Zeitungen, die Kiwis der Medienwelt

Als ich vor ein paar Jahren in Neuseeland war, wollte ich natürlich unbedingt Kiwis sehen. Wir fuhren in einen kleinen Zoo in der Nähe von Mount Bruce. Die Kassierein empfing uns mit der schlechten Nachricht, dass einer der beiden Bewohner die heftigen Regenfälle der Vortage nicht überlebt hatte. Anscheinend können Kiwis nicht nur nicht fliegen, sondern auch nicht schwimmen.

Kiwis sind zauberhafte Tiere. Aber wir wurden das Gefühl nicht los, dass die Natur uns etwas mitteilen wollte.

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Die deutschen Zeitungsverleger haben schon wieder jemanden gefunden, der Mitschuld an ihrem Niedergang ist. Diesmal ist es die Sendergruppe ProSiebenSat.1, weil sie in Zukunft die Möglichkeit anbieten will, in ihren Programmen regional begrenzt Werbung zu schalten.

Der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger BDZV schlägt Alarm: „Dies würde zu schweren Einbrüchen in den ohnehin hart umkämpften regionalen Werbemärkten führen“, zitiert eine Sprecherin des BDZV in einer Pressemitteilung des BDZV einen Sprecher des BDZV.

Das ist unwahrscheinlich. Warum sollten Unternehmen weniger regional werben, wenn es einen neuen Anbieter regionaler Werbung gibt? Was ist aus der Binsenweisheit geworden, dass Konkurrenz das Geschäft belebt? Was der BDZV vermutlich meint: Das Engagement von ProSiebenSat.1 könnte zu Einbrüchen bei den Erlösen seiner Mitglieder führen.

Alles, was die Einnahmen von Zeitungsverlagen schmälert, ist aber zum Glück in Deutschland verboten — oder sollte es jedenfalls sein. Der BDZV räumt zwar ein, dass es im Rundfunkstaatsvertrag kein entsprechendes Verbot gibt. Das liege aber nur daran, weil man bisher nicht dachte, dass eine solche Regionalisierung technisch überhaupt möglich sei. Die Pläne von ProSiebenSat.1 seien dennoch „rechtswidrig“, denn:

Bereits 1986 habe das Bundesverfassungsgericht — damals im Zusammenhang mit dem niedersächsischen Landesmediengesetz — entschieden, dass regional/lokal ausgespielte Werbung nationaler Fernsehsender den Bestand und die Funktionsfähigkeit der Presse gefährden würde.

Hat es das?

In seinem sogenannten Vierten Rundfunkurteil befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage, ob das niedersächsische Landesrundfunkgesetz mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sei. Es ist eines der Urteile, die das Duale System mit unterschiedlichen Anforderungen an öffentlich-rechtliche und private Sender definierten.

In dem damals zu prüfenden niedersächsischen Rundfunkgesetz gab es eine Passage, die Rundfunkanbietern lokale Werbung untersagte. In Paragraph 26, Absatz 5 heißt es:

Werbung, die nicht im gesamten Verbreitungsgebiet eines zugelassenen Programms nach § 22 verbreitet wird, ist nicht zulässig. Solange das Programm nicht von mehr als 2,5 Millionen Einwohnern in Niedersachsen empfangen werden kann, ist nur eine Werbung zulässig, die Tatsachen, Ereignisse und Angebote mit mindestens landesweitem Bezug zum Gegenstand hat.

Mit dieser Beschränkung sollte die örtliche und regionale Presse vor Konkurrenz auf dem lokalen Werbemarkt geschützt werden. Das, stellte das Bundesverfassungsgericht fest, sei nicht zu beanstanden.

Anders als der BDVZ suggeriert, stellte das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht fest, dass eine solche oder ähnliche Regelung Pflicht oder Notwendigkeit sei. Anders als der BDZV suggeriert, traute sich das Gericht 1986 aus naheliegenden Gründen kein Urteil zu, welche Wirkung werbefinanzierter privater Rundfunk insgesamt auf die Presse haben würde:

Nicht abschließend beurteilen lassen sich die Rückwirkungen einer Werbefinanzierung privaten Rundfunks auf die Presse, insbesondere die Frage, ob der Presse oder zumindest zahlreichen Presseunternehmen hierdurch existenzwichtige Finanzquellen entzogen werden. (…)

Eine derartige Beeinträchtigung würde voraussetzen, daß das Gesamtvolumen der Werbung sich nicht mehr nennenswert steigert, daß ein wesentlicher Teil dieses Volumens von der Presse abgezogen wird und dem Rundfunk zufließt und daß damit die Rentabilitätsgrenze der Presseunternehmen unterschritten wird. Ob diese Voraussetzungen eintreten werden, ist ungewiß. (…)

Was die Auswirkungen auf die Presseunternehmen betrifft, geht die Monopolkommission davon aus, daß die Erhaltung der Printmedien als solche nicht gefährdet sei; doch dürften sie die Werbeeinnahmen der Presseverlage erheblich vermindern. (…)

Über diese und ähnliche Einschätzungen hinausgehende Aussagen erscheinen in der gegenwärtigen Phase, in der Werbung im privaten Rundfunk noch keine nennenswerte Rolle spielt, nicht möglich.

Ich kann nicht ganz ausschließen, dass es juristische Interpretationen dieses Urteils gibt, die über meine Lesart des Offenkundigen hinausgehen. Ich kann mir aber schwer vorstellen, dass die eine überzeugende Rechtsgrundlage dafür darstellen könnten, mehr als 25 Jahre später in einer vollständig anderen Wettbewerbssituation die deutschen Tageszeitungen vor einem neuen Konkurrenten zu schützen.

Überhaupt: dieses endlose Gejammer!

  • Regionale Werbung auf ProSieben bedroht die Existenz der Zeitungen!
  • Das schlechte Wetter bedroht die Existenz der Zeitungen!
  • Der 29. Februar bedroht die Existenz der Zeitungen!
  • Die Bundesregierung muss das Nicht-Kaufen von Zeitungen verbieten!

