Der homosexuelle Mann… und die Grenze der Toleranz bei der „taz“

Die Toleranz der „taz“ ist groß. Sie ist so groß, dass sie es sogar zulässt, dass ihr Redakteur Jan Feddersen auf taz.de ausdauernd Leute verächtlich macht, weil sie sich in einem Land wie Aserbaidschan für Menschenrechte einsetzen.

Doch auch die Toleranz der „taz“ kennt Grenzen. Und so wird morgen die traditionsreiche Kolumne „Der homosexuelle Mann…“ von Elmar Kraushaar nicht erscheinen. Kraushaar schreibt sie seit 1995 monatlich auf der „Wahrheit“-Seite. In der nächsten Ausgabe wollte er sich der Lage der Schwulen in Aserbaidschan widmen und dem eigenwilligen Blick des „taz“-Redakteurs Jan Feddersen darauf.

Doch am Mittag, kurz vor Redaktionsschluss, habe die Chefredaktion den Text von der Seite genommen, sagt Kraushaar — angeblich ohne Begründung außer dem Hinweis, Feddersen habe der Text nicht gefallen.

Auf Nachfrage erklärt mir Chefredakteurin Ines Pohl, es gebe seit langem eine Übereinkunft in der „taz“:

Man greift Kollegen nicht persönlich in der eigenen Zeitung an, auch nicht über Zitate Dritter. Das geht nur in Form offener Schreibschlacht, Pro & Contra. Dieses Pro & Contra hatten wir zu der Sache aber schon während des Grand Prix, Niggemeier und Feddersen. Ein zweites Pro & Contra wollte keiner der Beteiligten.

Das ist die Grenze der Toleranz bei der „taz“. Das — und nicht das Redaktionsstatut, in dem es über das „Selbstverständnis“ der Zeitung heißt: „Sie tritt ein für die Verteidigung und Entwicklung der Menschenrechte (…).“

Folgender Text erscheint deshalb morgen nicht in der „taz“:

Der homosexuelle Mann …

… in Aserbaidschan ist dem Westeuropäer ein Fremder. Möglicherweise ist – wie es in queerer Terminologie heißt – sein Konzept sowohl von Homosexualität als auch von Homosexuellenunterdrückung ein ganz anderes. Der gerade zu Ende gegangene Eurovision Song Contest sollte Aufschluß darüber geben. Denn kaum war im vergangenen Jahr in Düsseldorf das Duo aus Baku zum Sieger gekürt, fragten die ESC-Fans schon nach: Kann man als Schwuler überhaupt nach Baku reisen oder wird man gleich festgenommen beim ersten spitzen Schrei?

Viele von denen, die jetzt da waren, haben ihre Beobachtungen mitgeteilt, das Ergebnis ist ein „sowohl“ als „auch“. Festgenommen wurde wohl keiner der schwulen Gäste, aber wirklich gerne gesehen war man auch nicht. Falls man überhaupt von „gesehen“ sprechen kann. Denn das scheint die oberste Maxime der heimischen Schwulen zu sein: Aufpassen, dass man nicht gesehen wird. Ein schwules Leben ist möglich — als Doppelleben, im Versteck und in der Nacht.

Einzig Jan Feddersen, in Personalunion Baku-Blogger für taz und NDR, hat es anders wahrgenommen. Die Unterdrückung der Homosexuellen? „Westliche Gerüchte“, schreibt Feddersen, „Gräuelpropaganda von Menschenrechtisten“, stattdessen sei Baku ein einziger „schwuler Catwalk“ mit Männern in „hautengen T-Shirts“ und „Jeans mit eingebauten Gemächtebeulen“. Und die halten Händchen in aller Öffentlichkeit und sind „Buddies“ ein Leben lang.

