol, Steroide, die bei ihm offenbar gefunden wurden?

Ah, höm. Kleine „überraschende Wendung“: Es wurden keine Steroide bei Pistorius gefunden. Das Mittel, das ursprünglich für ein Testosteronpräparat gehalten wurde, entpuppte sich inzwischen als Potenzmittel auf der Basis von Tierherzen und -hoden sowie Heilpflanzen und Vitaminen.

Weiter im „Stern“:

Was war da los im Haus in der Bushwillowstraat? Informationen aus Ermittlerkreisen legen nahe:

(…) Gegen 1.30 Uhr in der Nacht hörten Nachbarn Lärm und beschwerten sich beim Sicherheitsdienst der Anlage. Um 3.20 Uhr dann die Schüsse. Offenbar, so eine Version aus Polizeikreisen, schoss Pistorius im Schlafzimmer das erste Mal auf Reeva Steenkamp.

Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, in den Konjunktiv zu wechseln? Nein:

Die Kugel traf sie in die Hüfte. Sie schleppte sich ins angrenzende Bad und verriegelte die Tür. Pistorius feuerte dreimal durchs Holz und traf Steenkamp in Kopf, Arm und Hand. Dann rief er seinen Vater an. Der erreichte gemeinsam mit Pistorius‘ Schwester gegen halb vier das Haus — als sein Sohn gerade die sterbende Reeva Steenkamp die Treppe heruntertrug. Einer anderen Version zufolge fielen alle Schüsse durch die Badezimmertür.

Der „Stern“-Artikel endet so:

Das Bett war auf beiden Seiten benutzt. Sowohl Pistorius wie auch Steenkamp hatten offenbar vor der Tat darin geschlafen. Es ist der Moment, in dem der Krimi beginnt — und das Märchen des Oscar Pistorius wohl endet. Eine überraschende Wendung scheint bislang nicht in Sicht. Man kann sich diesen Moment in all seiner Grausamkeit ausmalen. Die Schreie und Schüsse, das splitternde Holz der Tür, das Blut, die Szenen im Schlafzimmer, im Badezimmer, auf der Treppe.

Wirklich begreifen kann man ihn beim besten Willen nicht.

Jaha, „ausmalen“ kann man sich echt viel. Man bräuchte dafür sogar vermutlich keinen „Stern“-Reporter, der eigens samt Fotograf nach Südafrika fliegt, um es für einen zu tun.

PS: Die Konkurrenz von der „Bunten“ fand schon ein Fragezeichen hinter ihrer Schlagzeile zuviel der Seriosität. Da weiß man wenigstens, was man hat. Und vor allem: was nicht.

Lügen fürs Leistungsschutzrecht (4)

Anfang des Monats formulierte Christoph Keese, der Cheflobbyist der Axel-Springer-AG, in einem schriftlichen Interview einen bemerkenswerten Satz. „Die Spitzenverbände der Gesamtwirtschaft“, schrieb er, nähmen zum geplanten Leistungsschutzrecht für Presseverlage „eine neutrale bis aufgeschlossene Haltung an“.

Die Nachfrage eines Lesers in seinem Blog, ob er da konkrete Namen nennen könnte, ignorierte Keese. Er wird wissen, warum.

Im September 2010 veröffentlichten 25 Wirtschaftsverbände, darunter die Spitzenverbände des Handwerks (ZDH), des Handels (HDE) und der Industrie (BDI) eine vernichtende Stellungnahme zu Keeses Gesetzesplänen: „Ein ‚Leistungsschutzrecht‘ für Online-Presseverlage ist (…) in keiner Weise geeignet, den digitalen Herausforderungen Rechnung zu tragen.“ Es werde von ihnen „vollständig abgelehnt“.

Der BDI musste sich dafür von prominenten Verlagsvertretern als dumm beschimpfen lassen. Der Springer-Vorstandsvorsitzende Mathias Döpfner sagte, es könne sich da „nur um Missverständnisse handeln, die wir schnellstmöglich klären“.

