Die Nimmerklugen: Die „Handelsblatt“-Propaganda gegen ARD und ZDF

Es ist unmöglich, auch nur im Ansatz all die Desinformationen zu dokumentieren oder gar zu berichtigen, die die deutsche Presse in diesen Tagen über die neue Haushaltsabgabe für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbreitet. Ich habe das gestern im BILDblog wenigstens mit einigen Details aus der „Bild“-Kampagne versucht, aber es kommen jeden Tag neue Unwahrheiten nach.

Heute liefert der Medienredakteur und Widerstandskämpfer Hans-Peter Siebenhaar im „Handelsblatt“ ein besonders krasses Beispiel dafür, wie umfassend man die Leser (und natürlich andere vermeintliche Fachjournalisten) in die Irre führen kann, wenn man altbekannte Tatsachen als neu präsentiert und falsch interpretiert.

Sein Artikel beginnt so:

Die öffentlich-rechtlichen Anstalten dürfen die erwarteten Mehreinnahmen durch die neue Rundfunkgebühr in Höhe von 304 Millionen Euro behalten. Davon entfallen auf die ARD 197,3 Millionen Euro, auf das ZDF 60,1Millionen und auf das Deutschlandradio 46,7 Millionen Euro im Zeitraum 2013 bis 2016. Das teilte gestern die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) in Mainz auf Anfrage des Handelsblatts mit.

Das ist fast schon preisverdächtig irreführend.

Verständnisfrage: Werden Mehreinnahmen in Höhe von 304 Millionen Euro erwartet? Oder dürfen die öffentlich-rechtlichen Anstalten von möglichen Mehreinnahmen in unbestimmter Höhe 304 Millionen Euro behalten?

Richtig wäre die zweite Interpretation, aber durch den bestimmten Artikel („die erwarteten Mehreinnahmen in Höhe von“) lenkt Siebenhaar die Leser in die andere, die falsche Richtung.

All die Zahlen, die Siebenhaar da nennt und die die KEF angeblich gestern seiner Zeitung mitteilte, stehen im 18. Bericht, den diese Kommission im Dezember 2011 vorgelegt hat. Sie stehen dort gleich auf der ersten Text-Seite. Sie geben die Finanzierungslücke an, die nach den Schätzungen der KEF bei ARD, ZDF und Deutschlandradio in den nächsten vier Jahren entsteht.

Normalerweise hätte die Rundfunkgebühr um 18, 35 Cent erhöht werden müssen, um diese Lücke zu schließen. Weil aber außer Burkhardt Müller-Sönksen und der „Bild“-Zeitung niemand weiß, wieviel Geld durch das neue Verfahren wirklich eingenommen wird (und weil es politisch so gewollt war), wurde die Höhe des Beitrages nicht angehoben.

Es sollte erst abgewartet werden, wie sich die Einnahmen tatsächlich entwickeln. Liegen sie über den Schätzungen, würde daraus der Finanzbedarf gedeckt. Kommt noch mehr Geld zusammen, als den öffentlich-rechtlichen zusteht, würde das bei der zukünftigen Festsetzung der Gebühren berücksichtigt: Sie würden weniger stark steigen oder sogar sinken. Kommt weniger zusammen, müssten sie entsprechend stärker steigen.

Das ist alles seit Jahren bekannt. Das ist das Wesen des ganzen Systems. Das Geld, das ARD und ZDF bekommen, richtet sich nicht danach, was eingenommen wird, sondern danach, was ihnen aufgrund ihrer Kosten zugestanden wird. Die seit Tagen anhaltende mediale Fixierung auf die mögliche Höhe der Einnahmen durch das neue System funktioniert als Skandalisierung nur, weil sie diesen Grundsatz ignoriert.

Deshalb kann Siebenhaar falsche und längst bekannte Tatsachen zu einer vermeintlichen Nachricht zusammenrühren. Er schreibt weiter:

Mittlerweile ist auch eine Reduzierung der monatlichen Rundfunkgebühr, früher als GEZ-Gebühr bekannt, kein Tabuthema mehr. „Wenn es zu deutlichen Mehreinnahmen kommt, ist auch eine Senkung der Rundfunkgebühren denkbar“, sagte KEF-Geschäftsführer Horst Wegner dem Handelsblatt. „Eine Gebührensenkung ist frühestens zum 1. Januar 2015 denkbar.“ Wenn eine Milliarde Euro mehr reinkommt, müssten diese Mehreinnahmen an die Gebührenzahler durch eine Gebührensenkung weitergegeben werden, sagte gestern ein KEF-Experte, der ungenannt bleiben will.

Schön dass der ungenannte KEF-Experte einfach noch einmal dasselbe sagt wie der genannte KEF-Experte. Aber da auch der genannte KEF-Experte nur sagt, was immer schon feststand (und keineswegs ein „Tabuthema“ war, wie Siebenhaar fantasiert), ist es eh wurscht. Redundanz wird erst in der Wiederholung richtig schön.

Apropos. Siebenhaar schreibt heute:

Für Unternehmen können die neuen Beiträge nach Berechnungen des Handelsblatts und von Wirtschaftsverbänden um den Faktor 17 höher ausfallen als die alten Gebühren. Die Deutsche-Bahn-Tochter DB Netz etwa zahlte bislang 26.000 Euro Rundfunkgebühren im Jahr, künftig werden es 472.000 Euro sein. Den Drogeriemarkt-Filialisten DM kosteten ARD und ZDF bislang 94.000 Euro, mit dem Jahreswechsel werden daraus 266.000 Euro. Deutschlands Lebensmittelhändler Rewe erwartet eine Kostensteigerung um 500 Prozent.

Nach früheren Berechnungen des Autovermieters Sixt drohen Bürgern pro Jahr Zusatzkosten von 600 Millionen Euro und Firmen von 950 Millionen Euro.

Gestern hatte Siebenhaar zusammen mit „Handelsblatt“-Kollegen geschrieben:

Für Unternehmen können die neuen Beiträge nach Berechnungen des Handelsblatts und von Wirtschaftsverbänden um den Faktor 17 höher ausfallen als die alten Gebühren. Die Deutsche-Bahn-Tochter DB Netz etwa zahlte bislang 26.000 Euro Rundfunkgebühren im Jahr, künftig werden es 472.000 Euro sein. Den Drogeriemarkt-Filialisten dm kosteten ARD und ZDF bislang 94.000 Euro, mit dem Jahreswechsel werden daraus 266.000 Euro. (…) Deutschlands Lebensmittelhändler Rewe erwartet eine Kostensteigerung um 500 Prozent. Nach früheren Berechnungen des Autovermieters Sixt drohen Bürgern pro Jahr Zusatzkosten von 600 Millionen Euro und Firmen von 950 Millionen Euro.

