(Vielleicht machen Sie sich einfach den Spaß und denken beim Lesen dieses Eintrages daran, wie sehr die Verlage die vermeintliche „Kostenlos-Kultur“ im Internet verfluchen, und fragen sich, für welche der journalistischen Leistungen, die Ihnen gleich begegnen, Sie bereit wären, Geld zu bezahlen, und sei es noch so wenig.)
Seit einigen Tagen zündet das „Hamburger Abendblatt“ ein eindrucksvolles Wahl-Werbe-Feuerwerk für Ursula von der Leyen. Es meldet, dass die Familienministerin eine mögliche Schweinegrippeimpfung von den Krankenkassen bezahlen lassen will. Es berichtet (gleich zweimal), dass die Familienministerin mehr Unterstützung für alleinerziehende Eltern fordert. Es freut sich (gleich zweimal), dass die Familienministerin Hamburgs Familienpolitik für „vorbildlich“ hält. Es meldet, dass die Familienministerin kritisiert, dass die Dienstwagenaffäre von Ulla Schmidt dem Ansehen der Politik schade (was eine gewisse Ironie hat, wenn man nicht nur das „Abendblatt“ liest). Und es freut sich, dass die Familienministerin den Kampf gegen „den Schmutz“ im Internet verstärken will.
Der Wortwechsel zwischen den „Abendblatt“-Redakteuren Jochen Gaugele und Maike Röttger und der Ministerin über die Säuberung des Internets ist ein Dokument journalistischer Arbeitsverweigerung. Nicht nur, dass den Text offenbar vor der Veröffentlichung niemand mehr gelesen hat. Fast jede Frage ist in dem Bewusstsein formuliert, dass Fragesteller und Gefragte sich einig sind. Die „Abendblatt“-Leute legen ihr einen Ball nach dem anderen vors Tor, damit sie verwandeln kann. Sie behelligen sie mit keinem einzigen Argument der Gegner der Netzsperren, die sogar ein ehemaliger Bundesverfassungsrichter für verfassungswidrig hält. Sie fragen zum Beispiel auch nicht, ob die Anhänger der jungen „Piratenpartei“ ein legitimes Anliegen haben. Sie fragen, ob von der Leyen nicht die Sorge habe, dass auch Unions-Wähler sich davon angezogen fühlen können. (Antwort: überhaupt nicht.) Am Ende machen sie sich nicht einmal mehr die Mühe, eine echte Frage zu formulieren.
Die Piratenpartei hat den ehemaligen SPD-Politiker Jörg Tauss aufgenommen, der20wegen [sic] des Besitzes von Kinderpornografie angeklagt ist. Wie kommt Ihnen das vor?
Ja, wie mag Frau von der Leyen das wohl vorkommen, als politische Gegnerin von Tauss, wenn schon die „Abendblatt“-Leute es offenkundig total daneben finden. (Mal abgesehen davon, dass Tauss noch gar nicht angeklagt ist — vorher muss mindestens noch die Immunität des Bundestagsabgeordneten aufgehoben werden. Aber wen kümmern so lästige Details des Rechtsstaates, wenn wir von ekligen Kinderschändern und ihren Verteidigern reden?)
Noch bevor sie ihr Schmierenstück im eigenen Online-Auftritt veröffentlichten, reichten die „Abendblatt“-Leute es an die Nachrichtenagentur dpa weiter, die prompt daraus eine Meldung mit dem Titel „Von der Leyen will gegen rechte Inhalte vorgehen“ machte.
Diese Überschrift ist in jeder Hinsicht überraschend, denn Frau von der Leyen hatte gegenüber dem „Abendblatt“ nichts dergleichen gesagt. Die entscheidende Stelle lautet:
abendblatt.de: Sie argumentieren, Grundregeln unserer Gesellschaft müssten online wie offline gelten. Warum sperren Sie dann nicht auch Internetseiten, die Nazipropaganda verbreiten oder Gewalt gegen Frauen verherrlichen?
Von der Leyen: Mir geht es jetzt um den Kampf gegen die ungehinderte Verbreitung von Bildern vergewaltigter Kinder. Der Straftatbestand Kinderpornografie ist klar abgrenzbar.20Doch [sic] wir werden weiter Diskussionen führen, wie wir Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenwürde im Internet im richtigen Maß erhalten. Sonst droht das großar tige [sic] Internet ein rechtsfreier Chaosraum zu werden, in dem man hemmungslos mobben, beleidigen und betrügen kann. Wo die Würde eines anderen verletzt wird, endet die eigene Freiheit. Welche Schritte für den Schutz dieser Grenzen notwendig sind, ist Teil einer unverzichtbaren Debatte, um die die Gesellschaft nicht herumkommt.