Ich bin ein großer Anhänger der Tageszeitung (oder wenigstens ihrer Idee). Aber wenn es wirklich so sein sollte, wie das Geschrei der Verlegerlobby nahelegt, dass die Tageszeitung nur dadurch überleben kann, dass man sie unter Artenschutz stellt und in Reservaten hält, die jeden Morgen gründlich von allen Keimen, Futterkonkurrenten und Parasiten gereinigt werden, mit hohen Schutzmauern und drei Fütterungen täglich — dann ist ihre Zeit vielleicht einfach vorbei.

Der Wetter-Astrologe (2)

Aus der „Berliner Zeitung“ vom 1. Februar 2012:

Berliner Zeitung: Herr Jung, ganz schön eisig draußen. Frieren Sie?

Dominik Jung: Als Meteorologe bin ich vorbereitet, ich weiß ja, wie das Wetter wird. Unsere Langfristtrends haben schon im Oktober eine eisige Ostströmung für Januar und Februar angekündigt.

Dominik Jung ist der Redaktionsleiter und „Langfrist-Experte“ von wetter.net. Ich hatte seiner Kunst, das Wetter viele Monate im voraus in einer Weise vorherzusagen, die fast mit geschickten Würflern mithalten kann, vor zwei Monaten einen längeren Eintrag gewidmet.

Nachdem der meteorologische Winter abgeschlossen ist, lässt sich nun auch Bilanz seiner „Bild“-Prognose vom vergangenen Oktober ziehen, die kurz lautete: „Dieser schneereiche Winter wird sich wohl über die ganzen drei Monate bis ins Flachland erstrecken“ und im Detail so aussah:

Gelb eingetragen sind die jeweiligen Höchsttemperaturen für Frankfurt/Main. Die Maßstäbe sind nicht ganz identisch, weil die Original-Grafik in sich nicht maßstabsgetreu ist, aber ich glaube, für ein grobes Urteil über die Seriosität der Langfristprognose von wetter.net reicht’s.

Bereits im September hatte Jung gewarnt, aufgrund des bevorstehenden besonders strengen Winters drohe der „große Blackout“. Aufgrund einer angeblichen „Prognose“ hatte wetter.net damals weisgesagt, der Winter 2011/2012 werde 1,2 Grad kälter ausfallen als das langjährige Mittel. Er war laut Deutschem Wetterdienst DWD 0,8 Grad wärmer als das langjährige Mittel.

Neu: Jetzt alles aus Vollkorn!

Ja, das ist alles neu hier. Ich mochte das alte Blog-Design nicht mehr sehen, das im Grunde noch das erste Design dieses Blogs war. Ich wollte etwas Neues, Typographisches, Auffälliges, Minimalistisches. Und ich wollte etwas aus Vollkorn.

„Vollkorn“ ist — wenn alles so aussieht, wie es aussehen soll — die Schrift, in der alle Buchstaben auf dieser Seite gesetzt sind. Es ist eine Schriftart, die der Potsdamer Typograph Friedrich Althausen als Open Font veröffentlicht hat. Ich mag schon ihren Namen.

Die „Vollkorn“ ist für mich markant, aber unaufdringlich; gediegen, aber kein bisschen maniriert. Ich mag, wie edel die Kursive daherkommt, und ich mag, wie selbstbewusst die Fettschrift sich breit macht. Ich schreibe meine Artikel in dieser Schrift, weil ich mir einbilde, dass ich besser schreiben kann, wenn ich das in einer angenehmen Schriftart tue. In diesem Sinne ist die „Vollkorn“ tatsächlich meine Brotschrift.

Deshalb hatte ich mir gewünscht, mein Blog in dieser Schrift zu gestalten, und freundlicherweise hat mir Friedrich Althausen dabei geholfen. Von ihm kommt die Grundidee zu diesem neuen Layout, das ich dann noch in mühseliger Kleinarbeit verhunzt habe.

Es ist noch nicht alles so, wie es sein soll. Und ich bin längst noch nicht fertig mit dem Verwünschen der verschiedenen Browserentwickler (14 Tage Durchfall, kurze Arme und kein Papier, Chrome für Windows!).

Bei manchen Elementen bin ich mir auch noch unsicher, ob mir das gefällt, ob es zu spröde ist, zu gewollt anders; ob es eine Frage der Gewöhnung oder Geschmacks ist.

Vermutlich geht auch gleich das Geschrei los, dass ich mit der Umgestaltung dieses Blog quasi unlesbar gemacht habe. Aber das ist ja das Tolle am Bloggen: Dass ich auf den Geschmack und die Gewohnheiten des Publikums Rücksicht nehmen kann, aber nicht muss.

Ich freue mich trotzdem über Beschwerden, Anregungen und Kritik und verspreche, beim weiteren Feilen am Design nicht alle zu ignorieren.

Tri-Tra-Trullala, der Philipp und die Angela: Markus Lanz redet über Politik

Mein Kollege Michael Hanfeld von der FAZ hat einen gewaltigen Wutausbruch über die „Markus Lanz“-Sendung vom Donnerstag bekommen. Er nennt den Auftritt des FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler „ein Lehrstück über Propaganda im Gewand der Familienunterhaltung“, den „‚tiefsten Tiefpunkt‘ (Rudi Völler) des deutschen Journalismus und den Marianengraben politischer Wahrhaftigkeit“.

Michael Hanfeld ist relativ leicht zu erregen, und ich würde nicht jede Wertung in seinem Artikel unterschreiben. Aber beim Lesen habe ich mich daran erinnert, wie sehr auch mich beim Zuschauen ein Gefühl von Ekel überwältigt hatte und wie real mir die Sorge erschien, dass, wenn ich das zuende gucken würde, ich später in meinem eigenen Erbrochen zu mir käme.

