Deutschland ringt um Fassung

Ich würde die Frage „Sind eigentlich alle verrückt geworden?“ während Fußball-Welt- und Europa-Meisterschaften ohnehin pauschal mit „Ja“ beantworten. Aber der Wahn, der in diesen Tagen ARD und ZDF erfasst hat, ist ganz besonders besorgniserregend.

Es ist eine Sache, wenn die „Bild“-Zeitung innerhalb nicht einmal einer Woche aufgrund eines einzigen verlorenen Spiels aus einer Truppe, die sie gerade noch als unschlagbar bezeichnet hat, eine Ansammlung von Volldeppen macht. Ich nehme an, dass das nicht nur mit der üblichen Schamlosigkeit, Skrupellosigkeit und Schizophrenie zu tun hat, die die Leute auszeichnet, die dort arbeiten. Ich schätze, es ist auch Ausdruck eines Selbsthasses, der durch die nicht mehr auflösbare Vieldeutigkeit des Begriffes „wir“ dramatisch verschärft wird. Wenn „Bild“ in diesen Zeiten „wir“ schreibt, kann das „Bild“, „die Deutschen“ oder „die deutsche Nationalmannschaft“ meinen.

Aus der Sicht der „Bild“-Leute bedeutet das: Wenn wir uns attestiert haben, dass wir unschlagbar sind, und wir dann doch geschlagen werden, bedeutet das für uns eine doppelte Niederlage, die wir uns ganz besonders übel nehmen.

Die „Bild“-Leute müssten sich verfluchen für den eigenen Rausch, für die grotesk übertriebenen Erwartungen und hysterischen Lobeshymnen. Stattdessen verfluchen sie die Mannschaft, weil sie nicht in der Lage war, diesen Übertreibungen gerecht zu werden. Plötzlich sind die Schuld, dass wir verloren haben — und „Bild“ rechnet mit ihnen ab.

Das ist so widerlich wie erwartbar, aber das ist „Bild“.

Arnd Zeigler schreibt in einem lesenswerten Offenen Brief:

Es ist wirklich interessant zu beobachten, dass es für ein Abschneiden wie diesmal bei der BILD (und überraschenderweise auch bei vielen Fußball-Konsumenten) gar keine Kategorie mehr gibt. Es gibt nur „Europameister“ oder „Vollversager“.

Das aber ist leider kein exklusives „Bild“-Phänomen. Das war in der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender nicht anders.

Das Erste zeigte gestern am Ende seiner Berichterstattung von der Leichtathletik-EM einen Beitrag von Bernd Schmelzer, der aus der Niederlage im Halbfinale eine nationale Katastrophe beinahe apokalyptischen Ausmaßes machte. Offenbar zu betroffen, um Verben benutzen zu können, sprach er aus dem Off zu Bildern von der abreisenden Mannschaft:

Nichts wie weg. Weg aus Warschau. Abhaken diese EM. Dieses Halbfinale. Die Personaldiskussionen. Die goldene Generation. Ein Trauma. Den Tiefpunkt. Auch wenn’s schwerfällt.

Alles aus, vorbei. Wieder gegen Italien. Es ist wie ein Fluch.

Zu Aufnahmen von enttäuschten Fans rang Schmelzer um Fassung, fand sie nicht und sagte also:

Deutschland ringt um Fassung.

Und gleich danach noch einmal:

Ein ganzes Land ist fassungslos. Hunderttausende auf den Fanmeilen — wie in Schockstarre.

Katerstimmung von Nord bis Süd.

Absturz statt Höhenflug.

Das ZDF hatte schon tagsüber von seinem „ZDF-Fußballstrand“ auf Usedom berichtet. Dort hatte sich endgültig die Hölle aufgetan, die Metaphernhölle, und so formulierte ein öffentlich-rechtlicher Fußballstrandreporter:

Auch am ZDF-Fußballstrand in Heringsdorf mussten 1000 deutsche Fans ihren Traum vom EM-Titel begraben. (…) Wie ein zäher Küstennebel legte sich der Italienfluch über den ZDF-Fußbsallstrand. Die Stimmung der Fans so weit unten wie die Ostsee tief ist. (…) Nun fällt die Party ins Wasser. Hier am ZDF-Fußballstrand tragen die Fans Trauer.

Ich schätze, sie haben in der Nachrichtenredaktion des ZDF länger überlegt, ob sie „heute“ oder das „heute journal“ angesichts der dramatischen Ereignisse nicht direkt vom ZDF-Fußballstrand auf Usedom senden sollten. Und da dort bekanntlich Europa entsteht, wäre das ZDF vor den 1000 leeren Liegestühlen auch am perfekten Ort gewesen, um hautnah über die dramatischen Beschlüsse in Brüssel und die wichtigen europapolitischen Abstimmungen im Bundestag berichten zu können.

Am Ende nahm das ZDF dann aber doch nur ein „ZDF-Spezial“ gleich nach der Hauptausgabe der „heute“-Sendung zusätzlich ins Programm. (Nein, nicht zu den Euro-Beschlüssen. Zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft im Halbfinale bei der Europameisterschaft.)

Das ZDF zeigt den Mannschaftsbus, wie er vor dem Hotel abfährt. Das Flugzeug, in dem die Mannschaft nach Deutschland fliegt. Die Autos, mit denen die Spieler in Frankfurt wegfahren.

Oliver, sagt Katrin Müller-Hohenstein dann, während man hinter ihr den geschichtsträchtigen Sand sehen kann, unter dem nun die Hoffnungen von 1000 deutschen Fans verbuddelt sein müssen. „Oliver“, sagt sie also, „wir müssen darüber reden, was gestern abend passiert ist.“ Es scheint also immerhin keine freie Entscheidung des Senders gewesen zu sein, dieses „ZDF-Spezial“ ins Programm zu nehmen, in dem Oliver Kahn insgesamt fast vier Minuten irgendetwas sagt, sondern eine Notwendigkeit, eine nationale Pflicht.

Zentraler Beitrag der Sendung ist ein Film von Boris Büchler über „eine unvollendete Generation 2006 bis 2012“, der mit folgenden Worten beginnt:

Für den Mann, den sie Jogi nennen, ist die EM Geschichte. Endstation Warschau. Die Stunde Null der vielzitierten goldenen Generation, der anscheinend die Siegermentalität bei großen Spielen, bei Turnieren fehlt. 2012 sollte für das Gesamtwerk des Bundestrainers ein entscheidendes werden. Doch Löw und seine Auserwählten bleiben die Unvollendeten.

Auch für den Mann, den sie Boris Büchler nennen, ist die EM Geschichte. Man muss diesen Film gesehen haben, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass sich die Sportberichterstattung im ZDF weiter vom Journalismus entfernt hat, als selbst der Veranstaltungsort „Fußballstrand“ erahnen lässt. Er hat einen Nachruf gedreht, die Szenen sind mit dramatischer Musik unterlegt. Sein Stück hat nichts Dokumentarisches mehr, fast jede Szene ist verfremdet, durch Zeitlupe, durch Unschärfe, durch Überblendungen, durch Instagram-ähnliche Effekte. Alles ist historisiert: Schlieren und Schleier wie bei alten Schwarzweißfilmen liegen über den Aufnahmen, Markierungen und Symbole wie aus Spielfilmen, Flecken wie aus Homevideos mit der Super-8-Kamera.

Um den Eindruck einer Trauerfeier zu verstärken, sind die Ränder der Bilder abgedunkelt — ein Effekt, den RTL konsequent bei Sendungen wie dem „Supertalent“ benutzt, um künstlich Dramatik zu schaffen. Die gleiche Absicht, die gleiche Wirkung, hat er auch hier. Das ZDF zeigt in seiner Sondersendung nach den Nachrichten nicht, wie es war, sondern wie es sich angefühlt hat. Es ist eine konsequente Fiktionalisierung des Geschehens:


 
„Wir brauchen diese deutschen Tugenden, die uns immer groß gemacht haben“, sagt Oliver Kahn hinterher noch. „Darüber sollten wir uns mal zen-tra-le Gedanken machen.“ Damit endet das „ZDF-Spezial“ zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-EM 2012.

Unterdessen gibt es Aufregung, dass die Uefa im Spiegel gegen Italien eine weinende Zuschauerin in der Übertragung nach dem 2:0 gezeigt hat, obwohl sie sagt, sie hätte schon vor dem Anpfiff geweint. Eine „bodenlose Frechheit“, meldet „Welt Online“ gewohnt nüchtern.

Die ARD will sich wieder beim Verband beschweren, und das ZDF wird sicher auch noch markige Worte für diese Art der Manipulation finden. Sie werden so laut und empört über diesen unseriösen Einsatz von Symbolbildern protestieren, dass man fast denken könnte, sie hätten einen Ruf zu verlieren, als Journalisten und seriöse Sportberichterstatter.