Neinnein, das ist nicht derselbe Text. Gestern war „DM“ klein geschrieben.

Vielleicht veröffentlicht das „Handelsblatt“ jetzt aus Protest gegen die Finanzierung von ARD und ZDF diese Absätze einfach täglich neu, angereichert mit Informationen, die man sich ein bis vier Jahre nach ihrer Veröffentlichung nochmal von den jeweiligen Behörden bestätigen lässt und dann falsch interpretiert.

Wenn Leser dafür tatsächlich Geld ausgeben, hätte das „Handelsblatt“ ein Finanzierungssystem für seine Propagandamaschine erfunden, das fast so zukunftssicher ist wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen.

Die Unabhängigkeitserklärung des Andrew Sullivan

Andrew Sullivan versucht es jetzt allein. Er will zeigen, dass sich ein Blog wie seins dauerhaft finanzieren lässt: ohne Werbung, ohne Investoren, ohne Medienpartner. Nur durch die Unterstützung der Leser.

Sullivan ist einer der prominentesten und erfolgreichsten Blogger der Welt. Der Engländer lebt in den USA, ist schwul, katholisch, konservativ, HIV-positiv, Bärenliebhaber, Anhänger von Margret Thatcher und Barack Obama. Er ist kein Parteigänger, von niemandem. Er ist unbequem, unabhängig und lästig, klug, aggressiv und amüsant.

Seit über zwölf Jahren schreibt er manisch ins Netz, zeitweise für „Time“ und „Atlantic Monthly“, zuletzt für Tina Browns „The Daily Beast“. Sein Blog „The Dish“ zeigt, welch faszinierende neue Möglichkeiten dieses Medium bietet. Sullivan ist meinungsstark, aber seine Positionen stehen nicht für sich allein — er verweist auf die Argumente seiner Gegner und setzt sich mit ihnen auseinander; regelmäßig veröffentlicht er Kommentare von Lesern, die ihm widersprechen. Seine Positionen sind nicht festgemauert — er zögert nicht, Fehler zu korrigieren und Meinungen zu revidieren. Der Journalismus, den Sullivan in seinem Blog pflegt, hat nichts Statisches. Es ist ein fortwährender Strom von neuen Informationen und Argumenten, eine endlose Konversation mit seinen Lesern, seinen Gegnern, der Welt.

Die anhaltende Faszination der Unabhängigkeit des Bloggens beschreibt er so:

For the first time in human history, a writer — or group of writers and editors — can instantly reach readers — even hundreds of thousands of readers across the planet – with no intermediary at all.

Und die anhaltende Faszination der Konversation mit den Lesern so:

We have an official staff of 7, and an unofficial one of around a million unpaid obsessives.

Vergangene Woche hat er mit seinen beiden engsten Mitarbeitern eine eigene Firma gegründet, und von Februar an will er wieder unter andrewsullivan.com bloggen, finanziert allein von den Zuwendungen der Leser.

Es ist eine Mischung aus dem Metered-Modell der „New York Times“, bei dem der Leser eine bestimmte Zahl von Zugriffen frei hat, und dem „Freemium“-Modell, bei dem Premium-Inhalte kostenpflichtig sind. Beim „Daily Dish“ soll man unbegrenzt häufig ohne zu zahlen auf die Seite gehen können. Allein, wer bei längeren Texten auf „Weiterlesen“ klickt, muss nach einer bestimmten Häufigkeit zahlen.

Eine klassische Bezahlschranke gibt es nicht, der „Daily Dish“ will unbedingt offen bleiben für die Diskussion mit Lesern und anderen Blogs, aber die Stammleser sollen 19,99 Dollar jährlich zahlen — oder mehr.

Die Seite soll möglichst auf Dauer frei von Werbung sein, weil Werbung nervt und weil Online-Werbung dafür gesorgt hat, dass es wichtiger ist, Klicks zu generieren als Qualitätsinhalte.

If the money doesn’t come in, we’ll have to find another way to make a living.

Equally, the more you give us, the more we will be able to do.

Sullivan schreibt, er träume davon, lange journalistische Stücke in Auftrag geben zu können und vielleicht ein monatliches Magazins fürs Tablet herauszugeben. Und in dem radikalen Versuch, nur auf Leserfinanzierung zu setzen, sieht er ein Experiment, auch als Vorreiter für andere:

If this model works, we’ll have proof of principle that a small group of writers and editors can be paid directly by readers, and that an independent site, if tended to diligently, can grow an audience large enough to sustain it indefinitely.

The point of doing this as simply and as purely as possible is precisely to forge a path other smaller blogs and sites can follow. We believe in a bottom-up Internet, which allows a thousand flowers to bloom, rather than a corporate-dominated web where the promise of a free space becomes co-opted by large and powerful institutions and intrusive advertising algorithms. We want to help build a new media environment that is not solely about advertising or profit above everything, but that is dedicated first to content and quality.

(Klingt ein bisschen, als hätte er Johnny Haeusler gelesen.)

Die Paid-Content-Abwicklung übernimmt die Firma TinyPass, was mich daran erinnert, dass der Geschäftsführer der FAZ neulich öffentlich geklagt hat, dass sich seine Zeitung keine eigene Paywall leisten könne, weil es so viel Geld koste, sie zu entwickeln.

Abschlusspathos von Sullivan:

We have no marketing, no ads, no corporation behind us now. We only have you.

Von einer „Lawine“ von Mitgliedschaften schreibt er ein paar Stunden nach der Ankündigung; aktuell sollen es 36 pro Minute sein, was mindestens 43.200 Dollar pro Stunde entspräche. Natürlich bedeutet dieser erste Rausch noch keine Garantie, dass Sullivans Hoffnung aufgehen wird und er seinen „Dish“ auf Dauer komfortabel finanzieren kann. Aber ich hoffe und traue ihm zu, dass das gelingt.