Es hat ja nicht nur die Ebene der politischen Propaganda, wie sie Hanfeld beschreibt. Es ist auch die Dimension der Boulevardisierung von Themen und Infantilisierung von Kommunikation im Fernsehen, die hier sichtbar wird. Angesichts der Vorarbeit von Leuten wie dem Seelenprokler Reinhold Beckmann und dem Vaselineartisten Johanns B. Kerner müsste es eigentlich schwer sein, da noch neue Tiefen auszuloten. Lanz gelingt es mühelos.

Er nimmt politische Prozesse und Auseinandersetzungen konsequent aus der Perspektive des Menschelns wahr. Ich bin fast sicher, sie haben in der Redaktion vorher noch überlegt, ob sie die entscheidenden Begegnungen zwischen Angela Merkel und Philipp Rösler im Bundespräsidentenkandidaten-Findungsprozess nicht mit Handpuppen nachspielen sollten; vielleicht hätte Rösler auch den richtigen Gesichtsausdruck der Angela-Figur mit Knete oder Nudeln formen können. Dass das dann nicht geschah, hatte sicher nur den einen Grund: Alle wussten, dass Markus Lanz das auch so hinkriegt, ein Kleinkinderprogramm aus dem Gespräch mit dem FDP-Vorsitzenden zu machen, ohne Knete und Krokodil.

„Wie stellt man sich das denn vor?“ Das ist die Schlüsselfrage von Markus Lanz. Sie symbolisiert perfekt seine ganze verklemmte Zudringlichkeit und zudringliche Verklemmtheit.

Tatsächlich erfahren wird dank der Art von Markus Lanz einiges über Philipp Rösler. Vor allem, dass er gut sein muss im Umgang mit Kindern oder Verrückten. Wenn ich einmal in eine Situation gerate, wo es darauf ankommt, einem bewaffneten Irren geduldig zu erklären, dass man nur ein Mobiltelefon in der Hand hält und keine Fernzündung für ein von Außerirdischen hinter den Wolken geparktes Waffensystem, dann wünsche ich mir einen Menschen mit dieser unerschöpflichen Geduld und Gelassenheit an meiner Seite. Ich habe die Sendung aus oben beschriebenen Gründen nicht zu Ende geguckt, aber ich bin zuversichtlich, dass Rösler es bis zuletzt geschafft hat, Lanz nicht zu fragen, ob er vergessen hat, seine Tabletten zu nehmen. Dafür bewundere ich ihn.

Man kann sich die ganze Sendung in der ZDF-Mediathek angucken. Das kann ich aber niemandem empfehlen. Hier ist ein Kondensat:
 

Am Ende dieses Ausschnitts fragt Markus Lanz den FDP-Vorsitzenden, wieso er keinen Knacks hat, obwohl er doch als Kleinkind aus Vietnam adoptiert wurde und Frauen auf die Frage, welches Sternzeichen er ist, nicht mit Bestimmtheit die Wahrheit sagen kann. Das war tatsächlich der Punkt, als ich abgeschaltet habe und mich fragte, warum das ZDF sich nicht jeden Tag für diesen Mann und diese Talkshow rechtfertigen muss.

Ja! Kai Winckler erwartet einen Jungen von Prinzessin Victoria

Heute muss ein großer Tag gewesen sein für Kai Winckler, den Chefredakteur der „Neuen Welt“. Sicher, das sieht auf den ersten Blick nicht gut aus, dass sein Blatt gerade am Kiosk liegt mit der Schlagzeile „VICTORIA – Hurra, ein Junge! Silvia weinte vor Glück“, wo doch die schwedische Prinzessin gerade ein Mädchen zur Welt gebracht hat.

Aber was ist das schon gegen das unerwartete Glück, öffentlich wie ein seriöser Journalist behandelt zu werden, dem bloß ein blöder Fehler unterlaufen ist?

Die wirklich krasse Fehlinformation steht nämlich heute nicht auf dem Cover der „Neuen Welt“. Sie steht auf „Focus Online“. Dort heißt es:

Der Chefredakteur der „Neuen Welt“, Kai Winckler, ist über die veritable Falschinformation seiner Leser alles andere als glücklich. „Das ist für mich eine Katastrophe“, sagte er zu FOCUS Online. Man habe in der vergangenen Woche aus dem engsten Umfeld des schwedischen Königshauses die Information erhalten, dass Prinzessin Victoria einen Sohn erwarte. Es habe keinen Grund gegeben, an der Wahrhaftigkeit des Hinweises zu zweifeln. Die Quelle — die leider geheim bleiben müsse — habe in der Vergangenheit bereits Fakten geliefert, die sich als stichhaltig erwiesen hätten. „Wir kennen den Grund nicht, warum man uns falsch informiert hat.“

(…) Winckler und seine Redaktion müssen jetzt eine Woche lang die Häme von Kollegen und Adelsexperten aushalten. „Das ist mir so noch nie passiert“, sagt der Redaktionschef. (…)

Exakt so vielleicht nicht. Aber in ungefähr jeder anderen denkbaren Form. Vermutlich sind Kai Winckler und seine Leute eher überrascht, wenn sich das, was sie sich Woche für Woche für die Illustrierte ausdenken, tatsächlich einmal versehentlich als wahr herausstellt.

Die Geburt eines Jungen hatte die „Neue Welt“ mit derselben Schlagzeile wie in dieser Woche schon Ende Dezember vorweggenommen, und Ende Januar suggerierte sie, Fotos von Victoria mit ihrem Baby zu haben:

Ende November fand sich klein auf dem „Neue Welt“-Titel Kronprinzessin Victoria mit den Worten: „Große Freude auf ihre Zwillinge“ (unten links):

Zwischen den beiden „Andy Borg und seine Birgit: Endlich ein Baby“-Titelbildern liegt übrigens exakt ein Dreivierteljahr.

