„Stern“-Umfrage zeigt: Mittelgroße Zahl von Deutschen findet irgendwas mit Lügenpresse

Vielleicht liegt es an mir. Man könnte ja die Meldung, die in dieser Woche groß die Runde machte, wonach 44 Prozent der Deutschen den „Lügenpresse“-Vorwurf für berechtigt halten, einfach als groben Hinweis nehmen, dass es vermutlich eine stattliche Zahl ist, und ob es nun in Wahrheit ein paar Prozentpunkte mehr oder weniger sind und was genau diese 44 oder 34 oder 54 Prozent eigentlich finden – Gott, es ist halt nur eine Forsa-Umfrage.

Andererseits müsste es doch möglich sein, eindeutig zu berichten. Der „Stern“ müsste es doch schaffen, die Ergebnisse einer von ihm selbst in Auftrag gegebenen Umfrage so darzustellen, dass man weiß, was die Leute gefragt wurden und was sie geantwortet haben. Das kann doch nicht zuviel verlangt sein?

Was steckt also genau hinter der „Stern“-Behauptung, 44 Prozent der Deutschen teilten den „Lügenpresse“-Vorwurf von Pegida? Laut Grafik lautete die den Befragten vorgelegte Aussage: „Die von oben gesteuerten Medien verbreiten nur geschönte und unzutreffende Meldungen“. Im Artikel heißt es, die 44 Prozent hätten mehr oder weniger der Aussage zugestimmt, dass „die Medien in Deutschland ‚von ganz oben gesteuert‘ würden und deshalb ‚geschönte und unzutreffende Meldungen‘ verbreiteten“.

Ist das wirklich dasselbe? Natürlich verbreiten die von oben gesteuerten Medien nur geschönte Meldungen. Aber ist damit gesagt, dass „die Medien“ von oben gesteuert sind?

Der Mathematik-Professor Gerd Bosbach meint, dass die da zusammengefassten Aussagen schon so unsinnig sind, dass „vernünftige Menschen spätestens an der Stelle aus der Befragung aussteigen und sagen, wenn ihr so einen Quatsch fragt, kriegt ihr von mir auch keine Antworten“.

Fragt man beim „Stern“ nach, wie genau die Aussage formuliert war, stellt sich heraus, dass der Wortlaut noch etwas anders war:

„Unsere Medien werden von ganz oben gesteuert und verbreiten nur geschönte und unzutreffende Meldungen.“

Das ist immer noch eine Kombination von mehreren Aussagen, aber, gut, wer dem zustimmt, will wohl sagen, dass „unsere Medien“ insgesamt oder im Allgemeinen „von ganz oben gesteuert“ sind. Aber warum steht das dann nicht wörtlich im Text? Warum riskiert man, dass nicht nur ich über solche Widersprüche stolpere?

Merkwürdig ist auch, dass es laut der Grafik zwar möglich war, den Statements ganz oder eher zuzustimmen; bei der Ablehnung gab es aber keine Abstufung. Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass das keineswegs so war. Der „Stern“ hat in der grafischen Darstellung nur die Werte für „eher nicht“ und „überhaupt nicht“ zusammengezogen, „da für uns vor allem die Zustimmung von Interesse war“.

Über der „Stern“-Grafik steht die Frage: „Stimmen Sie diesen Positionen der ‚Pegida‘-Demonstranten zu?“ Wenn Sie jetzt annehmen, dass das die Frage war, die auch Forsa gestellt hat, irren Sie. Laut „Stern“ wurden die Leute zuerst allgemein zu den Pegida-Demos befragt. Die einzelnen Aussagen wurden dann aber vorgestellt als Sätze, die man hin und wieder in Zusammenhang mit Flüchtlingen höre, die nach Deutschland kommen. Es wurde nicht darauf hingewiesen, dass es sich „ausschließlich um Aussagen aus dem Pegida-Kontext handelt, da wir hier die Haltung der Leute zu den Positionen – und nicht zu der Organisation ergründen wollten“. Interessant: Auch beim „Stern“ sieht man also, dass es einen Unterschied machen kann, ob man eine Aussage als „Pegida-Aussage“ deklariert – ignoriert das aber dann bei der Präsentation der Ergebnisse.

Schließlich ist auch die Formulierung der anderen Aussagen, zu denen die Befragten Stellung nehmen sollten, grenzwertig (mal angenommen, sie waren so formuliert, wie der „Stern“ behauptet, was man ja, wie gesehen, nicht voraussetzen kann). Der „Stern“ beruhigt seine Leser, dass bis auf den „Lügenpresse“-Vorwurf es kaum nennenswerte Zustimmung zu den Pegida-Positionen gebe. Aber ist das angesichts der Art, wie sie formuliert sind, wirklich ein Wunder? „Thomas de Maizière soll der Teufel holen“? „Die Flüchtlinge sollen sich untereinander bekämpfen und totschlagen. Dann haben wir Ruhe vor dem Pack“? „Dieses Rattenpack bringt nur Unruhe, Gewalt, Ignoranz und Krankheiten in unser Land. Deutsche müssen deshalb für ihr Land kämpfen“?

Und warum haben Forsa und der „Stern“ dann nicht auch die Frage nach den Medien in ähnlichem Stil formuliert und mindestens nach der „linksversifften Lügenpresse“ gefragt?

Wie gesagt: Mag sein, dass es an mir liegt und ich das zu genau nehme. Aber warum veröffentlicht der „Stern“, wenn er sich schon die redaktionelle Nachbearbeitung und Umformulierung von Umfragendaten vorbehält, nicht die einzelnen Ergebnisse im Detail im Netz? Womöglich, weil es dann nicht mehr so einfach ist, sie redaktionell nachzubearbeiten?

Was soll denn helfen gegen das Misstrauen, das Journalisten zur Zeit in Deutschland entgegenschlägt, wenn nicht Genauigkeit und Transparenz?

Die Unwahrheit über Akif Pirinçcis „KZ-Rede“

Am Montag, den 19. Oktober 2015, hielt der Autor Akif Pirinçci zum Geburtstag von Pegida in Dresden eine Rede, nach der er nicht mehr umstritten war, sondern indiskutabel. Hauptgrund dafür war eine Passage mit einem Nazi-Vergleich – die Rede wurde in den Medien auch als „KZ-Rede“ bezeichnet. Er unterstellte den deutschen Politikern, sie würden Kritiker der aktuellen Asylpolitik am liebsten in Konzentrationslager stecken.

Man konnte das, was Pirinçci an diesem Abend gesagt, schon wenig später wörtlich nachlesen. Man konnte es sich unmittelbar danach und bis heute auf YouTube anschauen. Trotzdem hat ein großer Teil der Medien das, was er gesagt und gemeint hat, falsch wiedergegeben und tut es teils noch heute. Sie haben den Zusammenhang weggelassen und den Eindruck erweckt (oder unumwunden behauptet), dass Pirinçci Flüchtlinge (oder Politiker) ins Konzentrationslager stecken wolle – und bedaure, dass sie geschlossen seien.

Das geschah, obwohl die wichtigste Nachrichtenagentur dpa am nächsten Tag in mehreren Meldungen immer wieder explizit darauf hinwies, dass sich der Satz nicht auf Flüchtlinge bezog.

Eine unvollständige Dokumentation des Versagens:

AFP, 20.10.:

Der deutsch-türkische Autor Pirincci, der auf Einladung des Pegida-Gründers Lutz Bachmann bei der Kundgebung am Montagabend aufgetreten war, hatte in seiner Rede Muslime attackiert und Flüchtlinge als „Invasoren“ bezeichnet. Nach Kritik an Politikern, die er „Gauleiter gegen das eigene Volk“ nannte, sagte er: „Es gäbe natürlich andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“ Die Menge reagierte mit Gejohle und Applaus.

AFP, 20.10.:

Pirincci hatte als einer der Hauptredner auf der Pegida-Kundgebung am Montagabend in Dresden gesagt, die „KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb“. Die Staatsanwaltschaft prüft bereits eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung.

„Zeit Online“, 20.10.