Der Bereich „TV- und Videoproduktionen“ bei Axel Springer präsentiert erste Ergebnisse seiner Arbeit

Es waren große Aufgaben, die Claus Strunz vor einem Jahr übertragen wurden. Nach zweieinhalb Jahren hatte ihn die Axel-Springer-AG als Chefredakteur des „Hamburger Abendblattes“ abgelöst und ihm einen eigenen Bereich zum Leiten geschaffen, in dem seine andauernden Erfolge nicht soviel Schaden anrichten konnten. Strunz übernahm, wie die Pressestelle des Konzerns bekannt gab, die Leitung des Bereiches „TV- und Videoproduktionen“ bei Axel Springer:

Kernaufgaben seiner neuen Funktion sind konzernübergreifend die Entwicklung und Umsetzung von TV- und Videoproduktionen für alle digitalen Plattformen der Medienmarken von Axel Springer. Er berichtet direkt an den Vorstandsvorsitzenden.

Große Sache. Die Zukunft, keine Frage.

Der Branchendienst „Kontakter“ berichtete in der vergangenen Woche, dass Geschäftsführer Strunz „nach einer fast einjährigen Zeit der Findungsphase erstmals Ergebnisse präsentieren kann“. Das erste sichtbare Resultat seiner Pionier-Arbeit ist die Puppenshow „Jessis EM-Club“. Sie ist seit zwei Wochen exklusiv auf „Welt Online“ zu sehen (sowie auf Bild.de mit dem Hinweis „exklusiv auf ‚Welt Online'“).

Und wir blenden uns direkt in die zwölfte Folge der elfteiligen Reihe. Der Titel: „So witzelt Poldi über die Italiener“.


Lukas Podolski: Ey, Alessandro, ey, jetzt kommt einer. Was ist ein Italiener ohne Arme und Beine?
Alessandro del Piero: Weiß ich nicht.
Podolski: Taubstumm.
Del Piero: Warum wollen nach einem Länderspiel immer alle das Trikot von Mario Gomez haben?
Podolski: Ah, kein Plan.
Del Piero: Es ist das einzige, das nicht verschwitzt ist.
Podolski: Del Piero, pass auf. Was ist der Grund dafür, dass die Italiener immer so klein sind?
Del Piero: Warum?
Podolski: Ihre Mütter sagen, dass sie arbeiten müssen, wenn sie mal groß sind.

Del Piero: Geht Jogi Löw zum Arzt. „Herr Doktor, niemand beachtet mich so richtig.“ Sagt der Arzt: „Nächste, bitte.“
Podolski: Pass auf, ey, Balotelli humpelt vom Platz. Fragt der Trainer besorgt: „Ist die Verletzung schlimm?“ Sagt Baotelli, ey: „Nein, nein, Trainer, meine Wade ist nur eingeschlafen.“
Del Piero: Was macht Bastian Schweinsteiger wenn er die Champions League gewonnen hat?
Podolski: Keine Ahnung, ey.
Del Piero: Er macht die Playstation aus.

Podolski: Ich hab auch noch einen, ey. Was sagt der italienische Kammerjäger, wenn er alle Küchenschaben erledigt hat? „Ey, ischabe fertig.“
Del Piero: Was ist der Unterschied zwischen Mesut Özil und einem Lama?
Podolski: Ah, keine Ahnung.
Del Piero: Na, das Lama ist treffsicherer.
(Gelächter, Applaus.)
Podolski: Alles voll witzig, ne?
Del Piero: Ja.
Podolski: Ja, voll witzig.
(Gelächter, Applaus, Abspann.)

(Man muss es eigentlich im Original gesehen haben, aber gleichzeitig möchte ich vor dem Ansehen warnen.)

Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit des Geschäftsbereiches TV- und Videoproduktion der Axel-Springer-AG mit der Sportredaktion der WELT-Gruppe und TV Berlin. Menschen, die schon mal eine Handpuppe gebaut oder gespielt oder gesehen haben, waren offenbar nicht beteiligt.

Laut „Kontakter“ „werkelt“ Strunz noch an anderen Sendungen, Quiz- und Doku-Soap-Formaten, die es aber „bislang nicht zur Marktreife geschafft haben“.

Maxeiners und Mierschs Gehirnwäsche

Mein Freund Michalis Pantelouris hat diesen Artikel von Dirk Maxeiner und Michael Miersch in der „Welt“ als den „dümmsten Text in deutscher Sprache 2012« bezeichnet, aber damit tut er natürlich den vielen anderen Kolumnen Unrecht, die die beiden in diesem Jahr geschrieben haben und vermutlich noch schreiben werden.

Es ist trotzdem ein bemerkenswertes Dokument. Die Überschrift lautet:

Grüne Gehirnwäsche macht aus Kindern Öko-Spione

Anstatt sie zum selbstständigen und kritischen Denken zu erziehen, werden immer mehr Kinder in Deutschland ökologisch indoktriniert. Denn die grüne Wirtschaft braucht Propaganda.

Nun könnte man dem Artikel natürlich vorwerfen, dass er keine der in dieser Sätzen enthaltenen Behauptungen belegt. Anderseits muss man ihm zugute halten, dass er dem Leser mit dieser Überschrift auch nicht fälschlicherweise suggeriert, dem folgenden Text ginge es in irgendeiner Weise um eine seriöse Argumentation.

Drei Beispiele haben die Autoren, um zu zeigen, dass der „öko-industrielle Komplex“ „zunehmend“ Kinder einsetzt, um ungebührliche Aufmerksamkeit für seine eigentlich gar nicht so wichtigen Themen zu gewinnen.

Das erste ist Felix Finkbeiner, ein inzwischen 14-jähriger Junge aus der Nähe von München, der seit fünf Jahren dafür kämpft, in aller Welt massenhaft Bäume zu pflanzen. Seine Aktion „Plant for the Planet“ ist offenbar spektakulär erfolgreich, und natürlich hilft dabei auch, dass es sich um eine Initiative von Kindern handelt, was in den Medien gut ankommt. Aber selbst Maxeiner & Miersch, die sonst alles verdächtig finden, was der Umwelt gut tun könnte, sind nicht prinzipiell gegen Bäumepflanzen. Sie lassen sich sogar zu dem Halbsatz hinreißen: „Nun ist Bäumepflanzen keine schlechte Sache.“

Was also ist ihr Problem? Felix wirkte bei seinem Auftritt vor den Vereinten Nationen im vergangenen Jahr auf sie „wie eine aufgezogene Puppe“. Verdächtig machte er sich auch durch gekonntes Gestikulieren. Fazit: „Nichts an diesem Auftritt wirkt echt.“

Es bleibt offen, ob Taten mit guter Wirkung für Maxeiner & Miersch akzeptabler wären, wenn sie von Kindern organisiert würden, die sich dabei angemessen kindlich benehmen. Oder ob sie es prinzipiell ablehnen, dass sich 14-jährige dafür einsetzen, dass die Lebensbedingungen auf der Welt auch dann noch akzeptabel sind, wenn Maxeiner & Miersch längst unter der Erde liegen und nicht mehr mitkriegen, ob sich der Klimawandel wirklich als so vernachlässigenswertes Thema herausgestellt haben wird, wie sie es immer behauptet haben.

Sie sind längst beim zweiten Beispiel für „grüne Gehirnwäsche“: Ein Verlag hat es gewagt, ein neues Buch für Erzieher und Lehrer herauszugeben, das „Wie wollen wir leben? Kinder philosophieren über Nachhaltigkeit“ heißt.

Nun muss man wissen, dass für Maxeiner & Miersch eine eigene Variante von Godwins Gesetz gilt, in der der Hitler-Vergleich durch den Gebrauch des Wortes „Nachhaltigkeit“ ersetzt wurde.

Nichts anderes bringt die beiden so zuverlässig auf die Palme wie dieses Wort. Wer „Nachhaltigkeit“ sagt, hat verloren.

Ironisch schreiben sie:

Da die Mehrheit der deutschen Erwachsenen keinen Schimmer hat, was Nachhaltigkeit eigentlich sein soll (und es ihr auch niemand erklären konnte), ist es natürlich höchste Zeit, dass Kinder mit ihren Lehrern darüber philosophieren.

Niemand könnte der Mehrheit der deutschen Erwachsenen erklären, was Nachhaltigkeit sein soll? Was wäre mit der klassischen Definition, nach der „nachhaltige Entwicklung“ bedeutet,

dass die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können.

Ich glaube, dass man das sogar Kindern ganz leicht so erklären kann, dass sie es verstehen, zum Beispiel anhand von wilden Tieren, von denen man immer nur so viele jagen darf, dass es auch in Zukunft noch Tiere zu jagen gibt. (Wenn mich nicht alles täuscht, hat man mir das als Kind schon in den siebziger Jahren genau so erklärt, womöglich anhand der Indianer, die das angeblich besser wussten als der weiße Mann, aber ich wage mir nicht vorzustellen, was Maxeiner & Miersch zu dieser Art grüner Indoktrination und politischer Korrektheit zu sagen hätten.)