Von Máxima, Prinzessin der Niederlande, wusste die „Neue Welt“ bereits im vergangenen August, dass sie einen Sohn bekommt. Und dann im Oktober, dass es sogar Zwillinge werden. Und dann im Dezember wieder, dass es nur ein Baby (unbestimmten Geschlechts) wird. Ich verfolge das nicht so, aber kann es sein, dass Máxima gar nicht schwanger ist? Sicher bin ich mir jedenfalls, dass sie trotz der „Neuen Welt“-Ankündigung im vergangenen März noch nicht zur Königin gekrönt wurde.


Und nur der Vollständigkeit halber: Auch Letizia & Felipe und William & Kate erwarten seit mindestens fünf Monaten jeweils einen Sohn.

Kai Winckler ist seit einem Jahr Chefredakteur der „Neuen Welt“. Früher hat er deren Konkurrentin „Das neue Blatt“ verantwortet. In diese Zeit fällt die legendäre Widerrufs-Schlagzeile:

„Keine Tragödie um Victoria! Nicht verraten, verlassen, verzweifelt. Keine Krebserkrankung!

Winckler musste damals, 2004, seinen Lesern auf Druck von Victorias Anwalt erklären, dass sich „Das neue Blatt“ „leider immer wieder auf Fehlinformationen“ über das schwedische Königshaus verlassen habe.

Bereits ein Jahr zuvor hatte „Das neue Blatt“ berichtet: „Victoria & ihr Daniel — die Überraschungs-Hochzeit des Jahres… weil die Kronprinzessin ein Baby bekommt“. Später musste die Zeitschrift dann erklären:

Diese Behauptungen widerrufen wir als unwahr. Eine Hochzeit zwischen Kronprinzessin Victoria von Schweden und Herrn Daniel Westling war nicht geplant. Kronprinzessin Victoria von Schweden war auch nicht schwanger. Das Foto ist eine ohne das Einverständnis von Kronprinzessin Victoria von Schweden hergestellte Fotomontage.

Und noch bevor Winckler die Falschmeldungen beim „Neuen Blatt“ verantwortete, war er in derselben Funktion bei der Zeitschrift „Das Neue“. Im Archiv findet sich vom 8. September 2001 folgender Text von ihm:

Von Ehekrise keine Spur
Sorry, Thomas und Thea Gottschalk

Thomas Gottschalk ist wütend! Der Grund: unsere Titelgeschichte der letzten Ausgabe „Ist Gottschalks Ehe in Gefahr?“ und die darin enthaltene Behauptung, er sei bereits von zu Hause ausgezogen, und das gerade mal zwei Monate vor der Silberhochzeit. (…)

DAS NEUE hatte in der vergangenen Woche über die angebliche Ehekrise berichtet. Jetzt erreichte uns dazu eine schriftliche Stellungnahme des Superstars – und die fiel nicht gerade freundlich aus. „Die Geschichte entbehrt jeder Grundlage!“, heißt es darin. Und: „Weder bin ich ausgezogen noch habe ich die Absicht auszuziehen. Sie dürfen mir glauben, dass meine Ehe nicht gefährdet ist.“

Der Moderator ist zu Recht stinksauer. Denn was zunächst als fundierte Information erschienen war, entbehrte bei näherer Betrachtung jeder Grundlage.

Auch an den Trennungsgerüchten ist nichts dran. (…)

Das also ist Kai Winckler, der Mann, von dem „Focus Online“ so tut, als handele es sich um einen Journalisten, dem mit der falschen Victoria-Schlagzeile ein blöder Fehler unterlaufen sei, der ihm peinlich sei.

Die „Neue Welt“ ist eine Zeitschrift der WAZ-Gruppe.

Von Pontius nach Pilates

Man hatte ja immer wieder ein Raunen über diese privaten Abgründe im Hause Wulff gehört, aber nun gibt es endlich einen unzweideutigen Fotobeweis: Wir sehen die Familie in ihrem Auto bei der Abreise aus Berlin am vergangenen Freitag — und sie sitzt am Steuer!

Die einschlägigen Blätter versuchten das Ungeheuerliche natürlich gleich zu interpretieren:

Am Steuer saß Bettina Wulff — ein Hinweis darauf, wer künftig in Großburgwedel das Sagen hat?

Weiter heißt es in dem Text:

Hinter den Eltern saßen die Söhne Linus (mit Teddybär) und Leander. Man fragt sich, über was die Wulffs auf der Fahrt geredet haben.

Es muss eine überstürzte Abreise gewesen sein: In der Einfahrt zur Dienstvilla des Bundespräsidenten in Dahlem liegt an diesem Montagvormittag noch eine gelbe Sandkastenschaufel und ein rotblauer Sandkasteneimer. Hat das nicht mehr in den Skoda Yeti gepasst?

Am frühen Freitagabend erreichten die Wulffs das Haus in Großburgwedel, dessen Finanzierung Wulffs Rücktritt ausgelöst hat. Ein paarmal haben die Wulffs das Haus seitdem verlassen: Am Samstagabend für zwei Stunden und am Sonntagmorgen gegen 9 Uhr 30. Da brachte ein Lieferant frische Brötchen und Zeitungen vorbei.

In der zweistöckigen Präsidentenvilla, die vor dem Einzug der Wulffs für 800 000 Euro renoviert werden musste, weil das Dach undicht war und man in der Bausubstanz Asbest entdeckt hatte, ist an diesem Montag kein Leben auszumachen. Man könnte jetzt lüften, aber alle Fenster sind zu. (…)

Joachim Gauck wohnt in einer Altbauwohnung im Bayerischen Viertel von Schöneberg, wo es, im Gegensatz zu Dahlem, viele Kneipen, Restaurants und Kinos gibt. Ob er seinen Kiez verlassen wird?

Gegenüber der Bundespräsidenten-Villa öffnet sich eine Haustür. Eine Frau tritt heraus, sportlich gekleidet. Sie sagt, sie sei auf dem Weg zum Pilates-Unterricht. (…) Bettina Wulff habe immer gelächelt, wenn sie den Nachbarn begegnet sei. (…)

Und jetzt die Frage: Aus welchem Blatt stammt dieser Text? Kleiner Tipp: Es handelt sich ausnahmsweise weder um „die Aktuelle“ noch „das Neue“.

