Der Gute Mann von Axel Springer

Es ist nicht so schlecht, Mathias Döpfner zu sein. Er muss nur nach und nach, mit jeweils drei bis vier Jahrzehnten Verspätung, dezent andeuten, dass nicht alles so richtig koscher war, was der Verlag, dessen Vorstandsvorsitzender er heute ist, damals gemacht hat, um als Guter Mann von Axel Springer gefeiert zu werden.

Er muss sich dabei nicht einmal Mühe geben.

Am vergangenen Donnerstag meldeten die Nachrichtenagenturen: „Springer-Chef Döpfner bedauert ‚Bild‘-Vorgehen gegen Wallraff“. Das „Handelsblatt“ staunte:

Mathias Döpfner bricht ein Tabu. Der Chef des Medienkonzerns Axel Springer sucht die Aussöhnung mit dem Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff.

Der mutige Tabubrecher hatte sich in einem WDR-Film über die Methoden geäußert, mit denen sich Springer Ende der siebziger Jahre gegen Wallraffs Enthüllungen über „Bild“ gewehrt hatte. Der WDR verbreitete daraus vorab schon das Zitat Döpfners:

„Wenn damals Dinge in unserem Haus gelaufen sind, die sich mit unseren Vorstellungen, mit unseren Werten und im Rahmen unseres Handelns nicht vertragen — und so sieht das aus — dann wollen wir das wissen. Und wir sind gerade mitten dabei, das minutiös zu ergründen und aufzuklären. Und dann auch transparent zu machen. Wir haben nichts zu verstecken, weil, wenn damals Dinge falsch gelaufen sind, dann wollen wir sie heute zumindest wissen, um auch klar zu machen, so was tragen wir nicht mit.“

Das klingt merkwürdig verdruckst: die Kombination aus großer Aufklärerpose („minutiös aufklären“) mit dem Ziel eines zeit- und hilflosen potentiellen Aufstampfens („so was tragen wir nicht mit“).

Im Film geht die Szene mit Döpfner hier noch weiter. Der Autor fragt den Vorstandsvorsitzenden:

„Können Sie da ein konkretes Beispiel nennen? Zum Beispiel das Abhören von Telefonaten?“

Die „Bild“ konnte damals nämlich offenbar — ermöglicht durch eine „untere Ebene des Bundesnachrichtendienstes“, wie Wallraff sagt — seine Telefongespräche in der Redaktion mithören. Döpfner aber schüttelt sofort den Kopf, als der Interviewer nach konkreten Beispielen fragt, blinzelt, blinzelt, blinzelt und winkt dann ab:

„Ich weiß zu wenig. Ich glaube, es gibt noch kein ganz konkretes und abgeschlossenes Bild, aber ich denke, das soll es so schnell wie möglich geben. Uns würde das jedenfalls sehr interessieren und da sollten alle mitwirken, die was wissen.“

Döpfner weiß zu wenig. Er ist wirklich wahnsinnig interessiert an dem, was damals passiert ist. Aber dann doch nicht interessiert genug, um sich einfach zu informieren.

1979 ist Wallraffs Buch „Zeugen der Anklage“ erschienen, eine Art Fortsetzung von „Der Aufmacher“ und in vieler Hinsicht eindrucksvoller, bedrückender, überzeugender als das Protokoll der Hans-Esser-Aktion. Darin findet sich ein Kapitel „Die Parallelschaltung“. Wallraff zitiert ausführlich aus Protokollen, die in der „Bild“-Redaktion von den mitgehörten und aufgezeichneten Telefongesprächen angefertigt wurden. Er veröffentlicht die eidesstattliche Erklärung eines „Bild“-Redakteurs, wonach er 1976 Zeuge wurde:

„wie in der Kölner BILD-Redaktion eine Abhörschaltung an den Privattelefonanschluß des Schriftstellers Günter Wallraff hergestellt wurde. Dabei wurden ein- und ausgehende Telefongespräche des Privatanschlusses von Herrn Wallraff über Tischlautsprecher mitgehört und auf Tonband aufgenommen. Dies geschah im Beisein von sechs Redakteuren und einem Fotografen.“

Wallraffs Buch ist voll sehr konkreter Vorwürfe und sehr konkreter Belege. Und Mathias Döpfner setzt sich zweiunddreißig Jahre später vor eine Fernsehkamera und tut, als wüsste man ja noch nichts über die Zeit damals, als sei das alles eine sehr verschwommene Geschichte, über die sich gerade erst der Nebel lichtet.

Jedem Politiker, jedem Wirtschaftsführer würde eine solche Wurstigkeit von Journalisten um die Ohren gehauen. Aber Döpfner zollt man Respekt für seinen „Tabubruch“, seine leeren Versöhnungsgesten?

Ich kann mir schon vorstellen, dass es eine Gratwanderung für Döpfner ist, mit der langen Verleugnungs- und Rache-Tradition seines Verlages zu brechen. Doch seine Äußerungen im WDR-Film sind unredlich. Er sagt etwa:

„‚Bild‘ war in den sechziger und in den siebziger Jahren so etwas wie der Lieblingsfeind eines linksliberalen intellektuellen Millieus. Und insofern war es sicherlich ein sehr begehrliches Ziel. Und ein journalistisch interessanter Stoff, sich damit auseinanderzusetzen. Und es ist ja sicher so, dass ‚Bild‘ aus heutiger Sicht damals nicht alles richtig gemacht hat und Fehler gemacht hat, und insofern, rein unter journalistischen Gesichtspunkten kann ich [Wallraffs Vorgehen] gut nachvollziehen.“

Nein. Nein.

„Bild“ hat nicht nur „aus heutiger Sicht“ damals Fehler gemacht. Es hätte auch damals schon jedem Beteiligten klar sein müssen, dass die „Bild“-Methoden unzulässig waren. Das ist nichts, wie Döpfner suggeriert, das man erst mit irgendeinem Fortschritt in der Evolution der journalistischen Ethik in den vergangenen drei, fünf, elf Jahren erkennen konnte. Es war erkennbar falsch.

Und es ist auch nicht so, wie Döpfner suggeriert, dass „Bild“ bloß aus ideologischen Gründen von den Linken angegriffen wurde, etwa, weil „Bild“ sich gegen jeden gesellschaftlichen Fortschritt stemmte. „Bild“ war nicht deshalb ein legitimes Ziel für Wallraffs Undercover-Aktion, weil „Bild“ konservative Politik machte. Sondern weil „Bild“ log, manipulierte, Leben zerstörte.

Aus Döpfners Sätzen spricht kein Aufklärer. Sondern jemand, der hinter aufklärerischer Fassade weiter Geschichtsklitterung betreiben will, nur in zeitgemäßerer, erfolgversprechenderer Form.

Döpfner weiter:

„Da ist sicherlich auf Seiten des Axel Springer Verlages einiges falsch gemacht worden. Man hat sich durch diese Rolle als Lieblingsfeind der Achtundsechziger einfach zu sehr in eine Bunkermentalität geflüchtet und hat Positionen verhärtet und verschärft und sich damit auch selbst geschadet. Auf der anderen Seite glaube ich, dass natürlich viele Klischees, die sich damals gebildet haben, Anti-Springer-Klischees, Anti-‚Bild‘-Klischees, vermutlich schon damals nicht richtig waren und auch damals nicht fair waren.“

Auf subtile Weise rückt Döpfner, während er vorgeblich das Verhalten von Zeitung und Verlag damals kritisiert, die „Bild“-Zeitung mindestens teilweise in eine Opferrolle. Ein Opfer, dem von den Achtundsechzigern in einer Weise zugesetzt wurde, dass es sich falsch gewehrt hat.

Dann relativiert er gleich wieder, auf seine unnachahmliche über den Dingen schwebende Art: „Bild“ und Springer hätten teilweise unrecht gehabt, aber die Kritik an „Bild“ und Springer sei auch ungerecht gewesen.