Wenn Maxeiner & Miersch sagen, dass „Nachhaltigkeit“ ein Mode- und Gummiwort geworden ist, haben sie vermutlich sogar Recht. Das erklärt aber noch nicht die Wut, mit der sie auf jeden einprügeln, der es zu benutzen wagt. Dabei haben sie in einem Artikel, in dem sie die angebliche Idee hinter dem Begriff als „utopisch und im Kern totalitär“ bezeichnen, sogar eine wunderbare Umschreibung des Nachhaltigkeits-Gedankens von Werner von Siemens aus dem 19. Jahrhundert gefunden: „Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht.“ Den fanden Maxeiner & Miersch aus irgendwelchen Gründen in Ordnung — vermutlich weil er ohne den verhassten Begriff auskommt, der dasselbe beschreibt, vielleicht aber auch nur, weil Siemens das wusste, „ohne dafür eine Ethikkommission oder partizipative Wissenschaft zu benötigen“, was die Kindergartenhaftigkeit ihrer ganzen Argumentation ganz gut auf den Punkt bringt.

In demselben Text wiesen sie — völlig zu recht — darauf hin, dass Nachhaltigkeit kein natürliches, sondern ein ökonomisches Prinzip ist und fügten hinzu: „Hätte sich die Natur vor ein paar Millionen Jahren entschieden, nachhaltig zu sein, dann dominierten heute noch die Dinosaurier den Planeten.“

Keine Frage: Der Natur wird schon immer irgendwas einfallen, es wird halt womöglich nur kein Ort sein, an dem Dinosaurier überleben. Oder Menschen.

Aber zurück zu dem Buch, das Maxeiner & Miersch so übel aufgestoßen ist. Der Bayerische Kultusminister weist in seinem Vorwort darauf hin, dass „Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt zu den obersten Bildungszielen der Bayerischen Verfassung“ gehört:

Leitziel ist die Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Hierbei geht es nicht in erster Linie um die Vermittlung eines wünschenswerten Verhaltens oder um moralische Appelle, sondern vielmehr um die Befähigung von Kindern und Jugendlichen, altersangemessen aktiv am gesellschaftlichen Geschehen teilzuhaben und es mitgestalten zu können. Vor diesem Hintergrund sollen die Kinder ihren Lebensstil, gerade auch ihre Konsumgewohnheiten, hinterfragen und Lebensformen kennenlernen, die umweltgerecht und zukunftsfähig, also nachhaltig sind — um schließlich vom Lernen zum eigenen Handeln zu gelangen.

Und was das „Philosophieren“ angeht — in einem Kapitel heißt es:

Wenn hinter einer Frage möglicherweise ein Staunen, ein Zweifeln, eine ganze Reihe von Gedanken stecken, dann lohnt es sich zurückzufragen und gemeinsam nachzudenken. Eine philosophische Frage verlangt nicht nach einer Antwort, sondern nach einem Gespräch. Die eine richtige Antwort auf eine philosophische Frage gibt es nicht, vielmehr eine Vielzahl richtiger Antworten — je nachdem, aus welcher Perspektive und von wem die Frage betrachtet wird.

Diese Erziehung zur aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen, dieses gemeinsame Fragen, ohne Festlegung auf eine „richtige“ Antwortung, das muss es sein, was Maxeiner & Miersch als „Gehirnwäsche“ und als „Indoktrination“ bezeichnen. Erstaunlich.

Aber sie haben ja noch ein drittes Beispiel. „Propagandamaterial der Whale and Dolphin Conservation Society“ (WDCS), das „Fünfjährigen“ in die Hand gedrückt wird, wenn sie Sealife-Aquarien besuchen. Die Kinder würden darin ermuntert, ihren Eltern nachzuschnüffeln, ob sie isländischen Fisch kaufen, weil Isländer fiese Walfänger seien.

Nun wirkt die Kinder-Aktion der WDCS auch auf mich einigermaßen abwegig und die Logik hinter dem, was Maxeiner & Miersch einen „subtilen Boykottaufruf“ nennen, außerordentlich komplex. Es geht offenbar darum, dass man seinen Fisch nicht ausgerechnet von den isländischen Fischern kaufen soll, die auch groß im Walfanggeschäft sind. Es ist natürlich nicht so, wie die beiden „Welt“-Kolumnisten schreiben, dass dieser Boykottaufruf „mit keinem Wort“ sachlich begründet wird. Nur verständlich ist er nicht und nachvollziehbar ist die Aktion auch nicht.

Für Maxeiner & Miersch ist diese merkwürdige Aktion aber Gold wert. Sie schreiben über die Rolle der Kinder:

Sie sollen sich als „Walfang-Detektive“ und „Spione“ verdingen, den Erwachsenen nachschnüffeln und melden, ob und wo Mama, Papa, Opa oder Oma isländischen Fisch gekauft haben.

Nicht ganz. „Spione“ sind nicht die Kinder, sondern ihre Eltern — genauer gesagt ist es derjenige, der zuhause den Fisch kauft. Er soll als „Spion“ für den Kinder-„Detektiv“ arbeiten.

Das ist natürlich einerseits völlig egal, andererseits aber entscheidend, damit Maxeiner & Miersch aus der Geschichte die maximale Indoktrinations-Fallhöhe herausholen können. Sie beenden ihren Text nämlich so:

Dies sind nur drei Beispiele von Hunderten, wie in Deutschland Kinder mittlerweile einer grünen Gehirnwäsche unterzogen werden. Diese Art von Indoktrination ist das Gegenteil von einer Erziehung zum selbstständigen und kritischen Denken. In George Orwells „1984“ hieß die Kinderorganisation übrigens „Spione“.

Hoho! Und nun könnte man, wenn man zuviel Tagesfreizeit hätte, lange darüber grübeln, ob die Walschützer damit versehentlich ihr totalitaristisches Denken verraten haben. Womöglich. Wenn die Walschützer die Kinder in ihrer Aktion denn „Spione“ genannt hätten. Was sie nicht haben.

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Ja, das ist nur ein kleines Artikelchen da, nicht einmal ein Viertel so lang wie dieser Blogeintrag. Aber es ist eben nicht nur ein kleines Artikelchen. Es ist eines von vielen und ein Paradebeispiel dafür, mit welcher Besinnungslosigkeit solche Kämpfer gegen den vermeintlichen Mainstream und die angeblich herrschende Political Correctness auf alles einschlagen, was nicht ihrer eigenen Ideologie entspricht. Schon ein irgendwie frühreif wirkender 14-jähriger Junge, der unbestritten Gutes erreicht hat, muss da bekämpft werden, und schon ein Buch, das bloß dabei helfen will, mit Kindern ins offene Gespräch zu kommen über Themen, wird zum Teil eines Masterplans zur Unterwerfung der Welt.

Und dieser Fanatismus verkleidet sich auch noch als Kampf gegen Fanatismus.

50 60 Jahre „Bild“

Zentrales Leitmotiv der Feierlichkeiten zum sechzigsten Geburtstag der „Bild“-Zeitung ist die Behauptung, das Blatt sei nun in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und die vielleicht am häufigsten diskutierte Frage ist die, wie sehr sich das Blatt verändert hat.

Entscheiden Sie selbst. Dies ist ein Artikel von mir aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, erschienen heute vor zehn Jahren.

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Nichts zu danken. Die „Bild“-Zeitung wird fünfzig Jahre alt — und alle, alle gratulieren. Doch gibt es was zu feiern?

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß einem Familienmitglieder wegsterben in einem furchtbaren Unfall und man am nächsten Tag nicht die paar Schritte von der Haustür zum Auto gehen kann, weil Fotografen und Reporter von der „Bild“-Zeitung am Grundstück lauern und einen verfolgen und fotografieren und wenig später anrufen und fragen, ob man sich wirklich ganz sicher sei, daß man nicht in einem Interview über die eigene Trauer reden wolle, weil man die Fotos von einem selbst und seinen Angehörigen veröffentlichen werde, so oder so, aber so wäre es vielleicht besser.

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man mit seinem Laster einen tragischen Unfall verursacht, der zwei Menschen das Leben kostet, um festzustellen, daß damit der Tiefpunkt noch nicht erreicht ist, sondern erst am nächsten Tag, als die „Bild“-Zeitung ein riesiges Foto von einem abdruckt und einen Pfeil und daneben die Schlagzeile: „Er hat gerade zwei Berliner totgefahren.“

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man vor Gericht steht, weil man möglicherweise als Handwerker einen Fehler gemacht hat und durch eine unglückliche Verkettung von Umständen ein Kind einen Stromstoß erleidet, der bleibende Schäden bei ihm auslöst, und am nächsten Tag sein eigenes Gesicht in der „Bild“-Zeitung sehen und daneben die Frage: „Hat der Elektriker Timmi auf dem Gewissen?“

Vielleicht würde es schon reichen, wenn man einmal erlebt hätte, wie das ist, als halbwegs prominenter Mensch von der Klatsch-Kolumnistin der „Bild“-Zeitung angerufen zu werden und sinngemäß gesagt zu bekommen: „Sag mir, mit wem du vögelst. Wenn du es mir nicht sagst, schreiben wir morgen, du vögelst mit XY.“

Wahrscheinlich wüßte man dann, daß die „Bild“-Zeitung lügt, wenn sie, wie gestern, schreibt: „,Bild‘ feiert Geburtstag. Ganz Deutschland freut sich, ganz Deutschland feiert mit.“ Wahrscheinlich würde man dann versuchen, die Jubiläumsfeierlichkeiten in der „Bild“-Zeitung weiträumig zu umfahren. Und wahrscheinlich würde man dann verzweifeln, weil man feststellen müßte, daß „Bild“ in diesen Tagen nicht nur Geburtstag hat, sondern heiliggesprochen wird, nicht nur von den angeschlossenen Springer-Blättern, nicht nur von den Konservativen und Staatstragenden, sondern auch von der halben liberalen Presse. Vor ein paar Jahren war es noch so, daß „Bild“ bäh war; alle lasen sie, aber wer sich bekannte, es gerne und interessiert zu tun, war in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter. Heute ist es so, daß „Bild“ cool ist; alle lesen sie, und wer sich bekennt, sie für ein entsetzliches menschenverachtendes Blatt zu halten, ist in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter.