Vorauseilende Selbstverstümmelung

Es scheint, als hätten alle Proteste von Betroffenen und Experten nichts genützt: Wenn sich die Intendanten von ARD und ZDF am morgigen Dienstag mit Vertretern der Zeitungsverlage treffen, sind sie bereit, einen wesentlichen Teil der öffentlich-rechtlichen Online-Angebote aufzugeben — im Tausch gegen einen medienpolitischen Burgfrieden.

Seit Wochen arbeiten Spitzenvertreter der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger BDZV an einer „gemeinsamen Erklärung“. Die Entwürfe sehen unter anderem eine Aufteilung des deutschen Online-Journalismus vor: ARD und ZDF sollen sich in ihren Internet-Auftritten auf Audio- und Videoinhalte konzentrieren. Im Gegenzug würden sich die Online-Ableger der Zeitungen im Wesentlichen auf Texte und Fotos beschränken.

Eine gemeinsame Arbeitsgruppe soll gebildet werden, die exemplarisch Online-Angebote der Beteiligten durchgeht. Dabei sollen auch Kooperationsmöglichkeiten und gegenseitige Verlinkungen geprüft werden.

Sowohl die Redakteursausschüsse von ARD und ZDF als auch die Internetverantwortlichen der ARD in der Redaktionskonferenz Online (RKO) haben die Intendanten eindringlich vor den Folgen einer solchen „Erklärung“ gewarnt. Der Entwurf könne zu „weitreichenden negativen Auswirkungen und Eingriffen in den Bestand und die Entwicklungen der Telemedien der ARD“ führen, schrieb die RKO. „Für die aktuelle Berichterstattung jedes Onlineangebots sind Schlagzeilen, Kurztexte und Langfassungen im Verbund mit Fotos eine notwendige Grundlage, sowohl im Hinblick auf die Quellenlage, als auch auf das Nutzungsverhalten.“ Die „publizistische Relevanz“ der öffentlich-rechtlichen Online-Angebote würde geschwächt und damit die öffentlich-rechtlichen Sender insgesamt.

ARD-Sprecher taten das nach außen mit der Behauptung ab, die Kritiker protestierten auf der Grundlage einer „älteren Version“. Doch auch die aktuelle Fassung, die erst eine Woche alt ist, unterscheidet sich davon nicht grundsätzlich.

Die Federführung bei den Verhandlungen mit den Verlegern hat die WDR-Intendantin und amtierende ARD-Vorsitzende Monika Piel. Außer ihr sind die Intendanten Ulrich Wilhelm (BR) und Lutz Marmor (NDR) beteiligt — nicht aber der für Online in der ARD zuständige SWR-Intendant Peter Boudgoust.

Nach der internen und externen Kritik haben die ARD-Intendanten auf ihrer Sitzung am 6./7. Februar in Erfurt offenbar kontrovers über das Vorgehen beraten. Doch die Appeasement-Fraktion um Monika Piel konnte sich durchsetzen: Die Änderungen, die nachträglich am Entwurf vorgenommen wurden, sind eher kosmetischer Natur. So bleibt es dabei, dass eigenständige Texte in den Online-Angeboten von ARD und ZDF als Ausnahme festgeschrieben werden. Neu hinzugekommen ist in diesem Zusammenhang nur der Hinweis darauf, dass im Sinne eines barrierefreien Zugangs auch Texte erforderlich sein könnten. Umgekehrt sollen auch die Zeitungsangebote im Netz aus Gründen der Barrierefreiheit eigenständige Video- und Audio-Inhalte veröffentlichen dürfen.

Nichts von alldem ergibt Sinn.

Unklar ist schon einmal, warum ARD und ZDF überhaupt mit den Verlegern über ein solches Kompromisspapier verhandeln. Im Streit um die Tablet-Version von tagesschau.de, gegen die mehrere Verlage geklagt haben, hatte der Richter zwar angeregt, dass beide Seiten miteinander reden. Aber erstens geht es in den Gesprächen, die nun geführt werden, gar nicht um die „Tagesschau“-App, sondern ein viel fundamentaleres Abstecken der Grenzen öffentlich-rechtlicher Online-Angebote. Und zweitens spricht wenig dafür, dass die ARD diesen Rechtsstreit am Ende verloren und deshalb ein Interesse daran hätte, den Verlegerforderungen vorsorglich weit entgegen zu kommen.

Erklären lässt sich die als Kompromiss verkleidete Kapitulation von ARD und ZDF nur durch das unbedingte Bedürfnis einiger ihrer Vertreter, in den zu erwartenden Auseinandersetzungen um ihre zukünftige Legitimation Ruhe an dieser Front zu haben. Dafür steht der BR-Intendant Wilhelm, der erst vor gut einem Jahr aus der Bundesregierung in dieses Amt wechselte. Und dafür steht in ganz besonderem Maße Monika Piel.

Sie hatte bereits unmittelbar nach ihrem Amtsantritt als ARD-Vorsitzende mit der Bereitschaft zur öffentlich-rechtlichen Selbstaufgabe kokettiert und Sätze gesagt wie: „Wenn der Verlegerverband die Apps kostenpflichtig macht, dann werde ich mich auch vehement dafür einsetzten, dass unsere öffentlich-rechtlichen Apps kostenpflichtig sind.“

Auch die geplante „gemeinsame Erklärung“ muss man als Teil einer Appeasement-Taktik verstehen. In einer solchen Erklärung liege eine „medienpolitische Chance“, mit der „uns wichtige Spielräume erhalten werden könnten“, schrieb Piel vor drei Wochen in einer internen Mail. Darin interpretierte sie die Gespräche mit den Verlegern ausdrücklich auch vor dem Hintergrund der „Debatte um die Perspektiven des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und des Dualen Systems (Stichwort AG Beitragsstabilität)“. In der genannten AG, die von der sächsischen Staatskanzlei initiiert wurde, beraten die Bundesländer, wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk eingeschränkt werden kann.