Man dürfte hier jetzt vermutlich wieder nicht nachfragen, ob er dafür mal ein konkretes Beispiel für ein ungerechtes Anti-„Bild“-Klischee nennen könnte, und welche der vielen nicht nur und nicht erst von Wallraff belegten Manipulationen durch „Bild“ einer Überprüfung nicht standhalten. Vermutlich gibt es auch da „noch kein ganz konkretes und abgeschlossenes Bild“.

Natürlich ist es begrüßenswert, wenn Springer jetzt tatsächlich die Vorgänge rund um Wallraffs Enthüllungen aufarbeiten will. Aber wäre es vom Vorstandsvorsitzenden wirklich zuviel verlangt, sich zumindest auf den Stand von 1979 zu bringen, bevor er öffentlich den Aufklärer gibt?

Und die Formulierung „uns würde das jedenfalls sehr interessieren und da sollten alle mitwirken, die was wissen“ klingt für mich frappierend nach der Haltung, die Springer bei späten Dokumentation der unrühmlichen Verlagsgeschichte um 1968 entwickelte. Aus der spät erkannten Notwendigkeit, die eigene Geschichte kritisch zu erforschen, wurde ein Vorwurf an die Kritiker, sich der Debatte zu verweigern — weil die nicht nach Springers historischem Zeitplan und unter Springers Bedingungen diskutieren wollten.

Aber immerhin: Springer ist bei der Auseinandersetzung mit den eigenen Fehlern und Versäumnissen jetzt schon in den siebziger Jahren angekommen. Womöglich dauert es jetzt nur noch zwanzig, dreißig Jahre, bis der Vorstandsvorsitzende sich auch öffentlichkeitswirksam selbstkritisch Gedanken macht, wie „Bild“ in den vergangenen zehn Jahren gelogen, manipuliert, Menschenleben zerstört und ein ganzes Volk wie die Griechen verhetzt hat.

Aber vielleicht weiß man dazu ja einfach noch zu wenig.

Bushido spricht Klartext

Bushidos Dankesrede für den Bambi 2011 in der Kategorie „Integration“ im Wortlaut:

„Einen wunderschönen Abend, meine Damen und meine Herren. Bevor ich jetzt irgendwelche Leute erwähne, denen ich danke, außer die, die mir jetzt gerade winken.

Ich möchte eigentlich gerne ganz, ganz schnell auf den Punkt kommen. Ich hab gehört, ich hab nur 90 Sekunden Zeit, und ich hoffe, dass ich irgendwann mal wirklich jetzt auf die Minute landen kann. Oder auf die Sekunde.

Danke, Peter [Maffay], für die netten Worte, für das Verständnis, was du mir entgegen gebracht hast, und, ähm, ja.

Folgendes.

Es hat mich schon ein wenig erstaunt, 2011, zu erfahren, als ich sozusagen mit dem Bambi, äh, belohnt werden sollte, dass es immer noch so viele Menschen gibt, die anscheinend so viel bessere Sachen hätten machen können, außer sich jetzt darüber aufzuregen oder darüber zu diskutieren, ob ich ihn verdient habe oder nicht.

Ob ich ihn verdient habe — man weiß es nicht genau. Die Jury hat gesagt: Ja, es gibt anscheinend oder wahrscheinlich viele Punkte, die dagegen sprechen, es gibt aber wahrscheinlich ebenso viele Punkte, die dafür sprechen.

Ich möchte darüber gar nicht diskutieren, und ich möchte mich auf gar keinen Fall rechtfertigen. Ich möchte mich nicht schönreden. Ich möchte das, was ich getan habe und wofür ich einstehe, auch überhaupt gar nicht jetzt mit Ihnen diskutieren.

Mir geht es eigentlich um was anderes. Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen machen. Wenn hier jemand sagt, dass ich keine zweite Chance verdient habe, dann ist das sein gutes Recht. Im Endeffekt, so, mich berührt das persönlich nicht, weil meine Mutter jetzt am Fernseher sitzt, und sie weiß, dass alles okay ist.

Dieser Integrations-Bambi steht aber nicht nur für mich persönlich. Okay, ich werd ihn mir auf jeden Fall auf den Kamin stellen, aber: Man sollte bei all diesen schlimmen Worte, die 2011… das Mikrofon wird kleiner, ich hab schon’n bisschen Paranoia, egal.

Und diese Menschen, die aufschreien und mir vorwerfen, oder mir das vorwerfen, vielleicht, wofür ich eine Zeitlang auch eingestanden bin, ja? Vergessen diesen ganz großen Rattenschwanz, der doch eigentlich viel, viel größer ist als Bushido selber. Ich meine, was sollen sie mir tun? Sie können sagen, dass sie mich nicht mögen, und dass ich es nicht verdient habe, aber im Endeffekt wird nix passieren. Wenn sie nicht dafür bereit sind, Leute zu akzeptieren, zu respektieren und vor allem zu tolerieren, die eventuell in einigen Dingen vielleicht ihre eigene Meinung nicht besonders übereinstimmt. So. Und deswegen sage ich noch einmal: Nutzen Sie die Möglichkeit. Denn ich bin bereit, ich bin 33 Jahre, und ich werde heute ganz bestimmt nicht mehr das sagen, was ich vielleicht vor 10 Jahren gesagt habe, warum? Nicht, weil ich Angst habe.

(Beifall.)

Und nicht, weil ich denke, dass mir hier irgendjemand was anhaben, außer die bösen Blicke und die schlimmen Wörter, die fallen. Es geht eher darum, dass ich gelernt habe, dass das, was ich gemacht habe, falsch war.

(Beifall.)

Und es ist mir auch vollkommen egal, wer hier in diesem Raum sagt, ich hab keine zweite Chance verdient. Es interessiert mich nicht.

Lassen Sie uns lieber an die Menschen denken, die eventuell davon profitieren könnten, wenn Sie mich vielleicht akzeptieren und vielleicht in Ihre Bemühungen einschließen, ein bisschen mehr Toleranz oder vielleicht ein bisschen mehr Verständnis zu schaffen, denn: Integration fängt nicht nur bei der Sprache an.

Alle reden darüber, man muss deutsch lernen, dann ist man sofort integriert, das ist Schwachsinn. Ich kann deutsch, eigentlich, kurz nach meiner Geburt hab ich damit angefangen. Und ich glaub, ich kann es heute ganz gut. Trotzdem denken immer noch manche Leute, ich bin nicht integriert. Warum? Weil immer noch nach ihren Taten gewertet wird und.

Ich kann hier nur ans Herz legen, ne? Zum Beispiel „Schau nicht weg“ war eine Aktion, bei der ich teilgenommen habe, warum? Ja, weil man mich gefragt hat. Und warum hab ich nicht Nein gesagt? Weil ich es für richtig und wichtig empfunden habe. Warum hab ich nicht mehr getan, in der Öffentlichkeit? Weil ich nicht gefragt wurde. Ist das Toleranz, ist das Integration, wenn man mich nicht, als vielleicht jemand, der Kontakt zu Menschen hat, die Sie vielleicht in Ihrem Leben noch nie gesehen haben, einfach nicht benutzt wird, beziehungsweise nicht eingebunden wird in die Bemühungen, einfach ein besseres Deutschland zu schaffen?

Ich bin Deutscher. Ich hab mich nie fremd gefühlt in diesem Land. Ich liebe dieses Land. Wir leben in einem wunderschönen Land. Wir haben sehr viel Perspektive in diesem Land.

Und ich glaube, wir Deutsche, die die Möglichkeit haben, sollten eine Menge von unseren Reserven und unserer Energie an die Leute weiterleiten, die es vielleicht noch nicht so sehen wie ich. Und das haben Sie vielleicht bis jetzt versäumt. Ich bin vielleicht auch selber ein bisschen dran schuld, aber ich sag Ihnen jetzt hier wie ich stehe: Es ist nicht aller Tage Abend. Und Sie können’s immer noch gerne versuchen. Und wenn Sie an meiner Tür klopfen, dann werd ich Ihnen die Tür aufmachen. Ich werde Ihnen die Tür nicht vor der Nase zumachen. Egal, ob sie von der Band Rosenstolz kommen, egal, ob sie vom Burda-Verlag kommen. Oder egal, wo auch immer.