Feddersens höhnischer Ton immer dann, wenn es um Pressefreiheit und Menschenrechte in Aserbaidschan ging, erstaunte die übrigen Pressevertreter, seine verklärten Worte über das schwule Leben dort erzürnte die Beobachter schwuler Medien. „Das Mindeste, das du jetzt tun könntest, aus Solidarität zu denjenigen, die ein anderes Verhältnis zu den Realitäten haben“, schreibt queer.de-Redakteur Christian Scheuß in einem offenen Brief an Jan Feddersen, „halt in Sachen Menschenrechte doch einfach die Klappe.“ Frank & Ulli schlagen auf ihrer Web-Seite „2mecs“ vor, Feddersens Wortschöpfung „Menschenrechtist“ zum Unwort des Jahres zu küren. Für die beiden Autoren macht es keinen Sinn einen neuen Begriff einzuführen, es gebe doch die „Menschenrechts-Aktivisten“: „Es sei denn“, unterstellen sie Feddersen, „man wolle ihrer Arbeit eine negative Konnotation anhängen, sie diffamieren, sie verächtlich machen.“

Auch Patsy l’Amour laLove lässt in ihrem Patsy-Blog kein gutes Haar an Feddersen und stellt — mit Blick auf seine idyllischen Mutmaßungen über muslimisch konnotierte Männerfreundschaften — fest: „Wenn Männersex in Badehäusern en vogue ist, dann träume ich nicht davon, wie befreit diese Gesellschaft sein muß, sondern denke darüber nach, warum schwuler Sex nur in der Begrenztheit dieser Räume stattfinden darf.“ Die Polittunte setzt ihre Forderung gegen jeglichen falschen Zungenschlag: „Solidarität mit unseren Schwestern anstatt selbstgefälliger Romantisierung!“ Denn „die Schwulenunterdrückung in Aserbaidschan ist kein Gerücht sondern Alltagsrealität!“

Elmar Kraushaar

Der Kuzy

Es ist an der Zeit, eine neue journalistische Textgattung neben etablierten Formen wie Reportage, Nachricht oder Glosse zu benennen: den Kuzy. Die Definition würde ungefähr so lauten: Ein Kuzy ist ein sich von sich selbst distanzierender Text.

Benannt wäre er nach „Spiegel Online“-Redakteur Stefan Kuzmany, und ein besonders anschauliches Beispiel für einen Kuzy wäre seine Meldung über die Wahlen der Miss Deutschland 2012 vom Pfingstmontag:

Und noch ne Miss: Die 20-jährige Susan Henry aus Kassel ist zur Miss Deutschland 2012 gewählt worden – nicht zu verwechseln mit der Miss Germany, das ist Isabel Gülck. Die Geschichte der Schönheitswettbewerbe ist kompliziert, aber wen interessiert das eigentlich?

Berlin/Halle – Wer kann schon genau wissen, wer die schönste Frau des ganzen Landes ist? Für den Verfasser dieser Zeilen ist es selbstverständlich die eigene Gattin, aber alle anderen haben da ihre ganz eigene Meinung. Mit Recht!

Auf halber Strecke unterbricht er den Versuch, die verschiedenen Titel angeblich schönster Frauen auseinanderzudröseln, verweist stattdessen auf Wikipedia-Artikel zum Thema und fügt hinzu:

(und verzeihen Sie, dass wir an dieser Stelle nicht tiefer in die Recherche einsteigen mögen, dafür ist das Wetter draußen einfach zu schön).

Der Artikel endet mit den Worten:

Sollten Sie diesen Text tatsächlich bis zu dieser Stelle gelesen haben, kann das eigentlich nur daran liegen, dass Sie den Link zu den Fotos von Susan Henry noch nicht finden konnten. Kleiner Tipp: Sie müssen einfach nur auf das große Foto oben klicken. Gern geschehen.

In der 23-teiligen Bilderstrecke finden sich dann Unterschriften wie die folgenden:

Insgesamt 18 Teilnehmerinnen buhlten um den „Miss Deutschland“-Titel. Hier posieren sie vor einer Piraten-Kulisse, fragen Sie aber bitte nicht, warum. Scheint wohl gerade im Trend zu liegen.

Diese Bildergalerie wird Ihnen präsentiert vom SPIEGEL ONLINE-Feiertagsdienst. Hier sehen Sie: „Miss MGO Hessen“, die Siegerin und frisch gekrönte „Miss Deutschland“. Wie war gleich ihr Name? Ach ja: Susan Henry.

Sie haben Sie wahrscheinlich bereits vermisst, aber hier ist sie doch: Daisy Matzke, die „Miss MGO Sachsen“.

