Sinn- und Besinnungslosigkeit

Erinnern Sie sich an Christian Wulff? Warum musste der eigentlich nochmal zurücktreten? Ach ja, richtig:

Sein voreiliges Postulat: „Der Islam gehört zu Deutschland“ wurde ihm zum Verhängnis.

Man kann eine Einladung zu einer Diskussionveranstaltung über kritischen Journalismus, die das behauptet, natürlich einfach wegwerfen. Wenn diese Veranstaltung aber von der Staatskanzlei Rheinland Pfalz, der rheinland-pfälzischen Landesmedienanstalt und der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet wird und als „Medienpartner“ das ZDF und den SWR hat, kann man sich vorher vielleicht noch einen Moment lang darüber empören.

Es geht um den „MainzerMedienDisput“ (sic), der im Oktober zum 17. Mal stattfindet und von einer unabhängigen Projektgruppe vorbereitet wird. Ihr gehört unter anderem Thomas Leif an, der Chefreporter des SWR, der im vergangenen Jahr als Vorsitzender des Netzwerkes Recherche geschasst wurde.

Die Einladung ist in seinem typischen apokalyptischen Adjektiv- und Wortspielrausch verfasst und könnte in kleinen Dosen vermutlich auch als Mittel gegen niedrigen Blutdruck verschrieben werden. Sie beginnt mit dem stimmungsvollen Satz:

Auf dem 17. MainzerMedienDisput wird darüber gestritten, ob sich die Meinungsmacher im Schatten besinnungsloser Shitstorms und perfider Sozialpornos dem Sog der Unterhaltung in allen Spielarten und Mischformen überhaupt noch entziehen können.

Vermutlich würden die Autoren selbst das Wort „Holocaust“ nicht benutzen, ohne ihm sicherheitshalber noch ein negatives Adjektiv beizustellen. (mehr …)

Udo Ulfkottes Recht auf Sex nach dem Tod im Islam

„Alptraum Zuwanderung“ heißt das neue Buch von Udo Ulfkotte. Es trägt den Untertitel „Lügen, Wortbruch, Volksverdummung“, und mit sowas kennt sich der frühere FAZ-Journalist aus.

Ende April meldete er Ungeheuerliches:

Im schönen Ägypten setzen Muslime angeblich gerade ihr Recht auf Geschlechtsverkehr mit Toten per Gesetz durch. (…)

Innerhalb von sechs Stunden nach dem Tod einer Frau dürfen Männer mit ihr Geschlechtsverkehr haben. So will es angeblich das islamische Recht, behauptete schon im Mai 2011 der marokkanische Scharia-Gelehrte Zamzami Abdul Bari. Und so soll es künftig in Ägypten offizielles Recht sein.

Für Ulfkotte kam das nicht überraschend. Er habe das schon beim Sturz des Diktators Husni Mubarak vorhergesagt, schreibt er. Und nun sagt er voraus: „Die abscheuliche Entwicklung wird nicht vor unseren Grenzen stoppen“.

Verantwortlich sei das „von unseren Medien hochgejubelte Gesindel der Muslimbruderschaft“, schreibt Ulfkotte weiter und stellt fest: „Unsere politisch korrekten Medien schauen brav weg.“ Über das geplante Gesetz, das das „Recht der Männer auf Sex mit toten Frauen“ verankert, hätten in den letzten Tagen arabische und britische Medien sowie russische Agenturen berichtet — „nur die deutschen Qualitätsjournalisten schwiegen dazu“.

Das gehört zum Mythos, der Leute wie Ulfkotte in der islam- und ausländerfeindlichen Szene so groß macht: Dass sie sagen, was die klassischen Medien sich nicht zu sagen trauen.

Selbst wenn es nicht stimmt. (mehr …)

Immerhin: Das Auto müsste sie stehen lassen

Aus der aktuellen „Zeit“:

Ich mag den zweiten Satz in seiner bedeutungsschwangeren Bedeutungslosigkeit. Oder anders gesagt: Schätzen Sie mal, wie groß die Steigerung ist, die die „Zeit“ hier stolz meldet, ohne sie zu melden.