Peter Maffay, danke Dir… Darf ich Du sagen? Sind wir auf Du? Ja? Darf ich’s öffentlich sagen, dass wir auf Du sind? Ja? Ich danke Peter Maffay dafür, denn er ist auch jemand, der wahrscheinlich als Paradekünstler in Deutschland gilt. Und ich danke, dass er soviel riskiert hat, und dass er mir den Respekt gegeben hat und mit mir zusammen auf dieser Bühne steht und sagt: Bushido ist okay.

Wie gesagt: Denken Sie an die Menschen, die unsere Hilfe brauchen, mehr brauch ich nicht zu sagen, denken Sie an die stillen Helden, auf Wiedersehen, danke schön.“

(Beifall.)

(Ich konnte mich nicht entscheiden, was die treffendste Überschrift wäre: „Ich möchte mich nicht rechtfertigen“? „Ich möchte nicht mit Ihnen diskutieren“? „Sie können’s immer noch gerne versuchen“? Oder vielleicht doch einfach: „Man weiß es nicht genau“.)

„Breaking Bad“-Star Bryan Cranston: „Die Gier steckt in jedem von uns“

Spiegel Online

Das kann nur böse enden, oder? In der US-Serie „Breaking Bad“ wandelt sich ein langweiliger Chemielehrer zum skrupellosen Drogenboss. Zum Deutschland-Start der vierten Staffel erklärt Hauptdarsteller Bryan Cranston, warum man mit dem Bösen mitfiebert – und verrät, was er bereits vom Ende weiß.

Herr Cranston, werden Sie noch auf „Malcolm mittendrin“ angesprochen?

Bryan Cranston: Das ist eine Generationenfrage. Einige Leute kennen mich von „Malcolm mittendrin“, andere sogar noch von „Seinfeld“ oder älteren Sachen.

Es ist schwer, Sie da überhaupt wiederzuerkennen. Als Zuschauer kann man kaum begreifen, dass dieser lustig-überforderte Vater Hal in der überdrehten Sitcom „Malcolm mittendrin“ und Walter White, der todkranke Chemielehrer in „Breaking Bad“, der zum Drogenproduzenten wird, um für seine Familie zu sorgen, von derselben Person gespielt werden. Wie fühlt sich dieser Kontrast für Sie an?

Angenehm. Es fühlt sich nicht wie ein gewaltiger Wechsel an – ich schätze, einfach, weil ich ihn ja bewusst vollzogen habe. Es ist ein großer Luxus, beides gemacht zu haben, das ist selten. Normalerweise, wenn man für etwas bekannt geworden ist – was ja schon ein großes Glück ist – fällt es schwer, aus diesem Image auszubrechen. Aber ich war nach sieben Jahren „Malcolm mittendrin“ nie versucht, etwas ähnliches zu machen. Ich musste halt nur das richtige Mittel und Material finden.

Haben Sie gezweifelt, ob es Ihnen überhaupt gelingen würde, die Entwicklung des Walter White in all ihren Extremen zu spielen? Wussten Sie überhaupt am Anfang, wie weit es mit ihm bergab gehen würde?

Oh ja, ich wusste, wohin sich das entwickeln würde. Nicht den genauen Weg, aber das Ziel. Nein, die Entscheidung ist mir nicht schwer gefallen. Die meisten Schauspieler haben einen Sinn dafür, riskante Orte erkunden zu wollen. Ich wollte das auf jeden Fall und eine neue Herausforderung annehmen.

Walter White ist ein gelangweilter, langweiliger Durchschnittstyp, der plötzlich entdeckt, wozu er in extremen Situationen fähig ist. All die Abgründe, die er und das Publikum dabei entdecken — müssen Sie die als Schauspieler auch in sich selbst finden?

Die Palette eines Schauspielers besteht aus persönlicher Erfahrung und Vorstellungsgabe. Was einem an persönlicher Erfahrung fehlt, muss man mit seiner Fantasie auffüllen, um es plausibel und nachvollziehbar zu machen. Ich glaube, jeder Mensch trägt das Potenzial zu einer einer Unzahl verschiedener Emotionen in sich. Viele davon schlummern und müssen erst erweckt werden. Im Fall von Walter White war es sicher so: Bevor er die Möglichkeit hatte, an so viel Geld zu kommen, hatte er nicht dieses Anspruchsdenken, diese Gier, die Skrupellosigkeit. Aber im Lauf der Serie entdecken wir, dass das alles in ihm steckt. Es steckt in jedem von uns. Es kommt nur nicht zum Vorschein, wenn es nicht gebraucht wird.

Walters brave, eigentlich grundspießige Frau Skyler macht eine ähnliche Wandlung durch. Als sie hinter das Geheimnis ihres Mannes kommt, entdeckt auch sie ihr Talent zum Lügen und ihre Bereitschaft, eine gute Kriminelle zu werden. Ist das eine Botschaft der Serie, dass wir das alle in uns haben?

Ja, ich glaube, das ist so, und das war tatsächlich eine gewollte Aussage. Walter White wollte Geld machen, um es seiner Familie nach seinem Tod zu hinterlassen. Der Gedanke war altruistisch, aber um sein Ziel zu erreichen, musste er seine Seele verkaufen und etwas werden, was er nicht war. Und in dem Moment verlor er das, was ihn bislang als Mensch ausgemacht hatte. Wann immer jemand das tut, wird er es nie wirklich zurückbekommen. Es ist eine Abwärtsspirale.

„Breaking Bad“ ist in diesem Sinne eine äußerst moralische Serie, weil sie in radikaler Konsequenz und Kompromisslosigkeit zeigt, wohin es führt, wenn man sich auf ein Geschäft wie das mit Drogen einlässt. Andererseits stürzt die Serie den Zuschauer in ein Dilemma: Wir sehen, dass Walter White das moralisch Falsche tut, aber wir drücken ihm die Daumen, dass er damit durchkommt.

Vince Gilligan, der Autor, hat es geschafft, einen inneren Konflikt und ein Drama nicht nur in den Figuren zu erzeugen, sondern auch im Zuschauer. Plötzlich ertappt man sich dabei, wie man hofft, dass ein Mann Erfolg hat, der Drogen verkauft. „Breaking Bad“ löst einen Zwiespalt bei den Zuschauern aus, und es ist fantastisch, wenn das gelingt. Normalerweise ist das Publikum nicht hin- und hergerissen, sondern weiß: Diese Person mag ich, diese nicht. Wir aber lassen diese Grenzen verschwimmen: Ist Walter White ein Guter oder ein Böser? Es gibt keine klare Antwort darauf. Er will seine Familie beschützen, aber es gab einige Entscheidungen, bei denen selbst Walter White selbst zugeben würde, dass er einen Punkt überschritten hat. Er hat lange an seinem Dogma festgehalten, dass er das alles für seine Familie tut, aber wir als Publikum wussten, dass er sich etwas vormacht. Er ist verführt worden: von Macht, Geld, Anerkennung, dem Gefühl, wichtig zu sein, den Risiken, die er eingegangen ist. Das ist wie ein Aphrodisiakum für einen Mann. Jetzt haben wir Walter White entblößt und ich bin bereit, all die dunklen Seiten, seine Hybris und sein Ego zu zeigen – all das, was nicht attraktiv ist, aber ehrlich.

Je weiter die Serie fortschreitet, desto düsterer wird sie. Und je häufiger Walter White über Leichen geht, desto schwerer wird es, ihn noch zu mögen.

Wenn ich ihn spiele, urteile ich nicht über ihn. Ich spiele ihn nur — so ehrlich, wie ich es kann, emotional, intellektuell. Aber wenn ich dann einen Schritt zurücktrete am Ende einer Staffel und mir das ansehe, dann sehe ich natürlich: Oh ja, das ist böse. Er ist auf einem Weg, der nicht gut enden kann. Aber das wusste ich von Anfang an. Vince Gilligan wollte eine Serie schaffen mit einer Hauptperson, die als guter Kerl anfängt und böse wird. Das ist die vorgezeichnete Bahn.