Und zuletzt noch ein besonderes Schmankerl: Adrijana Vidakovic, die „Miss MGO Niedersachsen“. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben sich tatsächlich durch alle 23 Bilder geklickt. Jetzt können Sie gleich nochmal von vorne anfangen!

Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres erschien auf „Spiegel Online“ ein Kuzy, der die Nachrichtitis von „Spiegel Online“ und das Genre des Livetickers veralberte: Ein Liveticker „Normalität 2011“:

Atom, Arabien, Ehec, Euro, Bin Laden, Guttenberg und kein Ende: Der Ausnahmezustand ist 2011 zum Alltag geworden – und der Alltag zur Ausnahme. SPIEGEL ONLINE hat sie trotzdem gefunden: die einzige normale Minute des Jahres. Verfolgen Sie die beruhigenden Ereignisse im Liveticker.

[08:23:04] Der Rentner Olaf B. aus Wuppertal, ein ehemaliger hochrangiger Angestellter der städtischen Stromwerke, hat eine folgenlose Idee: Er will sich einen schwarzen Tee zubereiten und das Wasser dafür in einem elektrischen Wasserkocher erwärmen. Kurz nachdem er den Wasserkocher eingeschaltet hat, beginnt das Wasser zu brodeln.

[08:23:10] Ein durchschnittlich gekleideter Mann mittleren Alters betritt unauffällig eine Filiale der Volksbank in Celle. Er zieht seinen Personalausweis und eröffnet ohne Vorwarnung ein Konto.

[08:23:41] Niemand rechnet an diesem strahlenden Morgen auf der Baleareninsel Mallorca damit, dass in wenigen Minuten eine sechzehn Meter hohe Monsterwelle die friedlichen Strände und tausende Menschen unter sich begraben könnte. Zu Recht.

[08:23:59] Tausende Leser eines Livetickers auf SPIEGEL ONLINE warten auf eine Schlusspointe. Doch das Leben geht auch ohne weiter.

Für das neu verpackte Reiseressort von „Spiegel Online“ steuert er eine viertelwitzige und sicherheitshalber schon als „ironisch“ anmoderierte Arbeitsverweigerung bei. Er empfiehlt, mal das Brandenburger Tor zu besuchen:

Nur wenigen bekannt, obschon mitten in Berlin gelegen, ist der Pariser Platz. Leicht zu entdecken ist er zwar nicht, doch wer sich ein wenig mit den Geheimnissen des Berliner Nahverkehrs beschäftigt, wird den Weg finden: Am besten steigen Sie an der Haltestelle „Brandenburger Tor“ aus, erreichbar allerdings leider nur mit der U55, der S1, S2 und S25, oder aber dem Bus der Linie TXL 100.

(Jaja, es gibt keine Linie TXL 100.)

Während des Berichterstattungs-Tsunamis zur Frage, wer Gottschalks Nachfolger bei „Wetten dass“ wird, schreibt er auf „Spiegel Online“ den 70.000 Text zu diesem Thema. Darin bringt er folgenden Absatz unter:

Die Republik starrt gebannt auf die sogenannte Wettcouch, als würde sich ihr Schicksal nicht im Kanzleramt, nicht bei den Verhandlungen um die Euro-Rettung entscheiden, sondern genau hier, bei Gummibärchen und einem Glas Sekt. Online-Medien berichten live, an prominentester Stelle und mit einer Vielzahl von Texten (sollte Sie an dieser Stelle die Logik zwicken: das geht vorbei) – aber warum nur?

Stefan Kuzmany ist der Hofnarr von „Spiegel Online“, mit der ganzen Zwiespältigkeit, die diese Rolle mit sich bringt. Einerseits ist es rundweg zu begrüßen, dass sich „Spiegel Online“ einen solchen Hofnarr leistet, der zum Vergnügen einiger fortgeschrittener Leser mit dem Medium spielt. Andererseits ist ein solches Narrentum womöglich nicht subversiv, sondern eher systemstabilisierend.

Vermutlich werden in Zukunft größere Teile insbesondere des Online-Journalismus sowohl für die Autoren als auch das Publikum nur durch solche Texte erträglich, die sich von sich selbst distanzieren. Journalistisch ist der Kuzy eine Kunstform. Psychologisch könnte man in ihm natürlich auch einen Hilfeschrei sehen.