Von wegen. Im Sommer vergangenen Jahres wiederholte der BDI seine Kritik und forderte die Bundesjustizministerin auf, auf das Gesetz zu verzichten. Die Zeitungen des Verlages, für den Keese arbeitet, haben ihren Lesern das sicherheitshalber verschwiegen.

Auch aktuell äußert sich der BDI extrem distanziert zu dem Vorhaben und verweist auf ein Gutachten, das er beim Düsseldorfer Institut für Wettbewerbsökonomie in Auftrag gegeben hat. Die Wissenschaftler Ralf Dewenter und Justus Haucap kommen darin zu einem vernichtenden Urteil. Das Leistungsschutzrecht sei „ökonomisch weder erforderlich, um die Produktion von hochqualitativen Inhalten anzureizen, noch ist es geeignet, den Qualitätsjournalismus zu befördern“:

Es behindert den Strukturwandel in der Presselandschaft und konterkariert die Einführung marktkonformer Bezahlmodelle, von denen dann positive Effekte für die Vielfalt und die Qualität der Angebote zu erwarten sind. Alles in allem ist das geplante Leistungsschutzrecht nicht nur überflüssig, sondern schädlich für Innovation, Meinungsvielfalt und Qualitätsjournalismus.

Man sollte annehmen, dass das eine berichtenswerte Wortmeldung ist: Haucap ist prominentes Mitglied der Monopolkommission, die die Bundesregierung in Fragen der Wettbewerbspolitik berät; bis Mitte 2012 war er sogar ihr Vorsitzender. Doch nicht nur bei Springer, auch in der sonstigen Verlegerpresse fand das Gutachten keinerlei Erwähnung.

Bis heute. Heute hat es Justus Haucap mit seiner ablehnenden Position zum Leistungsschutzrecht zum ersten Mal ins „Handelsblatt“ geschafft.

Nämlich so:

Justus Haucap Ein Professor auf Abwegen. Der Regierungsberater taucht in einer Google-Anzeige auf.

Er geißelte die Ökostrom-Förderung mit ihren staatlich festgesetzten Preisen. Er brandmarkte das Vorhaben Hamburgs, dreistellige Millionenbeträge in die Reederei Hapag-Lloyd zu pumpen, als Wettbewerbsverzerrung. Er plädierte bei der Bahn für die Trennung der Sparten Infrastruktur und Transport, um Wettbewerbsdefizite abzubauen. Justus Haucap, Mitglied der Monopolkommission, gerierte sich stets als Kämpfer für den Marktliberalismus — und vergaloppierte sich dabei selten.

Doch nun sorgt der 43-jährige Direktor des Instituts für Wettbewerbsökonomie als Unterstützer für Google für Aufsehen. „Das geplante Leistungsschutzrecht ist nicht nur überflüssig, sondern schädlich für Innovation, Meinungsvielfalt und Qualitätsjournalismus“, lässt sich Haucap in einer ganzseitigen Anzeige von Google zitieren. (…)

Haucap sieht in dem Anzeigenauftritt kein Problem. Das Zitat stamme aus einem Gutachten von ihm, Geld sei keines geflossen. „Ich unterstützen [sic] nicht Google bei einer Kampagne.“

Dennoch herrschte gestern in Berlin Verwirrung. Kritiker Haucaps monierten, so verliere die Monopolkommission als beratendes Gremium der Bundesregierung ihre Überparteilichkeit.

Bei wem gestern „in Berlin“ Verwirrung herrschte, lässt das „Handelsblatt“ vielsagend offen. Aber um anonyme „Kritiker Haucaps“ zu finden, die sein Engagement kritisieren, musste die Autorin vermutlich nicht einmal die Redaktion verlassen oder zum Telefonhörer greifen.

Das passiert also, wenn ein von dem Blatt sonst geschätzter Fachmann zu einem Urteil kommt, das der Verlagslinie widerspricht: Man ignoriert ihn erst und diskreditiert ihn dann, er sei auf „Abwege“ geraten und habe sich „vergaloppiert“.

