Presserat

Zur Sache, Kätzchen. Der Presserat wird fünfzig. Er tut niemandem weh — außer denen, die sich von ihm wirksame Selbstkontrolle erwarten

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Fragen Sie mal einen, der Publizistik studiert hat oder auf der Journalistenschule war, nach dem Deutschen Presserat. Reflexartig wird er antworten: „Der zahnlose Tiger“.

Seit Generationen klebt diese Metapher am Selbstkontrollorgan der Presse, und zu den größeren Irrtümern gehört der Glaube, daß es sich dabei um Kritik handele. In Wahrheit schmeichelt ihm das Bild vom „zahnlosen Tiger“, weil es den Eindruck erweckt, er würde zubeißen, wenn er nur könnte. Nein, der Presserat ist etwa so angriffslustig wie ein Goldfisch und so agil wie eine Riesenschildkröte.

Da war doch diese Debatte, ob es ethisch vertretbar sei, daß „Bild“ über einem Foto der entführten Susanne Osthoff titelte: „Wird sie geköpft?“ Anfang Dezember diskutierte darüber „ganz Deutschland“. Der Presserat diskutiert darüber Anfang März. In die Debatte konnte er nur Wasserstandsmeldungen über die Zahl der eingegangenen Beschwerden werfen und auf das aufwendige Verfahren verweisen, das eventuellen Rügen, Mißbilligungen oder Hinweisen vorausgeht. Fragt man aber Lutz Tillmanns, den Geschäftsführer des Presserates, sieht er da keinen Anachronismus: „Ein Aktualitätshype ist nicht unser Ding. Ich sehe keine Gefahr, daß wir mit unserer Entscheidung zu spät kommen – wir wollen ja auch präventiv wirken.“

Das ist auch so ein Mißverständnis: Alle diskutieren und schauen dann erwartungsvoll auf den Presserat, daß der den Schiedsrichter gibt. Der Presserat aber sagt: „Hey, war doch grad so ’ne interessante Diskussion, macht ruhig weiter, irgendwann mische ich mich vielleicht ins Gespräch und geb‘ euch ein paar Gedanken für die Zukunft mit auf den Weg.“ Tillmanns formuliert es so: „Wir sind kein Polizist, sondern ein Spieler unter vielen. Das Besondere an uns ist allerdings, daß wir die einzige institutionalisierte Einrichtung freiwilliger Selbstkontrolle sind.“

Das gibt dem Presserat, theoretisch, Gewicht. Und praktisch? Nach dem eigenen Selbstverständnis sollen die Entscheidungen des Gremiums ein Leitfaden für Journalisten sein. 2003 mißbilligte der Presserat die „unangemessen sensationelle“ Berichterstattung des „Sterns“ über den „Kannibalen von Rotenburg“. Die „detaillierte Schilderung der Zubereitung und des Essens von Körperteilen“ gehe über ein begründbares Informationsinteresse der Öffentlichkeit weit hinaus. Und nun liest man die Berichte der Boulevardzeitungen über den Revisionsprozeß und fragt sich, ob die den Spruch kennen.

Unveröffentlichte Rügen

Wenn Zeitungen oder Zeitschriften gegen den Pressekodex verstoßen, kann der Presserat sie „öffentlich rügen“. Das ist seine schärfste Sanktion. Diese Rügen sollen die Gerügten dann abdrucken – so steht es im Pressekodex, und dazu haben sich, nach heftigen Auseinandersetzungen in den achtziger Jahren, die Verlage verpflichtet. Doch tun sie es nicht, hat der Presserat kein Mittel, sie zu zwingen – außer natürlich, sie zu rügen.

„Unsere Sanktionsmöglichkeiten sind effektiv und werden ernst genommen“, widerspricht Tillmanns, „insgesamt wird die Pflicht zur Rügenveröffentlichung branchenweit akzeptiert.“ Aber wenn es um heikle, umstrittene Fälle geht, keine Pannen, die die Verlage zähneknirschend einräumen, fehlt dem Presserat jedes Druckmittel. Schlimmer noch: Er zieht sich zurück auf eine Position des freundlichen Abwartens. Eindrucksvoll demonstriert das der lange schwelende Konflikt zwischen Presserat und „Bild“. Sechs öffentliche Rügen, die das Blatt 2004 kassierte, hat es nicht abgedruckt. Tillmanns sagt: „Ich bin zuversichtlich, daß das noch passieren wird. ,Bild‘ hat uns nichts Gegenteiliges mitgeteilt. Diese Rechnung ist noch offen, aber es ist klar, daß es keine offene Rechnung bleiben darf.“ Es klingt nicht, als ob er mal den Gerichtsvollzieher rufen wolle.

Um die Treuherzigkeit dieser Haltung richtig zu würdigen, muß man sie mit der Aggressivität vergleichen, mit der die „Bild“-Zeitung ihren Standpunkt formuliert: Mehrere Rügen seien „unter schweren Verstößen gegen die Verfahrensordnung zustande gekommen“. Chefredakteur Kai Diekmann habe den Presserat „umgehend schriftlich um Klärung gebeten, aber über sieben Monate keine Antwort erhalten“. Nach einem gemeinsamen, unbefriedigenden Gespräch habe „Bild“ den Presserat im September 2005 erneut gefragt, wie nun verfahren werden solle – eine Antwort stehe aus.

Na, da können ja beide Seiten noch ein bißchen warten, kommt auf ein Jahr mehr auch nicht mehr an. Vielleicht platzt vorher in China noch ein Sack Reis.