Sie hat sich diese schillernde Oberfläche aus Nebensächlichem, Harmlosigkeiten und Selbstironie zugelegt, die Medienprofis und Intellektuellen gefällt. Die freuen sich über den Einfall, zum Fußball-Spiel am frühen Morgen die „Bild“-Zeitung mit zwei Titelseiten erscheinen zu lassen – je nach Sieg oder Niederlage. Sie interpretieren öffentlich, wie man das zu werten habe, daß die „Bild“-Zeitung, im kalkulierten Schein-Tabubruch, vor dem USA-Spiel schreibt: „Ami go home“, höhö. Sie sind süchtig nach dem täglichen Brief von Franz-Josef Wagner und neidisch auf seine Fähigkeit, den Wirrwarr in seinem Kopf ohne Umweg über Filter im Gehirn auf die Seiten fließen zu lassen. Sie schauen mit ein bißchen Abscheu und viel Faszination auf die Abgründe, die sich jeden Tag auf Seite eins auftun, auf die x-te Wendung im Uschi-Glas-Drama, staunen, wie „Bild“ es an guten Tagen schafft, wenn man glaubt, nun könnte ihnen dazu unmöglich noch etwas einfallen, sogar mehrere Dauer-Handlungsstränge zusammenlaufen zu lassen und die Schicksale von Klaus-Jürgen Wussow, Uschi Glas und Ireen Sheer unendlich kunstvoll ineinander zu verweben.

Sie lesen die „Bild“-Zeitung, kurz gesagt, als Fiktion. Und die „Bild“-Zeitung fördert das, indem sie – selbstbewußt und selbstreflexiv, fest verankert im postmodernen und postideologischen Zeitalter – ihre eigene Rolle im Blatt zum Thema macht und zum Beispiel das endlos weitergedrehte Wussow-Scheidungsdrama selbst zur Soap erklärt und mit eigenem Logo „Die Wussows“ samt Angabe der „Folge“ versieht.

„Kampagnen“ hat man dem Chefredakteur Kai Diekmann kurz nach seinem Amtsantritt vorgeworfen, und er hat das empört von sich gewiesen. So ein Unfug: Seit Diekmann Chefredakteur ist, finden auf der Seite eins der „Bild“-Zeitung fast ausschließlich Kampagnen statt – nur daß man sie, angesichts der Themen, eher „Fortsetzungsromane“ nennen müßte. Jedes Thema wird über Tage, Wochen, Monate gar weitergedreht, bis auch die letzte dramaturgische Wendung und irre Pointe herausgepreßt ist. Im Februar standen an vierzehn von vierundzwanzig Erscheinungstagen die privaten Sorgen von Uschi Glas und ihrer Familie auf der Titelseite der „Bild“. Ein Thema so ernst zu nehmen verlangt einen gewissen Unernst, ein Augenzwinkern. Das ist hohe Kunst. Da staunt die Branche. Und lacht.

Ob es auch dem durchschnittlichen Leser gefällt, ist eine andere Frage. Ausgerechnet im ersten Quartal, jenem mit den Uschi-Glas-Trennungs-Festspielen, sackte die Auflage der „Bild“-Zeitung um 200 000 Stück gegenüber dem Vorjahr ab, ein Rückgang um heftige fünf Prozent. Diekmann erklärt das damit, daß die Leser nicht mehr abgezählte Groschen rüberschieben konnten, sondern nach Cent kramen mußten. Frage: Würde die „Bild“-Zeitung einem Wirtschaftsboß oder Minister diese Erklärung durchgehen lassen?

In einer Lobhudelei attestierte die „Welt“ ihrem Schwesterblatt in der vergangenen Woche, daß „das heutige Blatt erheblich jünger und sexier wirkt als die Protestierenden von damals“ (was natürlich kein Kunststück ist, da es Menschen ein bißchen schwerer fällt als Zeitungen, den Alterungsprozeß durch den Austausch von Chefredakteuren aufzuhalten). Die „Welt“ weiter: „Die Intellektuellen haben aufgehört, sich über ‚Bild‘ aufzuregen.“ Das Furchtbare an diesem Satz ist, daß er in doppelter Hinsicht stimmt. Er beinhaltet nämlich auch die Analyse, daß es nicht die „Bild“-Zeitung ist, die sich verändert hat, zahmer geworden sei etwa, sondern die Intellektuellen diejenigen sind, die sich geändert haben. Die Orientierungspunkte haben sich verschoben, die Medienwelt insgesamt, nur deshalb ist „Bild“ plötzlich kein Schmuddelkind mehr. Heute erzählt der nette Herr Röbel, der bis vor eineinhalb Jahren „Bild“-Chefredakteur war, im „Tagesspiegel“ ganz offen, wie das geht, dieses Witwenschütteln, das ihm sein Chef beigebracht hat, über den er „nichts Schlechtes sagen“ kann: „Hatte man etwa bei einem Unglück die Adresse von Hinterbliebenen herausgefunden, ist man sofort hingefahren, klar. Beim Abschied aber hat man die Klingelschilder an der Tür heimlich ausgetauscht, um die Konkurrenz zu verwirren. Ich war damals oft mit demselben Fotografen unterwegs, wir hatten eine perfekte Rollenaufteilung. Er hatte eine Stimme wie ein Pastor und begrüßte die Leute mit einem doppelten Händedruck, herzliches Beileid, Herr . . . Ich mußte dann nur noch zuhören. So kamen wir an die besten Fotos aus den Familienalben. . . . Es war einfach geil.“

Schwer zu sagen, ob all die Intellektuellen, die sich nicht mehr aufregen, all die liberalen Journalisten mit ihren Eigentlich-ist-sie-doch-gut-Artikeln zum Geburtstag, ob sie diese Methoden auch geil finden oder ob sich ihre „Bild“-Lektüre auf die witzigen, schrägen, spannenden ersten beiden Seiten, den Sport und den Klatsch am Schluß beschränkt. Dazwischen nämlich, vor allem in den Lokalteilen, läuft das Blut wie eh und je. Es vergeht kein Tag, ohne daß zum Beispiel „Bild Berlin“ der Leserschaft die Beteiligten eines Unfalls, eines Prozesses, irgendeiner Tragödie mit großen Fotos zum Fraß vorwirft. Eine Viertelseite füllt das Foto von Christian S. neben der Schlagzeile: „Ich habe eine nette Oma totgefahren. Was ist mein Leben jetzt noch wert?“ Verdächtige werden nicht dann zu Mördern, wenn sie verurteilt sind, sondern wenn „Bild“ sie dazu erklärt: „Anna (7) in Schultoilette vergewaltigt. Er war’s“ steht dann da und ein Pfeil und ein Bild, und im Text ist schon vom „Beweis seiner Schuld“ die Rede.

Jeder Beteiligte wird abgebildet und trotz eines Alibi-Balkens über seinen Augen (den auch nicht alle bekommen) mit Vornamen, abgekürztem Nachnamen und Ortsangabe für sein Umfeld eindeutig identifizierbar. „Weil sie sich mit ihrem Freund amüsierte – diese Berliner Mutter ließ ihren Sohn verhungern“, „Dominik (15) erhängte sich auf dem Dachboden“ – sie alle dürfen wir sehen. Es reicht schon, eine blinde Hündin ausgesetzt haben zu sollen, um mit Foto an den „Bild“-Pranger gestellt zu werden.

Das Blatt Axel C. Springers kämpft immer noch jeden Tag die alten Kämpfe. Wenn die PDS mitregiert in Berlin, schreibt „Bild“: „PDS krallt sich drei Senatoren-Posten“. Wenn Gregor Gysi Wirtschaftssenator wird, steht da an einem Tag die Frage: „Was wird jetzt aus Berlin“ und an einem anderen Tag die Antwort: „Gute Nacht, Berlin“ und nur ganz klein darunter in Klammern: “ . . . sagt Edmund Stoiber“. „Neue Stasi-Akten über Gysi gefunden“, heißt die Überschrift neben einem Bild, auf dem man ihm den bösen Spitzel schon anzusehen glaubt, doch im Text sagt ein Sprecher der Gauck-Behörde nur: „Hier und da wurde noch ein Blatt über ihn gefunden“ und der Autor ergänzt: „Ob brisant, dazu wurden keine Angaben gemacht“. Wenn es sein muß, wie vor einigen Monaten in Bremen, wird täglich neu gegen „Schein-Asylanten“ gehetzt. Sexualstraftätern wird konsequent das Mensch-Sein abgesprochen; sie sind „Monster“, deren Leben „im Knast schöner“ wird, „beinahe wie im Hotel“. Die Leser verstehen, ohne daß „Bild“ es hinschreiben müßte: Ihre Zeitung kämpft täglich für die Todesstrafe für Kinderschänder und -mörder.