[Offenlegung: Stefan Kuzmany hat mal eine Weile in meinem Büro gesessen. Und ich schreibe gelegentlich für „Spiegel Online“.]

Neil Gaiman: „Make glorious and fantastic mistakes“

Wie kommt es, dass ausgerechnet die große Abschlussrede an der Universität die beinah einzige amerikanische Tradition ist, die es noch nicht nach Deutschland geschafft hat? Würde uns das Personal dafür fehlen? Die Kultur des Redenhaltens? Die Kunst, die heikle Mischung aus Pathos und Komik, aus Allgemeinplätzen und Subjektivität hinzubekommen?

Jedenfalls hat der Schriftsteller Neil Gaiman dem großen Genre der commencement speech einen weiteren Höhepunkt hinzugefügt. Er sprach am 17. Mai an der University of the Arts in Philadelphia, und ich hatte am Ende der zwanzig Minuten wieder einmal einen Kloß im Hals.

And I decided that I’d do my best in the future not to write books just for the money. If you didn’t get the money then you didn’t have anything. And if I did work I was proud of, and I didn’t get the money, at least I’d have the work.

But people keep working, in a freelance world — and more and more of today’s world is freelance — because the work is good and because they’re easy to get along with and because they deliver the work on time.

And you don’t even need all three. Two out of three is fine.

People will tolerate how unpleasant you are if your work is good and you deliver it on time.

People will forgive the lateness of your work if it’s good and they like you.

And you don’t have to be as good as everyone else if you’re on time and it’s always a pleasure to hear from you.

So be wise, because the world needs more wisdom. And if you cannot be wise, pretend to be someone who is wise and then just behave like they would.

And now go, and make interesting mistakes, make amazing mistakes, make glorious and fantastic mistakes.

Break rules. Leave the world more interesting for your being here.

Make good art.

Ein Vorspann für Baku

Wenige Minuten noch bis zum Finale, und ich wollte unbedingt vorher noch ein Loblied anstimmen auf Johannes Kretzschmar, besser bekannt als „Beetlebum“, der uns fürs Bakublog diesen wunderschönen Vorspann geschenkt hat. Ich hab den sicher jetzt schon dreihundertmal gesehen, und kann es immer noch nicht fassen, wie toll er geworden ist.


 
Ich habe keinen Schimmer, wer heute Abend gewinnen wird. Ich glaube nicht an den von vielen erwarteten überragenden Sieg von Schweden. Ich habe auf Italien gewettet und bleibe jetzt dabei — weniger aus Überzeugung als aus Ratlosigkeit.

Ich wollte eigentlich noch eine komplette Prognose abgeben, aber die wäre eh fast nur halbblind getippt. Also als Rudiment: Ich glaube nicht, dass es Roman Lob unter die Top-10 schaffen wird. Ich sehe Russland, Serbien, Norwegen, Spanien und Schweden vorne und eigentlich auch Albanien. Ich tippe, dass Mazedonien letzter wird. Und ich drücke Moldawien und ganz besonders Estland die Daumen.

Alles weitere steht natürlich im Bakublog — wo wir gleich mit dem Livebloggen anfangen.

Die Eurovision ist unglücklich, tut aber nichts dagegen

Die Europäische Rundfunkunion EBU, die sich als Vorkämpfer für Meinungs- und Medienfreiheit ausgibt, findet es „sehr bedauerlich“, dass die Behörden in Aserbaidschan auch während des Eurovision Song Contest keine friedlichen Proteste zugelassen und mehrere Demonstrationen gewaltsam aufgelöst haben. Das sei „eindeutig nicht vereinbar mit dem Recht auf Demonstrationsfreiheit“, sagte mir Annika Nyberg Frankenhaeuser, die neue Medien-Direktorin der EBU, auf Nachfrage.

Beschwert hat sich die EBU bei der Regierung darüber nicht.

„Wir sind nicht glücklich über das, was hier passiert ist“, sagte Nyberg Frankenhaeuser in Bezug auf die Zerschlagung mehrerer friedlicher Demonstrationen. Die EBU habe das Thema aber gegenüber dem Regime noch nicht angesprochen. Sie konnte auch nicht sagen, wann, in welcher Form und bei welcher Gelegenheit das stattfinden könnte. Es sei aber wichtig, über diese Fragen nachzudenken.