Vor drei Jahren, es ging um die „Miles & More“-Affäre, nannte Diekmann den Presserat ironisch den „Gralshüter der sauberen Recherche“. Die „Zweifel an der Wahrhaftigkeit“ der „Bild“-Vorwürfe stellten „die Sinnhaftigkeit dieser Institution in Frage“. Auf die Frage, ob „Bild“ die „Sinnhaftigkeit“ des Presserates immer noch in Frage stelle, antwortet „Bild“-Sprecher Tobias Fröhlich heute: „Nur der Presserat selbst kann seine Sinnhaftigkeit erschüttern, beispielsweise durch Verfahrenswillkür, Parteilichkeit oder derart kryptische Begründungen, daß die Entscheidungen für die tägliche Redaktionsarbeit mangels klarer Vorgaben unbrauchbar sind.“

Man kann es auf einen einfachen Punkt bringen: Die Urteile des Presserates gelten in der Branche fast nichts. Nicht nur „Bild“ gibt sich unbeeindruckt. Der „Tagesspiegel“ etwa, der für eine Serie über „besonders attraktive Angebote“ von Autohäusern gerügt wurde, weil sie nach Ansicht des Presserates Schleichwerbung darstellte, druckte unter die Rüge den Hinweis, die Reihe werde „ungeachtet der Rüge“ fortgesetzt. Und der „Bote vom Untermain“ veröffentlichte vor zwei Wochen eine „Mißbilligung“ durch den Presserat – und erläuterte gleichzeitig, warum er anderer Meinung bleibt.

Das ist okay. Presserats-Geschäftsführer Tillmanns sagt: „Wir würden nie an so einem Redaktionsschwanz Anstoß nehmen. Dadurch setzen sich die Redaktionen mit der Kritik öffentlich auseinander. Man kann allerdings niemanden zwingen, Erkenntnisse zu akzeptieren.“ Anscheinend ist für den Presserat jede öffentliche Kritik am Presserat auch ein willkommenes Argument gegen den Verdacht, weitgehend ignoriert zu werden. Konfrontiert man Tillmanns mit Internetseiten, auf denen sich Beschwerdeführer bitter beklagen, daß Zeitungen für ihre Verstöße nur mißbilligt wurden, nicht gerügt, so daß nicht einmal eine Veröffentlichungspflicht besteht, nimmt er selbst dies als Beleg dafür, daß Mißbilligungen wirken.

Zaghafte Reformen

Es wäre ein Fehler, die Entscheidungen des Presserates nicht wie Diskussionsbeiträge zu behandeln, sondern wie richterliche Urteile. Aber natürlich machen Menschen immer wieder diesen Fehler. Die Zeitschrift „Öko-Test“ hatte 2004 mehrere Vaterschaftstest-Labore getestet, aber nach Ansicht des Presserates ihre Auswahlkriterien nicht offengelegt. Er sprach eine „Mißbilligung“ aus, die den Labors dann in einem Rechtsstreit gegen „Öko-Test“ als Argument gegen die Zeitschrift diente. „Öko-Test“ klagt deshalb nun seinerseits gegen den Presserat wegen der ausgesprochenen Mißbilligung (eine irgendwie geartete Einspruchsmöglichkeit gegen Presserats-Entscheidungen gibt es sonst nicht). In der ersten Instanz wird die Zeitschrift wohl unterliegen; der Presserat argumentiert, es handele sich bei seiner Entscheidung nur um eine „Meinungsäußerung“.

Die Kritik am Presserat ist nicht neu. Nachdem sie vor zwei Jahren besonders heftig aufflammte, gab es einige zaghafte Reformen: Beschwerdeführer und
-gegner erhalten nun ausführlichere Bescheide, die Öffentlichkeitsarbeit wurde intensiviert, erstmals wurde die Spruchpraxis auf CD-Rom veröffentlicht (allerdings ohne den Namen der gemaßregelten Presseorgane zu erwähnen – der Presserat will auf keinen Fall, daß man seine Entscheidungen als „Pranger“ verwenden kann, selbst dann nicht, wenn zum Beispiel eine Zeitung wie „Bild“ Jahr für Jahr für unzulässige Berichte über Selbstmorde ermahnt wird). Forderungen wie die, die Sitzungen der Beschwerdekammern öffentlich zu machen und nicht nur Vertreter von Verleger- und Journalistenverbänden entscheiden zu lassen, kann und will der Presserat aber nicht erfüllen. Immerhin soll bis November, wenn der Rat seinen 50. Geburtstag feiert, der Pressekodex überarbeitet und modernisiert werden.

Darauf wollten die Mitglieder des Netzwerkes Recherche nicht warten. Sie verabschiedeten gestern in Berlin als Gegenentwurf einen Medienkodex. Darin steht zum Beispiel, daß Journalisten keine PR treiben (obwohl diese Mischung angesichts knapper Honorare für viele Freie die Existenzgrundlage darstellt) und keine Vorteile annehmen dürfen, auch nicht die beliebten Presserabatte. Möglichkeiten, diese Forderungen durchzusetzen, hat das Netzwerk Recherche noch weniger als der Presserat.

Doch dessen Ziel ist, wenn man es genau nimmt, auch nicht die Verbesserung journalistischer Qualität, sondern die Verhinderung staatlicher Kontrolle. Dafür wurde er 1956 gegründet – und das ist immer noch eines seiner Erfolgskriterien. „Wie erfolgreich der Presserat ist, läßt sich auch an der Zurückhaltung des Gesetzgebers ablesen, Gesetze zu erlassen, die die Grenzen journalistischer Arbeit definieren“, sagt Geschäftsführer Tillmanns.

Um das zu erreichen, genügt es offenbar, auf größere Distanz ein bißchen wie ein Tiger auszusehen. Er muß wirklich nicht beißen können.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

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