Nein, neu ist das alles nicht. Das ist es ja: Im Kern ist die „Bild“-Zeitung die alte. Ein entsetzliches, menschenverachtendes Blatt.

Bitter daran, daß dies von weiten Teilen der veröffentlichten Meinung nicht mehr so gesehen wird, ist auch, daß es Kai Diekmann ermuntert, ein Bild von seiner Arbeit und seiner Zeitung zu zeichnen, das höchstens in einem Springerschen Paralleluniversum Berührungspunkte zu dem hat, was täglich nachzulesen ist. Der Mann, dessen Zeitung vom Presserat immer wieder wegen der immer gleichen Verstöße gerügt wird, dieser Mann sagt gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur: Die Grenzen des Boulevards seien dort, „wo Menschen verletzt werden könnten“ – daher messe sich die Zeitung regelmäßig an den journalistischen Leitlinien des Deutschen Presserats. Messen schon, nur verfehlt sie sie regelmäßig.

Der „Frankfurter Rundschau“ erzählt Diekmann: „Ich bin ein Streiter für journalistische Sorgfalt, gegen die Verluderung der Sitten.“ Jeder Reporter müsse selbst entscheiden, wo die Grenzen sind, aber er sage ihnen: „,Lieber haben wir dreimal das Bild nicht, als daß wir den Angehörigen der Opfer zu nahe treten.‘ Schließlich sind das Menschen, die ohne eigenes Zutun ins Licht der Öffentlichkeit gerückt sind.“ Das ist ein Satz, der so atemberaubend ist, daß er in jedes Schulbuch gehört. Und daneben der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Maurer, der in seinem Dachstuhl verbrannt ist. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem dreizehnjährigen Unfallopfer: „Tot, weil er eine Sekunde nicht aufgepaßt hat“. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Vizebürgermeister, der sich „in Pfütze totgefahren“ hat. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Achtzehnjährigen, der nach einem Unfall auf regennasser Straße im Auto seines besten Freundes starb.

Dann sagt Kai Diekmann der „Frankfurter Rundschau“ noch dies: „Ganz im Ernst: Wer wirklich privat sein will, kann das selbstverständlich sein. Es gibt Menschen, Politiker, die setzen bewußt ihre Familie ein. Und andere, wie Günther Jauch oder Harald Schmidt, tun’s nicht. Die haben unbedingten Anspruch auf Schutz ihrer Privatsphäre.“ Wirklich privat wollte, nach eigenen Angaben, Alfred Biolek mit seinem Partner sein. Kai Diekmanns „Bild“-Zeitung gewährte ihm diese Ehre nicht. Zwei Tage lang zelebrierte sie eine Home-Story, die auch noch den Eindruck erweckte, sie sei von Biolek selbst initiiert. Wirklich privat wollte auch Anke S. sein, die Geliebte des Ehemanns von Uschi Glas. Anders als die „Luder“-Fraktion wollte sie entschieden nicht in die Presse, ging gegen die Veröffentlichung ihrer Bilder vor, doch im Februar gab es Zeiten, in denen sie Tag für Tag auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung nackt abgebildet war, einen schwarzen Balken nicht über den Augen, sondern ihrem Busen, als wäre der das Merkmal, an dem sie zu erkennen wäre. Biolek und Anke S. gehen juristisch gegen die „Bild“-Zeitung vor, wie Hunderte Prominente vor ihnen. Einige bekommen vor Gericht recht, die meisten einigen sich irgendwie mit der Zeitung, weil Recht eine Sache ist, die Feindschaft der „Bild“-Zeitung eine andere.

Selbst einige von jenen, denen die „Bild“-Zeitung übel mitgespielt hat, haben ihre Einwilligung gegeben, daß der Verlag ihr Foto für die Jubiläums-Kampagne benutzen darf, die auf geschickte Weise offenläßt, ob „Bild“ ihnen dankt oder sie „Bild“ danken. Öffentlich nicht mitfeiern wollen nur die Wallraffs dieser Welt, die man leicht als Ewiggestrige, Miesepeter, Spielverderber darstellen kann. Ach, und vielleicht der ein oder andere Mensch, dessen privates Unglück so ungleich unerträglicher dadurch wurde, daß die „Bild“-Zeitung davon lebt, es der ganzen Nation zu zeigen.

Im Internet ist jeder Freiwild für „Bild“

Die Kollegen von Radio Eins hatten heute morgen Nikolaus Blome im Gespräch, den stellvertretenden „Bild“-Chefredakteur. Sie sprachen ihn auf die Berichterstattung über den gewaltsamen Tod einer jungen Frau in Berlin an. „Bild“ hatte den Fall versehentlich mit dem Foto einer ganz anderen jungen Frau illustriert. Dieses Foto hatte „Bild“ einfach aus deren Blog genommen.

Blome sagte, dass sei ein „Missgriff“ gewesen, aber er halte das nicht für das grundsätzliche „Funktionsprinzip“ von „Bild“. Das Gespräch ging so weiter:

Moderator: Unabhängig davon, dass es die falsche Person war: Ist es denn gut, dann einfach Fotos von irgendwelchen Internetseiten runterzuziehen? Statt zu versuchen, sich die von Angehörigen zu besorgen?

Blome: Na gut, dann hätten Sie uns vorgeworfen, wir würden irgendwelche Witwen schütteln, wie es früher hieß. Da sind wir in einer sehr grundsätzlichen Frage. Wenn Leute, Menschen — viele, viele Menschen offenkundig — ihr ganzes Privatleben im Internet ausbreiten, und das ist nun mal frei zugänglich, dann sind solche Folgen leider mit einzupreisen. Das heißt, dann müssen sich Menschen auch bewusst sein, dass sie sich öffentlich gemacht haben. Und das kann dann auch dazu führen, dass Zeitungen von diesen öffentlich zugänglichen Recherchefeldern, also zum Beispiel Facebook, also zum Beispiel Internet insgesamt, Gebrauch machen.

So ist das bei der Axel-Springer-AG. Der Konzern möchte kleinste Schnipsel, die er produzieren lässt, im Internet durch ein eigenes Recht schützen lassen, während sein wichtigstes Blatt Persönlichkeits- und Urheberrechte im selben Medium konsequent ignoriert.

(Man kann sich allerdings, wenn „Bild“ vom Internet entsprechend „Gebrauch gemacht“ hat, persönlich bei Dietrich von Klaeden von der Axel-Springer-AG beschweren, der sich dann nicht darum kümmert.)

Wo Kai Diekmann arbeitet, werden Fehler gemacht

„Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann beherrscht eine Art Zaubertrick. Sein Standard-Vortrag, mit dem er vor einigen Jahren vor ihm gewogeneren Zuschauern auftrat, war in weiten Teilen ein Appell zur Selbstkritik. Er sagte darin Sätze wie: „Beim Boulevard ist Haltung und der Mut, Fehler einzugestehen, besonders wichtig.“ Er zählte dann viele, viele Fehler auf. Kein einziger war von ihm.

Und wer nicht genau aufgepasst hat, ging mit dem Gefühl nach Hause, dass dieser Diekmann ein wirklich vorbildlich selbstkritischer Journalist ist, ohne dass er es tatsächlich sein musste.

Das habe ich vor zweieinhalb Jahren geschrieben, aber das kann man ja immer wieder schreiben. Man kann alles immer wieder schreiben.

Der Branchendienst turi2 stellt heute ein aktuelles Zitat von Diekmann heraus:

„Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht. Das heißt aber nicht, dass da, wo mit großen Buchstaben gearbeitet wird, zwangsläufig die Fehler größer sind.“

Es stammt aus einem Interview mit dem MDR und war Diekmanns Schein-Antwort auf die Frage: „Gibt es Entscheidungen, die Sie am Ende bereut haben? Wo Sie gesagt haben, okay, das hätte in unserer Zeitung so nicht stehen dürfen?“

Er nannte natürlich kein Beispiel. Die alte Masche funktioniert also immer noch. Er muss sie nicht einmal variieren.

„Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht. Das heißt aber nicht: Wer mit besonders großen Buchstaben arbeitet, macht deshalb auch größere Fehler als andere. Wenn Fehler gemacht werden, muss man dazu aber auch stehen.“

(Kai Diekmann, Juni 2012, im Interview mit dpa.)

„Dort, wo gearbeitet wird, werden auch Fehler gemacht. Das gilt für ‚Bild‘ genauso wie für alle anderen Zeitungen und Medien. Fehler bei ‚Bild‘ sind allerdings oft besonders auffällig, weil wir mit so großen Buchstaben arbeiten.“

(Kai Diekmann, März 2012, im Interview mit „Die Presse“.)

„Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht. Macht ‚Bild‘ mal einen Fehler, ist es gleich eine bösartige Kampagne, wenn nicht gleich eine Fälschung. Fehler passieren allen.“

(Kai Diekmann, 2006, in einem Vortrag über den „Erfolg der Marke ‚Bild'“.)

„Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht, leider. Große Buchstaben bedeuten aber nicht große Fehler.“

(Kai Diekmann, 2005, im Interview mit Maria Ellebracht und Katrin Zeug für das „Trendbuch Journalismus“.)

Wo gearbeitet wird, da werden Fehler gemacht. Das heißt nicht, daß wo mit besonders großen Buchstaben gearbeitet wird, deshalb auch besonders große Fehler gemacht würden.

(Kai Diekmann, 2004, in einem Brief an seine Mitarbeiter.)

„Wo gearbeitet wird, werden Fehler gemacht.“

(Kai Diekmann, 2001, im Interview mit dem „Spiegel“.)

Ich kann verstehen, wenn Kai Diekmann sich langweilt.

Leistungsschutzrecht: Eine Frage der Ehre?

Zurückrudern ist noch nicht olympisch, aber Christoph Keese übt schon mal in der Disziplin Einer ohne Steuermann. Der Außenminister der Axel-Springer-AG behauptet in seinem privat betriebenen Dienst-Blog jetzt nicht mehr, dass das geplante Presse-Leistungsschutzrecht unproblematisch sei, sondern nur noch, dass es nicht unbedingt problematisch sein müsse, wenn die Rechteinhaber verantwortungsvoll damit umgingen.

Am vergangenen Freitag hatte er noch geschrieben: „In Wahrheit müssen Blogger das Leistungsschutzrecht nicht fürchten (…).“ Heute schreibt er unter der Überschrift: „Keine Abmahnwellen, faire Preise! Wie das Leistungsschutzrecht genutzt werden sollte“ — was implizit wohl bedeutet, dass solche Abmahnwellen theoretisch sehr wohl denkbar wären.

Keeses neuer Text ist ein Appell:

Das Leistungsscutzrecht (sic) für Presseverlage sollte von Verlagen und Bloggern verantwortungsvoll genutzt werden. Dazu gehört, dass die Rechte schnell und unkompliziert geklärt werden können, dass harmlose Nutzer weder kriminalisiert noch mit Abmahnwellen überzogen werden und dass es attraktive Preise gibt. (…)

Harmlose Blogger, die hin und wieder Texte von Verlagen übernehmen, dabei manchmal die Grenzen des Zitierens überschreiten und nebenbei ein bisschen Werbung auf ihren Seiten verkaufen – diese Kreativen sollten völlig angstfrei mit den Leistungen der Verlage umgehen können. (…)

Wer keine Lust hat, eine Flatrate abzuschließen, aber trotzdem weiter kopiert, wird nicht mit Abmahnwellen überzogen, sondern bekommt ab und zu neue Vertragsangebote. Er ist ein potentieller Kunde und sollte nett behandelt werden. Überhaupt sollte das Leistungsschutzrecht nicht mit Abmahnwellen durchgesetzt werden. (…)

Tweets und Links, auch Linksammlungen, beleben das Netz. Man sollte nicht den Leuten nachsteigen, die dieses Leben ins Netz bringen.

Man sollte nicht, sagt Keese, aber er bestreitet nicht, dass man es mithilfe des neuen Leistungsschutzrechtes könnte.

Der Text ist nicht nur ein unterschwelliges Eingeständnis, wie weitreichend und potentiell zerstörerisch die Folgen einer Monopolisierung der Sprache ist, wie sie der Entwurf vorsieht, der auch kleinste Teile eines Presseerzeugnisses schützt. Er erfordert von den Lesern und Betroffenen auch, den Verlagen Maß, guten Willen und Verlässlichkeit zuzutrauen.

Dazu besteht kein Anlass.

Nicht nur wegen Fällen wie dem des Regisseurs Rudolf Thome, dem der „Tagesspiegel“ nachstieg, weil er ohne Genehmigung zwei alte Kritiken über Filme von ihm auf seine Website gestellt hatte. Fast tausend Euro kostete ihn die Abmahnung der Zeitung, für die er früher selbst geschrieben hat.

Sondern zum Beispiel auch wegen der Sache mit den Gemeinsamen Vergütungsregeln. Laut Urheberrecht hat ein Urheber einen Anspruch auf „angemessene Vergütung“. Um die zu bestimmen, gibt es im Gesetz seit 2002 das Mittel der „gemeinsamen Vergütungsregeln“, auf die sich etwa Journalisten- und Verlegerverbände einigen müssen.

Acht Jahre haben danach die Verhandlungen gedauert, bis beide Seiten sich endlich auf einen zweifelhaften Kompromiss mit Mindesthonoraren für Freie Zeitungs-Journalisten geeinigt haben. 2010 traten sie in Kraft. Doch laut dem Verband Freischreiber (bei dem ich Mitglied bin) hält sich die Mehrzahl der Verleger einfach nicht daran.

Freie Journalisten, die auf die Einhaltung der Regeln pochen, bekommen nicht selten keine neuen Aufträge mehr. Der Gang vor Gericht ist für den Einzelnen nur machbar, wenn er dem Auftraggeber ohnehin den Rücken kehren will — eine Verbandsklage zur Durchsetzung der Regeln ist nicht vorgesehen.

Ein Verlegerverband wies seine Mitglieder 2010 darauf hin, dass die Gemeinsamen Vergütungsregeln „nicht zwingend von den Verlagen angewendet werden [müssen]. Die Vergütungsregeln nicht anzuwenden, kann nicht sanktioniert werden.“ Und weiter:

Die Gemeinsamen Vergütungsregeln besitzen nicht die „Qualität“ eines Tarifvertrages. Zeitungsverlage können ihre hauptberuflich freien Journalisten nach der Honorartabelle bezahlen und gelangen dann in den „Genuss“, dass diese Vergütung für journalistische Tätigkeit als angemessen im Sinne des Urheberrechtsgesetzes gilt.

So kann man das also formulieren: Viele Zeitungsverlage verzichten auf die Möglichkeit, in den Genuss zu kommen, ihre freien Journalisten angemessen zu bezahlen.

Auch die Nutzungsverträge und Geschäftsbedingungen, die die Verlage den Urhebern diktieren, verstoßen vielfach gegen geltendes Recht.

Der „Journalist“, das Verbandsorgan des DJV, berichtete im vergangenen November:

Rund ein Dutzend Verfahren führen der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) und die Deutsche Journalisten-Union (dju) in ver.di unter Führung des DJV derzeit. Die Verlage kassieren dabei eine Niederlage nach der anderen, geben aber oftmals nicht auf, sondern ziehen vor die nächsthöhere Instanz. Würde Realität, was Verleger durchsetzen wollen, wäre das das Ende des Urheberrechts, wie wir es hierzulande kennen.

Die Schuldigen sind die vermeintlich renommiertesten Verlage der Republik. Sie kassieren für ihr Vorgehen Urteile, in denen Sätze stehen wie: „Dass von zwingendem Recht nicht abgewichen werden darf, bedarf eigentlich keiner Erwähnung.“ Es wirkt wie ein fast flächendeckender, systematischer Versuch des Rechtsbruchs.

Ironischerweise sagen Verlage wie Springer, sie müssten die Urheber (rechtswidrig) enteignen, weil es ja kein Leistungsschutzrecht gibt. Auch Christoph Keese nennt als Argument für das Leistungsschutzrecht für Verlage, dass man dann den Urhebern nicht mehr so viele Rechte wegnehmen müsste — eine Argumentation, die auf die Logik hinausläuft: Gebt uns ein neues Recht, damit wir das Recht nicht mehr brechen müssen.

Im Entwurf für das neue Leistungsschutzrecht steht übrigens der Satz: „Der Urheber ist an einer Vergütung angemessen zu beteiligen.“ Was das Wort „angemessen“ für Verleger bedeutet, wissen viele freie Journalisten.

Und damit zurück zu Christoph Keese und seinem doppelten Appell: An seine Kollegen in den Verlagen, maßvoll zu sein, und an die Betroffenen, von einem maßvollen Vorgehen der Verlage auszugehen.

Wenn das Leistungsschutzrecht nur ungefährlich ist, solange die deutschen Verlage sich gutwillig, vernünftig, zurückhaltend und maßvoll verhalten, muss man dieses Gesetz fürchten.

Das Leistungsschutzrecht: Selten war es so tot wie heute

„Wir versprechen uns keine großen Einnahmen von diesem Leistungsschutzrecht. Das ist jetzt auch gar nicht unser Ziel. Uns geht es dabei darum: Das ist unser geistiges Eigentum und unser Anspruch. Und wir wollen einfach gerne vorher gefragt werden. Und wichtig ist auch, dass große Martkteilnehmer wie Guggel nicht einseitig den Preis auf null festsetzen. Das wäre so, als wenn ich selber in den Supermarkt gehen würde und würde mir da was rausholen. Da ist ja auch keine Schranke vor dem Supermarkt. Da kann ich ja auch reingehen einfach. Da ist auch nicht alles ausgezeichnet, das vergisst die Verkäuferin ab und zu mal. Und trotzdem würde ich nie auf die Idee kommen, mir die Spreewaldgurken umsonst rauszunehmen. Sondern ich würde dann hingehen und fragen: ‚Was kosten die, bitte?‘, und dann würde ich das bezahlen.“

Dietrich von Klaeden, Leiter Regierungsbeziehungen der Axel Springer AG, 12. April 2011.