Ich sag’s Ihnen: 1 Promille.

Um 0,10 Prozent ist die Auflage der „Zeit“ im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahr gestiegen.

Diese Tatsache war ihr eine Jubel-Meldung im Blatt in eigener Sache wert. Sie musste dafür nur die Tatsache weglassen.

„Nach diesem Urteil sollten wir uns über die NSU nicht mehr wundern“

Fast zwanzig Jahre lang sind die Sozialleistungen für Asylbewerber und Kriegsflüchtlinge in Deutschland nicht erhöht worden. Sie liegen bei monatlich 224 Euro. Das sei „evident unzureichend“, urteilte gestern das Bundesverfassungsgericht. Die Höhe sei weder nachvollziehbar berechnet worden, noch sei eine „am Bedarf orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich“.

Es folgt eine subjektive, aber relativ repräsentative Auswahl von öffentlichen Wortmeldungen von Mitgliedern der „BILD.de-Community“ zu diesem Urteil (teilweise gekürzt):

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Katharina La Rosa

Und die hier nur schriftlich Meckern können … WANN GEHEN WIR ENDLICH AUF DIE STRASSEN???

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Ohne Rücksicht

Im Gegenzug zu diesem Urteil sollte man die Zahl der zugelassenen Asylanträge einfach halbieren.

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Paul Kersey

Bald kann man als vernünftiger Deutscher nur noch seinen Krempel zusammenpacken und auswandern

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Max Müller

Wer sich nicht selbst versorgen kann, zurück in den Flieger.

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Klausius Franzius

Ich bin für eine Änderung im Grundgesetz,welches UNS die Möglichkeit einräumt in Flugzeugen die nach Deutschland fliegen den Passagieren sofort nach betreten des Fliegers die Pässe abzunehmen u.erst in Deutschland nach einer Kontrolle zurückzugeben od.die Menschen welche illegal eingereist sind sie sofort wieder ins nächste Flugzeug zu setzen u.dahin zu schicken von wo sie gekommen sind.Dann ist es diesen Verbrechern;und das sind sie ja laut Gesetz bei illegaler Einreise;nicht möglich sich ihrer Reisepässe zu entledigen u.ihre Herkunft zu verweigern.Das wäre doch nur Gerecht,Oder (mehr …)

Der ewige Junggeselle Peter Altmaier und die Selbstzensur der „taz“

Ich weiß nicht, ob Peter Altmaier schwul ist. Aber ich finde es — anders als die Chefredakteurin der „taz“ — legitim, darüber zu spekulieren.

Der neue Umweltminister hat die „Bild am Sonntag“ wie zuvor schon anderen Medien zu sich nach Hause eingeladen. Er hat sich „am heimischen Herd“ mit einer Pfanne Bratkartoffeln fotografieren lassen. Und er hat die Frage der „Bild am Sonntag“-Leute beantwortet, warum man „in den Archiven nichts von einer Partnerin findet“:

„Ich bin ein sehr geselliger und kommunikativer Mensch. Doch der liebe Gott hat es so gefügt, dass ich unverheiratet und allein durchs Leben gehe. Deshalb kann in den Archiven auch nichts über eine Beziehung stehen. Ich hadere nicht mit meinem Schicksal. Wenn es anders wäre, wäre ich längst verheiratet oder in einer festen Beziehung. Aber ich hatte und habe immer eine kleine Zahl guter Freunde, mit denen ich über alles reden kann.“

Das sind bemerkenswert apodiktische Formulierungen: „Der liebe Gott hat es so gefügt“ und „mein Schicksal“. Formuliert so jemand, der bloß noch keine Partnerin gefunden hat? Oder spricht hier jemand verschlüsselt über seine Homosexualität? (mehr …)

Kein schöner Lanz

„Der isst, wie er Ski fährt, wie er spricht, wie er moderiert, wie er ist — elegant und lustvoll. Und konzentriert. (…) Er ist als Mensch ein Naturtalent.“

Der „Stern“ über Markus Lanz

Ich habe im „Spiegel“ dieser Woche versucht zu erklären, was Markus Lanz für mich so unausstehlich macht.