Die Leser werden nicht nur nicht auf dieses Blog verzichten wollen, das so manisch und persönlich, so relevant und abwegig und so offen für Widerspruch betrieben wird. Sie werden es unterstützen wollen. Und diese Leser als Unterstützer zu haben, wird nicht nur den „Dish“ stärken, sondern auch die Beziehung zwischen beiden.

Das Modell, das Andrew Sullivan mit dem „Dish“ probiert — ich glaube, das wird eine Zukunft sein.

Neues vom „Tatortreiniger“

Mein Artikel über den „Tatortreiniger“ im aktuellen „Spiegel“ ist leider aus Platzgründen etwas verstümmelt worden. Auch deshalb an dieser Stelle noch ein paar Worte über die feine Serie, von der der NDR am Mittwoch und Donnerstag drei neue Folgen zeigt.

Die erste davon, „Über den Wolken“, kann man sich schon auf YouTube ansehen. Hier trifft Schotty (Bjarne Mädel) auf einen von Jean-Pierre Cornu gespielten Produzenten von Lebensmittelattrappen („zweiter Preis beim International Food Imitation Championship für meinen Aalener Blutwurstring“), der nach dreißig Jahren Ehe seine Frau mit einer Axt niedergemetzelt hat. Einfach weil es irgendwann eine Bemerkung von ihr, eine kleine Erniedrigung zu viel war:

Das ist von den drei neuen Folgen meine liebste, weil sie mit einer solch wunderbaren Leichtigkeit daherkommt. Die Geschichte, die Figuren, das Timing, der Humor haben eine traumwandlerische Selbstverständlichkeit. Zu verdanken ist das außer dem komödiantischen Talent und Handwerk von Bjarne Mädel dem Regisseur Arne Feldhusen, der mit ihm auch „Stromberg“, die ersten Folgen von „Mord mit Aussicht“ und den „Kleinen Mann“ inszeniert hat. Die Drehbücher stammen von einer Theaterautorin, die sich fürs Fernsehen das Pseudonym „Mizzi Meyer“ gegeben hat.

Die zweite Folge, gleich im Anschluss, trägt ein bisschen schwer an der Medienkritik, die sie transportieren soll. Schotty begegnet hier einer jungen Frau, die bei einer Castingshow namens „Deutschland sucht den Superpatrioten“ ins Finale gekommen ist und nun hofft, dank des blutigen Todes ihres Ex-Freundes ihre neue CD promoten zu können.

Die Anspielungen auf die zynischen Gesetze der Fernsehen-Aufmerksamkeit sind nicht immer ganz überzeugend. Aber dafür entschädigen die rührende Mini-Romanze zwischen Schotty und der ironie-resistenten Frau — und Dialoge wie dieser:

Schotty: Was hast’n du eigentlich vorher gemacht?

Gina: Ein Praktikum.

Schotty: Als was?

Gina: Als Praktikantin!

Schotty: Nee, ich meine, in der Firma, in der du das Praktikum gemacht hast, was hast du da gemacht?

Gina: Praktikum!

In der dritten neuen Folge, „Schottys Kampf“ (Donnerstag, 22:00 Uhr), muss der Tatortreiniger die Überreste eines Neonazis wegwischen. Der bodenständige Schotty trifft dabei auf einen Nazi, mit dem er es intellektuell nicht aufnehmen kann, was zu einer faszinierenden Auseinandersetzung zwischen Gut, aber schlicht, und Böse, aber schlau, führt. Leider gewinnt Schotty den Kampf am Ende nur dadurch, dass er einen anderen, ungleich blöderen Dumpfnazi überlistet, was ein bisschen billig ist.

Es ist trotzdem schön zu sehen, dass die Leute hinter dem Projekt sichtlich Lust haben, auszuprobieren, was in dieser Form und mit dieser Figur geht, auch wieviel Surrealismus eine solche Serie aushält — und wenn das dann mal nicht gelingt, ist es trotzdem besser, als wenn sie routiniert auf Nummer sicher gehen würden.

Auch in zwei weiteren Folgen, die vermutlich im Sommer zu sehen sein werden, testet das Format die Grenzen. Ich konnte bei den Dreharbeiten für eine Folge mit Florian Lukas zusehen, die zu einem großen Teil innerhalb einer telefonzellengroßen Kiste spielt, in der er und Schotty gefangen sind.

Von einem „Kammerspiel innerhalb eines Kammerspiels“ sprach Regisseur Feldhusen. Er sagte das weniger stolz als augenrollend. Er hatte die Drehbuchautorin gebeten, die beiden Protagonisten vielleicht nicht allzu lang in der Kiste gefangen zu lassen, aber das hat die nicht beeindruckt, im Gegenteil.

Und so steckten die beiden Schauspieler in einem leerstehenden Gebäude in Hamburg fast einen ganzen Drehtag lang fast ohne Unterbrechung in einer Kiste, erst im Stehen, dann, weil das Ding nach einem Kampf umgefallen sein soll, im Liegen, halb aufeinander, halb nebeneinander, und sagten wieder und wieder dieselben Sätze. „Detailversessen“ nannte Bjarne Mädel Regisseur Feldhusen in einer kurzen Pause, während er versuchte, mit Tee seine angegriffene Stimme zu pflegen: „Es gibt manchmal den Moment beim Drehen, dass es beim 15. Mal komisch wird, wo es vorher 14 mal nicht komisch war.“

Das hat er jetzt davon.

Vier Drehtage haben sie inzwischen pro Folge; am Anfang waren es gerade mal zwei. Dass daraus eine so große kleine Serie wurde, ist dem Engagement der Beteiligten zu verdanken, die die Unannehmlichkeiten und Hindernisse, für die wohl auch die Verantwortlichen des NDR sorgten, durch Herzblut und Überstunden ausglichen. Die Zusammenarbeit klingt, wenn Arne Feldhusen erzählt, immer noch erstaunlich mühselig — trotz all der Preise und der positiven Aufmerksamkeit, die die Reihe dem Sender inzwischen eingebracht hat.

Immerhin und hurra: Am Mittwoch und Donnerstag gibt es jeweils ab 22 Uhr drei neue Folgen (und eine alte) im NDR-Fernsehen. Und Schotty hat dem Sender (und uns) auch noch diese kleine Hommage an einen anderen Senderstar mit Schnauz geschenkt:

Die Schimäre von der „Informationsoffensive“ der ARD

Was werden wir rückblickend mit 2012 verbinden? Klar: Die große Informationsoffensive der ARD.