Nur Stargast Akif Pirinçci, der vulgäre Held der Neuen Rechten und Linkenhasser, bringt Unruhe in die Feierstunde. Die Politiker seien „Gauleiter gegen das eigene Volk“, die Grünen eine „Kinderfickerpartei“. Schließlich bedauert er es noch, dass „die KZs leider außer Betrieb“ seien.

(„Zeit Online“ hat den Text inzwischen geändert.)

Bild.de, 20.10.:

27 Minuten hetzte der Sohn türkischer Einwanderer vor 20 000 Zuhörern, nannte Flüchtlinge „Invasoren“, sagte, Deutschland werde zur „Moslemmüllhalde“. Absoluter Tiefpunkt der Hass-Rede: „Es gebe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.

Dirk Müller, WDR, 20.10:

Es ist widerwärtig. Mit einem anderen radio-tauglichen Wort kann ich nicht mehr beschreiben, was sich seit einem Jahr in Dresden, aber auch in den sogenannten sozialen Medien abspielt. Da wird Rednern applaudiert, die unverhohlen zum Massenmord auffordern. Denn als was anderes soll man die Äußerung des Hetzautors Pirincci denn bezeichnen? Die KZs seien ja leider derzeit außer Betrieb?

(Nachtrag, 23. November: Nach einer einstweiligen Verfügung gelöscht.)

NDR Info, 20.10.:

Ein Zitat auf der Pegida-Kundgebung in Dresden am Montag wird einen Tag später diskutiert und mit Abscheu kommentiert. Es ist die Aussage eines Redners: In Deutschland seien die KZs ja leider derzeit außer Betrieb. Gesprochen hat diesen Satz der Autor Akif Pirinçci. Bezogen hatte er ihn in seiner Rede auf Flüchtlinge.

(Der NDR hat den Text inzwischen korrigiert.)

Markus Lanz, ZDF, 20.10.:


 

„Da geht dann jemand wie der Schriftsteller Pirinçci auf die Bühne und sagt einen Satz wie: Es gäbe natürlich auch andere Alternativen – mit Blick auf Ausländer ganz generell – aber, und jetzt Zitat: ‚Die KZs sind ja derzeit leider außer Betrieb.“

(Die Sendung ist in der ZDF-Mediathek inzwischen gelöscht.)

„Tagesschau“, 20.10.:

Denn einer der Pegida-Gastredner hatte mit seinen Parolen selbst unter Pegida-Anhängern für Emörung gesorgt. In seiner Rede bezeichnete der deutsch-türkische Autor Pirincci Asylbewerber als „Invasoren“, Politiker als „Gauleiter des eigenen Volkes“, und dann fiel folgender Satz: „Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.

Bundesjustizminister Heiko Maas in der „Tagesschau“, 20.10.:

„Zumindest die, die auf der Bühne standen und bedauerten, dass die KZ nicht mehr in Betrieb sind, das sind Nazis.“

„Hannoversche Allgemeine Zeitung“ / „Kieler Nachrichten“, 21.10.:

Als ein rechtsextremer Autor auf dem Podium offen die Wiedereinrichtung von Konzentrationslagern forderte, wandten sich einige Teilnehmer empört ab und verließen den Platz. Immerhin. Sie haben endlich erkannt, welche Gesinnung die Rattenfänger an der Spitze haben.

(Die Zeitungen haben diese Behauptung inzwischen öffentlich widerrufen.)

AFP, 21.10.:

Pirincci hatte in seiner Rede nach Attacken auf Muslime und Flüchtlinge sowie Kritik an Politikern gesagt: „Die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

epd, 21.10.:

Nach einer Hassrede des deutsch-türkischen Autors Akif Pirinçci am Montagabend in Dresden ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Volksverhetzung und Verherrlichung des Nazi-Regimes. Auf der „Pegida“-Demonstration hatte er im Zusammenhang mit der Errichtung von Asylbewerberheimen gesagt: „Es gäbe natürlich andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

dpa, 21.10.:

Bei einem Aufzug der Pegida-Bewegung am Montag in Dresden hatte der Redner Akif Pirinçci in einer mit Diffamierungen und Beleidigungen von Muslimen gespickten Rede gesagt: „Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

„Handelsblatt“, 21.10.:

Sein Satz „Die KZs sind ja leider außer Betrieb“, für den er aus dem Pegida-Publikum vereinzelt Applaus bekam, trug Pirinçci eine Anzeige ein. „Wir ermitteln wegen des Verdachts der Volksverhetzung“, sagte der Dresdener Oberstaatsanwalt Lorenz Haase.

„Neues Deutschland“, 21.10.:

Vorwürfe, die Pegida-Demonstranten liefen Neonazis hinterher, beantworten Redner zunehmend mit gleichlautenden Angriffen. So auch am Montagabend in Dresden. Dort verglich Lutz Bachmann Bundesjustizminister Heiko Maas mit einem Naziführer aus den 30er Jahren. Doch leicht verfangen sich die Redner in der Unlogik ihrer Argumente. Der deutsch-türkische Autor Akif Pirinçci nannte Politiker „Gauleiter gegen das eigene Volk“, sprach von „Umvolkung“ und von Flüchtlingen als „Invasoren“. Und dann bedauerte er, dass die KZ nicht mehr in Betrieb seien.

„Sächsische Zeitung“, 21.10.:

Für Aufsehen sorgt dabei vor allem der deutsch-türkische Autor Akif Pirinçci, der als Hauptredner erklärt hatte: „Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb“. Nach der Anzeige einer Privatperson hat die Dresdner Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen des Verdachts auf Volksverhetzung gegen Pirinçci aufgenommen. Unmittelbar vor seinem umstrittenen Satz hatte dieser die aktuelle Flüchtlingspolitik der Bundesregierung mit einer von ihm so bezeichneten „Umvolkung“ der Nazis verglichen und erklärt, heutige Politiker agierten „zunehmend als Gauleiter gegen das eigene Volk“.

„Rheinische Post“, 21.10.:

Die Empörung ist riesig über das zynische Bedauern des Pegida-Hauptredners, wonach die Konzentrationslager ja „leider derzeit außer Betrieb“ seien. Danach konnte der deutsch-türkische Autor Akif Pirinçci am Montagabend in Dresden noch 20 Minuten weiter in übelster Weise gegen Flüchtlinge, Muslime und auch Politiker hetzen, bis Pegida-Gründer Lutz Bachmann ihn aus Zeitgründen von der Bühne bat.

Nachtrag, 1. Dezember. Inzwischen transparent geändert.

„Neue Presse“, 21.10.:

Und ließ kürzlich noch ein Demonstrant Kanzlerin Merkel und Vizekanzler Gabriel symbolisch am Galgen baumeln, bedauerte der deutsch-türkische Schriftsteller Akif Pirinçci am Montagabend, dass keine Konzentrationslager in Betrieb seien – und ließ damit den letzten Vorhang der Biederkeit fallen, hinter dem „Pegida“ sich lange zu verstecken versuchte.

„Rhein-Zeitung“, 21.10.:

Inzwischen gehören diese Überschreitungen zum Markenzeichen, durch das Pegida seine Aufmerksamkeit gewinnt: der Galgen mit den für Kanzlerin und Vizekanzler reservierten Stricken, also der Aufruf zum Lynchmord. Die in der zentralen Rede propagierten Alternativen mit dem Bedauern, dass die Konzentrationslager „leider derzeit außer Betrieb“ seien, also der Aufruf zum Völkermord in dieser Woche. Sie wurden sogar noch bejubelt und beklatscht.

„B.Z.“, 21.10.:

Die Pegida-Proteste scheinen radikaler zu werden. Am Montag wurden in Dresden völlig frei fremdenfeindliche, rassistische Parolen geschwungen. Gastredner Akif Pirinçci rief sogar nach KZs

Am Montagabend verkündete der Autor seine dumpfen Ansichten am Jahrestag von Pegida in einer Hass-Rede vor der Semperoper in Dresden. 25 Minuten lang. Er bezeichnet die Grünen als „Kinderfickerpartei“, die Flüchtlinge als „Invasoren“, er beschwört die Vision einer drohenden „Moslemmüllhalde“ in Deutschland.