Es sind ja nicht nur diese Posen, das Finger-an-den-Mund-legen, der Dackelblick, dieses sich Spreizen, die Witzelsucht, die konsequente Unterforderung des Zuschauers, die persönlichen Zudringlichkeiten, das Desinteresse an Inhalten, die Fragetechnik, die von Johannes B. Kerner gelernte Kunst, sich von sich selbst zu distanzieren, die Phrasen, die angestrengte und anstrengende Vortäuschung des kritischen Nachfragens, das Aufondulieren der Sprache, die Wichtigtuerei, das ganze streberhafte Gehabe.

Es ist auch das Ausmaß, in dem er aus seiner Talkshow eine Art Betriebsausflug gemacht hat, mit diesem unbedingten Willen zur kontrollierten Ausgelassenheit und dieser gezwungen Kumpelhaftigkeit. Hinter einer Fassade moderner Munterkeit tun sich Abgründe spießiger Bräsigkeit auf.

Man kann sich das schlecht vorstellen, wenn man es nicht gesehen hat, und weil ich mir ohnehin viele Stunden „Markus Lanz“ ansehen musste, habe ich als Begleitmaterial zu meinem „Spiegel“-Artikel ein Worst-Of aus den Sendungen zusammengestellt. (Ich rede mir ein, dass die Stunden, die das gedauert hat, nicht nur dem Erkenntnisgewinn dienen, sondern auch einen therapeutischen Effekt für mich hatten.)

Aus dem kurzen Video, das ich mir ursprünglich vorgestellt hatte, ist dann allerdings eine über 20 Minuten lange Collage geworden:

Wer sich davor fürchtet, kann sich allerdings auch das folgende Kondensat auf Quickie-Länge (150 Sekunden) ansehen:

Das Schlimmste an alldem ist die Ahnung, dass Lanz alles richtig macht. Dass das vom ZDF genau so gewollt ist. Dass der Sender sich vorstellt, dass seine Zuschauer so unterhalten werden wollen: so routiniert, so manieriert, mit dieser Mischung aus Wichtigtuerei und Besinnungslosigkeit — Anarchie für Leute, die es anarchisch finden, den Käse im Kühlschrank mal ins Gemüsefach zu legen.

Es ist leicht, sich vorzustellen, wie Lanz diese Art der Unterhaltung vom Herbst an nicht mehr nur am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag herstellt, sondern auch am Samstagabend in einer Sendung namens „Wetten dass“. Man muss sich nur ein Sofa anstelle der Sessel denken und Robbie Williams oder Angelina Jolie zusätzlich darauf.

Nachtrag, 5. August: Inzwischen kann man den „Spiegel“-Artikel auch kostenlos lesen.

Lügen fürs Leistungsschutzrecht (1)

Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder hat Christoph Keese, Konzerngeschäftsführer „Public Affairs“ der Axel-Springer-AG, keine Ahnung, wie Google funktioniert. Oder er schreckt im Kampf seines Verlages und seiner Interessenverbände gegen den Suchmaschinenkonzern nicht davor zurück, die Unwahrheit zu sagen.

Es geht bei dem Leistungsschutzrecht, das die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage für sich fordern, nicht zuletzt um Snippets. Das sind die kurzen Zitate, die Google von gefundenen Seiten anzeigt. Mithilfe eines Leistungsschutzrechtes sollen Suchmaschinen dazu gezwungen werden, für solche Snippets Lizenzen von den Verlagen zu erwerben — im Zweifel gegen Geld.

Keese behauptet: Ein Medium, das nicht will, dass Google Snippets aus seinem Angebot anzeigt, muss ganz darauf verzichten, von Google gelistet zu werden. Und das könne sich niemand leisten.

Er schreibt:

Sehr gern würden die Verlage auf eine Möglichkeit zurückgreifen, von Suchmaschinen und Aggregatoren nur indexiert und vielleicht mit einer Überschrift zitiert zu werden. Doch genau diese Differenzierungsmöglichkeit bietet Google wie die allermeisten anderen Aggregatoren nicht an. Ganz bewusst unterscheiden sie nicht zwischen dem Recht auf Indexierung und dem Recht der Nutzung von Inhalten. Sie interpretieren die Erlaubnis zum Indexieren als Erlaubnis zum Kopieren.