Welch bittere Ironie: Das „Handelsblatt“ wirft Haucap vor, Google erlaubt zu haben, sein Zitat aus dem BDI-Gutachten zu verwenden, dabei waren die Zeitungsanzeigen offenkundig die einzige Chance, dass diese von den Verlagen unerwünschte Position überhaupt in den Zeitungen erscheint.

Auf den Hund gekommen: Der Wärmestuben-Journalismus der „Zeit“

Die Welt ist nicht gerecht. Die „Financial Times Deutschland“ muss sterben, und Kuschelmagazinen wie „Landlust“ und „Zeit“ geht es bestens.

Die von Giovanni di Lorenzo geleitete Wochenzeitung ist so heimelig und gefühlig geworden, dass sie sich auch als Heizdecke fürs Innere vermarkten ließe. Jan Fleischhauer hat sie neulich als „Führungsblatt des feminisierten Journalismus in Deutschland“ bezeichnet, wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob Frauenmagazine überhaupt noch so emotionalisiert und betroffen und flauschigweich daherkommen wie die „Zeit“ heute.

In dieser Woche macht „Die Zeit“ mit der Frage auf, wie guter Journalismus überleben kann, und das illustriert sie natürlich, wie sonst, mit einem süßen Hund.

(Die Frage, ob der Hund die Gefahr oder der Heilsbringer für den Journalismus ist, ist natürlich reine Ketzerei.)

Nun ist es das eine, seinen Lesern ein warmes Gefühl im Bauch zu machen. Was die „Zeit“ aber auch wie kaum eine zweite kann: sich selbst öffentlich ein warmes Gefühl im Bauch machen.

Beides gleichzeitig versucht Giovanni di Lorenzo in seinem Leitartikel, dessen Überschrift schon alles sagt:

Das Blatt wendet sich

Hierzulande gibt es die wohl besten Zeitungen der Welt. Aber keine Branche betreibt so viel Selbstdemontage.

Er schreibt dann erst, worüber er alles nicht klagen will, weil klagen eh nicht hilft, und scheint dann zur „ungemütlichen Prüfung“ überzuleiten, ob ein Teil der Probleme von Zeitungen nicht „hausgemacht“ sei. An dieser Stelle, schreibt di Lorenzo, sei „allerdings ein Wutausbruch fällig“.

Es stellt sich heraus, dass er das zentrale, hausgemachte Problem der Zeitungen darin sieht, dass die sich selbst nicht gut genug finden. Er beschwert sich unter anderem, dass „Journalisten der Printmedien“ zu „manisch“ das Internet lobgepriesen und ihren treuen und teuren Print-Lesern damit suggeriert hätten, dass sie von gestern sind.

Vielleicht bin ich da als Medienjournalist übersensibel, aber ich lese darin, ein bisschen verschleiert, einen Aufruf, dass Print-Journalisten Print-Marketing betreiben sollen. Es setzt den wenigen verbliebenen professionellen Medienredakteuren bei Print-Medien weiter zu, die sich seit über zehn Jahren dafür rechtfertigen müssen, dass sie über die Probleme ihrer Branche so kritisch schreiben wie es ihre Kollegen bei anderen Branchen tun. Journalismus, der Probleme schonungslos benennt, ist offenbar nur dann eine gute Sache und ein fruchtbarer Prozess, wenn er nicht den Journalismus selbst betrifft.

Abgesehen davon wüsste ich gerne, wo di Lorenzo heute einen überkritischen Umgang der Printmedien mit sich selbst ausmacht. Umgekehrt könnte ich ihm Berge von Artikeln schicken, die sich lesen, als seien die Kollegen längst der verlängerte Arm der Marketing-, Lobby- und PR-Abteilungen ihrer Häuser und ihrer Branche.