„Wir wollen 2012 zu unserem Informationsjahr machen“, hatte die WDR-Intendantin und amtierende ARD-Vorsitzende Monika Piel schon im November 2011 angekündigt, und tatsächlich: Unermüdlich informierten die Verantwortlichen der ARD und des Ersten im abgelaufenen Jahr darüber, dass bei ihnen gerade eine „Informationsoffensive“ stattfinde.

Deren Auswirkungen im Programm zu finden, ist ein bisschen schwieriger.

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In ihrem Abschiedsinterview als ARD-Vorsitzende nennt Monika Piel in der „taz“ als Erfolg ihrer Amtszeit die angeblich von ihr angestoßene „Schärfung unseres Informationsprofils“ und zählt als erstes von zwei Beispielen auf:

Wir haben viele „Brennpunkte“ gesendet (…).

Konkrete Zahlen nennt sie nicht, was sich vielleicht aus folgender Grafik erklärt:

Die ARD hat 2012 bloß zehn „Brennpunkte“ gezeigt. Nur einmal in den vergangenen Jahren waren es noch weniger.

Richtig ist, dass die Intendantinnen und Intendanten der ARD im Sommer 2011 entschieden hatten, dass „bei aktuellen, relevanten Ereignissen die Information in der ARD künftig einen noch höheren Stellenwert haben soll“ und dass „im Das Erste [sic] bei entsprechenden Anlässen verstärkt aktuelle Sondersendungen ins Programm“ nehmen soll.

Aber irgendwie kam es dann nicht dazu. Ganz sicher ist das nicht der ARD zuzuschreiben, sondern nur der Weltnachrichtenlage, die aufgrund eines Burnouts nach 2011 nicht mehr genug „entsprechende Anlässe“ geliefert hat. Insofern klingt es zwar unglücklich, wenn Monika Piel von „vielen“ „Brennpunkten“ spricht, wenn es besonders „wenige“ waren. Andererseits hätten es ja dank der ARD-„Informationsoffensive“ jederzeit mehr sein können, wenn es nicht weniger gewesen wären.

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Volker Herres, der Programmdirektor des Ersten, fand im Gespräch mit der „Funkkorrespondenz“ ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie sehr das Publikum seinen Sender schätzt, wenn es um Informationen geht: die US-Wahlnacht.

In dieser Nacht hatte das Erste mit knapp 1,5 Millionen Zuschauern die mit Abstand meistgesehene Sendung. Das hat kein anderes Programm geschafft. Die anderen lagen bei 500 000 oder darunter.

Das war vermutlich ebenfalls von den Intendantinnen und Intendanten der ARD so beschlossen gewesen; leider scheint niemand Herres hinterher gesagt zu haben, dass sich die Wirklichkeit auch in diesem Fall nicht an den ARD-Plan halten wollte. Zwischen 22:45 Uhr und 3:00 sahen im Schnitt bloß 890.000 Zuschauer das Erste.

Tatsächlich hatte die ARD in der Wahlnacht zwar Sendungen mit 1,5 Millionen Zuschauern. Das lag aber nur daran, dass das Erste abwechselnd immer einige Minuten lang „Die Wahlparty im Ersten“ feierte und dann „Menschen bei Maischberger“ talken ließ und jeden dieser Schnipsel einzeln auswerten ließ. Die ersten 15 Minuten der Wahlparty hatten 1,8 Millionen Zuschauer; die ersten 8 Minuten von Maischberger 1,67 Millionen. Von dieser 23-minütigen „Nacht“ muss Herres reden.

Und von wegen, „die anderen lagen bei 500.000 oder darunter“: Ein „Markus Lanz“-Spezial zum Thema ertrugen im ZDF 1,63 Millionen Menschen; ein „RTL-Nachtjournal spezial“ um Mitternacht kam auf 1,14 Millionen Menschen.

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Worin aber besteht nun diese „Informationsoffensive“? Beim Blättern in den Pressemitteilungen der ARD findet sich unter diesem Stichwort unter anderem folgendes Erklärungsfragment:

Am Samstag, 8. Juli 2012, um 16.30 Uhr startet der „Ratgeber: Haus + Garten“ (WDR), der die „Ratgeber: Bauen + Wohnen“ und „Ratgeber: Heim + Garten“ ablöst. (…) Am Sonntag, 15. Juli 2012, um 16.30 Uhr feiert der „Ratgeber: Auto – Reise – Verkehr“ (SWR/SR) mit Moderator Michael Antwerpes Premiere.

Falls Sie das gerade nicht so präsent hatten: Der „Ratgeber: Auto – Reise – Verkehr“ entstand natürlich durch offensive Zusammenlegung von „Ratgeber: Reise“ und „Ratgeber: Auto + Verkehr“.

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Überhaupt scheint das Wochenendprogramm eine zentrale Rolle bei der „Informationsoffensive“ zu spielen. Der „Schlussbericht der geschäftsführenden Anstalt der ARD“, den der WDR im November der ARD-Hauptversammlung in Köln vorlegte, betont, dass Das Erste im Frühjahr 2012 „sein Informationsangebot am Wochenende um fast 50 Minuten ausgeweitet“ habe.

Es ist mir nicht gelungen, herauszufinden, wo sich diese 50 Minuten im Programm verstecken, abgesehen davon, dass nun sonntags um 16:15 Uhr eine 15-Minuten-„Tagesschau“ läuft statt um 17:00 Uhr eine 3-Minuten-„Tagesschau“.

Im „Schlussbericht“ des WDR heißt es:

Die Reportage „Exclusiv im Ersten“ rückte vom bisherigen Sendeplatz, Sonntag, 13.15 Uhr, auf eine attraktivere, reichweitenstärkere Zeit am Samstagnachmittag um 15.30 Uhr.

Mit der Bedeutung der Wörter „attraktiver“ und „reichweitenstärker“ verhält es sich ähnlich wie mit Frau Piels „viel“. Am Sonntag um 13:15 Uhr hatte „Exclusiv“ 2011 im Schnitt 0,99 Millionen Zuschauer. Am Samstag um 15:30 Uhr hatte „Exklusiv“ 2012 im Schnitt 0,67 Millionen Zuschauer.