Die Serie wird im nächsten Jahr nach der fünften Staffel enden. Sie kann nicht gut enden, oder?

Das hängt davon ab, wie man „gut“ definiert. Vielleicht ist ein Happy End für Walter White sein Tod. Schauen Sie sich an, was seine Entscheidungen bewirkt haben: Er hat seine Familie in Gefahr gebracht, sein Schwiegerbruder ist zum Krüppel geschossen worden, um ihn herum sterben die Menschen. Man kann in ihm eine Art Krebsgeschwür sehen. Vielleicht ist das beste, was ihm passieren kann, dass er stirbt. Und ich sage das, ohne zu wissen, was Vince Gilligan wirklich vorhat. Ich habe ihn nicht gefragt, und er hat es mir nicht gesagt.

Aber Sie werden es wissen, bevor Sie die letzte Staffel drehen?

Nein. Walter White weiß nicht, was passiert, von Woche zu Woche, von Stunde zu Stunde, sogar von Minute zu Minute. Deshalb gehört es sich für mich nicht, zu weit im Voraus zu wissen, was geschehen wird. Sonst lasse ich beim Spielen vielleicht etwas durchscheinen, was Walter White noch gar nicht weiß.

Der Niedergang des Walter White ist auch ein körperlicher. Er sieht in der vierten Staffel unglaublich geschunden aus. Wie sehr müssen Sie sich tatsächlich ausmergeln lassen während der Dreharbeiten?

Naja, es ist natürlich Make-Up und ich versuche, mich zwischen den Szenen, in denen ich mitspiele, zu erholen. Aber emotional macht man als Schauspieler die Reise des Walter White schon mit. Ich sage jungen Schauspielern immer: Versucht nicht zu schauspielern, sonst könnte man euch beim Schauspielern ertappen. Denkt und fühlt und vertraut darauf, dass ihr das auch ausstrahlt.

„Breaking Bad“ läuft in den USA auf dem kleinen Kabelkanal AMC. Dadurch sind die Freiheiten größer, aber das Budget kleiner.

Ich sehe da nur Vorteile. AMC und andere Kabelknäle hier mussten eine Identität, eine Marke etablieren. Sie suchten deshalb nach Stoffen, die die großen Networks nicht zeigen könnten. Das eröffnete erfahrenen, wunderbaren Autoren die Chance, aufzuschreiben, wovon sie immer schon geträumt hatten. AMC hatte den Mut, das auf Sendung zu bringen. Und Sony Television, unser Produzent, hatte den Mut, das zu bezahlen – und bei jeder einzelnen Episode das Budget zu überschreiten, in der Hoffnung, dass es den Menschen gefallen würde. „Breaking Bad“ ist nichts für die Massen. Diese Serie ist nicht Vanille, sie hat einen scharfen, stechenden Geschmack. Aber genau darum mögen sie viele Leute – weil sie so anders ist. Das Publikum heute ist viel, viel anspruchsvoller als früher. Es verlangt immer höhere Qualität, speziellere und kompliziertere Geschichten und Figuren, keine Stangenware. Das ist das gute an der Explosion neuer Medien und all der Auswahl: Man muss etwas Besonderes machen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Man kann nicht einfach irgendwas Beliebiges, Nettes machen. Es muss jenseits dessen sein, was wir vor 15 Jahren gesehen haben. Es wird keine Serien mehr geben, die sind wie „Mord ist ihr Hobby“ oder „Matlock“ oder „Magnum“. Das ist für immer vorbei. Die sind einfach zu irreal. Damit kann sich der Zuschauer nicht identifizieren.

Hat „Breaking Bad“ Ihnen neue Türen geöffnet?

Ja. Die Serie bekommt in der Branche viel Aufmerksamkeit; die Kollegen lieben sie. Das hat sehr geholfen.

Und die Rollen, die Sie jetzt annehmen, sind vermutlich ganz anders als Walter White.

Ja. Ich will auf keinen Fall wiederholen, was ich zuletzt gemacht habe. Und inzwischen, mit so viel Distanz zu „Malcolm mittendrin“, kann ich mir auch wieder vorstellen, Comedy zu machen.

Haben Sie den Erfolg von „Breaking Bad“ vorhergesehen?

Schauspieler können nur erkennen, ob das Material gut ist. Erfolg vorhersagen können wir nicht. Manchmal hat man alle richtigen Zutaten, aber das Ding will einfach aufgehen. Als ich das Drehbuch zum ersten Mal gesehen habe, war alles, was ich wusste, dass dies eine bemerkenswerte Serie werden würde, wenn sie lange genug auf Sendung bliebe. Und ich wusste: Welcher Schauspieler auch immer das Glück haben würde, Walter White zu sein – es würde sein Leben verändern.

Die SPD rettet ARD und ZDF

Es gibt sie noch, die großen politischen Würfe. Zwei SPD-Politiker haben die Lösung gefunden, wie es die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in Deutschland schaffen können, endlich auch jüngere Menschen zu erreichen. In einem Gastbeitrag für die Samstagausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ verraten sie ihre Gewinner-Formel:

Das ZDF könnte (…) mit seinem digitalen Kanal ZDF Neo die Zielgruppe der 30- bis 49-Jährigen konsequenter ansprechen. Konsequenter bedeutet, einen Marktanteil von etwa fünf Prozent anzupeilen.

Warum ist darauf nicht eher jemand gekommen? Wieso gibt sich das ZDF bei ZDFneo mit Marktanteilen im Promillebereich zufrieden, wenn es doch fünf Prozent anpeilen könnte! Auch jüngere Zielgruppen wären plötzlich ganz leicht zu erreichen, wenn man nur Marktanteile anpeilt, die hoch genug sind. Und wundern Sie sich nicht, wenn die SPD in Zukunft bei Wahlen richtig abräumt: Die Partei wird einfach konsequent Ergebnisse von etwa 40 Prozent anpeilen.

Man könnte lachen über diesen Text, man kann ihn leicht vergessen oder ignorieren, aber er lässt sich auch als trauriges Symbol dafür lesen, was in Deutschland als Medienpolitik durchgeht. Die Autoren sind Martin Stadelmaier, der Chef der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei, und Marc Jan Eumann, der Vorsitzende der SPD-Medienkommission. Beide sind Mitglied im ZDF-Fernsehrat.

Die „Süddeutsche“ hat über den Text geschrieben:

Warum weniger manchmal wirklich mehr ist: Wie sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk verändern muss

Kein Wunder, dass es sich um zwei Fragen handelt. Antworten enthält das Stück nicht.

Aber schon die Fragen, die sich Stadelmaier und Eumann stellen, sind toll.

1. Wie kann der öffentlich-rechtliche Auftrag im Netz so ausgestaltet werden, dass er Qualität und Überblick im Meer der Informationen bietet und regen Zuspruch findet?

2. Wie kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der auf der Basis solider Informationen über die wesentlichen Zusammenhänge in unserer Gesellschaft informiert und damit zur Demokratiebildung durch freie Meinungsbildung beiträgt, den Generationenabriss stoppen, der sich vor allem bei jungen Menschen vollzieht, die sich von ARD und ZDF abwenden?

3. Wie kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk zeitgemäße, den inhaltlichen und finanziellen Herausforderungen entsprechende Strukturen legen?

Die diversen Sprachunglücke in diesen Sätzen sind kein Zufall, sondern Ausdruck davon, dass hier jemand nicht klar denken kann oder wenigstens nicht klar reden will. Ein ausgestalteter Auftrag soll regen Zuspruch finden? Ein Rundfunk soll auf der Basis von Informationen informieren? Durch Meinungsbildung zur Demokratiebildung beitragen? Herausforderungen entsprechende Strukturen legen?