Es geht den Verlagen also, wenn man Dietrich von Klaeden glauben darf, wozu natürlich kein Anlass besteht, bei ihrem Leistungsschutzrecht gar nicht wirklich ums Geld. Es geht ihnen ums Prinzip und darum, ihren hinkenden Vergleichen die Holzbeine zu versilbern. Bloß deshalb kämpfen sie seit Jahren mit größter Verbissenheit um ein neues Gesetz.

Wenn das stimmte, wäre noch viel weniger einsichtig, warum der Deutsche Bundestag ein Gesetz verabschieden sollte, das dafür selbstverständliche, natürliche und legitime Formen, Informationen und Inhalte im Netz zu teilen, beschränkt. Das Rechtsunsicherheit schafft und eine Flut von Abmahnungen provozieren könnte. Das Sprache monopolisiert.

Eigentlich müssten die deutschen Zeitungs- und Zeitungsverlage besoffen sein vor Glück. „Wie Weihnachten“ müsste das für „manche von ihnen“ sein, schrieb Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“, dass das Bundesjustizministerium in dieser Woche endlich einen Entwurf für ihr Leistungsschutzrecht vorgelegt hat.

Ich wette, die meisten von ihnen haben stattdessen fiese Kopfschmerzen, und nicht von einem Kater. Ich mag mich irren, aber mir kommt es so vor, als sei die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Leistungsschutzrecht kommt, paradoxerweise selten so gering gewesen wie heute, da ein Textvorschlag vorliegt. Das ist das Schlimmste, das diesem Gesetz passieren konnte, dass seine Folgen endlich konkret greifbar werden. Nun ist die Unmöglichkeit und Untauglichkeit eines solchen Gesetzes unübersehbar. Und der Widerstand dagegen entsprechend breit und entschlossen.

Es gibt, ähnlich wie in der Debatte um ACTA, hysterische Übertreibungen bei den Gegnern. Ein Leistungsschutzrecht, wie es die Bundesregierung jetzt diskutiert, verbietet es nicht, Auszüge aus Online-Medien zu verwenden. Das Zitatrecht, das es erlaubt, solche Ausschnitte als Teil eines eigenen Beitrages zu verwenden, bleibt unangetastet.

Deshalb behauptet Axel-Springer-Außenminister Christoph Keese, normale Blogger müssten das Leistungsschutzrecht nicht fürchten. Er unterschlägt, dass ein großer Teil der Arten, wie im Internet auf interessante Inhalte verwiesen wird, gar nicht durch das Zitatrecht geschützt ist. Tweets zum Beispiel, die nur die Überschrift eines Beitrags und den Link dorthin enthalten. Links auf Facebook, die automatisch Überschrift und Beginn des verlinkten Textes bekommen. Und Listen, wie sie zum Beispiel Felix Schwenzel gerne veröffentlicht, die mit je einem Link und einem kurzen Textausschnitt, nicht immer aber einem zusätzlichen Kommentar, auf lesenswerte Artikel verweisen.

Diese Nutzungen sind nicht durch das Zitatrecht gedeckt, weil die eigene Auseinandersetzung mit dem Zitierten fehlt. Sie sind aber nach geltendem Gesetz erlaubt, solange die Textmenge unterhalb der urheberrechtlichen Schöpfungshöhe liegt.

Der Jurist Till Kreutzer nennt auf iRights.info Beispiele für solche Nutzungen. Zum Beispiel ein Tweet wie dieser, der die Überschrift eines verlinkten Beitrages nennt:

@zeitonline: „Schwarz-Gelb einigt sich auf Leistungsschutzrecht“ http://bit.ly/KtSSrf #lsr

Oder ein Blogeintrag wie dieser:

Habe gerade gesehen, dass Konrad Lischka auf Spiegel Online über das Leistungsschutzrecht (http://bit.ly/OHvhB8) berichtet. Er folgert: „Die Regierungskoalition hat es in den drei Jahren Debatte nicht geschafft, die Unklarheiten bei dem Vorhaben auch nur zu benennen. In dem Protokoll des Koalitionsausschusses vom Sonntag fehlt jeder Hinweis auf neue Ideen, wie ein Leistungsschutzrecht aussehen könnte, das die Zitatfreiheit im Netz sichert und innovative Netzangebote fördert.“

Wenn derjenige, der hier twittert oder bloggt, das in irgendeiner Weise gewerblich tut — und die Grenzen dafür sind in dem Entwurf extrem weit gesteckt — käme er in Zukunft mit dem neuen Leistungsschutzrecht der Verleger in Konflikt. Er müsste eine Lizenz erwerben oder könnte abgemahnt werden.

Sobald das Zitatrecht nicht greift, sind schon winzigste Bestandteile der Artikel durch das Leistungsschutzrecht geschützt. Womöglich reicht es schon, einen Link zu setzen, wenn in diesem Link der Wortlaut der Überschrift enthalten ist, wie es inzwischen meistens üblich ist, etwa so:

http://irights.info/?q=content/referentenentwurf-zum-leistungsschutzrecht-eine-erste-ausfuhrliche-analyse

Es mag schon sein, dass die Verlage diese Art der Nutzung gar nicht einschränken wollten. Es mag sein, dass das nur die Kollateralschäden des Versuchs sind, von den beneidenswerten Einnahmen der Suchmaschinenbetreiber zu profitieren. Auch die dürfen bislang ihren Nutzern Links und kurze Ausrisse („Snippets“) aus den gefundenen Seiten und Nachrichtenartikeln anzeigen, obwohl das nicht durch das Zitatrecht gedeckt ist. In Zukunft sollen sie dafür zahlen. Doch beim Versuch, Google zu treffen, werden auch alle anderen getroffen, die auf Inhalte im Internet mit kurzen Ausschnitten verweisen.

Am Ende wird es am meisten die Verlage selbst treffen. Das zeigt sich nicht nur an den (Über-)Reaktionen im Netz, wenn Blogger erklären, nicht mehr auf Verlagsinhalte verlinken zu wollen. Die Erkenntnis teilt sogar das „Handelsblatt“:

„Die Verleger stellen sich selbst ein Bein“, kommentiert dort Stephan Dörner. Er kommt zu dem Schluss:

Das Leistungsschutzrecht wird damit nicht für Eindeutigkeit, sondern für jede Menge Streit sorgen. Froh können darüber eigentlich nur die sein, die vom Streit anderer gut leben: die Anwälte.

Wenn selbst die Redaktion des „Handelsblatts“, die beim Urheberrecht sonst eher mit der Toleranz und dem Pragmatismus eines Taliban argumentiert, zum Gegner des Leistungsschutzrechtes in der diskutierten Form wird, würde ich mir als Verlagslobbyist ernste Sorgen machen. (Andererseit twittert der ehemalige „Handelsblatt“-Redakteur Thomas Knüwer, dass Obertaliban und Chefredakteur Gabor Steingart nicht im Haus gewesen sei.)

Auch andere gehen auf Distanz. „Spiegel Online“ beendet einen Artikel über das Leistungsschutzrecht mit der Versicherung:

Sie können auch in Zukunft mit Überschrift und Textanriss auf SPIEGEL ONLINE verlinken.

Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, schließt sich dem auf Twitter auf Nachfrage ausdrücklich an. Außerdem verlinkt er mit den Worten „Constanze Kurz hat alles vorausgesehen“ auf einen „FAZ“-Artikel, in dem die Informatikerin und Publizistin sich — bestenfalls halb satirisch — ausmalt, wie düster die Zukunft für Verlage werden könnte, „wenn Suchmaschinenbetreiber journalistische Leistungen künftig angemessen vergüten müssen“. (Darin wird mein eingangs zitierter Springer-Freund Dietrich von Klaeden übrigens 2014 Kulturstaatsminister.)

Unter ihrem Text steht der Satz: „In der Auseinandersetzung um das Leistungsschutzrecht für Presseverlage, in der diese Zeitung Partei ist, vertritt [Constanze Kurz] als Kolumnistin eine andere Meinung als die der Verlage, auch unseres Verlags.“

Von der Einheit „der Verlage“, die diese Distanzierung suggeriert, scheint nicht mehr viel übrig zu sein. Vor drei Jahren hatten in einer beunruhigenden Allianz „führende Verlage“ von Bauer bis Spiegel und „Zeit“ eine „Hamburger Erklärung“ unterzeichnet, in der sie eine Verschärfung des Urheberrechts und indirekt ein Leistungsschutzrecht forderten. In der Erkärung, die innerhalb weniger Wochen danach angeblich allein eine dreistellige Zahl deutschsprachiger Verlage unterzeichnete, heißt es unter anderem: „Ungenehmigte Nutzung fremden geistigen Eigentums muss verboten bleiben.“

Der jetzt bekannt gewordene Entwurf des Leistungsschutzrechtes zeigt, dass mit „ungenehmigter Nutzung“ schon das bloße Twittern einer Zeitungsüberschrift gemeint sein kann und mit „muss verboten bleiben“ „muss verboten werden“.