Dank der „Informationsoffensive“ der ARD und des Verschiebens auf einen „attraktiveren, reichweitenstärkeren“ Sendeplatz verlor die Reportagereihe also ein Drittel ihrer Zuschauer.

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Insofern muss man vermutlich froh sein, wenn die ARD an anderer Stelle unter einer „Informationsoffensive“ sprachlich etwas unorthodox das bloße Halten der Stellung versteht. So gehörte zur Offensive, dass das Erste 2012 — genau wie 2011 — im Hauptabendprogramm eine Staffel mit Reportagen aus den Redaktionen der politischen Magazine zeigte. Und dass die Zahl der Dokumentationen und Features ebenso wenig verändert wurde wie die der Dokumentarfilme in Spielfilmlänge. (Immerhin wurden die Dokumentationen „stärker profiliert“, indem sie am Montagabend feste Reihentitel bekamen: „Die Story im Ersten“ und „Geschichte im Ersten.)

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Das Wirtschaftsmagazin „Plusminus“ bekam „20 Prozent mehr Sendezeit“ (nämlich 30 statt 25 Minuten) als Preis für die erfolgreiche Teilnahme am großen „Reise nach Jerusalem“-Spiel, das durch das Engagement von Günther Jauch ausgelöst wurde. Wegen Jauch wechselten bekanntlich Anne Will vom Sonntag auf den Mittwoch, Frank Plasberg vom Mittwoch auf den Montag, „Report“ und „Fakt“ vom Montag auf den Dienstag — und eben „Plusminus“ vom Dienstag auf den Mittwoch.

Der Quote des Wirtschaftsmagazins tat das nicht gut: Auf dem alten Sendeplatz hatte „Plusminus“ zwischen Januar und August 2011 im Schnitt 3,3 Millionen Zuschauer, auf dem neuen zwischen Januar und August 2012 nur 2,6 Millionen.

Im November 2011 hatte die ARD als Teil ihrer „Informationsoffensive“ auch angekündigt:

Damit Wiedererkennbarkeit beim Publikum garantiert ist, wird im neuen Jahr das Wirtschaftsmagazin „plusminus“ von einer Moderatorin/einem Moderator präsentiert (…).

Der forsche Indikativ täuscht. Ein Jahr später wird „Plusminus“ immer noch abwechselnd, je nach diensthabendem Sender, von vier verschiedenen Moderatoren präsentiert.

Ebenso mutig als Tatsache und nicht bloße Absicht hatte die ARD im selben Atemzug formuliert, dass „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ noch 2012 ein „neues, moderneres Studio-Design“ bekommen würden. Nun ja.

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Nun ist es also zum Glück vorbei, das große „Informationsjahr“ der ARD. In der Pressekonferenz zu dessen Abschluss sagte Monika Piel:

Wir haben alle nochmal, alle Intendantinnen und Intendanten, beschlossen, nach langen Strategiediskussionen insgesamt: Der Programmanteil von Informationen im Ersten beträgt 40 Prozent. Den wollen wir unvermindert auch so beibehalten.

Auf Nachfrage von Journalisten konnte niemand der anwesenden ARD-Verantwortlichen sagen, welche Programme man als „Information“ zählen muss, um auf diese 40 Prozent zu kommen. Die ARD-Tier-Wiege-Soaps im Stil von „Ameisenbär, Nacktnasenwombat & Co.“ aus den Zoos der Republik gehörten aber bestimmt dazu.

Und so genau, wie es Frau Piel, Herr Herres und die anderen ARD-Nasen mit den Tatsachen nehmen, im Zweifel auch jedes beliebige andere Programm, das man braucht, um das Ziel scheinbar zu erreichen.

Ausgewogenheit, wie sie Hubert Burda meint

„Kritisch und ausgewogen“ hätten sich die Journalisten und Redakteure der deutschen Zeitungen und Zeitschriften zum Thema Leistungsschutzrecht geäußert, schrieb Verlegerpräsident Hubert Burda den Bundestagsabgeordneten. Das ist ein guter Anlass, ausnahmsweise in den „Focus“ zu schauen, den er herausgibt.

Auch der hat sich in dieser Woche mit dem Leistungsschutzrecht befasst. Der Artikel trägt die Überschrift: „Bald Fairness im Netz?“ Er ist mit einer Karikatur illustriert, die Google als Spinne in einem Netz zeigt, in dem schon mehrere Fliegen mit Euro-Zeichen und ein Schmetterling mit Dollar-Zeichen festhängen. Die Google-Spinne trägt ein Protestschild mit der Aufschrift „FÜR DIE FREIHEIT IM NETZ!“

„Focus“-Medienredakteur Robert Vernier berichtet unter dieser Zeichnung, dass das geplante Leistungsschutzrecht „ungeachtet der massiven Kampagne des Internet-Riesen Google die erste parlamentarische Hürde“ genommen hätte. Das Gesetz solle Verlage vor dem „unberechtigten und unbezahlten Zugriff“ auf ihre Inhalte schützen, behauptet er und fasst seine Bedeutung so zusammen:

Es hätte Vorbildcharakter für viele Länder, in denen sich Verlage — wie etwa in Frankreich und Brasilien — gegen die ungenierte Selbstbedienung von Google & Co. bei Zeitschriften- und Zeitungsinhalten wehren. (…)

Per Internet-Kampagne und Zeitungsanzeigen schürte der US-Konzern vergangene Woche mit unwahren Behauptungen und bizarren Andeutungen Ängste. Google erklärte die Freiheit des Internets für bedroht und forderte dessen Nutzer auf, Bundestagsabgeordnete mit einer Flut von E-Mails auf Konzernkurs zu zwingen.

Vernier zitiert dann aus der Bundestagsdebatte jeweils mehrere Äußerungen von Max Stadler (FDP) und Ansgar Heveling (CDU). Beide sind Befürworter des neuen Gesetzes.

Argumente gegen das Leistungsschutzrecht aus der Debatte werden im „Focus“ nicht erwähnt. Ein Gegner des Gesetzes kommt im „Focus“ nicht zu Wort. Von der Kritik namhafter Wissenschaftler an dem Gesetz erfährt der „Focus“-Leser nichts.

Diese, äh, nachrichtliche Berichterstattung wird durch einen Kommentar hinten im Heft ergänzt. In der Rubrik „Montag ist Zeugnistag“ gibt „Focus“ Google eine 6.

Journalismus?