Auf keine der tatsächlichen Fragen, die man hinter diesen Worthaufen erahnen kann, findet der Text auch nur die Idee einer Antwort.

Stadelmaier und Eumann erwähnen kurz die Klage der Verleger gegen die „Tagesschau“-App und fügen hinzu:

Ein scheinbar geeintes Verlegerlager will im Netz Bezahlinhalte durchsetzen. Das ist, um nicht missverstanden zu werden, legitim. Das Vorgehen knüpft damit an die europaweite, kontroverse Diskussion um den Schutz der Urheberrechte beziehungsweise Leistungsschutzrechte an und hat sich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als Angriffsziel ausgesucht. Es ist aber auch eine gravierende Verkennung der Interessenslage, insbesondere der Tages- und Wochenpresse, die auf ihre Art wie ARD und ZDF zu verlässlichen, orientierenden Informationen für unsere Gesellschaft beiträgt.

Ich weiß nicht, was die Urheber- und Leistungsschutzrechte mit dem Thema zu tun haben, aber was weiß man schon von Vorgehen, die sich Ziele aussuchen.

Irgendwie, sagen die SPD-Medienpolitiker dann, sollten die Verlage und die öffentlich-rechtlichen Anstalten gemeinsam „für attraktive Informationsangebote im Internet sorgen“.

Um gerade bei den unter 20-Jährigen die öffentlich-rechtliche Zugkraft im Netz zu steigern, wird es mehr Geld für Kreativität, neuer Angebote und Geschäftsmodelle bedürfen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es ausgerechnet Geld ist, das ARD und ZDF fehlt, aber vielleicht meinen Stadelmaier und Eumann ja eine Umverteilung der Ressourcen. Man weiß es nicht, denn sie schreiben nichts darüber. Auch nicht, was für „neue Angebote“ denn gebraucht werden und vor allem, wie man mit neuen „Geschäftsmodellen“ Jugendliche erreicht. Bis gerade dachte ich, dass das Geschäftsmodell der Öffentlich-Rechtlichen ist, Gebühren zu bekommen und dafür ein gutes Programm zu machen.

Für ARD und ZDF wird entscheidend sein, dass sie sich neue Prioritäten setzen und zugleich von Liebgewordenem trennen.

Was sehnte man sich nach einem Beispiel – oder besser zweien: eins für die neu zu setzenden Prioritäten und eins für das abzuschaffende Liebgewordene. Aber es kommt keines, und damit ist die Abhandlung der Frage 1 auch schon beendet, in der es eigentlich um den öffentlich-rechtlichen Auftrag im Netz ging.

Als Antwort auf Frage 2 referieren die SPD-Männer, dass Jugendliche und junge Erwachsene kaum Angebote von ARD und ZDF im Internet und im Fernsehen wahrnähmen, insbesondere keine Nachrichten. Sie fügen hinzu:

Der gebührenfinanzierte Rundfunk hat (…) die (…) gesetzliche Aufgabe, alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen anzusprechen, insbesondere mit seinen Hauptprogrammen. Dieses Ziel ist heute nicht mehr allein mit den Vollprogrammen zu erreichen, allerdings mit Spartenprogrammen im Marktanteilsbereich von weniger als einem Prozent auch nicht.

Aha: Das Ziel, Menschen mit dem Hauptprogramm anzusprechen, lässt sich heute nicht mehr allein mit dem Hauptprogramm erreichen.

Und: Das Ziel, alle Menschen anzusprechen, lässt sich nicht mit Programmen erreichen, die nur wenige Menschen gucken.

Nun folgt der eingangs zitierte Gedanke, dass ZDFneo doch einfach mehr jüngere Leute erreichen sollte, als es tut, und erstaunlicherweise sogar ein konkreter Vorschlag:

Die Länder sollten dazu einen Konstruktionsfehler der Beauftragung beseitigen, nämlich das Verbot, in den Spartenkanälen (zielgruppenadäquate) Nachrichten zu bringen.

Spätestens beim Wort „Beauftragung“ war ich mir dann sicher, dass sich der Text nicht an mich, geschweige denn einen interessierten fachfremden Zuschauer richtet.

Ich bin durchaus dafür, dass das ZDF auf ZDFneo Nachrichten für junge Leute senden darf — es wäre ein interessanter Versuch, einen öffentlich-rechtlichen Gegenentwurf zu den „RTL 2 News“ zu entwickeln. Aber dass das die Quoten des Senders in die Höhe katapultieren würde, halte ich selbst im besten Fall für unwahrscheinlich.

Zunächst sollten ARD und ZDF ihre Infokanäle aufgeben und Phoenix stärken, indem sie diesen Gemeinschaftskanal in seinen Aufgaben als Ereignis- und Informationskanal stärken.

Eine konkrete Idee, und keine schlechte! Leider lautet der nächste Satz:

Es bliebe dann auch mehr Raum für die beiden privaten Spartenangebote n-tv und N 24.

Die Mini-Kanäle ARD extra und ZDF info sind schuld am Rumpel- und Resteprogramm von n-tv und N24? Das ist schwer zu glauben. Vor allem aber könnte Phoenix genau dadurch, dass es vom Ereignis- zum umfassenden Informationskanal aufgewertet würde, erst recht eine relevante Größe erreichen.

Dann gibt es keinen vernünftigen Grund, sich neben den herausragenden Kultursendern Arte und 3sat kannibalisierende öffentlich-rechtliche Kulturkanäle zu leisten.

Das ist nicht ganz falsch und trifft den Kern überhaupt nicht. Auch arte und 3sat sind längst in einem Maße auf relative Massentauglichkeit optimiert, dass sie für die Experimente, die sich ZDF.kultur leistet, gar keinen Raum hätten. Anders gesagt: Das Problem ist nicht ZDF.kultur. Das Problem sind 3sat und arte.

Aber was red ich, Stadelmaier und Eumann sind im nächsten Satz längst ganz woanders:

Sehr wohl sollten ARD und ZDF allerdings an Silvester je ein Konzert von Mozart und Beethoven übertragen können, ohne dass ihnen daraus ein Nachteil entstünde.

Ich weiß nicht, ob das wegen des „je“ auf zwei oder auf vier Konzerte hinausläuft, aber vor allem: Hä?

Im vergangenen Jahr übertrug die ARD live das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker, das ZDF ebenso live aus der Dresdner Staatsoper ein Konzert der Staatskapelle Dresden. Ihnen wurde daraufhin Gebührenverschwendung vorgeworfen — allerdings, weil beide Sendungen zeitgleich liefern. Wenn den Öffentlich-Rechtlichen daraus „ein Nachteil“ entstand, dann wegen ihrer eigenen Beklopptheit bei der Programmierung (vgl. Parallel-Übertragung der englischen Prinzenhochzeit).

Der Bewusstseinsstrom von Stadlmaier und Eumann endet:

Ein so restrukturierter öffentlich-rechtlicher Rundfunk kann sich mit den Interessen der Tages- und Wochenpresse idealerweise treffen. Beide Seiten könnten sich in der Frage eines anspruchsvollen Journalismus und eines insgesamt anspruchsvollen Medienangebots ergänzen und stärken.

Das „so“ im ersten Satz ist wirklich niedlich. Der Text hat exakt keine Ahnung davon, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk umstrukturiert werden müsste. ARD und ZDF sollen ihre Info- und Kultur-Kanäle schließen und stattdessen junge und noch jüngere Zuschauer erreichen; sie sollen Verwaltungskosten abbauen und vielleicht noch ein paar Orchester schließen. Plattitüden, Phrasen, Lächerlichkeiten.

Die Autoren sind, um es noch einmal zu sagen, die führenden Medienpolitiker der SPD. Martin Stadelmaier ist der vielleicht einflussreichste Strippenzieher auf diesem Gebiet. Und so ein Artikel kommt dabei heraus, wenn er sich mit seinem Kollegen Eumann sagt: Hey, lass uns mal in die „Süddeutsche“ schreiben, wie wir uns die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorstellen?