Piel will deshalb wenigstens Ruhe an der Front mit den Verlegern, die behaupten, die nicht kostenpflichtigen und texthaltigen Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verhinderten, dass sie im Internet Geld verdienen können. Piel spricht davon, dass Verleger und öffentlich-rechtlicher Rundfunk eine „Verantwortungsgemeinschaft“ bildeten.

Der Preis, den die Intendanten von ARD und ZDF bereit sind, für diesen Frieden zu zahlen, ist gewaltig. Fassungs- und verständnislos verfolgen viele, die in der ARD für Online-Angebote zuständig sind, wie dabei bisher selbstverständliche Positionen über Bord geworfen werfen.

Die Entwürfe der „gemeinsamen Erklärung“ sind geprägt von einer Vorstellung des Internets als einer Maschine, die einfach Radio und Fernsehen abspielt oder Zeitungsinhalte veröffentlicht. Der Gedanke eines eigenständigen Mediums, das all diese Formen miteinander verknüpft, ist den öffentlicih-rechtlichen Verhandlungsführern offensichtlich fremd.

Das deutet nicht nur auf eine grundsätzliche und ganz praktische Realitätsferne hin, sondern führt auch dazu, dass sich die „gemeinsame Erklärung“ implizit die Interpretationen der Verleger zu eigen macht. Die unterstellen nämlich, dass ein Internetangebot, das in relevantem Maße auf Texte setzt, „presseähnlich“ und deshalb den Öffentlich-Rechtlichen verboten sei. Dabei ist der Einsatz von Text als Mittel, um Nutzer schnell zu informieren, um Überblicke zu schaffen und multimediale Inhalte sinnvoll miteinander zu verknüpfen, schlicht das Wesen eines modernen Online-Journalismus — und nicht Ausdruck von Presseähnlichkeit.

Dadurch, dass die Intendanten von ARD und ZDF den Verlegern anbieten, auf eigenständige Textberichterstattung fast völlig zu verzichten, machen sie sich deren Anmaßung zu eigen, Online-Texte für „Presse“ zu halten.

In einer extremeren Form suggerieren die Verleger sogar, dass all das, was Zeitungen im Internet machen, automatisch „presseähnlich“ sei. Wenn etwa die „Tagesschau“-App, so die Argumentation, aussehe wie die „Welt“-App, dann könne sie nicht erlaubt sei. Selbst auf dieses Spiel lassen sich die Öffentlich-Rechtlichen in dem Entwurf der „gemeinsamen Erklärung“ noch ein: Die Online-Angebote von ARD und ZDF sollten so geordnet und gestaltet werden, heißt es darin, dass sie anders aussehen als die Online-Angebote der Zeitungen.

Die einen machen Online-Fernsehen, die anderen machen Online-Zeitungen: So einfach verläuft die Waffenstillstandslinie in der Welt der Intendanten. Das wäre an sich schon verrückt genug. Es wird noch verrückter dadurch, dass Piel und ZDF-Intendant Markus Schächter sich gerade erst in einer multipel verunglückten Presseerklärung der „Deutschen Content Allianz“ sogar namentlich zu den letzten Verteidigern der Medien-„Konvergenz“ erklärt haben.

Diese Art der Aufteilung des deutschen Online-Journalismus hat aber noch ein anderes Problem. Doch dass einem aus Gebühren finanzierten Angebot Grenzen gesetzt werden dürfen, wo auch immer sie liegen, steht außer Frage. Warum aber sollten sich privatwirtschaftlich finanzierte Medien einschränken müssen? Warum sollte eine regionale Tageszeitung im Internet nicht ein Webradio veranstalten und täglich drei, dreißig oder dreihundert Videos veröffentlichen, wenn sie das will und es sich rentiert?

Die Kompromiss-Simulation im Entwurf der „gemeinsamen Erklärung“ — wir verzichten auf Text, ihr auf Audio und Video — suggeriert eine grundsätzliche Symmetrie zwischen gebührenfinanzierten und kommerziellen Angeboten, die in keiner Weise besteht. Übrigens sitzen nur Vertreter von Zeitungsverlagen am Verhandlungstisch (Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner Korrektur: FAZ-Geschäftsführer Roland Gerschermann, WAZ-Geschäftsführer Christian Nienhaus und BDZV-Präsident Helmut Heinen). Angebote wie „Spiegel Online“ mit starkem Video-Schwerpunkt wären also ohnehin nicht eingebunden.

Wenn die „gemeinsame Erklärung“ tatsächlich verabschiedet wird, sind zwei Szenarien denkbar. Entweder ARD und ZDF nehmen die Selbstverpflichtung sehr ernst. Dann würden sie massiv in die redaktionelle Arbeit ihrer Internet-Auftritte eingreifen müssen und ihren Online-Journalismus amputieren. Oder sie behandeln die — juristisch nicht bindende — Erklärung als reines Lippenbekenntnis, ein folgenloses Papier zur Ruhigstellung der Verleger. Dann würde der Konflikt in einigen Jahren umso heftiger aufbrechen, weil die Gegner von ARD und ZDF ihre Online-Auftritte nicht nur an umstrittenen Definitionen, sondern an den eigenen Selbstverpflichtungen messen könnten.

In jedem Fall wären ARD und ZDF geschwächt. Weshalb die Kritiker im Haus die zentrale Frage stellen: Warum bringt man sich überhaupt mit solchen Verhandlungen und einem solchen Papier in eine solche Situation?

Die Premiere aus der Zukunft der Vergangenheit

Deutsches Fernsehen ist komisch.