Frank Schirrmacher brauchte nur einen einzigen ironischen Satz, um deutlich zu machen, wie wenig erstrebenswert eine Zukunft ist, in der es keine Zeitungsverlage mehr gibt, sondern in der „Konsumhersteller ihre eigenen Nachrichten produzieren“:

Wir freuen uns schon, wenn Apple über die Arbeitsbedingungen in China berichtet oder Coca-Cola über die Segnungen der Globalisierung.

Ja, das ist ein guter Test für die Qualität, für die Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit eines Mediums: Wie es mit Themen umgeht, die es selbst betreffen.

Die deutschen Zeitungen versagen gerade in spektakulärer Weise bei diesem Test. Sie demonstrieren jedem, der es sehen will, dass sie uns im Zweifel nicht zuverlässiger informieren, als es irgendein dahergelaufener amerikanischer Konsumhersteller täte.

Es ist eine bittere Ironie, dass sie diesen Beweis im Kampf für ein Gesetz liefern, dessen Notwendigkeit sie im Kern damit begründen, dass sie als zuverlässige Informanten der Bürger unverzichtbar und unersetzbar sind.

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Am Donnerstag lobte die FAZ in einem Artikel den „virtuosen Eiertanz“, den die „New York Times“ gerade in ihrer Berichterstattung über die Skandale bei der BBC vollbringt. Mark Thompson, der darin verwickelte frühere Generaldirektor der BBC, ist nämlich seit kurzem Vorsitzender der Geschäftsführung der „New York Times“. „Dem amerikanischen Verständnis von journalistischer Objektivität entspricht es“, staunte FAZ-Korrespondent Patrick Bahners, „dass ein Presseorgan eigene Angelegenheiten in gleicher Form darstellt wie die Geschäfte Dritter.“

Meinem Verständnis von journalistischer Objektivität hätte es entsprochen, wenn die deutsche Presse versucht hätte, ihre Leser fair, umfassend und zutreffend über das geplante Leistungsschutzrecht für Verlage zu informieren. Ich hätte es für selbstverständlich gehalten, sich darum zu bemühen, dass die nachrichtliche Berichterstattung in eigener Sache bzw. über einen unmittelbaren Konkurrenten oder Gegner ganz besonders unangreifbar ist.

Auf der Grundlage einer solchen ausgewogenen, sachlichen Darstellung könnten die Redaktionen dann natürlich Kommentare veröffentlichen, in denen sie für die eigene Position werben, die anscheinend mit der ihrer Verleger identisch ist (auch wenn ich mir als Leser vermutlich trotzdem wünschen würde, dass sie ohne den Kniff auskämen, das konkurrierende Unternehmen gleich als einen Agenten Amerikas zu dämonisieren).

Meinem Verständnis von gutem Journalismus hätte es entsprochen, die Gegenseite mindestens so ausführlich zu Wort zu kommen wie die eigene Seite, und zum Beispiel Gastkommentare nicht ausgerechnet von denen schreiben zu lassen, die ohnehin meiner Meinung sind. Das wäre kein Zeichen von Masochismus, sondern von Selbstbewusstsein. Und es würde beim Leser offensiv den möglichen Verdacht ausräumen, dass man ihm in einer solchen Situation abweichende Meinungen oder unliebsame Tatsachen verschweigt, wie man es offenbar von Apple und Coca-Cola erwarten muss.

(Dass das nicht ausschließt, sich kritisch mit Google und seinen höchst beunruhigenden Geschäftspraktiken auseinanderzusetzen, versteht sich von selbst.)

Stattdessen haben sich weite Teile der deutschen Presse dafür entschieden, Propagandaorgane in eigener Sache zu sein. Sie sehen es als ihre Aufgabe, dazu beizutragen, dass sie ihr Leistungsschutzrecht bekommen. Sie sehen es nicht als ihre Aufgabe, die Bürger gut zu informieren.

Nun kann man mir natürlich Naivität vorwerfen, dass ich etwas anderes erwartet hatte. Das ändert aber am Ergebnis nichts: Die deutschen Zeitungen haben genau den Test nicht bestanden, anhand dessen die Untauglichkeit möglicher Ersatz-Verleger wie Apple und Coca-Cola dargestellt werden sollte. Sie haben ihre eigenen Leser verraten, als würden sie die nicht mehr brauchen, wenn sie nur Google besiegen könnten.

Es findet keine kritische Berichterstattung statt über die Verleger-Kampagne und ihre Lobby-Arbeit, über die U-Boote, die in die Debatte geschmuggelt werden, über die würdelose Praxis, dass Chefredakteure zu nickenden Stichwortgebern ihrer eigenen Geschäftsführer werden, über das erbärmliche Agieren des früheren Journalisten Christoph Keese, der in dieser Sache als Sprecher der gesamten deutschen Verlagsbranche auftritt und sich offenbar entschlossen hat, dass die Wahrheit in diesem Kampf nicht sein Verbündeter ist.

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Neulich habe ich die Journalismus-Krisen-Berichterstattung der „Zeit“ kritisiert und als „Wohlfühljournalismus“ bezeichnet. In seiner Erwiderung verteidigte Chefredakteur Giovanni di Lorenzo nicht nur ausdrücklich einen solchen „Wohlfühljournalismus“. Er beschwerte sich zudem:

Man könnte ja auch sagen, dass wir weniger für die ZEIT, sondern für die ganze Branche eine recht ordentliche Titelgeschichte hinbekommen haben.

Ja, das hätte man auch sagen können. Ich wollte das aber nicht sagen, weil das nicht meine Meinung ist. Ich fand, es ist keine recht ordentliche Titelgeschichte geworden.

Bestürzend an di Lorenzos Satz finde ich nicht nur, dass sich ein leitender Journalist so nach Zustimmung sehnt. Bestürzend finde ich vor allem den Versuch einer doppelten Vereinnahmung: Dass die „Zeit“ da etwas für die ganze Branche geleistet hätte. Und dass ich das dann als Angehöriger dieser Branche doch bitte zu schätzen hätte.

Offenkundig ist der „Zeit“-Chefredakteur in der Branche nicht allein mit dem Wunsch, den ich aus seinen Texten herauslese: Dass die Zeitungen und der Journalismus von Kritik möglichst verschont werden sollen. Er suggeriert, dass es etwas Unanständiges und Selbstzerstörerisches ist, wenn ausgerechnet Zeitungs-Mitarbeiter und Journalisten diese Kritik üben.