Was Frau von der Leyen fordert, ist eine Debatte. Von „Nazipropaganda“ spricht allein das „Abendblatt“. Die dpa-Schlagzeile „Von der Leyen will gegen rechte Inhalte vorgehen“ ist durch das Interview nicht gedeckt. Sie ist nicht einmal durch die Agenturmeldung selbst gedeckt. An keiner Stelle nimmt der dpa-Text jenseits der Überschrift auch nur Bezug auf „rechte Inhalte“. Der erste Satz zum Beispiel lautet:
Nach der Sperrung kinderpornografischer Seiten will Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) gegen weitere rechtswidrige Inhalte im Internet vorgehen.
„Rechtswidrige“ — vielleicht. „Rechte“ — keine Rede.
Das ist schon ein außerordentlich grober Schnitzer für eine Nachrichtenagentur. Aber können wir bitte auch endlich über die unsägliche Praxis reden, dass es genügt, dass irgendein Medium eine E-Mail mit angeblichen Vorabinformationen an eine Nachrichtenagentur schickt, um sämtliche die wenigen verbliebenen Prüfmaßstäbe außer Kraft zu setzen?
Ich meine, ein Blatt wie „Die Aktuelle“, das sich nicht schämt, über einen Menschen auf seinen Titel zu schreiben, er habe sich „zum Sterben in die Berge“ zurückgezogen, ein Blatt, das, wenn es nicht auf Papier, sondern im Internet erschiene, Frau von der Leyen und ihren Freunden vom „Abendblatt“ sofort als Beweis für die Notwendigkeit einer Schmutz-Säuberung diente, ein solches Blatt teilt dpa mit, was es herausgefunden hat, und dpa bringt das dann unters Volk.
Anderes Beispiel: „Die Welt“ tut so, als habe sie exklusiven Zugriff auf eine EU-Studie über Arbeitszeiten, und dpa, Reuters, epd, AP verbreiten die einseitige „Welt“-Interpretation, ohne die zehn Minuten zu investieren, die es dauern würde, sich bei der Quelle selbst zu informieren und ein eigenes Bild zu verschaffen.
Und diese ungeprüften Agenturmeldungen werden dann wieder ungeprüft weiterverbreitet. Und nicht nur von all den Online-Medien, bei denen das automatisch passiert. Unter dem „Spiegel Online“-Artikel über die Arbeitszeiten-Studie stehen nicht weniger als drei Agenturkürzel. Der Mitarbeiter hat sich richtig Mühe gegeben, seinen Text aus mehreren Quellen zusammenzusetzen — Quellen, die alle auf derselben einseitigen Interpretation durch die „Welt“ beruhen. Den Weg zur Quelle suchte er nicht — so wenig wie seine Kollegen von „Focus Online“ und viele andere. Noch einmal: Er bräuchte dazu keine Kontakte nach Brüssel. Er braucht nur eine Suchmaschine und Englischkenntnisse und ein kleines bisschen Zeit und einen Widerwillen gegen unnötiges Abschreiben.
Aber zurück zur Internetgeschichte vom „Abendblatt“ und Frau von der Leyen. Obwohl einem Redakteur schon bei einer flüchtigen Prüfung auffallen müsste, dass die dpa-Überschrift nicht von der dpa-Meldung gedeckt ist, tauchte die grenzwertige Meldung mit der Falschüberschrift zum Beispiel bei „Focus Online“ auf.
Heute Nachmittag hatte die Agentur dann endlich ihre Hausaufgaben gemacht — vielleicht hat sich auch nur das Familienministerium selbst gemeldet, um auf den Irrtum hinzuweisen –, jedenfalls brachte dpa um 15:23 Uhr eine Art Korrektur mit dem Titel:
Ministerium: Von der Leyen nicht für mehr Internetsperren
Und damit kommen wir zum erwartbaren, vorläufigen Ende dieses Trauerspiels mit vielen Beteiligten. Denn die Leute von „Focus Online“ bringen zwar nun die neue richtige dpa-Meldung statt der alten falschen, aber weisen natürlich an keiner Stelle darauf hin, dass sie selbst mehrere Stunden lang das Gegenteil dessen behauptet hatten, was sie jetzt behaupten. Die alte Adresse (http://www.focus.de/…/familie-von-der-leyen-will-gegen-rechte-inhalte-vorgehen…) leitet einfach auf die neue um (http://www.focus.de/…/familie-ministerium-von-der-leyen-nicht-fuer-weitere-sperren…) Auch bei „Focus Online“ werden nicht einmal die elementarsten Regeln für einen transparenten Umgang mit Korrekturen eingehalten.
Darüber müssen wir endlich reden — über Mindeststandards beim Recherchieren und Korrigieren. Und dann können wir gerne über neue Bezahlmodelle reden. Die Leistung, die die beteiligten Medien am Sonntag wieder zeigten, ist selbst umsonst noch zu teuer.
(Kunstpause.)
Und während all diese vermeintlich professionellen Journalisten mit Nichtnachdenken und Nichtrecherchieren beschäftigt waren, hat der Rechtsanwalt Udo Vetter in seinem Lawblog diese fundierte Analyse der tatsächlichen Äußerungen von der Leyens veröffentlicht.
[via Spiegelfechter]