Von sich aus hat sich die EBU zu dem Thema nicht erklärt.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty hatten die EBU aufgefordert, klar Stellung zu beziehen. Nach Ansicht von Amnesty hat die EBU der Regierung in Aserbaidschan einen Freifahrtschein gegeben, hart gegen Kritiker vorzugehen.

Euronews hatte am Mittwoch berichtet, die EBU hätte die aserbaidschanische Regierung um eine Erklärung für Berichte gebeten, dass Journalisten verhaftet wurden. Die entsprechende Meldung wurde auch im offiziellen EBU-Blog verlinkt. Sie bezieht sich jedoch nicht auf die Entwicklungen der vergangenen Tage. Angesprochen hat die EBU das Thema zuletzt bei einem Workshop mit Regierungsvertretern und Menschenrechtlern in Genf, der von den teilnehmenden Bürgerrechtsgruppen als Debakel wahrgenommen wurde.

So wenig die aserbaidschanische Regierung sich genötigt sah, sich wegen der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit während des ESC toleranter zu geben, so wenig sah sich die EBU genötigt, Druck auf das Regime auszuüben. Die Organisation will sich auch in Zukunft um das Land und seinen Mitgliedssender Ictimai kümmern, unter anderem mit einem Workshop später im Jahr. Aber dann ist ihre Position natürlich ungleich schwächer als in diesen Tagen, in denen das Regime in Baku ein Interesse daran hat, eine öffentliche Kontroverse mit dem Veranstalter des ESC zu vermeiden.

Anders als die ARD behauptet, hat sich die EBU von der Regierung nicht die Zusage geben lassen, „während des ESC Menschenrechte wie die Pressefreiheit, Redefreiheit, Versammlungsfreiheit oder Reisefreiheit zu garantieren“. Sie hat diese Zusage nur für die Teilnehmer des ESC bekommen. Deshalb ist die EBU nach den Worten von Frau Nyberg Frankenhaeuser auch trotz der Repressionen in Baku vor und während des ESC der Meinung, dass die Regierung ihre Garantie eingehalten hätte.

Anfang des Monats hatte ich für „Spiegel Online“ mit Ingrid Deltenre, der Generaldirektorin der EBU, gesprochen:

SPIEGEL ONLINE: Die EBU hat sich von der aserbaidschanischen Regierung Garantien geben lassen, dass sie im Rahmen des Grand Prix die Menschenrechtskonvention achten wird und die Freiheit und Sicherheit aller Beteiligten und Berichterstatter gewährleistet. Ist das nicht zynisch: Wir schaffen einen künstlichen Mini-Rechtsstaat in einem Land, wo das Recht sonst nicht respektiert wird?

Deltenre: Die Kritik könnte ich verstehen, wenn es so wäre. Aserbaidschan hat als Mitgliedsland des Europarats die europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben, die gilt für das ganze Land.

Die Kritik könnte sie verstehen, wenn es so wäre.

Die Aserbaidschan-Connection von dapd

Erinnern Sie sich an die merkwürdig regimefreundliche Berichterstattung der deutschen Nachrichtenagentur dapd über Aserbaidschan? Als ich darüber vor einigen Wochen gebloggt habe, kannte ich das hier noch nicht:

Martin Vorderwülbecke, Vorstand und Miteigentümer von dapd, war im vergangenen Dezember in Baku. Er hat sich dort mit Vertretern der staatlichen Nachrichtenagentur AzerTAc getroffen. Und die berichtet darüber wie folgt (Übersetzung von mir):

Die deutsche Nachrichtenagentur dapd betrachtet eine Kooperation mit der staatlichen aserbaidschanischen Nachrichtenagentur AzerTAc als sehr wichtig. (…)

Die Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, wie eine Zusammenarbeit zwischen AzerTAc und dapd etabliert und ein Erfahrungsaustausch durchgeführt werden kann. (…)

Martin Vorderwülbecke sagte, die Etablierung einer Zusammenarbeit zwischen AzerTAc und dapd würde dazu beitragen, die Beziehungen zwischen Deutschland und Aserbaidschan anzukurbeln. Er fügte hinzu, dass es dapd wichtig sei, Nachrichten über Aserbaidschan nach Deutschland zu liefern.