Und dann fallen die Sätze: „Es gäbe natürlich auch andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

„Hannoversche Allgemeine Zeitung“, 22.10.:

Er hatte am Montagabend als einer der Hauptredner auf der Pegida-Demonstration in Dresden die Politiker „Gauleiter gegen das eigene Volk“ gescholten, Deutschland als „Scheißstaat“ bezeichnet und Asylbewerberinnen „flüchtende Schlampen“ genannt. Das ganze gipfelte in folgender Bemerkung: „Es gäbe natürlich auch andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

„Die Zeit“, 22.10.:

WORTE DER WOCHE

„Die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“ (Akif Pirinçci, Schriftsteller, in seiner Rede zum Jahrestag der Pegida-Demonstrationen )

Bernd Ulrich, „Die Zeit“, 22.10.:

Es wirkt in diesen Tagen so, als ob jede Minute irgendjemand eine Hemmung fallen lässt, nach einem härteren, verletzenderen Wort sucht, mit einer verbalen Keule herumrennt, um damit ein Tabu zu zertrümmern. Akif Pirinçci, der türkischstämmige Autor eines erfolgreichen Katzenkrimis, bedauerte am Montag auf der Dresdner Pegida-Kundgebung am Mikrofon: „Die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

„Leipziger Volkszeitung“, 22.10.:

Die Aussage des deutsch-türkischen Autoren Akif Pirinçci bei Pegida am Montag hätte aus Sicht von Burkhard Jung zum sofortigen Abbruch der Veranstaltung führen müssen. „Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb“, hatte Pirinçci gesagt und sich damit gegen deutsche Politiker gerichtet.

„Berliner Zeitung“, 22.10.:

Thomas Hoof, der Verlagsgründer von Manuscriptum, gibt sich am Telefon gegenüber der Berliner Zeitung einsilbig zu den Vorgängen um seinen Autor, gegen den inzwischen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen Volksverhetzung eingeleitet wurden. (…) Bei seinem Pegida-Auftritt am Montag hatte Pirinçci gesagt: „Es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

Bild Online, 22.10.:

Während gegen Pirinçci nach seiner üblen Hetze bei einem Pegida-Aufmarsch in Dresden („es gäbe natürlich andere Alternativen, aber die KZ sind ja leider derzeit außer Betrieb“) die Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung ermittelt, distanziert sich Verlagsleiter Andreas Lombard (51) von Pirinçci.

„Berliner Zeitung“, 23.10.:

Hintergrund des Streits ist, dass es bei Pegida-Demonstrationen zuletzt gehäuft zu Entgleisungen kam. So zeigte ein Teilnehmer eine Galgenattrappe mit Politikernamen; der Autor Akif Pirinçci bedauerte in einer Rede, dass „die Konzentrationslager nicht mehr in Betrieb sind“.

„Der Spiegel“, 24.10.

Man blickt in diesen Tagen auf eine enthemmte Republik, auf Bilder der Verrohung, die man lange nicht mehr sah, hört Töne des Primitiven, von denen man kaum ahnte, dass sie existieren. Die blutige Messerattacke in Köln; der Galgen in Dresden; das „Schlampe und Fotze“-Gebrüll einer Bürgerin aus Heidenau, als die Kanzlerin zu Besuch war; die Schilder zum einjährigen Geburtstag von Pegida, auf denen die „Feinde des deutschen Volkes“ benannt wurden: „Merkel, Gabriel u. deren Helfershelfer“; die Fäkal- und Nazi-Entgleisungen des Autors Akif Pirinçci und sein Satz: „Die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

Dirk Kurbjuweit, „Der Spiegel“, 24.10.:

Die Pegida-Bewegung nahm einen zweiten Anlauf, versammelt montags wieder viele Tausende in Dresden und zeigt sich radikalisiert: stilisierte Galgen für Politiker, hetzerische Reden, der Schriftsteller Akif Pirinçci verstieg sich zu der Widerwärtigkeit, das Fehlen von KZs zu bedauern.

„Berliner Zeitung“, 24.10.:

Kurz sah es aus, als sei Pegida am Ende. Die Gründer waren zerstritten, die Radikalisierung der Anti-Islam-Bewegung offenkundig, die Teilnehmerzahl sank. Doch mit dem Flüchtlingsansturm ist Pegida zurück – schärfer denn je: mit Galgen, an die man Politiker wünscht, und Rednern wie Autor Akif Pirincci, der fehlende Konzentrationslager beklagt.

AFP, 26.10.:

Vor einer Woche war es bei einer Pegida-Kundgebung in Dresden zu Hassreden gekommen. Der deutsch-türkische Autor Akif Pirincci hatte dabei Rede Muslime attackiert und Flüchtlinge als „Invasoren“ bezeichnet. Nach Kritik an Politikern, die er „Gauleiter gegen das eigene Volk“ nannte, sagte er: „Es gäbe natürlich andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“ Die Menge reagierte mit Gejohle und Applaus. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen des Verdachts auf Volksverhetzung.

AFP, 27.10.:

Der deutsch-türkische Autor Akif Pirinçci hatte in seiner Rede bei der Kundgebung Muslime attackiert und Flüchtlinge als „Invasoren“ bezeichnet. Nach Kritik an Politikern, die er „Gauleiter gegen das eigene Volk“ nannte, sagte er unter dem Beifall der Menge: „Es gäbe natürlich andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

„Tagesspiegel“, 27.10.:

Letzte Woche dann bedauerte der Pegida-Redner Akif Pirinçci zum ersten Jahrestag der „Bewegung“ nicht bloß, dass die KZs „derzeit außer Betrieb“ seien, „leider“. Er beschimpfte auch Politiker als “ Gauleiter gegen das eigene Volk“ und bezeichnete die Grünen als „Kinderfickerpartei“.

Nachtrag, 1. Dezember. Inzwischen transparent korrigiert.

 

Fürs Protokoll: Ich habe keinerlei Sympathien für Pirinçci und seine von Menschenverachtung getriebenen Texte voller Hass und Kot. Ich halte das KZ-Zitat in dem von ihm gemeinten Sinne, in dem er Gegner der Asylpolitik wie sich selbst mit den Juden im Dritten Reich vergleicht, für ähnlich unsäglich wie die entstellte Version. Und ich halte es für den eigentlichen Skandal, dass sich so viele Menschen erst jetzt von ihm distanzieren und dies nicht spätestens nach Erscheinen seines Buches „Deutschland von Sinnen“ getan haben.

Das ändert nichts daran, dass die – von einigen Ausnahmen abgesehen – fast flächendeckend irreführende oder falsche Berichterstattung über Pirinçcis Worte in Dresden ein Armutszeugnis ist für die deutsche Medienlandschaft. Und natürlich Nahrung für die „Lügenpresse“-Vorwürfe.

 
Mehr zum Thema, teilweise schon älter:

 

Korrektur, 4. November. Die Nachrichtenagentur AFP findet, sie gehöre nicht in diese Liste oben – und sie hat nicht unrecht damit. Der Zusammenhang des Pirinçci-KZ-Zitates fehlte zwar in einzelnen Meldungen. Insbesondere in ihren ersten Berichten am Tag nach der Pegida-Veranstaltung berichtet sie aber genau:

Der zu den Hauptrednern der Kundgebung zählende Pirincci hatte in seiner Rede einen angeblichen Vorfall in Hessen geschildert, wo ein CDU-Politiker einem Kritiker einer Flüchtlingseinrichtung gesagt haben soll, er könne Deutschland jederzeit verlassen. Pirincci sagte, offenbar habe die Politik die Angst und den Respekt vor dem eigenen Volk so restlos abgelegt, dass ihm schulterzuckend die Ausreise empfohlen werden könne, wenn es nicht pariere. Danach sagte er den Satz: „Es gäbe natürlich andere Alternativen. Aber die KZs sind ja leider derzeit außer Betrieb.“

Das habe ich leider übersehen.

Kennste einen Bombenangriff, kennste alle: Das „heute journal“ nimmt’s in Syrien nicht so genau

Am vergangenen Freitag berichtete das „heute journal“, wie die russische Luftwaffe in Syrien nicht nur Stellungen des IS bombardiert, sondern auch Städte, die von der oppositionellen Freien Syrischen Armee kontrolliert werden. Der Film begann so:

Stahlblauer Himmel über Syrien. Beste Sicht für Jagdbomber mit ihrer todbringenden Fracht.