Tun sie nicht.

Google bietet Verlagen exakt die Möglichkeit, die die sich angeblich wünschen: nur indexiert und vielleicht mit einer Überschrift zitiert zu werden, aber ohne eine Vorschau auf den Inhalt (Keese nennt letzteres „Kopieren“). Die Verlage können Google mit einfachsten Programmbefehlen dazu bringen, keine Snippets anzuzeigen. Es ist auch möglich, diese Snippets zum Beispiel nur in „Google News“ auszuschalten und nicht bei der allgemeinen Suche. Es ist sogar möglich, das für jeden Artikel, den die Verlage veröffentlichen, einzeln zu bestimmen.

Das geht über Anweisungen, die die Verlage in den „Meta“-Angaben ihrer Internetseiten hinterlegen. Mit der Angabe „noindex“ zum Beispiel weisen sie die Suchmaschinen an, Seiten nicht in ihren Suchergebnissen auftauchen zu lassen.

Es gibt aber auch die Anweisung „nosnippet“. Sie bedeutet, dass eine Seite zwar indexiert (und also auch bei entsprechenden Suchbegriffen gefunden) wird, dass dem Nutzer aber kein Snippet anzeigt werden soll.

Mit dem folgenden Code lässt sich die Anzeige von Snippets in „Google News“ unterdrücken:

<meta name="googlebot-news" content="nosnippet">

Nichts davon ist übrigens neu oder eine Geheimwissenschaft. Die entsprechenden Befehle sind seit Jahren öffentlich und bekannt, und die Verlage machen von ihnen nachweislich Gebrauch.

Dass das funktioniert und sich Google an diese Vorgaben hält, habe ich bei BILDblog ausprobiert. BILDblog ist bei Google News gelistet. Gestern habe ich die oben genannte Meta-Anweisung eingebaut. Bei der Google-News-Suche wird für den BILDblog-Eintrag jetzt nur noch die Überschrift und der Link eingeblendet, nicht mehr der Snippet:

Natürlich ist es in der Praxis für ein Online-Medium fast nie sinnvoll, die Anzeige von Snippets zu verhindern. Denn ein kurzer Anriss oder ein Blick auf die Stelle, an der sich der gesuchte Begriff befindet, wird viel eher dazu führen, dass jemand auch auf den Link klickt als die bloße Überschrift.

Die Verlage argumentieren aber genau umgekehrt. Sie sagen, Internetnutzer seien oft schon zufrieden mit den Informationen, die sie in den Snippets finden, und gar nicht mehr klicken, um zur Quelle dieser Informationen zu kommen. Wenn es so wäre, könnten die Verlage die Snippets, wie gesagt, einfach ausschalten.

Dass sie das nicht tun, liegt nicht daran, dass Google ihnen diese Möglichkeit nicht bietet, wie ihr Klassensprecher Keese behauptet.

Die Verlage finden den Umgang von Google mit ihren Inhalten gleichzeitig unzulässig und unverzichtbar. Sie wollen für die Leistung, die Google ihnen bringt, Geld von Google. Und um das Paradoxe dieser Situation zu verschleiern, flüchten sie sich in die Lüge.

Keese schreibt:

Wir [gemeint sind vermutlich die von Springer angeführten Verleger, für die Keese spricht, auch wenn er behauptet, nur privat und in seiner Freizeit zu bloggen] finden, dass man den Verlagen nicht zumuten kann, sich vom Indexieren ausnehmen zu lassen und damit in der Internetsuche weitgehend unsichtbar zu werden (Marktanteil Google in Deutschland >90%), wenn es doch nur darum geht, die Übernahme von Texten in Anerkennung der Leistungen von Autoren und Verlagen lizenzpflichtig zu machen.

Die Wahrheit ist: Es wird ihnen nicht zugemutet. Sie müssen sich nicht vom Indexieren ausnehmen lassen, wenn sie die Übernahme von Texten (er meint: das Anzeigen von Snippets) verhindern wollen.