Am Donnerstag warb der NDR in einer Pressemitteilung für eine „Premiere“, die in der Sendung „Star Quiz“ mit Kai Pflaume am folgenden Samstag gefeiert werde: „Zum ersten Mal wird in der Sendung das gerade gedrehte Gewinnervideo von ‚Unser Star für Baku‘ in voller Länge zu sehen sein.“

Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, außer dass das „Star Quiz“ bereits am Montag aufgezeichnet worden war — zu einem Zeitpunkt also, als nicht nur das Video noch nicht fertig war, sondern noch nicht einmal feststand, wer welchen Titel darin singen würde.

Kai Pflaume musste also eine unspezifische Standard-Anmoderation sprechen, was ihm als unspezifischer Standard-Moderator nicht schwer fiel. Und so sah das aus:
 

Eine „Weltpremiere im Ersten“ war es dann auch nicht, weil das Video auf der „Unser Star für Baku“-Homepage bereits vorher zu sehen war.

Eigentlich hätte die ARD natürlich mit „Gottschalk live“ jetzt eine Live-Sendung, in der man solche Höhepunkte präsentieren könnte, jedenfalls wenn es einem nicht auf Zuschauer ankommt. Die Videos von Lena hatten übrigens im Morgenmagazin bzw. im Werbeblock vor der „Tagesschau“ Premiere.

(Die Ausstrahlung von „Bodyguard“, die in dem Ausschnitt oben etwas überraschend beworben wird, war die dritte Ausstrahlung des Filmes mit Whitney Houston in der ARD innerhalb von zehn Tagen. Deutsches Fernsehen ist komisch.)

Konvergenz, Konsistenz, Inkontinenz: Die „Deutsche Content Allianz“

In der „Deutschen Content Allianz“ haben sich die Dieter Gornys dieses Landes zusammengeschlossen. Sie versuchen, sich vor dem Ertrinken zu bewahren, indem sie sich gegenseitig umklammern und das Wasser beschimpfen.

Es fiele mir leichter, ihnen dabei zuzusehen, wenn nicht ARD und ZDF ohne Not zu ihnen ins lecke Boot gestiegen wären — zwei Institutionen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Finanzierung durch das Volk in einer fundamental anderen Position sind, was die Herausforderung betrifft, sich in einer digitalen Welt professionelle kreative und journalistische Produktionen leisten zu können.

Insbesondere die WDR-Intendantin und amtierende ARD-Vorsitzende Monika Piel scheint sich aber zu einer Überlebensstrategie entschlossen zu haben, die auf dem Gedanken beruht, dass dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk nichts passieren kann, solange er sich nur eng genug an seine natürlichen Gegner kuschelt. Die Interessen der Gebührenzahler müssen demgegenüber im Zweifel zurückstehen. (Mehr dazu in den nächsten Tagen an dieser Stelle.)

Jedenfalls hat die „Deutsche Content Allianz“, die man vielleicht treffender als den Verband der urheberrechteverwertenden Industrie bezeichnen könnte, gestern die Bundesregierung dazu aufgefordert, das ACTA-Abkommen unverzüglich und unverändert zu unterzeichnen. Es sagt schon viel aus, dass die „Deutsche Content Allianz“ ACTA als ein „Abkommen zum Schutz vor Internetpiraterie“ bezeichnet – dass sich die „Piraterie“, mit der sich der Vertrag beschäftigt, keineswegs auf das Internet beschränkt, verschweigen die beteiligten Verbände im Sinne einer klareren Desinformation.

Inhaltlich ist zum Streit um ACTA an anderen Stellen reichlich gesagt worden; ich möchte hier vor allem die verräterische Sprache in diesem Dokument würdigen. Die ganze hilflose Traurigkeit offenbart schon die Überschrift: „Deutsche Content Allianz fordert Bundesregierung zur konsistenten Positionierung zum Urheberrecht auf“. Man muss sich das bildlich vorstellen, Monika Piel und Dieter Gorny auf einer Demonstration vor dem Kanzleramt, in den Händen identische Plakate mit der Aufschrift: „Mehr Konsistenz wagen!“ Die vage und harmlos klingende Forderung steht in Wahrheit für einen Wunsch, wie er radikaler kaum sein könnte: Urheber-, oder genauer: Verwertungsrechte sollen durchgesetzt werden ohne lästige Abwägung mit anderen Rechten, mit denen sie kollidieren. Mit irgendeiner „konsistenten Positionierung“ ist exakt diese Positionierung gemeint — konsistent in ihrer Absolutsetzung eines Interesses.

Die „Deutsche Content Allianz“ fordert weiter laut ihrer Pressemitteilung:

Es seien jetzt eindeutige Signale notwendig, die Reform anpacken und durchsetzen zu wollen, da sonst die Gefahr einer Kluft zwischen der deutschen Kreativwirtschaft und den Gruppen unserer Gesellschaft, die den Schutz des geistigen Eigentums als einen Angriff auf die Freiheit im Internet diskreditierten, bestehe.

Ignorieren wir einmal die Problematik des Begriffes vom „geistigen Eigentums“ an sich, der eine Vergleichbarkeit mit tatsächlichem Eigentum suggeriert, die von der Content-Lobby politisch gewollt, aber in vielerlei Hinsicht irreführend ist. Abgesehen davon also: Ist das nicht rührend? Die Rechtindustrie sorgt sich, dass sich da womöglich, vielleicht, wenn man nicht aufpasst, in Zukunft eine Kluft auftun könnte. Als wäre diese Kluft nicht längst ein gewaltiger Canyon. Als würde es helfen, wenn die Bundesregierung „eindeutige Signale“ geben würde, Reformen „anpacken“ zu wollen. Und als würde sich die Kluft dadurch verringern, dass der Gesetzgeber auf der einen Seite des Grabens ein Flatterband als Absperrung zieht.

Die „Deutsche Content Allianz“ diskreditiert berechtigte Sorgen um die Freiheit des Internets als Diskreditierung. Und dann beteuert sie:

Diese Freiheit sei ein hohes, unbestrittenes Gut, solange sie nicht als Rechtlosigkeit interpretiert werde.