Vorderwülbecke wies darauf hin, dass dapd ein neues Büro in Aserbaidschan eröffnen werde. Er sagte, ein Erfahrungsaustausch zwischen dapd und AzerTAc sei für die beiden Agenturen nützlich.

Tsis.

Das ist aber alles sehr kuschelig da. Der Eigentümer von dapd reist nach Aserbaidschan und möchte die deutsch-aserbaidschanischen Beziehungen verbessern? Ein Beiratsmitglied von dapd hat beste Kontakte zur PR-Agentur, die das Image von Aserbaidschan aufpolieren hilft? Und der dapd-Mann vor Ort taucht das Regime gelegentlich in ein mildes freundliches Licht?

Kann natürlich sein, dass das alles Zufall ist.

Ich habe bei dapd nachgefragt, wie ich mir die Kooperation mit AzerTAc vorstellen muss, ob die Agentur ihre Aufgabe darin sieht, für gute Beziehungen zwischen Staaten allgemein oder diesen beiden konkret zu sorgen, und wie dpad von einem Erfahrungstausch mit AzerTAc profitieren könnte. Ich bekam die folgende Antwort:

Es gibt keine Kooperation mit AzerTAc. Insofern erübrigen sich Ihre Fragen.

Ging dann aber noch weiter:

Richtig ist, dass dapd bilaterale Vertragsbeziehungen mit Nachrichtenagenturen in 25 Ländern unterhält, u.a. China, Japan, Tschechien und Schweden. Außerdem führt dapd laufend Sondierungsgespräche, um für die Kunden eine eigene Berichterstattung (z. B. aus Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan oder Iran) sicherzustellen. dapd berichtet seit einigen Wochen mit zwei eigenen Korrespondenten unabhängig aus Aserbaidschan und wird von dort auch weiterhin berichten. dapd setzt zudem auf das Netzwerk von unabhängigen AP-Journalisten.

Das klärt natürlich in keiner Weise, warum kein Geringerer als der Vorstandsvorsitzende von dapd nach Baku fährt und Kontakte pflegt, die seine Gesprächspartner als weitreichende Kooperationsangebote darstellen.

(Der dapd-Sprecher wies dann noch dezent darauf hin, dass die dapd-Konkurrenz dpa mit AzerTAc kooperiere: Beide sind im Agenturennetzwerk EANA. Dabei handelt es sich allerdings nach Angaben von dpa bloß um einen Dachververband, wie es ihn für viele Branchen auf europäischer Ebene gibt: „Es gab und es gibt keinerlei Kooperation zwischen der dpa und AzerTAc“, so ein Sprecher. „Die dpa bezieht keine Informationen von AzerTAc und wertet deren Agenturdienste nicht aus. Umgekehrt liefern wir auch keine Inhalte und Dienste an AzerTAc.“)

Keine guten Nachrichten aus Baku

Es gibt ein Narrativ über Aserbaidschan, wonach sich das Land zwar langsam, aber in die richtige Richtung bewege. Es sei ja erst seit 20 Jahren unabhängig, man müsse ihm Zeit geben und es dauere halt, bis sich eine Zivilgesellschaft entwickelt habe. Daraus folgt, dass man die Regierung nicht mit Maximalforderungen und Ansprüchen überfordern dürfe, sondern Geduld haben müsse mit ihr und sie wohlwollend begleiten müsse.

Das klingt plausibel, widerspricht aber fundamental der Einschätzung der meisten Menschenrechtsgruppen und vieler Bürgerrechtler vor Ort. Sie sagen: Das Land bewegt sich nicht zu langsam in die richtige Richtung. Es bewegt sich in die falsche. Kurz gesagt: Es wird alles immer schlimmer.

Ein Bericht des Think Tanks European Stability Initiative (ESI) liefert viel Material, um diese These zu stützen. Danach hat zum Beispiel das Ausmaß der Manipulation der Wahlen und der Unterdrückung der Opposition in Aserbaidschan in den letzten Jahren zugenommen. Bei den Parlamentswahlen 2010 seien die Wahlfälschungen so eklatant gewesen wie nie zuvor — und schlimmer als in jedem anderen Mitgliedsland des Europarates.