Dahinter steckt womöglich der Gedanke, dass wir Journalisten einander in diesen schlechten Zeiten gegenseitig schonen müssen. Dass wir zusammenrücken sollen, zusammenhalten, gegen Google, zum Beispiel. Dass die Lage zu schlecht ist, um sich eine kritische Beschäftigung mit sich selbst und eine wahrhaft unabhängige Berichterstattung über die eigenen Themen leisten zu können.

Das Gegenteil ist richtig. Journalismus hat nur dann eine Chance zu überleben, unter welchen Rahmenbedingungen auch immer, wenn die Menschen ihn für unverzichtbar halten. Wenn sie davon überzeugt sind, dass sie ihm trauen können, auch und gerade dann, wenn es um Themen geht, die ihn selbst betreffen.

Der „New York Times“-Leser, der bemerkt, wieviel Mühe sich das Blatt gibt, ihn trotz der Verwicklung des eigenen Chefs zuverlässig über den BBC-Skandal zu berichten, der wird diesem Blatt zutrauen, sich grundsätzlich darum zu bemühen, ihn gut zu informieren. Der ist im Zweifel sogar bereit, für einen solchen Journalismus Geld auszugeben und für seine Existenz zu kämpfen.

Ich finde das naheliegend und keine amerikanische Eigenart. Die deutsche Presse aber scheint gerade zu jeder Unwahrheit bereit, um zu beweisen, wie wahrhaftig ihre Berichterstattung ist. Sie beteuert mit maximaler Einfalt ihre Vielfalt.

Der Kollege Richard Gutjahr bringt es auf die treffende Formel:

Journalismus. War das nicht genau das, was uns von Google unterscheidet?

Ich habe mich selten so unwohl gefühlt, Mitglied dieser Branche zu sein.

FAZ: Was wissen Professoren schon vom Geldverdienen?

Die deutsche Presse setzt ihre Desinformations- und Diffamierungskampagne fort. Im publizistischen Kampf für ihr eigenes Leistungsschutzrecht setzt heute Reinhard Müller auf der Titelseite der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einen drauf drunter.

Zunächst überrascht er mit der Feststellung, dass Google „kein internationaler Wohlfahrtsverband“ sei, „sondern auch mächtiger Arm der amerikanischen Regierung“. Das war mir tatsächlich neu.

Dann erwähnt Müller immerhin, dass es noch andere Kritiker an dem Gesetzesvorhaben gibt:

Aber sind nicht auch die Jugendorganisationen aller Parteien dagegen? Erklärt uns nicht der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die Verlage müssten eben mehr investieren? Weisen nicht Professoren auf das angeblich überholte „Geschäftsmodell Zeitung“ hin? Gewiss: Wer sein Geld nicht selbst verdienen muss oder vom Staat bezahlt wird (also von allen Steuerzahlern unabhängig von seiner Leistung getragen wird), der kann leicht den Marktliberalen spielen. Es kostet ja nichts.

Das ist ja praktisch. Die FAZ muss sich nicht inhaltlich mit der Kritik auseinandersetzen, weil sie eh nur von Schnorrern und Soziale-Hängematten-Bewohnern kommt. Weil in den Jugendorganisationen von CDU/CSU, FDP, SPD, Grünen und Piraten, die gemeinsam vor dem Leistungsschutzrecht warnen, auch Schülerinnen und Schüler sind, die möglicherweise noch keine Zeitung austragen, kann man ihre Äußerungen getrost ignorieren. Und Professoren sollen erst mal schön in der privaten Wirtschaft ihr Geld verdienen, ehe sie uns mit ihrem Expertentum belästigen.

Die FAZ hat — ebenso wie die „Süddeutsche Zeitung“ — ihre Leser bis heute nicht darüber informiert, dass es eine gemeinsame Erklärung namhafter Urheber- und Medienrechtler gibt, in der sie vor „unabsehbaren negativen Folgen für die Volkswirtschaft und die Informationsfreiheit in Deutschland“ warnen, wenn das Leistungsschutzrecht kommt. In dieser Erklärung ist übrigens in keiner Weise von einem angeblich überholten „Geschäftsmodell Zeitung“ die Rede.

Die FAZ verschweigt ihren Lesern relevante Kritik und diffamiert pauschal die Kritiker. Ausgerechnet die FAZ, die bei diesem Thema seit Jahren beweist, dass sie zu einer unabhängigen, ausgewogenen, fairen Berichterstattung nicht willens oder fähig ist, spricht den Professoren ab, vernünftig urteilen zu können, weil sie ja vom Staat bezahlt werden.

Reinhard Müller verantwortet bei der FAZ die Seite „Staat und Recht“, auf der vor drei Jahren Jan Hegemann, ein bezahlter Interessensvertreter von Axel Springer, als scheinbar unabhängiger Experte für das Leistungsschutzrecht werben durfte. An gleicher Stelle erschien in diesem Jahr erneut versteckte Eigenpropaganda: ein weiterer Gastkommentar pro Leistungsschutzrecht von einem vermeintlich unabhängigen Experten, der in Wahrheit ein Verlagsvertreter ist.

Laut Reinhard Müller diskreditiert es Teilnehmer an der Debatte, wenn sie möglicherweise vom Staat (oder von ihren Eltern) bezahlt werden. Es diskreditiert sie nicht, wenn sie von den Verlagen bezahlt werden.

Frederic Schneider hat vor drei Tagen sein FAZ-Abo gekündigt, weil deren einseitige Berichterstattung über Google und das Leistungsschutzrecht „der journalistischen Institution FAZ nicht würdig“ sei. Aber Schneider ist ja bloß Kreisvorsitzender der Jungen Union Main-Taunus. Auf solche Leute, die womöglich nicht einmal ihr eigenes Geld verdienen, können die FAZ und Reinhard Müller gut verzichten.

Zwischenstand im Presse-Limbo zum Leistungschutzrecht

Das Wettrennen um die verlogenste, einseitigste, falscheste und irrste Berichterstattung in der deutschen Presse über das Leistungsschutzrecht ist noch im vollen Gang. Insofern wäre es voreilig, heute schon einen Gewinner küren zu wollen, selbst wenn man sich kaum vorstellen kann, dass die bisherigen Teilnehmer noch zu übertreffen sind.