Man hat danach keine Fragen mehr.

Michael Jürgs‘ Rotz

Wäre dies ein Text von Michael Jürgs, hätte er nicht so angefangen. Es wäre die Beinlänge von Lügen vorgekommen oder die Brechzeit von Krügen — oder irgendeine andere Redensart, die man heute sonst nicht mehr hört, weil man sie schon so oft gehört hat.

Artikel von Michael Jürgs fangen so an:

Es gibt, wie gebildete Leser wissen, mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Schulweisheit sich träumen lässt.

Oder so:

In vordemokratischen Jahrhunderten galt den Gebildeten die aus dem Lateinischen entliehene Lebensformel Quod licet lovi, non licet bovi.

Sicher, es gibt auch Jürgs-Artikel, die anders anfangen, aber die wirken wie Ausnahmen, und Ausnahmen … — aber das wäre schon wieder ein Jürgs-Einstieg.

Michael Jürgs war Chefredakteur des „Stern“, hat mehrere Biographien geschrieben und gilt aus mir nicht bekannten Gründen als geistreicher und witziger Autor, der jedes Blatt schmückt. Außer Redensarten liebt er Metaphern und Wortspiele.

Als er vor zwei Wochen im „Spiegel“ den „Verfall der Sitten“ beklagt, tut er das unter der Überschrift „Kante statt Kant“. Er schimpft über „Handy-Terroristen“, die in Restaurants und Zügen nerven, über Frauen, die ihre Kinder mit Off-Roadern zum Kindergarten fahren und dort in der zweiten Reite parken, über Erste-Klasse-Fahrer, die sich über Obdachlosenzeitungsverkäufer beschweren, über feine Damen, die sich am Taxistand vordrängeln, und generell über Leute ohne Anstand und Sitten wie:

Das fettarschige Leggingsmädchen, geschätzte 16 Jahre alt, das zunächst die Fahrgäste in der U-Bahn herausfordernd mustert, dann den Kaugummi aus dem Mund nimmt, an eine Haltestange klebt, noch mal kräftig Rotz hochzieht und sich dann zungenküssend seinem ebenfalls gepiercten Freund widmet.

Ach, hätten die Gören doch ansehnliche Hintern oder wären wenigstens ungepierct!

Es ist die ewige Klage über das Verkommen der Welt. Sie begleitet den Lauf der Zeit mit ihrem Gegrummel, seit es alte Männer gibt. Jürgs aber sagt, selbst das Schlechterwerden der Welt sei schlechter geworden, denn früher hätten sich nur junge Leute daneben benommen und die Oberschicht und das gemeine Volk, heute aber alle:

(…) sowohl die Prolos wie die Protzler, Pöbler wie Populisten, gehören zum selben Verein.

(Hätte ich erwähnen müssen, dass Jürgs Stabreime mag?)

Er hat keinen Beleg für seinen „Trend weg von Kant, wonach das eigene Handeln stets anderen als Vorbild dienen solte, hin zur Kante, wonach man rücksichtslos gegen andere handeln darf“, aber er sagt, er braucht auch keinen, denn andere haben ja auch keinen. Und dann schreibt er einen sehr jürgs’schen Satz über Trendforscher, in dem er stolz vorführt, wie sehr man sich, mit ein bisschen Mühe, in eitlen Witzen verheddern kann:

Jene Propheten des Unbelegbaren, die auf ihre Art viele Jahre lang bei Gläubigen mit ihren in des Kaisers neuen Kleidern gehüllten Zukunftsprognosen — Horx, was kommt von draußen rein? — erfolgreich waren, haben auch ihre Zukunft hinter sich, seit Krisen in schnellerem Rhythmus passieren, als ihre Prognosen Makulatur sind.

Am vergangenen Sonntag hat Michael Jürgs nun in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ einen Artikel geschrieben, in dem er für den Einsatz sogenannter „Trojaner“ im Kampf gegen Verbrechen plädiert. Er greift dabei zurück auf einen Besuch beim Referat SO 43 des Bundeskriminalamtes, das für Internetkriminalität zuständig ist. Und natürlich erzählt er nicht das, was er dort erlebt hat, ohne vorher zu schreiben:

Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen:

Und so erzählt Jürgs in der „FAS“ über das Referat SO 43:

Dessen Büros, in welchen die Uniformierten Dienst schoben im Kalten Krieg, immer einsatzbereit, falls der Russe überraschend sonntags angreifen sollte — diese Büros sind bevölkert von zivil gekleideten jungen Menschen. Sie sitzen vor Computern und surfen. Ihre Arbeit hat zwar, genau wie die ihrer amerikanischen Vorgänger, zu tun mit Überwachung; doch sie nennen es Monitoring und behalten dabei nicht nur den europäischen Luftraum, sondern die ganze Welt im Auge. Was aussieht wie spielerisches Surfen in einer Start-up-Firma, ist hochprofessionelle kriminalistische Arbeit.

Es ist übrigens, auch wenn mir dazu spontan keine Redensart einfällt, so, dass man nur einmal eine Reise machen muss, um viele Male etwas erzählen zu können. Am 26. Juni 2011 hatte Jürgs in der Samstags-Schwester der FAS über das Referat SO 43 geschrieben:

Die Büros, in denen im Kalten Krieg Uniformierte Dienst schoben, einsatzbereit und allzeit wachsam, falls der Russe überraschend sonntags angreifen sollte, sind heute bevölkert von zivil gekleideten jungen Menschen. Sie sitzen vor Computern und surfen. Ihre Arbeit hat zwar wie die ihrer amerikanischen Vorgänger auch zu tun mit Überwachung — bei denen war es der Luftraum über dem Nato-geeinten Europa –, doch sie nennen ihre Kontrollen Monitoring, und sie behalten dabei die ganze Welt im Auge. Was oberflächlich betrachtet aussieht wie spielerisches Surfen in irgendeiner coolen Startup-Firma, ist in Wirklichkeit kriminalistische Arbeit.

Und auch das war nur ein leicht redigierter Vor Nachabdruck aus Jürgs‘ Buch „Die Jäger des Bösen“ über das BKA, das bereits im März erschienen war.

Nun könnte man wohlwollend annehmen, dass jemand, der eine Reise gemacht hat und seitdem immer wieder davon erzählt, sich mit dem Thema wenigstens auskennt. Es spricht im Falle Jürgs aber nichts dafür.

Er schreibt etwa:

Netztrojaner sind nicht wie die Bewohner Trojas Angegriffene, sondern Angreifer. Sie werden im Kern, dem Quellcode, gezielt zur Eroberung fremder Computerprogramme eingesetzt.

Was mag er mit „im Kern, dem Quellcode“ meinen? Der Quellcode ist das Programm, genauer gesagt seine menschenlesbare Form.

Er nennt die Telekommunikationsüberwachung „TÜK“ statt „TKÜ“. Er schreibt, dass der Paragraph 100 a der Strafprozessordnung „Lauschangriffe unter Strafe stellt“, dabei erlaubt dieser Paragraph gerade Lauschangriffe in bestimmten Fällen; es ist das Grundgesetz, das sie eigentlich verbietet. Er staunt: „Im Internet werden jährlich zweistellige Renditen erwirtschaftet, Tendenz steigend“, was nicht nur in dieser Unbestimmtheit von außerordentlicher Sinnlosigkeit ist, sondern auch das Internet bloß auf eine Profitabilität von, sagen wir, der Axel Springer AG bringt.

Jürgs‘ Argumentation ist filigran wie ein Betonklotz:

Dass BKA-Beamte eigene Meinungen haben über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom März 2010, wonach die bis dahin gebräuchliche Vorratsdatenspeicherung verfassungswidrig ist, überrascht nicht wirklich. Die Statistik aber ist neutral. Seit die Vorratsdatenspeicherung in der bisherigen Form ausgesetzt worden ist, können nur noch in vierzig Prozent aller Fälle die Provider der anfragenden Polizei Auskünfte über IP-Adressen geben, die zu möglichen Tätern führen. Davor waren es über neunzig Prozent.