Mittwoch, 14. Oktober. Bomben schlagen ein in der Syrischen Kleinstadt Darrat Ezzah. Sie treffen eine Wohnsiedlung.

Unter den Toten und Verletzten sind Kinder, Frauen und ein Hochzeitspaar. Sie haben vor 6 Tagen geheiratet. Die Braut stirbt unter den Trümmern.

Der Bräutigam erliegt erst heute seinen Verletzungen. Er war 22 Jahre alt.

(Mann 1:) „Meine Familie und ich waren im Haus, als eine Rakete eingeschlagen ist. Das war definitiv keine Fassbombe. Die haben einen viel kleineren Explosionsradius. Hier in Darrat Ezzah leben nur Zivilisten. Aber ich sagen euch, auch wenn unser Ort jetzt zerstört ist: Wir werden am Ende die Sieger sein.“

Die Einwohner von Darrat Ezzah sind überzeugt, dass die Bombardierungen dieser Woche nicht von Assads Luftwaffe,

sondern vom russischen Militär geflogen wurden.

(Mann 2:) „Wir haben alle noch tief geschlafen, als sie uns um 7 Uhr morgens angegriffen haben. Dabei gibt es hier weit und breit keine IS-Terroristen. An diesem Ort leben doch nur Zivilisten! Wir haben genau gesehen, dass es russische Kampfjets waren.“

(Mann 1:) „Schau her, Obama, was mit uns passiert. Wir werden angegriffen, während wir schlafen.“

Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, dass der Mann, der da auf dem Geröllhaufen steht und über den Raketeneinschlag in sein Haus redet (Mann 1), dort gar nicht am 14. Oktober stand und auch nicht derselben Woche, sondern am 6. Oktober – wären Sie dann überrascht? Oder würden Sie sagen: Naja, klar, das sind halt viele Aufnahmen von verschiedenen Bombenangriffen, ungefähr aus der Zeit, ungefähr aus der Gegend, passt schon, stimmt ja?

Es ist nämlich tatsächlich so: Die Aufnahmen von diesem Mann und auch noch einige weitere, die später im Bericht vorkommen, sind über eine Woche vorher entstanden. Sie wurden vom Informationsamt der Stadt Darrat Ezzah (auch: Dar Ta’izzah) am 6. Oktober bei YouTube hochgeladen:

Beim ZDF hält man das für unproblematisch. Ein Sprecher teilt mir auf Anfrage mit:

Die „heute-journal“-Berichterstattung über zivile Opfer von Luftschlägen in Syrien vom 16. Oktober 2015 stützte sich auf Bildmaterial, das im Zeitraum vom 5. bis 15. Oktober 2015 rund um Aleppo entstanden ist. Die einzige im Beitrag konkret formulierte Datumsangabe, „14.10.2015“, bezieht sich eindeutig auf den Angriff des in der Eingangsszene gezeigten Militärjets.

Wer den Beitrag aufmerksam verfolgt, nimmt dessen zeitlichen Rahmen nicht als „Tagesreportage“ wahr. Wenn es dennoch so sein sollte, bedauert die Redaktion dies. Aus dem Beitrag geht jedenfalls klar hervor, dass es sich um mehrere Angriffe handelte („Bombardierungen dieser Woche“), und dass die Einwohner von Darat Ezza unter systematischem und langanhaltendem Beschuss leiden.

Das sehe ich anders. An keiner Stelle sagt der Bericht, dass die Einwohner von Darat Ezzah unter systematischem und langanhaltendem Beschuss leiden. Und selbst wenn die Formulierung von den „Bombardierungen dieser Woche“ darauf hinweisen soll, ist sie genau genommen falsch, denn zu sehen war eine Bombardierung der vorangegangenen Woche.

Für mich ganz ohne Zweifel erweckt der „heute journal“-Beitrag den Eindruck, der Mann kommentiere den Angriff vom 14. Oktober, mit dem der Film beginnt. Es ist die klassische Abfolge eines Nachrichtenfilms: Wir sehen zuerst die Flieger. Dann den Bombeneinschlag. Dann, wie Opfer geborgen werden. Dann wütende oder verzweifelte Kommentare von Augenzeugen. Dass der Augenzeuge in diesem Fall einen anderen Angriff kommentiert, der an einem anderen Tag möglicherweise in der Nähe stattfand, kann der Zuschauer nicht ahnen.

Kurz nachdem der Mann (am 5./6. Oktober) gesprochen hat, kommt Dara Hassanzadeh, einer der Autoren des Films, in Bild und spricht – nun wieder, ohne es ausdrücklich zu sagen, über den Angriff vom 14. Oktober:

„Die Militärexperten von Jane’s Defence aus London haben zweifelsfrei verifiziert, dass es sich bei diesem Flugzeugtyp um die russische Maschine SU-34 Fullback handelt. Von dieser Maschine, so sehen wir das in unserem Rohmaterial, wurden Bomben auf die Stadt geworfen. Nicht zweifelsfrei verifizieren können wir, ob die gefundene Bombe tatsächlich auch von diesem Flieger abgeworfen wurde.“

Das ist ja schön, dass der Kollege so genau erklärt, was man zweifelsfrei verifizieren konnte und was nicht. (Hassanzadeh hält auch Vorträge zum Thema Videoverifizierung.) Aber was hilft diese Genauigkeit, wenn im Rest des Beitrags Aufnahmen von unterschiedliche Angriffen, die mindestens eine Woche auseinanderliegen, wild miteinander vermischt werden, ohne das in irgendeiner Weise kenntlich zu machen?

Ich habe keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die jeweiligen gezeigten Aufnahmen echt sind. Es geht auch nicht darum, ob das ZDF hier, wie es von einschlägig bekannten und immer hemmungsloseren Hetz- und Hassseiten behauptet wird, bewusst lügt, um „Kriegspropaganda“ gegen Russland zu betreiben. Es geht schlicht um journalistisches Handwerk, das es nach meinem Verständnis verbietet, Bilder verschiedener Ereignisse miteinander zu vermischen, ohne das kenntlich zu machen. Ich bin ein bisschen erstaunt, dass das „heute journal“ das auch auf Nachfrage anders sieht.

Früher war auch mehr Lichterkette: Wie alte Aufnahmen in einen aktuellen „Tagesschau“-Film kamen

„Die ARD hat eingeräumt, einen Bericht in der ‚Tagesschau‘ über eine Lichterkette für Flüchtlinge in Berlin manipuliert zu haben.“ So berichtet es die rechte Wochenzeitung „Junge Freiheit“ in ihrem Online-Auftritt.

Und tatsächlich waren in der kurzen Nachricht im Film am vergangenen Samstag neben aktuellen Aufnahmen auch Bilder von 2003 zu sehen. Damals hatten kurz vor dem Beginn des Irak-Krieges über 100.000 Menschen eine Lichterkette für den Frieden gebildet. Diesmal nahmen nach Polizeiangaben nur sieben- bis achttausend Leute teil; der Veranstalter sprach von 20.000 Teilnehmern. Durch die Verwendung von Archiv-Aufnahmen wirkte die aktuelle Lichterkette in der „Tagesschau“ also erfolgreicher.

Der Chefredakteur von ARD-aktuell, Kai Gniffke, räumte gegenüber der „Jungen Freiheit“ zwar keine Manipulation, aber einen Fehler ein. Die Archivbilder hätten natürlich nicht verwendet werden dürfen. Und: „Wenn die ‚Tagesschau‘ Material sendet, das nicht vom gleichen Tage ist, blenden wir normalerweise ein Datum beziehungsweise den Hinweis ‚Archiv‘ ein.“

Aber: Wie kann sowas passieren? Wie können in eine aktuelle Nachrichtensendung zwölf Jahre alte Archivaufnahmen rutschen?

Gniffke hat eine Erklärung dafür. Die steht allerdings nicht in der „Jungen Freiheit“. Sie geht so:

Dieser Nachrichtenfilm hatte eine Länge von 22 Sekunden und basierte auf dem Mitschnitt einer Live-Sendung des RBB vom gleichen Abend. In dieser Sendung wurde auch Archivmaterial aus dem Jahr 2003 verwendet, aus dem auch in der Tagesschau insgesamt rund drei Sekunden gezeigt wurden. Während im RBB im Text darauf hingewiesen wurde, dass es sich um Archivmaterial handelt, unterblieb in der Tagesschau dieser Hinweis.