Am Ende seines Leitartikels schreibt di Lorenzo, was das gedruckte Medium alles brauche:

Vor allem aber braucht es die Leserinnen und Leser, die in aller Regel wissen, was sie gutem Journalismus verdanken. Allerdings müssen sich die Blätter und ihre Macher diese Zuwendung im buchstäblichen Sinne auch verdienen. Wer für sich selbst keine Wertschätzung empfindet, kann sie auch nicht von anderen erwarten.

Das ist allen Ernstes sein zentraler Punkt. Er endet nicht damit, dass Zeitungen besser werden müssen, sondern dass sie sich selbst besser finden müssen.

Entsprechend versteht sich die Qualitätsjournalismus-Ausgabe der „Zeit“ als Wärmestube für die fröstelnden Kollegen.

Götz Hamann schreibt dort:

Das geschriebene Wort steht am Anfang jeder gesellschaftlichen Debatte, doch nun spürt es die volle Wucht der Digitalisierung. Es geht nicht um jedes Wort, sondern um jene, für die auch die ZEIT steht.

Dass das so ungelenk und grammatikalisch heikel formuliert ist, ist vermutlich die Folge davon, dass die „Zeit“ unbedingt ausdrücklich sagen wollte, dass sie nicht sterben darf. Dass das, was sie sagt, Gewicht hat, Relevanz. Auf beinahe elegante Art definiert sie Qualitätsjournalismus als das, was in der „Zeit“ steht.

Das kann man natürlich machen, und womöglich funktioniert es sogar im Sinne der Auto-Suggestion von „Zeit“-Machern und „Zeit“-Lesern. (Auch wenn es natürlich nicht wahnsinnig hilfreich ist, wenn gleich auf der nächsten Seite der „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann falsch geschrieben ist und ein falsches Alter hat.)

Zusammen mit Bernd Ulrich hat Götz Hamann dann noch „sieben Thesen zum Journalismus“ verfasst, von denen man wiederum eigentlich nur die Überschrift lesen muss:

Die Zukunft ist noch lang

Ich möchte trotzdem die letzte, siebte These vollständig zitieren:

Wird es in zwanzig oder dreißig Jahren noch Autos geben? Facebook? iPhones? Wir wissen es nicht. Wird es in zwanzig oder dreißig Jahren noch Zeitungen geben? Das wissen wir auch nicht. Was wir wissen, ist: Auch in Zukunft wollen die Menschen von A nach B, irgendetwas Autoartiges wird ihnen dabei helfen. Auch in Zukunft kann sich nicht jeder über alles selbst informieren, vermag nicht jeder alles einzusortieren, folglich wird es Menschen geben, deren Beruf es ist, dabei zu helfen, vermutlich werden diese Menschen Journalisten heißen. Solange es Worte gibt, wird es schreibenden Journalismus geben. Und so lange wird dieser Beruf einer der schönsten der Welt bleiben.

Mich hat diese hilflos-verzweifelt-verklärende Flucht ins Pathos unter dem Sinnbild des süßen gephotoshoppten Hundes heute depressiver gemacht als alle aktuellen Untergangs-Nachrichten von Print-Medien.

Der „Tagesspiegel“ hat die „perfekte Lösung“ gefunden, online Geld zu verdienen

Ich bin neulich über Google im Online-Angebot des Berliner „Tagesspiegel“ gelandet. Es empfing mich mit diesem Artikelfragment:

Der ganze Text wird erst angezeigt, nachdem man die gelb markierten Wörter eingetippt hat.

Immerhin antizipiert tagesspiegel.de, dass diese Praxis Fragen auslöst. „Geht’s noch?“, wäre eine der wenigen naheliegenden, die ohne Verwünschungen auskommen. Zur Not ist aber natürlich auch der „Tagesspiegel“-Vorschlag „Warum diese Art der Werbung?“ hilfreich.