Die Statistik ist „neutral“? Jedem Journalistenschüler und Volontär würde ein solcher Satz — hoffentlich — schon prinzipiell um die Ohren gehauen.

Jürgs nennt keine Quelle für seine neutrale Statistik. Das BKA spricht davon, dass es zwischen März 2010 und Ende April 2011 sogar in 84 Prozent keine Auskunft von den Providern bekam. Das kann Jürgs aber in seinem Artikel vom 23. Oktober 2011 nicht wissen, weil er den Absatz auch bloß wieder aus seinem bereits im März 2011 erschienenen Buch übernommen hat, wo sich allerdings auch keine Quelle findet.

Aber was bedeutet die BKA-Zahl oder zur Not die von Jürgs? Anders als Jürgs suggeriert, sagt sie nichts darüber aus, wie viele Fälle wegen fehlender Vorratsdatenspeicherung nicht aufgeklärt werden konnten.

In seinem Buch nennt Jürgs die Zahl in einem Absatz, der so beginnt:

Doch wer einmal Fotos von sexuell misshandelten Kindern — oder schlimmer noch: misshandelten Babys — auf den Bildschirmen der Ermittler gesehen hat, wer, was noch unerträglicher ist, ihre hilflos um Gnade bettelnden Stimmen gehört hat und weiß, dass dies die Pädosexuellen und Pädophilen angebotene Realität, dass dies echter Horror ist und kein inszenierter, ist bereit, jedes Gesetz zu brechen, um die Kinder zu befreien.

Das ist der Kern von Jürgs‘ Argumentation in all seiner intellektuellen Schlichtheit: Der Zweck heiligt die Mittel.

Er variiert das in seinem FAS-Artikel in verschiedenen Graden von Perfidie und Naivität. Er beklagt sich allen Ernstes darüber, dass die Internet-Ermittler der Polizei sich an Gesetze und Bestimmungen halten müssen, die Leute, die sie jagen, aber nicht — als sei dieses Ungleichgewicht nicht das Wesen jeder polizeilichen Ermittlung.

Er beschreibt, wie Tausende von Menschen starben, weil sie aufgrund von Fälschern unwirksame oder vergiftete Medikamente bekamen, und fragt:

Falls man durch nicht gar so legal eingesetzte Trojaner solche Kriminellen dingfest machen kann oder Verbrechen verhindert: Wer würde sich darüber beklagen?

Es ist dasselbe Argument, mit dem Folter legitimiert wird. Oder Lynchjustiz. Es bedeutet das Ende des Rechtsstaates.

Man würde das natürlich nicht ahnen, wenn man Jürgs liest, der sein Plädoyer für den Abschied vom Rechtsstaat mit lustigen Wortspielen und abgegriffenen Metaphern mischt.

Der Anfang seines Textes geht übrigens vollständig so:

Es gibt, wie gebildete Leser wissen, mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Schulweisheit sich träumen lässt. Die Vorstellung, man könnte mit Trojanern auf den Schreibautomaten von Charlotte Roche, Walter Moers oder Daniela Katzenberger deren Texte löschen und die Drucklegung der Werke verhindern, ist beispielsweise so ein schöner Traum.

Der zweite Satz hat keinerlei logische Verbindung zum ersten. Aber warum soll man einem Jürgs, wenn man ihm schon die sachlichen Fehler nicht rausredigiert, das Textrecycling nicht übel nimmt und die Angriffe auf die Fundamente unserer Demokratie durchgehen lässt, ausgerechnet den sprachlichen Unsinn aus seinen Texten streichen?

Super-Symbolfoto (90)

Der olle iPod im Bild wäre ein Hinweis gewesen. Oder natürlich „Von hier an blind“ von Wir sind Helden im Neuerscheinungsregal.

Das Foto muss ziemlich genau sechs Jahre alt sein. Das gezeigte iTunes wäre dann nicht die soeben veröffentlichte Version 10.5, sondern Version 5.0, erschienen am 7. September 2005.

Es ist also nur relativ knapp kein Foto von einem Walkman vor der Kassettenwand im örtlichen Musikfachhandelsgeschäft geworden.

[eingesandt von Marcel R.]

Totgesungen

Alles, was man über die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises 2011 wissen muss, steht im ersten Absatz von Hans Hoffs Kritik in der „Süddeutschen“: Das ambitionierte ARD-Fernsehfilmprojekt „Dreileben“ wurde von der RTL-Regenbogentante Frauke Ludowig gewürdigt. Sie sagte: „Das ist schon sehr durchdacht und sehr künstlerisch gemacht.“

Zum Glück ist anzunehmen, dass das meiste, was an diesem Abend passierte, schon im Moment der Ausstrahlung in Vergessenheit geraten ist. Als Mahnmal für die Zukunft würde ich nur gerne dokumentieren, wie die Produzenten die Erinnerung an die Verstorbenen des Jahres in Szene gesetzt haben. Sie wählten den erstschlechtesten musikalischen Einfall, den Aufsteigersong des Jahres bei Beerdigungen: „Unheilig“ mit „Geboren um zu leben“. Und dann setzten sie konsequenterweise den Sänger in Szene statt die Toten (Video).

Hier wird gerade Witta Pohl gewürdigt:

Hier sieht man rechts und links auf den Monitoren noch ein paar Zehntelsekunden lang Pixelhaufen, die Ausschnitte aus Leslie-Nielsen-Filmen darstellen:

Das ist der beste Abschiedsblick auf Amy Winehouse:

Und wer hier gestorben ist, konnte ich bis heute nicht entziffern:

Von wie vielen Fernsehgrößen sich zumindest das Saalpublikum kurz noch einmal verabschieden konnte, während die Zuschauer zuhause den ollen „Grafen“ in der Großaufnahme sahen, kann ich nicht sagen.

Aber schon sehr künstlerisch gemacht.

Zehn Jahre FAS

Am 11. September 2001 saß ich im fünften Stock des vierstöckigen FAZ-Gebäudes in Berlin-Mitte. Unsere Redaktionsräume waren in Wahrheit in einem Haus nebenan, man erreichte sie über einen absurd verwinkelten Weg, der durch zwei verschiedene Treppenhäuser führte und einem jede Lust nahm, die Mittagspause außer Haus zu verbringen.

Ich war als einer der letzten zum Team dazugekommen, das die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ neu erfinden sollte. Eigentlich hätte Alexander Gorkow die Medienseite machen sollen, der hatte dann aber zum Glück keine Lust mehr.

Es war die Idee von Nils Minkmar, stattdessen mich zu fragen. Ich habe erst gezögert, denn die ganze FAZ-Welt war mir unbekannt und fremd, politisch, aber auch stilistisch. Andererseits sollte die „Sonntagszeitung“ ja gerade anders sein, jünger, zugänglicher, unterhaltsamer — dafür standen auch die Namen vieler Journalisten, die dafür von anderen Zeitungen eingekauft worden waren.

Und so saß ich mit den anderen Feuilletonisten am 11. September 2001 im fünften Stock des vierstöckigen FAZ-Gebäudes in Berlin-Mitte, um die Nullnummer der neuen Zeitung fertigzustellen. Redaktionsschluss dieser Ausgabe war zum Glück um 13 Uhr; ab dem Nachmittag wäre an Arbeiten nicht zu denken gewesen, jedenfalls kaum für eine Übung, die nicht zur Publikation bestimmt war.

Die Nacht verbrachte ich dann schlaflos vor CNN in einer Dienstwohnung, die die FAZ damals noch in Ku’damm-Nähe hatte (eine Wohnung hatte ich auf die Schnelle noch nicht gefunden in Berlin), ein gesichtsloses Apartment im Achtziger-Jahre-Design, das die Irrealität der ganzen Situation noch verstärkte.