RBB-Reporter Ulli Zelle meldete sich in der Berliner Nachrichtensendung „Abendschau“ zweimal live vom Brandenburger Tor. Er sprach unter anderem mit dem Organisator und mit Teilnehmern der Lichterkette und zeigte, wie es kurz vorher am Ernst-Reuter-Platz und an der Siegessäule aussah – noch ziemlich mickrig:

Dann fuhr er fort:

Also, es wird sich dann tatsächlich eine Kette bilden, wenn alles so klappt, und dann wird es so aussehen. Hier sind die Bilder aus 2003. Berlin wirklich durchzogen von einer Lichterkette, damals noch gegen den Irak-Krieg.

Die „Tagesschau“ hatte kaum mehr als zehn Minuten Zeit, daraus einen Film zu schneiden. Und so lässt sich tatsächlich nachvollziehen, wie die alten Bilder in den aktuellen Nachrichtenfilm kommen konnten.

Aber: Wirklich verstehen kann ich es trotz des Zeitdrucks nicht. Der RBB hatte zwar keine Jahreszahl eingeblendet, aber der Wechsel in die Vergangenheit ist deutlich – nicht nur durch den Off-Text, sondern auch dadurch, dass Ulli Zelle zwischendurch wieder ins Bild kam. Dass die 2003-Aufnahmen älter sind, kann man auch anhand der schlechteren Bildqualität erahnen.

Der Verdacht (natürlich auch der politisch klar positionierten „Jungen Freiheit“) liegt nahe, dass die ARD die Pro-Flüchtlings-Demonstration größer und erfolgreicher aussehen lassen wollte, als sie war. Die „Manipulation“ scheint die Vorbehalte der schärfsten Medienkritiker und -gegner zu bestätigen.

Bemerkenswert ist, dass der Redakteur, der aus dem Live-Material schnell den Film zusammenschnitt, nicht das erstbeste gesendete RBB-Material nahm, sondern die Szenen von sehr vereinzelt herumstehenden Menschen am Ernst-Reuter-Platz und der Siegessäule zugunsten der größeren Menschenmengen, die etwas später gezeigt wurden (aber von 2003 stammten), verschmähte.

Ist das ein Zeichen für eine Manipulationsabsicht? Nicht unbedingt. Es ist zunächst einmal ein normaler journalistischer Reflex, die attraktiveren Bilder vorzuziehen. Eine manipulative Absicht im Sinne einer bewussten Verzerrung der Wirklichkeit aus politischen Gründen ist nicht notwendig.

Trotzdem: So etwas darf nicht passieren. Auch nicht für vermeintlich läppische drei Sekunden. Weil die reichen, um weiteres Vertrauen zu erschüttern oder Misstrauen zu zementieren.

Und wenn stimmt, was Kai Gniffke sagt: „Qualitätskontrolle hat bei ARD-aktuell einen sehr hohen Stellenwert“ – dann müsste so etwas ausgeschlossen sein. Auch im Eifer des Gefechts, das in diesem Fall ja nicht einmal eine plötzliche dramatische Nachrichtenlage war, sondern nur der Versuch, eine Demonstration sehr aktuell relativ prominent in der „Tagesschau“ zeigen zu können – ein Ehrgeiz, über dessen Sinnhaftigkeit man ohnehin diskutieren könnte, zumal angesichts der relativ geringen Teilnehmerzahl.

Die Szenen aus der „Abendschau“ des RBB und der Nachrichtenfilm in der „Tagesschau“ im Video:

Nachtrag, 22. Oktober. Die „Junge Freiheit“ hat die Erklärung mit der „Abendschau“ jetzt nachgetragen.

Nachtrag, 13:50 Uhr. Die „Tagesschau“ hat sich auf ihrer Facebook-Seite zu dem Vorgang geäußert und erklärt den Fehler so:

Der Kollege, der zehn Minuten vor der Sendung aus dem Livesignal eine kurze Bilderstrecke schneiden musste, hatte in der Eile versäumt, den Kopfhörer aufzusetzen. Er konnte deshalb nicht hören, dass der RBB-Kommentator an einer Stelle den Hinweis auf eine Sequenz älterer, ähnlicher Bilder gegeben hat.

Puh.

Terroristen unter Flüchtlingen? Wie man mit Fehlalarmen Alarm schlägt

Das sind beunruhigende Nachrichten: Unter die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sollen sich auch Terroristen mischen. Innenminister Thomas de Maizière habe entsprechende Hinweise.

So melden es diverse Medien:



Die Quelle dafür ist ein Interview, das der Innenminister den Zeitungen der Funke-Gruppe gegeben hat. Darin sagt er, angesprochen Sorgen der Bürger, „ob Deutschland ein sicherer Ort bleibt“, tatsächlich:

Es gab und es gibt Hinweise von Nachrichtendiensten aus dem Ausland, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge mischen.

Seine Antwort geht aber weiter:

Das zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten ist, auch wenn sie zum Teil aus Staaten kommen, die nicht ganz unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung haben. Wir nehmen all diese Hinweise ernst und gehen ihnen nach. Bisher hat sich keiner dieser Hinweise irgendwie bewahrheitet.

Es gab Hinweise, sagt der Innenminister, aber bislang waren sie alle falsch. Es war jedes Mal falscher Alarm. Das schließt nicht aus, dass es in Zukunft anders sein wird, aber bisher hat sich kein Hinweis bewahrheitet.

Und daraus machen deutsche Medien – nicht nur solche wie „Focus Online“, sondern auch solche wie „Zeit Online“ – dass der Innenminister Hinweise auf Terroristen unter den Flüchtlingen hat? Das ist natürlich in einem wortwörtlichen Sinne korrekt, so wie jeder Fehlalarm ja auch ein Alarm ist. Es verkehrt die Aussage des Innenministers aber in ihr Gegenteil.

Die „Thüringische Landeszeitung“ hat die Sache mit den „Hinweisen“ der Einfachheit halber in der Überschrift gleich ganz weggelassen und titelt schön knackig:

Die Einschränkung de Maizières, dass sich keiner der Hinweise bewahrheitet habe, findet sich zwar auch in allen Meldungen im Kleinergedruckten. Aber beim Texten von Überschriften und Vorspännen spielte das offenkundig keine Rolle, wie etwa die „Hannoversche Allgemeine“ beweist, die grob irreführend formuliert: 


Hinweise auf „Terroristen“ unter Flüchtlingen

Die Bundesregierung verfügt nach Angaben von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) über Informationen, dass mit den Flüchtlingen auch mutmaßliche Terroristen nach Deutschland kommen.

Die Nachrichtenagentur dpa hatte das Interview in der Nacht mit dem gegensätzlichen Titel verbreitet:

Hinweise auf Terroristen unter den Flüchtlingen nicht bewahrheitet

Die Konkurrenz von AFP schickte dann aber drei Stunden später die ungleich aufregendere Variante über die Ticker:

De Maizière: Hinweise auf „Terroristen“ unter den Flüchtlingen – Deutschland „im Fokus des internationalen Terrorismus“

Auch das zweite Zitat aus diesem Titel verliert an Brisanz, wenn man es im Original liest. De Maizière sagte:

Aber wir waren und sind im Fokus des internationalen Terrorismus. Wir hatten Anschlagsversuche, man denke nur an die sogenannte Sauerlandgruppe.

Der Innenminister spricht hier also nicht, wie man als Leser denken müsste, von einer neuen Gefährdung, sondern formuliert, dass „wir“ im Fokus des Terrorismus „waren und sind“. Diese Formulierung lässt AFP gleich ganz weg.

Heute Nacht schickte dpa übrigens auch einen Korrespondenten-Bericht „‚Die Stimmung kippt!‘ – Der Faktor Angst in der Flüchtlingskrise“. Und in ein paar Tagen können all die Medien, die jetzt aus Fehlalarmen Alarme gemacht haben, staatstragend-besorgt fragen, wie das nur passieren konnte, dass die Stimmung so schnell kippte, und woher die nur kommt, die ganze Angst.