Also: Warum diese Art der Werbung? Der „Tagesspiegel“ schreibt:

Verlage stehen im Internet vor besonderen Herausforderungen. Die Leser zahlen gerne für eine gedruckte Zeitung, im Internet ist die Bereitschaft für Nachrichten zu zahlen aber meist nicht vorhanden, obwohl die Kosten für die Verlage in vergleichbaren Größenordnungen liegen. Einige Nachrichtenanbieter fühlen sich bereits gezwungen, auch für ihr Internetangebot Gebühren zu verlangen, um sich finanzieren zu können.

Nun, dem ließe sich jetzt einiges erwidern, aber lassen wir das mal so stehen. Weiter im Text.

Wir wollen Ihnen weiterhin die Qualität bieten, die Sie vom Tagesspiegel kennen.
Für ein kostenloses Angebot sind wir deshalb stark auf die Werbevermarktung angewiesen.

Derzeit testen wir eine neue für den Werbetreibenden attraktive Werbeform. Damit sehen wir eine weitere Möglichkeit, dass wir mit diesen Einnahmen unsere Kosten refinanzieren und langfristig das Gesamtwerbeaufkommen auf unseren Seiten reduzieren.

Ah, das „Gesamtwerbeaufkommen“, gut dass die Kollegen das selbst erwähnen. Es ist nämlich so, dass ich beim Besuch auf tagesspiegel.de in Wahrheit gar nicht von dem Artikelfragment begrüßt wurde, sondern von der Lufthansa:

Je nachdem, welche Werbung gerade eingeblendet wird, macht der Artikel beim Aufruf der Seite den hier rechts grün markierten Teil aus. Alles andere ist Zeug, Gerümpel, Werbegetöse.

Da fühlt man sich als Besucher doch gleich willkommen und denkt sich: Mensch, wie die hier wohl ihren schönen Qualitätsjournalismus finanzieren?

Die tatsächlichen Einnahmen, die der „Tagesspiegel“ mit dieser „für den Werbetreibenden attraktiven Werbeform“ generieren, sind im konkreten Fall aber vermutlich überschaubar, weil der „Werbetreibende“ im Prinzip der „Tagesspiegel“ selbst ist. Qiez.de ist ein Angebot, das im Wesentlichen daraus besteht, Artikel aus dem „Tagesspiegel“ so wiederzuverwerten, dass man beim flüchtigen Blick beinahe denken könnte, es handele sich um eines dieser „hyperlokalen Angebote“, um die neuerdings Wind gemacht wird.

Es trifft ungefähr so zuverlässig meinen Kiez wie jemand, der mit Dart-Pfeilen auf eine Landkarte von Asien wirft, und wirkt dabei fast so belebt wie die Fußgängerzone von Oer-Erkenschwick morgens um halb vier. Aber wenn erstmal genügend Menschen auf tagesspiegel.de Q – I – E – Z – punkt – D – E eingetippt haben, wird sich das bestimmt ändern.

„Brandwall“ nennt der Vermarkter diese Art der Unterbrecherwerbung. Die Firma „Brand Interactive“ ist ganz stolz darauf, sie angeblich erfunden zu haben und nennt sie — ohne erkennbare Ironie — eine Möglichkeit für Verleger, „ihre Inhalte endlich auch im Internet ohne Hürden für den Leser angemessen zu monetarisieren“.

50 Cent bis 1,50 Euro soll der Werbekunde für jeden Leser zahlen, der den geforderten Text eingibt.

Etwas besseres kann sich Peter Neumann, der Gesamtleiter Online der „Tagesspiegel“-Gruppe, gar nicht vorstellen:

„Die brandwall ist die perfekte Lösung zur Monetarisierung unserer Premium-Inhalte im Internet. Danach haben wir seit langem gesucht.“

Dann gratuliere ich herzlich, und biete kostenlos einen Vorschlag, wie man diese perfekte Werbeform noch attraktiver machen könnte: Indem man den einzutippenden Namen in einem lustigen Ratespiel erst entziffern muss, wie bei den beliebten Captchas.

Gern geschehen.