Ein bezeichnendes Schlaglicht sind die Erfahrungen des Bloggers Emin Milli, der wegen eines satirischen Videos über korrupte Politiker diese Wahlen als politischer Gefangener erleben musste. In vielen Gefängnissen betrug die Wahlbeteiligung erstaunliche 100 Prozent. In einer Haftanstalt 120 Kilometer südlich von Baku sollen alle eintausend Häftlinge geschlossene Umschläge bekommen haben, in denen schon ausgefüllte Wahlzettel waren. Dann mussten sie sich in einer Reihe aufstellen und sie einwerfen. Ein Häftling, der versuchte, seinen Umschlag zu öffnen, soll zusammengeschlagen worden sein. Milli wurde gesagt, dass das ein Rückschritt gegenüber 2008 war: Damals durften die Gefangenen die Wahlzettel selbst ausfüllen — bekamen aber natürlich gesagt, was sie wählen mussten.

Die Wahlbeobachter der OSZE zählten, dass im staatlichen Programm AzTV während des offiziellen Wahlkampfes der Präsident viereinhalb Stunden lang vorkam, und zwar ausschließlich positiv oder neutral. Eineinhalb Stunden bekam die Regierung, eine knappe Stunde die Regierungspartei YAP. Der größte Oppositionsblock erhielt 4 Sekunden.

Seit dieser Wahl ist kein Mitglied der Opposition mehr im aserbaidschanischen Parlament vertreten.

Das eigentliche Thema des erschreckenden, faszinierenden, detaillierten Berichtes von ESI sind nicht diese negativen Entwicklungen, sondern die parallel dazu immer positivere Würdigung Aserbaidschans durch den Europarat. Die Erklärung dafür ist laut ESI einfach: Aserbaidschan hat die entscheidenden Leute im Europarat gekauft, unter anderem — mit Kaviar. Jeder der wichtigen Freunde Aserbaidschans habe regelmäßig mindestens ein halbe Kilo Kaviar bekommen, ein Wert von rund 700 Euro. Sie seien häufig nach Baku eingeladen worden, zu Konferenzen, Veranstaltungen und Sommerurlauben, wo es ebenfalls viele teure Geschenke gegeben habe: Seidenteppiche, Gold, Silber, Getränke, Kaviar, Geld.

Amnesty International veröffentlichte am 1. Mai ein Dokument, in dem es über Aserbaidschan heißt:

Die Entschlossenheit der autoritären Oligarchie, die Aserbaidschan regiert, hat zugenommen; unerschrocken ist sie gewillt, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Amnesty International zählt jetzt 18 politische Gefangene in Aserbaidschan: 14 Aktivisten, die im vergangenen Jahr für friedliche Proteste inhaftiert wurden, und jetzt zwei Journalisten und zwei Menschenrechtler, die vor kurzem zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.

(…) Die Behörden gehen härter als je zuvor gegen abweichende Stimmen vor.

(…) Trotz allem arbeitet die Europäische Rundfunkunion im Stillen weiter mit den Behören zusammen, um den Eurovision Song Contest vorzubereiten. Dieser selbsternannte „Vorkämpfer“ für Medienfreiheit hat sich nicht für aserbaidschanische Journalisten eingesetzt und die Werte, die er zu beschützen vorgibt, nicht verteidigt.

Heute erneuerte Amnesty seine Kritik an der EBU und erklärte:

Obwohl in den vergangenen Tagen erneut zwei friedliche Demonstrationen gewaltsam aufgelöst wurden, weigern sich die Organisatoren des Eurovision Song Contest (ESC) noch immer, die Menschenrechtsverletzungen in Aserbaidschan zu verurteilen. Amnesty kritisiert, dass die Europäische Rundfunkunion (EBU) der Regierung in Aserbaidschan damit einen Freifahrtschein gibt, hart gegen Kritiker vorzugehen.