Nachtrag, 18.50 Uhr. Die „Hannoversche Allgemeine“ hat Überschrift und Vorspann geändert:

Keine Hinweise auf Terroristen unter Flüchtlingen

Hinweise ausländischer Nachrichtendienste auf Terroristen unter den nach Deutschland kommenden Flüchtlingen haben sich nach Worten von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) bisher nicht bewahrheitet.

Ein lebenslanger Makel: Warum Springer Kachelmann 635.000 Euro zahlen soll

Bei „Bild“ verstehen sie nicht, wie sie vom Landgericht Köln dazu verurteilt werden konnten, Jörg Kachelmann mehrere Hunderttausend Euro Geldentschädigung zu zahlen. „Gibt nun mal Urteile, die man nicht versteht“, twitterte die stellvertretende Chefredakteurin Tanit Koch. Und: „Ganz im Ernst: Wenn ich das erklären könnte, müßten wir ja nicht in Berufung.“ Lustig.

Vielleicht hat sie nur die Pressemitteilung ihres Verlages gelesen, nach deren Lektüre man tatsächlich nicht verstehen kann, warum das Gericht Kachelmann eine Rekordsumme zugesprochen hat. Vielleicht hätten ihr ein paar Stellen aus der Urteilsbegründung beim Verstehen geholfen. Diese zum Beispiel:

[…] Der Kläger [Kachelmann] wurde durch die Berichterstattung der Beklagten [„Bild“] als gewaltaffiner und frauenverachtender Serientäter charakterisiert, der aus eigensüchtigen Motiven nicht nur mehrere Partnerinnen gleichzeitig gehabt, sondern diese auch systematisch zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse belogen haben soll. Dass eine den Kläger derart abqualifizierende Berichterstattung nicht nur eine erhebliche Prangerwirkung entfaltet und zu einer sozialen Isolation führt, sondern den Kläger zudem mit einem Makel belegt, den er trotz des Freispruchs sein Leben lang mit sich führen wird, bedarf sicherlich keiner weiteren Erörterung.

Tatsächlich stellte das Gericht fest, dass es keine konkreten Anhaltspunkte fand, dass „Bild“ „hinsichtlich der rechtswidrigen Persönlichkeitsrechtsverletzungen vorsätzlich und mit Schädigungsabsicht gehandelt hätte“. Ihr könne „nur der Vorwurf gemacht werden, auf einem außerordentlich schwierigen Gebiet der Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen die rechtliche Grenzziehung fahrlässig verfehlt zu haben“. Diese Zitate finden sich in der Pressemitteilung von Springer.

Allerdings belegt das Gericht äußerst detailliert, wie „Bild“ diese Grenze wieder und wieder und wieder und wieder verfehlte. Es spricht von einer „wiederholten und hartnäckigen Verletzung der Privatsphäre des Klägers“. Insgesamt 18 Mal sei Kachelmann von der „Bild“-Berichterstattung „schwerwiegend in seiner Privat- bzw. Intimsphäre verletzt“ worden. Dadurch, dass „Bild“ Kachelmanns private Kommunikation veröffentlichte, ohne dass es einen Zusammenhang zu dem Verfahren gegen ihn gab. Dadurch, dass „Bild“ „detailreich über seine vermeintlichen sexuellen Beziehungen mit diversen Frauen“ berichtete. Dadurch, dass „Bild“ „mehrfach und entgegen der Unschuldsvermutung über vermeintliche weitere sexuelle Übergriffe“ berichtete, „obschon lediglich die Aussage des vermeintlichen Opfers als vermeintliche Beweistatsache vorlag“. Und dadurch, dass „Bild“ „unter hartnäckiger Verletzung der Privatsphäre des Klägers mehrfach Fotos [veröffentlichte], die ihn als Häftling in der JVA und im Hof der Kanzlei seiner Verteidigerin zeigten, ohne dass er die Möglichkeit gehabt hätte, dieser – mitunter heimlichen – Nachstellung zu entkommen“.

Es geht, wie man an dieser Aufzählung erahnt, in diesem Prozess nur am Rande um knifflige Grenzfälle bei der Berichterstattung über ein Strafverfahren, bei dem ein Prominenter einer Vergewaltigung angeklagt wird. Um Fragen wie die, ob das, was vor Gericht verhandelt wird, in jedem Fall auch öffentlich berichtet werden darf.

Ausschlaggebend für die hohe Geldentschädigung waren viele Fälle klarer, schwerer Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Die „Bild“-Leute nahmen – wie andere Medien und insbesondere die des Burda-Verlages auch – den strafrechtlichen Vorwurf als Vorwand, alle möglichen, dafür irrelevanten Details und Behauptungen über das Privat- und Intimleben von Kachelmann öffentlich zu machen. Dass schon die Berichterstattung über Kachelmanns Festnahme, die Anschuldigungen und den Prozess sein Image nachhaltig schädigten, ist sicher richtig. Aber hier geht es um Berichte, die sich in keiner Weise mit einem irgendwie gearteten Informationsinteresse der Öffentlichkeit rechtfertigen lassen – und schon gar nicht mit der Unschuldsvermutung vertragen.

Bleiben wir noch einmal kurz bei den Fotos, die „Bild“ heimlich von Kachelmann beim Hofgang im Gefängnis aufnahm und veröffentlichte. Und staunen, wie die Rechtsabteilung von „Bild“ sie laut Gericht rechtfertigt:

Hinsichtlich der Fotos des Klägers in der JVA sei sich der Kläger der Beobachtung durch Fotografen bewusst gewesen und habe es billigend in Kauf genommen, dass er während des Hofgangs fotografiert worden sei. Ferner zeigten die Fotos den Kläger im Innenhof der JVA, der vom öffentlichen Straßenraum aus einsehbar sei. Zudem habe die Beklagte in Ausübung ihrer „Wachhundfunktion“ aus Anlass einer jeweils neuen Entwicklung im Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den Kläger aufgrund eines aktuellen Berichterstattungsinteresses berichtet, so dass die Darstellung der Fotos im Zusammenhang mit dem Strafprozess gegen den Kläger, insbesondere der Untersuchungshaft in der JVA, seinem Umgang mit der wiedergewonnenen Freiheit nach Aufhebung des Haftbefehls und der Gewährung eines Prozessurlaubs in Kanada, stünde.

Das Gericht sieht darin hingegen einen Eingriff „in den Kernbereich der Privatsphäre“:

Denn der Kläger befand sich in einer Situation, in der er nicht erwarten musste, von der Presse behelligt zu werden, wobei dies vorliegend umso mehr gilt, als sich der Kläger in der betroffenen Situation nicht in einem öffentlich zugänglichen Verkehrsraum bewegte. Ein besonderes Gewicht kommt auch der Tatsache zu, dass die Beklagte die Bilder heimlich, d.h. ohne Kenntnis des Klägers und unter Ausnutzung von technischen Mitteln aufnahm.“

Die „Bild“-Zeitung habe die Fotos allein zur Befriedigung der Neugier der Öffentlichkeit veröffentlicht, obwohl sie hätte erkennen können, dass sie dadurch

den Kläger gegenüber der Öffentlichkeit als Häftling in einer Situation vorführte, in der er der Verfolgung durch die Fotografen – selbst wenn er sie wahrgenommen hätte – nur unter Aufgabe des täglichen Hofgangs hätte entkommen können, ihr mithin ausgeliefert war.

„Bild“ veröffentlichte auch rechtswidrig Textnachrichten, die Kachelmann der zeitweise bekannten Popsängerin Indira Weis schrieb (Überschrift: „Er schickte ihr 50 heiße Flirt-SMS“). Das Gericht nennt die Weitergabe und wörtliche Veröffentlichung mit allen Einzelheiten des Ausdrucks mehr als eine „bloße Indiskretion“, nämlich „eine komplexe Preisgabe der Person des Klägers an die Öffentlichkeit.“ Der „Bild“-Zeitung sei insofern

eine rücksichtslose Verfügung über die Person des Klägers vorzuwerfen. Denn der Beklagten war schon aufgrund der Umstände – der Kläger befand sich in Untersuchungshaft, das Ermittlungsverfahren dauerte an – bewusst, dass dieser keine Einwilligung zur wörtlichen Veröffentlichung der betreffenden SMS-Nachrichten erteilen würde.