Ein Kartell nutzt seine Macht: Wie die Verlage für das Leistungsschutzrecht kämpfen

Es ist kein Spaß, sich mit dem Kartell aller großen Häuser anzulegen. Wer will Springer, Burda, „Süddeutsche“, „FAZ“, DuMont und die „WAZ“-Gruppe gegen sich haben? Natürlich sagen Mathias Döpfner, Frank Schirrmacher oder Hubert Burda ihren Redakteuren nicht, was sie schreiben sollen. Das wissen die schon von allein.

(Jakob Augstein)

· · ·

Morgen Demnächst will das Bundeskabinett über ein Presse-Leistungsschutzrecht entscheiden. Wenn man den Verlagen glaubt — wozu kein Anlass besteht — geht es um nichts weniger als um Leben und Tod der freien Presse in Deutschland.

Seit gut dreieinhalb Jahren kämpfen die Verlage öffentlich für ein solches Recht, mit dem die geschäftliche Nutzung ihrer frei zugänglichen Inhalte im Internet lizenzpflichtig gemacht werden soll. Ursprünglich sollte schon das Lesen von Online-Medien auf geschäftlichen Computern Geld kosten; inzwischen ist nur noch eine Lex Google übrig geblieben, die Suchmaschinen dafür zahlen lassen will, dass sie kurze Anrisse aus Verlagstexten zeigen, um Nutzer zu deren Seiten zu leiten.

Es sieht im Moment nicht so aus, als ob die Geschichte, wie die Verlage die Bundesregierung dazu brachten, ihre Rechte und potentiell ihre Einnahmen durch ein neues Gesetz deutlich auszuweiten, am Ende aus Verlagssicht eine Erfolgsgeschichte sein wird. Sie ist trotzdem ein Lehrstück: Dafür, wie die führenden deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenverlage ein politisches Klima herstellten, in dem ein solches Gesetz notwendig erschien, und wie sie ihre publizistische Macht dazu benutzten, ihre politische Lobbyarbeit zu unterstützen. (mehr …)

Zukunft soll nicht heißen, dass in der Vergangenheit alles schlecht war

Man kann ja viel gegen Burkhardt Müller-Sönksen sagen, den medienpolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion.

In der vergangenen Woche saß er im Kulturausschuss in der Expertenanhörung zum Thema „Zukunft des Qualitätsjournalismus“ und leitete seine Fragen an die Experten mit Worten ein, die ich wohlwollend als Hommage an Loriot deuten möchte:

Auch von der FDP ganz herzlichen Dank für Ihre Vorträge, die zum Teil übereinstimmend waren. Auch zum Teil sehr lange zurückgegangen sind, auch weit über die jetzige Regierungszeit hinaus, aber eins gemeinsam, und das ist auch das Thema unseres Ausschusses in einer fortgesetzten Serie, nämlich die Zukunft des Qualitätsjournalismus, wobei Zukunft nicht heißen soll, dass in der Vergangenheit alles schlecht war und Zukunft wiederum auch heißen soll, dass wir mit Ihnen zusammen gestalten wollen, was kann der Gesetzgeber oder was kann auch gesellschaftspolitisch geschehen?

Da gibt es ja einen Prozess, den wir selber nicht selbst gestaltet haben. Das ist die Konvergenz im Internet, die stark stattfindet. Und es ist heute noch nicht angesprochen worden, dass sich der Qualitätsjournalismus insbesondere des Prints in einem Konkurrenzverhältnis zu den öffentlich-rechtlichen, staatlich finanzierten Medien befindet.

Und das ganz neue Thema, man könnte fast von fünfter Gewalt sprechen, das sind die Social Media, die aber gerade erst recht nach Qualitätsjournalismus rufen, weil ja dort sehr unreflektiert und undefiniert Informationen kursieren, die überhaupt nicht verifiziert sind und gerade erst recht auch einem Qualitäts-, einem geprüften Qualitätsausdruck mit entsprechendem Hintergrund und Recherche, wie es eben auch schon mal angeklungen ist, bedarf.