Bis vorhin zum Beispiel dachte ich, dass der „Mannheimer Morgen“ unmöglich einzuholen sein würde. Der hat einen Kommentar von Rudi Wais veröffentlicht, der auch in „Augsburger Allgemeiner“, „Main Post“, „Straubinger Tagblatt“ und „Landshuter Zeitung“ erschienen ist und mit den Worten beginnt:

Diesen Kommentar gibt es nicht umsonst.

Das ist ein Satz, der auf den ersten Blick nicht sehr spektakulär wirkt, es sei denn, man liest den Kommentar auf den Internetseiten von „Mannheimer Morgen“, „Augsburger Allgemeine“ oder „Main Post“. Dort gibt es ihn umsonst.

Diesen Kommentar gibt es nicht umsonst. Unsere Leser bezahlen am Kiosk oder im Abonnement für ihre Zeitung — und unser Verlag bezahlt den Autor, der diesen Kommentar schreibt, das Papier, auf dem der nachts gedruckt wird, die Druckmaschinen und natürlich auch Fahrer und Zusteller, die die Zeitungen dann in aller Frühe ausliefern. Im Idealfall haben am Ende alle fünf etwas von diesem Kommentar: Leser, Verlag, Journalist, Fahrer und Zusteller. Sie leben mit der Zeitung oder von ihr. Nur Google will nicht bezahlen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich verlieren diese Sätze ein bisschen ihre Überzeugungskraft dadurch, dass sie alle auf dem ersten Satz aufbauen, der so eindeutig falsch ist.

Wie übrigens auch der nächste:

Der amerikanische Internetriese sammelt Texte ohne Rücksicht auf Urheber- und Verlagsrechte in speziellen Nachrichtenportalen.

Nein. Was Google macht — Texte indizieren und mir kurzen Ausrissen verlinken — verstößt nicht gegen das Urheberrecht. Und wenn die Verlage es trotzdem nicht zulassen wollen, könnten sie es einfach verhindern, sogar ohne darauf verzichten zu müssen, über Google trotzdem gefunden zu werden. Die falsche Behauptung ist Teil der gezielten Desinformation der Leser durch die Verlage, was insofern ironisch ist, weil der Kommentator ein paar Sätze weiter schreibt, dass „unkundige Besucher“ von Google „gezielt desinformiert“ würden.

Der Kommentar endet mit den Worten:

Guter Journalismus kostet Geld — und deshalb darf ihn auch Google nicht umsonst bekommen.

Bevor Sie jetzt ein schlechtes Gewissen bekommen, falls Sie auf den Link geklickt und den Text umsonst gelesen haben: Keine Sorge. Es handelt sich ja nachweislich bei ihm nicht um „Guten Journalismus“.

Dieser Kommentar also, dachte ich, wäre schwer zu unterbieten. Andererseits hat sich die „Sächsische Zeitung“ wirklich alle Mühe gegeben. Die schreibt heute:

Nun ruft uns Google auf, für die Freiheit im Netz zu kämpfen. Auf wessen Kosten der Konzern das tut, ist doch egal, solange er es für unsere Freiheit tut. Dafür darf er auch beliebig viel Wissen über uns sammeln und an ihm beliebige Stellen weiterreichen. Oder beliebig geklaute Inhalte zum eigenen Nutzen verwerten. Ja, Google ist toll und für die Freiheit. Wie gaga — oder eben google — muss man eigentlich sein, um an ein solches Märchen zu glauben?

Als Laie würde ich sagen, dass das justiziabel sein dürfte. Nein, nicht das lustige Wortspiel am Ende, sondern die Unterstellung, dass Google Straftaten begeht und mit „beliebig geklauten Inhalten“ handelt. Aber mal angenommen, der Suchmaschinenkonzern würde dagegen vor Gericht ziehen, dann wär aber was los! Es wäre, jede Wette, für die deutschen Print-Medien und ihre Lobbyisten und Verbündeten ein Angriff auf die Pressefreiheit und der letzte fehlende Beweis, dass Google schlimmer ist als Hitlerkrebs.

Im übrigen ist die „Sächsische Zeitung“ in bester Gesellschaft: Auch der Zeitungsverlegerverband BDZV hat Google neulich mit einem Ladendieb verglichen.

Aber reicht das, um das publizistische Wettrennen in den Kategorien Unverfrorenheit und Wahnwitz zu gewinnen? Oder hat Stephan Richter, Sprecher der Chefredakteure des Schleswigholsteinischen-Zeitungsverlages, bessere Chancen? Er kommentiert unter dem Titel „Freiheit des Ausschlachtens“ und stellt gleich im zweiten Satz fest, dass „jeder halbwegs vernünftige Mensch“ für ein Leistungsschutzrecht sein müsse (das nicht zuletzt von führenden Urheberrechtsexperten, wir erinnern uns, abgelehnt wird).

Richter punktet vor allem damit, dass er es auf kürzestem Raum schafft, jedes einzelne Feld auf der netzpolitischen Bullshit-Bingo-Karte anzukreuzen:

Der parlamentarische Gang des Leistungsschutzrechtes wäre schnell beendet, lebte das Internet nicht von einer Scheinfassade, die die Netzjünger im Schlepptau der Suchmaschine Google glauben retten zu müssen. Die wichtigste Lüge: Im Internet herrscht Freiheit, die durch das Gesetz bedroht wird. Doch wo — bitteschön — ist die Freiheit im Netz? Allein der illegale Datenklau, mit dem täglich Geschäfte gemacht werden, verletzt Persönlichkeitsrechte und ist Bespitzelung. Hinzu kommt die Manipulation — auch bei den Suchmaschinen. Keiner kennt die Algorithmen, nach denen die Treffer bei Google angezeigt werden. Und schließlich ist da noch die Kostenlos-Mentalität, die es Internetanbietern erlaubt, mit dem puren Ausschlachten von Inhalten anderer Geld zu verdienen. Modernes Raubrittertum nennt man dies.

Zu würdigen ist auch die zugehörige Karikatur, die sich, um es positiv zu formulieren, um eine innovative Umsetzung des Themas bemüht und deshalb zeigt, wie Google einen Internetbenutzer dazu zwingt, die harte Nuss Leistungsschutzrecht zu knacken. Man kann es schlecht erklären, vielleicht schauen Sie einfach selbst.

Weitere Kandidaten-Vorschläge werden gern entgegengenommen.