„Bild“ verbreitete mehrmals Vorwürfe von anderen angeblichen Affären Kachelmanns, wonach er zum Beispiel ihnen gegenüber gewalttätig geworden sei – auch dann, wenn jeder Beweis für die Richtigkeit dieser ihn stigmatisierenden Behauptungen fehlte:

Basiert […] der Vorwurf einzig auf einer Anzeige/Aussage einer Person, gehört es zu der journalistischen Pflicht eines Presseorgans auch, die Glaubhaftigkeit derselben zu hinterfragen. Dies ist hier offenkundig nicht geschehen, obschon der Beklagten diese Pflicht hätte bekannt sein müssen. […]

Im Ergebnis bleibt der den Kläger stigmatisierende Verdacht, eine weitere Frau misshandelt zu haben, stehen, ohne dass seitens der Beklagten ausgewogen berichtet worden wäre.

„Bild“ veröffentlichte Auszüge aus privaten Emails, die „keinen über die allgemeine charakterliche Abqualifizierung des Klägers hinausgehenden Bezug zu der ihm vorgeworfenen konkreten Tat, seinen vermeintlichen Motiven, anderen angeblichen Tatvoraussetzungen oder der Bewertung seiner Schuld“ herstellten. Das Gericht schreibt:

Vor diesem Hintergrund läuft der Kläger aber Gefahr, ungeachtet der rehabilitierenden Wirkung eines Freispruches von dem Vorwurf der schweren Vergewaltigung und gefährlichen Körperverletzung in den Augen einer breiten Öffentlichkeit weiterhin mit dem Makel eines charakterlich defizitären, lügnerischen und perfiden Verhaltens gegenüber Frauen gebrandmarkt zu sein, ohne dass ein über die Befriedigung der bloßen Neugier hinausreichendes Informationsinteresse erkennbar wäre.

Das Gericht räumt ein, dass das Berichterstattungsinteresse über das Strafverfahren aufgrund der Prominenz Kachelmanns und der Schwere des Vorwurfs immens gewesen sei.

Gleichwohl rechtfertigt dieses außergewöhnlich große Informationsinteresse der Öffentlichkeit […] nicht jedwede Berichterstattung, da gerade bei der Berichterstattung über das Bestehen eines Verdachts der Begehung einer Straftat durch die Medien besondere Gefahren für den jeweils Betroffenen bestehen. Denn Verdächtigungen, Gerüchte und insbesondere Berichterstattungen durch die Medien werden oft für wahr genommen, ihre später erwiesene Haltlosigkeit beseitigt den einmal entstandenen Mangel kaum und Korrekturen finden selten die gleiche Aufmerksamkeit wie die Bezichtigung, insbesondere wenn es später zu einem Freispruch unter dem Gesichtspunkt in dubio pro reo kommt. Deswegen gebietet die bis zur rechtskräftigen Verurteilung zu Gunsten des Angeklagten sprechende Unschuldsvermutung eine entsprechende Pflicht der Medien, die Stichhaltigkeit der ihr zugeleiteten Informationen unter Berücksichtigung der den Verdächtigen bei identifizierender Berichterstattung drohenden Nachteile gewissenhaft nachzugehen, und eine entsprechende Zurückhaltung, gegebenenfalls einhergehend mit einer Beschränkung auf eine ausgewogene Berichterstattung.

Die Entschädigung, die Kachelmann zugesprochen wurde, soll zum einen den ihm entstandenen (immateriellen) Schaden wieder gutmachen, andererseits aber auch abschrecken – das Gericht spricht von „Kompensationszweck“ und „Präventionsgedanken“: Durch die Höhe der Geldentschädigung solle „Bild“ „verdeutlicht werden, in Zukunft bei der Berichterstattung über vergleichbare Geschehnisse eine größere Sorgfalt und Zurückhaltung an den Tag zu legen“.

Der entstandene Schaden für Kachelmann sei aber auch immens und anhaltend:

Zum anderen ist zu beachten, dass der Kläger zumindest auch durch die seine Intim- und Privatsphäre verletzende sowie in weiten Teilen reißerische Berichterstattung der Beklagten nicht nur während des Zeitraums derselben, sondern auch in Zukunft als frauenverachtender und gewaltbereiter Wiederholungstäter stigmatisiert wurde bzw. bleiben wird, wodurch sowohl sein berufliches Wirken als auch sein Privatleben massiv beeinträchtigt wurden bzw. bleiben werden.

Die „Bild“-Zeitung hingegen meinte laut Gericht, dass „sämtliche zum Beleg einer angeblich systematischen Verletzung seiner Privatsphäre genannten Berichterstattungen harmlos seien“. Auch hätte sie ihn nicht diffamiert, „da jeweils die Auseinandersetzung in der Sache im Vordergrund gestanden habe“. Und weiter:

Jedenfalls habe der Kläger sich durch den persönlichen Rundumschlag gegen Justiz, die Presse, das vermeintliche Opfer und die Frauenwelt in seinem Buch selbst hinreichend Genugtuung verschafft und Details zu seinem Intim- und Sexualleben preisgegeben. Es gebe deshalb keinerlei Grund, ihm zusätzlich nun auch noch eine Geldentschädigung in Millionenhöhe zuzusprechen.

In Millionenhöhe nicht, entschied das Kölner Landgericht. Aber in Höhe von 635.000 Euro.

Meine einseitige Brieffreundschaft mit einer verzweifelten grauen Lady

Ich war eine Zeitlang Digital-Abonnent der „New York Times“, und seit ich das nicht mehr bin, verbindet mich eine besondere Brieffreundschaft mit der Zeitung. Regelmäßig fragt sie mich per Mail, ob ich sie nicht wieder abonnieren möchte, und macht mir Angebote, die ich nicht ablehnen könne.

Sie ist, auf eine Art, die perfekte Brieffreundin: Geduldig, ausdauernd, hartnäckig. Sie gibt sich Mühe, nicht immer dasselbe zu schreiben, nimmt es mir nicht übel, wenn ich nicht antworte, und meldet sich immer wieder. Sie setzt mir, was pädagogisch absolut vernünftig ist im Umgang mit Leuten wie mir, Deadlines. Aber wenn ich die reiße, ist sie auch nicht sauer, sondern verlängert sie sogar ungefragt noch um ein paar Tage.

Alle paar Wochen denkt sie sich was Neues aus für mich, und immer, wenn es soweit ist, höre ich fast jeden Tag von ihr. Das hier sind ihre Nachrichten aus den letzten eineinhalb Wochen:

16. September. „✉ Great News! You’re Invited To This Special Sale Offer“

17. September. „Thanks for Being a Registered User! Enjoy 8 Weeks Free!“

18. September. „✉ Great News! You’re Officially Invited: Redeem and Get 8 Weeks Free“

20. September. „ⓃⓎⓉ Readers, We Have A Special Offer For You“

21. September. „Get 8 Weeks Free on a Digital Subscription“

22. September. „✎ Take note! Get 8 weeks free and then 50% off for 1 year!“

23. September. „Where will your curiosity lead you?“

24. September. „Dear Email Subscriber: Sale is Ending Tomorrow.“

25. September. „Last Chance. Sale Ends Today…“

26. September. „Today Is Your Lucky Day: Offer Extended…“

27. September. „Sale Extension Ends Today. Don’t Miss Out.“

(Keine Ahnung, was am 19. September war. Kann gut sein, dass ich die Mail von jenem Tag einfach gelöscht habe.)

Das geht, mit Unterbrechungen, seit Monaten so, und ich will mich gar nicht über den Spam beklagen, ich könnte das ja einfach abbestellen. Dass ich es nicht tue, liegt nicht nur daran, dass ich noch auf das ultimative Angebot warte, das ich wirklich nicht ablehnen kann. Und auch nicht nur daran, dass mir inzwischen womöglich was fehlen würde, ohne die tägliche Mail von der „New York Times“ mit einem ganz besonderen Angebot, speziell für einen so guten Freund des Hauses wie mich.