Da hat vermutlich Freud zugeschlagen. Niemand – außer vielleicht die Musikindustrie in ihren feuchtesten Träumen – käme auf die Idee, Freiheit als Rechtlosigkeit zu interpretieren. Freiheit im Internet wäre ja in ihrer extremsten Interpretation gerade das Recht, alles zu tun, was man will. Die Autoren wollten wohl sagen, Freiheit sei gut, solange sie nicht als Gesetzeslosigkeit interpretiert werde. Nicht einmal das ist ihnen gelungen.

Nun wird die „Deutsche Content Allianz“ geradezu selbstkritisch:

Von der Kreativwirtschaft müsse offenbar in diesem Zusammenhang noch stärker als bisher vermittelt werden, dass sie mit dem für alle Kreativen und die Vermittler ihrer Werke existenziellen Schutz des geistigen Eigentums keineswegs Barrieren in der digitalen Internetwelt errichten wolle, sondern es zusammen mit zeitgemäßen Angeboten längst als unverzichtbare Zukunftssicherung begriffen hätte.

Hat jemand eine Idee, worauf sich das kleine „es“ beziehen könnte, das die „unverzichtbare Zukunftssicherung“ (wessen?) darstellt? Es, das „geistige Eigentum“? Es, das hier ungenannte Internet?

Die Content-Industrie braucht geistiges Eigentum zusammen mit zeitgemäßen Angeboten? Sie braucht das Internet zusammen mit zeitgemäßen Angeboten? Was?

Weiter im Text:

Gerade bei einer Generation, in der viele ohne jedes Unrechtsbewusstsein für „digitalen Diebstahl“ aus Schule und Elternhaus in die große Welt des Internets entlassen worden seien, verlange dies viel Aufklärung und vor allem Diskussionsbereitschaft, wie sie die vor knapp einem Jahr gegründete Deutsche Content Allianz bereits bei ihrer Gründung öffentlich angeboten hatte.

Ich weiß nicht, welche Generation die „Deutsche Content Allianz“ genau meint. Ich ahne aber, welche Generation da schreibt, wenn sie das Bild bemüht von Kindern, die „aus Schule und Elternhaus in die große Welt des Internets entlassen“ wird. Es ist ein vielfach perfides Bild: Es behauptet, dass die Kinder klauen wie die Raben. Es gibt Eltern und Lehrern die Schuld, dass die Kinder angeblich klauen wie die Raben. Und es stellt das Internet selbst als verkommenen Ort dar, in den die Kinder umziehen, nachdem sie die bürgerlichen Institutionen verlassen haben.

Der letzte Absatz ist mein Lieblingsabsatz:

Die Vertreter der Deutschen Content Allianz kritisieren, noch gelte für zu viele der Schutz des geistigen Eigentums und die Freiheit im Internet als unüberbrückbare Kluft. Das schlage sich auch in der praktischen Politik durch ein Auseinanderdriften von Medien- und Netzpolitik nieder. Politik, Medien und Gesellschaft seien gemeinsam aber einmal unter der Überschrift „Konvergenz“ angetreten. Auch wenn dies stets eine besondere Herausforderung dargestellt habe, dürfe man es nun nicht aus den Augen verlieren, argumentieren die Köpfe der Deutschen Content Allianz.

Politik, Medien und Gesellschaft sind gemeinsam einmal unter der Überschrift „Konvergenz“ angetreten. Das muss selbst in der Phrasenwelt eines Markus Schächter ein rekordverdächtig quatschiger Satz sein. Man wüsste so gerne, wo sie alle, wir alle, angetreten sind. Und wofür. Und wer die Überschrift gemacht hat. Und ob es auch eine Unterzeile gab. Und natürlich überhaupt, wer oder was da mit wem oder was konvergiert?

Unterdessen befindet sich übrigens Frau Piel in Verhandlungen mit den Zeitungsverlegern, den Online-Journalismus in Deutschland aufzuteilen: In Video und Audio, wofür die Öffentlich-Rechtlichen zuständig wären, und Texte, was die Verlage machen würden. –Frau Piel? Die Konvergenz hat angerufen für Sie. Sie möchte ihre Überschrift zurückhaben.

Immerhin stellen ARD, ZDF, Privatsender, Produzenten, Musikindustrie, Filmwirtschaft, Buchhändler und GEMA am Ende noch einmal gemeinsam fest, das sie „es“ nicht aus den Augen verlieren wollen. Was auch immer damit gemeint sein mag.

Diese Erklärung ist ein aufschlussreiches Dokument. Es macht anschaulich, in welchem Maße ein Verein, der behauptet, für die Existenz hochwertiger Inhalte zu stehen, nicht einmal in der Lage ist, selbst einen Inhalt zu formulieren, der verständlich, sprachlich richtig und inhaltlich korrekt ist. Die Presseerklärung ist mit all ihrem Sprachmüll und ihrer Gedankenlosigkeit ein Dokument der Hilflosigkeit. Aber ich fürchte, so niedlich es wirkt, wie ungelenk da die Branchengrößen mit Förmchen werfen, so hart ist in Wahrheit der Druck, den sie hinter den Kulissen auf die Politik ausüben. Die „Deutsche Content Allianz“ bezieht sich in ihrer Pressemitteilung sogar zustimmend auf einen Brief diverser Verbände an Abgeordnete des EU-Parlaments, der mit zutiefst antidemokratischer Haltung die Proteste gegen ACTA skandalisierte.

Das größte Ärgernis aber bleibt für mich, dass die öffentlich-rechtlichen Sender bei alldem mitmischen. Von Sascha Lobo kommt der treffende Satz: „Inhalte nennt man in Deutschland immer dann ‚Content‘, wenn jemand damit Geld verdienen will.“ Was haben ARD und ZDF, deren Aufgabe es ist, von unseren Gebühren Programme für uns zu machen, in dieser „Content Allianz“ zu suchen?