(…) Laut den Organisatoren der Proteste haben Polizisten zahlreiche Demonstranten geschlagen, in Busse gedrängt und aus der Stadt gefahren. 38 Demonstranten wurden festgenommen. Einer der Organisatoren, Abulfaz Gurbanly, berichtete Amnesty International, dass er im Polizeigewahrsam geschlagen, getreten und mit einem Gummiknüppel misshandelt wurde. Auch andere Demonstranten seien während ihrer Haft geschlagen worden.

Die friedlichen Proteste wurden vor den Augen einer Reihe internationaler Journalisten aufgelöst, was die Versicherung der EBU, die internationale Medienaufmerksamkeit in Baku würde die Menschenrechtssituation verbessern, in Frage stellt. (…) „Die Behörden in Aserbaidschan denken anscheinend, dass sie die negative Berichterstattung unbeschadet überstehen werden und mit der Unterdrückung abweichender Meinung fortfahren können.“

Heute wurde eine Kundgebung von Menschen, die vor dem Gebäude des staatlichen Fernsehsenders Ictimai — ein EBU-Mitglied und Ausrichter des Eurovision Song Sontest in diesem Jahr — für freie Wahlen demonstrieren wollten, gewaltsam aufgelöst.

Derweil protestierte die aserbaidschanische Regierung dagegen, dass die schwedische ESC-Teilnehmerin Loreen sich mit Bürgerrechtlern getroffen hatte. Laut AFP forderte ein Vertreter des Präsidentenbüros in Baku die EBU auf, solche „politisierten Aktionen“ zu unterbinden und einzuschreiten.

Die Kampagne „Sing for Democracy“ hat die Teilnehmer des ESC dazu aufgerufen, ihre Solidarität zu zeigen:

Das schmutzige Geheimnis der Eurovision

„Eurovision’s Dirty Secret“ heißt die Sendung, die das BBC-Magazin „Panorama“ gestern ausgestrahlt hat. Sie kommt ein bisschen breitbeinig daher, zeichnet aber ein sehr beklemmendes Bild des Landes, in dem am kommenden Samstag das Finale des Grand-Prix stattfindet.

Mit sichtlicher Freude entzaubert Reporter Paul Kenyon die Haltung der Europäische Rundfunkunion EBU, die den ESC veranstaltet und in der u.a. ARD und ZDF Mitglieder sind. Er schafft es, die Generaldirektorin Ingrid Deltenre gleich zu mehreren erstaunlichen Aussagen zu bringen.

Sie vergleicht die in vielfacher Hinsicht ungesetzlichen Zwangsvertreibungen in Baku mit Ärger über Umsiedlungen vor den Olympischen Spielen in London. Sie bestätigt, dass die aserbaidschanische Regierung versucht, den ESC zu politisieren. Sie räumt ein, dass es anrüchtig ist, dass als Pausenact ausgerechnet der Schwiegersohn des aserbaidschanischen Präsidenten auftreten wird (die Präsidentengattin leitet das Organisationskommittee dieses unpolitischen Events). Und Sie sagt mit, wie ich fast annehmen muss, versehentlicher Offenheit, dass Aserbaidschan das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht respektiert, obwohl gerade das für die EBU doch absolut essentiell ist.

(Der Teil ab 0:23 in den folgenden Ausschnitten bezieht sich auf die Wahl von Präsidentenschwiegersohn Emin als Interval Act.)


 
Die ganze Sendung ist bei der BBC leider nur von Großbritannien aus anzusehen. Nachtrag: Gibt’s aber auch auf YouTube.

Menschenrechte? Polit‑Sperenzchen!

Die „Hamburger Morgenpost“ ließ gestern mehrere Experten Fragen zum Eurovision Song Contest in Aserbaidschan beantworten, u.a.:

Was sagen die Sänger zur politischen Lage?

Bisher haben sich nur wenige Musiker geäußert. „Für Polit-Sperenzchen haben die meisten Künstler gerade keinen Sinn“, sagt der Hamburger ESC-Experte Jan Feddersen (54). „Beim Contest entscheidet sich schließlich, ob sie ihren Zenit vor oder schon hinter sich haben.“

Jan Feddersen ist Redakteur der „taz“ und bloggt für eurovision.de.

[via Georg in den Kommentaren, mit Dank an Alexander]