Damit entfällt ein zentrales Argument der Verlage, warum sie angeblich überhaupt ein Leistungsschutzrecht brauchen. Entsprechend begründet auch die ehemalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) ihre Ablehnung: weil Google inzwischen „jeden rausnimmt, der nicht zitiert werden will“.

Wenn Keese ihr widerspricht und in Bezug auf Google und andere Suchmaschinen schreibt:

Ganz bewusst unterscheiden sie nicht zwischen dem Recht auf Indexierung und dem Recht der Nutzung von Inhalten.

Dann sagt er die Unwahrheit.

Nachtrag. Hier steht die Reaktion von Christoph Keese. Sie wird wunderbar erklärt von einem Kommentator in Keeses Blog:

Meine Aussage „Es gibt keine Meeressäuger“ ist nicht falsch. Es ist daher nicht richtig mir vorzuwerfen, dass ich entweder lüge oder keine Ahnung von Meeresbiologie habe. Wohl war meine Aussage möglicherweise nicht ausführlich genug, denn was ich meinte war „Es gibt keine Meeressäuger außer Pottwale, Seekühe, [es folgen mehrere Folianten mit allen möglichen Erläuterungen zur Meeresbiologie, nur nichts speziell dazu, wie denn die früher aus der nicht-ausführlichen Version gezogenen Schlüsse nun genau aufrecht erhalten werden sollen]“

Medienlexikon: Breaking News

Der Spiegel

Breaking News, Nachrichtenereignis im Moment seiner größten Unklarheit.

Stellen wir uns vor: September 1989, deutsche Botschaft in Prag. Außenminister Genscher betritt den Balkon und sagt zu den DDR-Flüchtlingen: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“ Jubel brandet auf, Genscher fängt an, wild zu gestikulieren, bis er endlich seinen Satz vollenden kann: „…leider noch nicht arrangiert werden konnte.“

Ein bisschen so war es am Donnerstag, als John Roberts, der Oberste Richter der USA, das Urteil über Obamas Gesundheitsreform verkündete. Als erstes wies er die Rechtfertigung für die darin enthaltene Versicherungspflicht zurück. Fast jeder, der sich in dieser Sekunde hätte entscheiden müssen, hätte getippt, dass der Gerichtshof das Gesetz für verfassungswidrig erklären würde. Die Reporter der Nachrichtensender CNN und Fox News meinten, sich in dieser Sekunde entscheiden zu müssen, meldeten Obamas Niederlage — und lagen falsch.

Als sie den Fehler bemerkten, hatten sie längst begonnen, die vermeintliche Entscheidung zu analysieren und ihre monumentale Bedeutung zu betonen. Die Nachricht selbst ist zu einem winzigen, lästigen Kieselstein im endlosen Schwafelstrom geworden, dem einzigen Realitätscheck in einem Rausch von Vorhersagen und Interpretationen. Die Nachrichtensender haben sich darauf spezialisiert, zu spekulieren, was passieren könnte und was es bedeuten würde, wenn es passierte. Sie können es nicht abwarten, dass es tatsächlich passiert (CNN hatte sogar einen Countdown eingeblendet), sind aber im selben Moment schon wieder beschäftigt, zu raten, was nun als nächstes passiert.

Es hätte des Fehlers nicht bedurft, um zu wissen, dass Richtigkeit vor Schnelligkeit geht. Nach einem ähnlichen Fall vor ein paar Monaten hatte ein Journalist die schöne Regel getwittert: „Wenn du richtig liegst und erster bist, erinnert sich niemand dran. Wenn du erster bist und falsch liegt, erinnert sich jeder dran.“

Vor allem für CNN, das ohnehin einen dramatischen Niedergang erlebt, ist die Panne ein Desaster, das den behaupteten Seriositätsvorsprung gegenüber der Konkurrenz vernichtet. Die Nachrichtenagentur AP musste sogar ihre Mitarbeiter auffordern, sich nicht öffentlich über die CNN-Leute lustig zu machen.

Die „New York Times“ hatte ihre Leser online übrigens in der Minute nach der „Breaking News“ einfach um einen Moment Geduld gebeten, während ihre Experten das Urteil analysieren.