Die große Medienkrise hatte noch nicht richtig begonnen. Im Nachhinein schätze ich, dass es der allerletzte Moment war, in dem sich die FAZ ein solches Wagnis wie die Sonntagszeitung noch getraut hätte. Es hat sich als großer Glücksfall herausgestellt, für die FAZ, der durch die FAS eine fruchtbare innere Konkurrenz erwuchs, die sie lebendiger machte und die ihr ganz neue Leserschichten eroberte. Und für mich.

Das fühlte sich, zugegeben, nicht an jedem Tag so an. Wir haben als Ganzes eine Zeit gebraucht, unsere eigene Form und Rolle zu finden. Und ich in der Redaktion auch.

Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ hat es geschafft, die große Freiheit, die die FAZ auszeichnet, die Lizenz, anders zu sein, speziell, verschroben und sehr klug, mit einem entschiedenen Willen zu verbinden, sich dem Leser zuzuwenden, ihn Woche für Woche einzufangen, zu überraschen und intelligent zu unterhalten. Jedes Ressort hat FAZ-typisch seine eigene Kultur entwickelt, aber der Widerspruch, der daraus oft entsteht, kommt dem Leser zugute in Form von Vielfalt und Reibung.

Das Wunderbare an einer Sonntagszeitung ist, dass es sehr wenig Pflicht gibt und ganz viel Kür. Das bedeutet andererseits auch: Es gibt eine Pflicht zur Kür. Ich konnte mir für die Medienseite etwas einfallen lassen. Ich musste mir für die Medienseite etwas einfallen lassen. Ich habe diesen Luxus manche Woche verflucht.

Claudius Seidl, einer der beiden Feuilleton-Chefs, ist jemand, der nicht aufhört zu zweifeln, und wenn man eine Woche Zeit hat, eine Zeitung zu gestalten, gibt es viel Gelegenheit dafür: Ist das wirklich der richtige Aufmacher? Wäre der Rhythmus nicht besser, wenn die Texte der Seiten 4 und 8 die Plätze tauschen? Kann die Fotoredaktion, die schon zwanzig Mal geguckt hat, bitte noch ein einundzwanzigstes Mal gucken, ob sie nicht ein besseres Bild findet? Nein, das ist noch die Überschrift, wirklich nicht, nein, doch, da fällt Ihnen noch was ein, ganz sicher.

Es ist gar nicht so sehr Perfektionismus als einfach der Wille, eine Zeitung zu gestalten — mit all den Elementen, die dazu gehören. Da ist kaum Routine. Das ist oft anstrengend, gerade wenn das Ziel ist, nicht anstrengend zu sein.

Ich könnte jetzt sagen, das Wunderbare an meiner Zeit bei der FAS war, dass man mich Sachen machen ließ.

Ich durfte zum Beispiel einen Artikel über den Deutschen Presserat, der sich seit Jahrzehnten als „zahnloser Tiger“ bezeichnen lassen muss, so illustrieren:

Ich durfte Haim Saban, der kurzzeitig das deutsche Fernsehen zu kaufen schien, einen Reiseführer schenken:

Ich durfte den viel zu früh verstorbenen Axel Zerdick interviewen, der den Zeitungen schon 2003 prognostizierte, sie sollten sich von dem Gedanken verabschieden, die Stellenanzeigen kämen je zurück — die FAZ lebte zu einem großen Teil von diesen Stellenanzeigen.

Ich durfte mich an 9live abarbeiten, an Johannes B. Kerner und — fast immer — an der „Bild“-Zeitung und ein größeres Stück schreiben über die Vorworte von Jörg Walberer in der „Hörzu“.

Das Wunderbare an meiner Zeit bei der FAS war, dass die Kollegen mich machen ließen, aber das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Vor allem brachten sie mich dazu, zu machen. Sie schubsten und inspirierten mich. Ich habe länger gebraucht, um zu merken, dass es kein Fluch war, sondern eine Chance, dass ich von Feuilleton-Leuten umgeben war, die ganz anders tickten als ich Medienheini. Dass sie anders auf das Fernsehen blickten, ratlos meine Aufregung über irgendwelche Brancheninterna wahrnahmen und mich stattdessen nachdrücklich ermunterten, Artikel über Dinge zu schreiben, die mir selbstverständlich erschienen.

Ich habe viel gelernt in den vergangenen zehn Jahren bei der FAS, und nicht nur die Kunst des gepflegten Kalauers in der Überschrift. Ich hatte das Glück, mit Kollegen zu arbeiten, die gut sind und gut zu mir waren und deren Kreativität mich inspiriert und angespornt hat.

Am vergangenen Wochenende habe ich meine vorerst letzten Artikel für die FAS geschrieben, fast auf den Tag genau zehn Jahre, nachdem sie zum ersten Mal erschienen ist. Ich freue mich sehr darauf, demnächst für den „Spiegel“ zu schreiben, aber ich verlasse die FAS mit etwas Wehmut. Ich möchte mich bedanken bei all meinen Kollegen, vor allem bei Johanna Adorján, Michael Hanfeld, Peter Körte, Christiane Kroth, Nils Minkmar, Tobias Rüther, Claudius Seidl, Harald Staun, Volker Weidermann.

Und bei Frank Schirrmacher — und natürlich Alexander Gorkow, ohne den das alles nicht möglich gewesen wäre.

Jörg Thadeusz

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Er freut sich so darüber, dass zum Jubiläum seiner 250. Sendung Iris Berben noch einmal gekommen ist, dass er auf dem Weg zu ihr an den Tisch vor Glück die Hände erst zu Fäusten ballt und dann zusammenschlägt wie ein Kind, sich vor ihr verbeugt und gleichzeitig für das Fernsehpublikum noch eine große Hier-ist-sie-Präsentationsgeste versucht, was nur halb gelingt. Frau Berben lächelt diesen ungelenken, charmanten Mann amüsiert und natürlich formvollendet an, und weil sie bezaubert ist, ist sie bezaubernd.

Vielleicht ist es das, was Jörg Thadeusz unwiderstehlich macht: Diese Mischung aus Unbeholfenheit und großem Geschick, das auch nur wie ein Versehen wirkt. Claus Peymann sagte zu ihm: „Sowas Rundes und Naives, wie Sie es sind — oder scheinen –, gibt es wenig.“ (Thadeusz erwiderte grinsend: „Kann ich mir das merken, als Qualität?“)

Wenn er ein bisschen Zeit zum Denken gewinnen muss, wiederholt er stotternd die Silbe, an der er gerade hängt. Und wenn er aufgeregt ist, unsicher oder vielleicht ein bisschen verliebt, stapelt er Wörter aufeinander: „Schön, eigentlich, hatten wir es zusammen, hier, immer“, sagt er zu Iris Berben, nachdem er ihr einige alte Ausschnitte gezeigt hat. Häufiger folgt er Gesprächsabzweigen und merkt zu spät, dass sie in Sackgassen in unwirtlichen Gegenden führen, aber es ist immer eine freundliche Neugier, die ihn dort hinführt, oder ein kindlicher Übermut.

Dass die Gesprächssendung, die er seit fünf Jahren im RBB hat (dienstags, 22.15 Uhr), viel weniger Aufmerksamkeit bekommt, als sie verdient hätte, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache, denn sie versucht — genau wie ihr Moderator — nicht mehr zu sein, als sie ist. „Fernsehen bedeutet, anderen Leuten zugucken zu dürfen“, hat er kürzlich in einem Aufsatz für die „Welt“ über den Sinn des Mediums geschrieben. „Wenn sie sich sportlich verausgaben, einen schönen Mund küssen, oder einfach nur miteinander reden.“ Bei Thadusz reden sie einfach nur miteinander.

Es ist erstaunlich, wie selten sowas überhaupt versucht wird im deutschen Fernsehen. Es ist so sehenswert, wenn es gelingt. Iris Berben hatte Thadeusz schließlich in einer Stimmung, in der sie gleichzeitig sehr wach und sehr entspannt war. Auf seine Frage: „Stimmt es, dass Sex unter Kokaineinfluss mehr Spaß macht?“ sagte sie, ohne zu zögern: „Dacht‘ ich mal.“