Nun könnte man annehmen, dass die Verleger aus dem Debakel um ACTA gelernt haben und sich um eine offene Debatte bemühen, in der sie den tatsächlich Betroffenen und den unnötig Verunsicherten erklären, warum die geplanten Beschränkungen ihrer Meinung nach notwendig und unproblematisch sind. Man könnte sogar annehmen, dass die Verlage als Kommunikationsunternehmen dazu besonders gut in der Lage wären.

Man läge doppelt falsch.

Die Verbände von Zeitungs- und Zeitschriftenverlegern, BDZV und VDZ, gaben nur eine dürre gemeinsame Erklärung heraus, die sich liest, als seien ihre Sprecher mit Waffengewalt dazu gezwungen worden, sie zu formulieren, und hätten den Zugang zum Presseverteiler nur im Tausch gegen mehrere Konjunktive herausgerückt.

Die Erklärung lautet:

BDZV und VDZ begrüßen die Vorlage des Bundesjustizministeriums zum Leistungsschutzrecht für Presseverlage. Der Entwurf bringe den im digitalen Zeitalter notwendigen Schutz der gemeinsamen Leistung von Verlegern und Journalisten voran, auch wenn er nicht alle Erwartungen der Verleger erfülle. 

Außerdem verwehren wir uns natürlich gegen den Vorwurf, dass das LSR die Kommunikations- und Meinungsvielfalt einschränken würde.

Die Verlegerverbände betonten, dass durch das Leistungsschutzrecht keinerlei Einschränkung für die Kommunikations- und Meinungsfreiheit entstehe.

Mehr muss dazu offenbar nicht gesagt werden — obwohl sich eine eindrucksvolle Zahl von Juristen, Experten und Kommentatoren gegenteilig äußert. Womöglich glauben die Verleger auch, dass ihre Zugänge zu den Regierungsparteien gut genug sind, um darauf vertrauen zu können, dass der Entwurf Gesetz wird, und meinen deshalb, darauf verzichten zu können, die Öffentlichkeit zu überzeugen.

Ich hielte das für eine mutige Annahme, nicht zuletzt weil sie unter engagierten Internetbewohnern die Wahrnehmung der Verlage als zu bekämpfende Gegner verstärkt.

Zwei aktuelle Tweets von Dietrich von Klaeden bieten einen kleinen, aber womöglich aufschlussreichen Einblick, wie diese Springer-Leute, die den Kampf für das Leistungsschutzrecht anführen, ticken:

So twittert niemand, der entspannt und an einer offenen Auseinandersetzung interessiert ist.

Christoph Keese ist anscheinend der einzige, der sich ins Kommunikationsgetümmel stürzt und sich sogar aus seinem Blog (in dem er angeblich ausschließlich privat und in seiner Freizeit bloggt) in fremde Kommentarspalten traut.

Aber auch ihn bringt der jetzt bekannt gewordene Entwurf in Argumentationsschwierigkeiten. Am Freitag noch hatte er sich im Wesentlichen zufrieden gezeigt, viele Details gelobt und behauptet, der Gesetzestext würde „faire rechtliche Ausgangsbedingungen“ schaffen und für Blogger ausschließlich Vorteile haben.

Inzwischen ist er mit versprochenen Erläuterungen weit im Verzug und kündigt an, nicht alle Antworten „abschließend und verbindlich“ geben zu können. Denn: „Ich bin weder der Gesetzgeber noch der Richter. Dies gilt auch für die Axel Springer AG.“

Auf Twitter hat er eingeräumt, dass zum Beispiel schon eine bloße „Mehr zum Thema“-Liste mit verlinkten Überschriften unter einem Artikel für jeden nicht völligen Freizeitblogger gebührenpflichtig würde. „Rechteinhaber werden das aber wohl extrem billig anbieten“, fügte er hinzu.

Als sei das Problem die Höhe des Preises. Und nicht eine Konstruktion, in der man diejenigen, deren Beiträge man mit einer Überschrift und einem Link bewirbt, vorher um Erlaubnis fragen und eine Lizenz erwerben muss.

Wie die Verleger glauben können, dass es ihnen nützen wird und nicht schaden, Hinweise auf ihre Artikel zu erschweren, ist eines der zentralen Rätsel dieser ganzen Angelegenheit und Ausweis des Irrsinns, in den sich die Branche in ihrem Überlebenskampf geflüchtet hat.

Geht sterben (10)

Ich komme gerade von einer Diskussionsveranstaltung, auf der mehrere Chefredakteure öffentlich gerätselt haben, woran es liegt, dass immer weniger Menschen für Journalismus zahlen wollen. Und damit zu einem ganz anderen Thema.

Gestern Vormittag ist der Entwurf des Bundesjustizministeriums für ein Leistungsschutzrecht für Verlage bekannt geworden. Auf sueddeutsche.de berichtete Heribert Prantl am späten Nachmittag:

Beim lange erwarteten Gesetzentwurf der Bundesjustizministeriums handelt es sich um einen sogenannten Referentenentwurf, er wurde soeben an die anderen Ministerien zur Stellungnahme verschickt, mit einer sehr kurzen Frist „im Interesse einer beschleunigten Bearbeitung bis 18. Juni“. Der Entwurf liegt der Süddeutschen Zeitung vor.

Nun.

Der Entwurf stand am Vormittag, spätestens 10:26 Uhr, im Netz. Seitdem liegt er dem ganzen fucking Internet vor.

„Spiegel Online“, „Zeit Online“ und diverse räudige Blogs legen den Entwurf ihren Lesern per Link vor. Die „Süddeutsche Zeitung“ teilt ihren Lesern mit, dass ihr der Entwurf vorliegt.

Vermutlich ist der SZ-Leser mit dieser Information glücklich und stolz auf sein Blatt. Und falls wider Erwarten unter den Lesern von sueddeutsche.de der Ruf laut würde, auch das Original lesen zu können, könnte der Online-Chefredakteur vielleicht notfalls den Text ausdrucken, einscannen, vom Bildschirm abfotografieren und twittern, ähnlich wie neulich, „ausnahmsweise umsonst“.

Noch toller als die SZ treibt es das „Handelsblatt“, das in seiner Onlineausgabe für sich nicht nur mit den Worten zu werben glaubt:

„Mit der Einführung eines Leistungsschutzrechtes soll dem neu entstandenen Schutzbedürfnis der Presseverlage Rechnung getragen werden“, heißt im Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums, der dem Handelsblatt (Freitagausgabe) vorliegt.

Sondern dem es nicht einmal zu doof war, vor die Meldung von 19:44 Uhr den Hinweis „EXKLUSIV“ zu bappen.

(„Exklusiv“ vermutlich in dem Sinne, dass es der einzige Referentenentwurf zum Leistungsschutzrecht ist, der dem „Handelsblatt“ vorliegt.)

Nachtrag: sueddeutsche.de hat dem Artikel gestern folgenden Satz und Link hinzugefügt:

Hinweis und Update: Der Referentenentwurf kann auf der Website der „Initiative gegen ein Leistungsschutzrecht“ (Igel) nicht nur von der Süddeutschen Zeitung eingesehen werden.

Aserbaidschan: Kritischer Journalist als „Hooligan“ verhaftet


Mehman Huseynov. Foto: Emin Huseynov

Die Nachricht aus Aserbaidschan ist schlecht, aber keine Überraschung: Der 23-jährige Journalist und Fotograf Mehman Huseynov ist gestern abend verhaftet worden. Nach Angaben des Instituts für die Freiheit und Sicherheit von Reportern (IRFS), für das er gearbeitet hat, wird ihm Hooliganismus vorgeworfen. Anlass (oder Vorwand) sei eine Auseinandersetzung mit Polizisten am Rande einer Demonstration vor dem Büro des Bürgermeisters am 21. Mai, in der Woche des Eurovision Song Contest. Die Polizisten hatte die Proteste mit Gewalt aufgelöst und war auch gegen Berichterstatter vorgegangen.

Laut IRFS war Huseynov bereits im März von den Behörden verhört worden. Die Beamten hätten ihm geraten, weniger aktiv zu sein. Auch die beiden Blogger Emin Milli und Adnan Hajizade, die es gewagt hatten, sich mit einem satirischen Video über Korruption in der Verwaltung lustig zu machen, waren vor drei Jahren wegen Hooliganismus verurteilt worden.

Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ teilte mit, sie halte die Vorwürfe gegen ihn für politisch motiviert und vermute, er solle für seine kritischen Berichte vor dem Grand-Prix bestraft werden. Mehman ist der jüngere Bruder von Emin Huseynov, einem der beiden Haupt-Organisatoren der Kampagne „Sing for Democracy“. Auch Mehman selbst war ein sehr sichtbarer Teil der Bürgerrechtsbewegung. Am Abend, an dem in notgedrungen kleinem Rahmen das Konzert von „Sing for Democracy“ stattfand, hüpfte er mit seiner Kamera quirlig und glücklich durch den Saal.

In den Wochen vor dem Grand-Prix ist er unter anderem von stern.de und dem NDR-Medienmagazin „Zapp“ vorgestellt worden.

Nachtrag, 21:50 Uhr. Mehman scheint wieder auf freiem Fuß zu sein.