Sondern auch daran, dass mich diese Art des Marketings fasziniert. Wie groß mag die Zahl der Leute sein, die dann tatsächlich, bei der fünfzehnten Mail, sagen: Hey, komm, die geben sich soviel Mühe, und ich les die ja doch ganz gerne, und das Angebot ist ja wirklich nicht schlecht, jetzt bestell ich das schnell? Und wieviel größer ist die Zahl derer, bei denen mit jeder dieser Mails ein kleines bisschen Respekt für diese große Zeitung verloren geht?

Natürlich nutzen fast alle Unternehmen die E-Mails, die sie von früheren Kunden haben, dafür, sich ihnen ins Gedächtnis zu rufen und noch einmal einen Versuch zu starten, wieder ins Geschäft zu kommen. Aber die „New York Times“ mit ihren täglichen Erinnerungen und durchschaubaren Heute-letzter-Tag-Aktionen treibt es auf die Spitze. Und wirkt dabei so verzweifelt und gar nicht selbstbewusst. Ob es Leute gibt, die sie am Ende aus Mitleid abonnieren? Und ob das eine erfolgversprechende Vertriebsstrategie ist?

Jede Wette: Morgen kommt eine Mail, dass ich sensationelles Glück habe, weil das Unglaubliche passiert ist und die Verlängerung des fantastischen Angebotes fantastischerweise noch einmal verlängert wurde, nun aber wirklich, endgültig, garantiert, ganz bestimmt zum letzten Mal.

Der „Spiegel“ vergisst sich

Das sind doch sympathische Leute: Erst lauthals kundtun, was sie zu wissen meinen, dann aber scheinheilig pfeifend im Getümmel verschwinden, wenn rauskommt, was sie für einen Blödsinn geredet haben. Wie das geht, kann man nun im „Spiegel“ nachlesen, der Details zum Absturz der Germanwings-Maschine veröffentlicht hat. Oder, besser: Details, was den Piloten vor einem halben Jahr dazu trieb, ein Flugzeug mit 149 Menschen an Bord zum Absturz zu bringen.

In der Ermittlungsakte, aus der der „Spiegel“ zitiert, steht, dass der Pilot unter Depressionen und Ängsten litt; dass er seit Jahren haderte und kämpfte, mit und gegen sich; und dass er offenbar kein Narzisst war, dessen ausuferndes Ego die Maschine vor einen Berg lenkte, wie kurz nach der Tat auch spekuliert wurde. Oder wie es der „Spiegel“ im aktuellen Heft formuliert:

Nach der Tat vermuteten viele übersteigerten Narzissmus. In der Ermittlungsakte von [L.] findet sich keine Spur von krankhafter Selbstliebe.

„Viele“ vermuteten das?

Stimmt. Dass aber ausgerechnet der „Spiegel“ das so ausdrückt, ist eben jener scheinheilige Versuch, pfeifend im Getümmel zu verschwinden. Vor einem halben Jahr, gerade mal vier Tage nach dem Absturz, noch völlig im Unklaren, war es der „Spiegel“, der mit am lautesten hyperventilierte. Das klang dann so:

[L.] nutzte die Mittel der Attentäter des 11. September 2001, aber anders als sie hatte er offenbar keine Botschaft. Er ähnelt noch mehr dem norwegischen Irren Anders Breivik, aber anders als dieser hat er, soweit bislang bekannt, keine wirren Pamphlete hinterlassen. Er tötete, per Knopfdruck, vielleicht nur, weil er es in seiner Position und in diesen Minuten nach 10.30 Uhr am Dienstag, dem 24. März 2015, im Luftraum über Frankreich einfach konnte; ein größenwahnsinniger Narzisst und Nihilist.

Mag sein, dass die „Spiegel“-Redakteure damals verzweifelt versuchten, das Unerklärliche irgendwie zu erklären. Aber hätte man nicht wenigstens im aktuellen Text schreiben können, dass damals leider auch der „Spiegel“ zu jenen gehörte, die lauthals kundtaten, was sie zu wissen meinten? Wenigstens das?

Die „Huffington Post“ ist zu blöd, um Ausländerfeinden Blödheit vorwerfen zu können

Heute Morgen erschien in der „Huffington Post“ ein Artikel, der mit den üblichen Methoden des Hauses um Aufmerksamkeit buhlt:

Libyscher Flüchtling bedroht sächsische Kassiererin mit Machete - was hinter dieser Geschichte steckt, ist UNGLAUBLICH

Der anonyme Autor formuliert aus der Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen, filigran wie ein Vorschlaghammer:

Autsch! Dass Ausländerfeinde nicht sonderlich viel in der Birne haben, ist hinlänglich bekannt. Aber jetzt hat sich der Blogger Michael Stürzenberger und das radikalen-Netzwerk PI-News einen epischen Fail geleistet.

Stürzenberger hatte sich auf seiner Facebookseite in die szeneübliche Rage geschrieben. Die „Huffington Post“ zitiert:

Freiberg in Sachsen. Ein libyscher „Flüchtling“ klaut, droht Kassiererin mit Machete Köpfung an, geht mit Pfefferspray auf Ladendetektiv los und attackiert Polizisten. ACHTUNG: Die Staatsanwaltschaft entlässt den gewaltgeilen Kriminellen aus der Untersuchungshaft und die tickende Zeitbombe bleibt auf freiem Fuß. Müssen erst Köpfe deutscher Bürger auf den Straßen rollen, bis die linksverdrehte Justiz endlich reagiert?

Begleitet wird Stürzenbergers Text von einem Link zu einem seiner Artikel auf der islamophoben Hetzseite PI-News und einem Foto von einem Machete schwingenden, irre aussehenden Mann. Und, jetzt kommt’s – aber lassen wir der „Huffington Post“ das Vergnügen, den „epischen Fail“ zu beschreiben:

Sein Gesicht war unkenntlich gemacht. Das Problem nur: Das Bild ist ein Stil [sic!] aus einem Film. Es zeigt den Schauspieler Danny Trejo in dem Streifen „Machete“ aus dem Jahr 2010…

Soviel zur Bedrohung durch die Flüchtlinge…

Das UNGLAUBLICHE, das hinter dieser Geschichte steckt, ist also, so suggeriert es die „Huffington Post“: nichts. Dumme Nazis erfinden dumme Nazi-Geschichten, die dumme Nazis glauben.

Das Problem ist nur: Das Foto ist zwar ein albernes Symbolfoto (weshalb auf der verlinkten Seite von PI-News nach dem ersten Absatz auch „Foto Symbolbild“ steht). Der Vorfall mit der Machete aber scheint wirklich passiert zu sein.

Ihr Anfang ist hier im Polizeibericht nachzulesen. Der MDR schildert sie so:

Zum ersten Vorfall kam es nach Angaben der Polizei bereits am Freitagmittag. Demnach hatte ein Ladendetektiv zwei Männer beim Diebstahl erwischt. Daraufhin sei der Mitarbeiter von den mutmaßlichen Ladendieben angegriffen worden. Nachdem die Männer zunächst flüchteten, seien sie wenig später mit Pfefferspray und dem Augenschein nach auch mit einer Machete in den Laden zurückgekehrt und hätten die Supermarkmitarbeiter bedroht.

Während sich einer der beiden Männer von zwischenzeitlich alarmierten Polizisten ohne Gegenwehr festnehmen ließ, ging der mutmaßlich bewaffnete Mann auf einen Beamten zu. Der Polizist gab einen Warnschuss in die Luft ab. Der Tatverdächtige warf mit Steinen auf die Polizisten und flüchtete.

Am Sonnabend kehrte der 27-jährige inzwischen aus dem Polizeigewahrsam entlassene verdächtige Ladendieb wieder in den Supermarkt zurück. Als man ihn des Hauses habe verweisen wollte, habe der Mann eine Mitarbeiterin bedroht. Nach Angaben der Polizei führte er dazu eine „Geste des Kopfabschneidens“ aus. Auf dem Parkplatz soll der 27-Jährige dann ein Messer gezückt haben. Anschließend flüchtete er.

Die „Freie Presse“ berichtet unter Berufung auf die Polizei, dass es sich bei dem vorübergehend festgenommenen 27-Jährigen um einen Asylbewerber aus Libyen handele. Sie zitiert auch den SPD-Oberbürgermeister der Stadt, der sich empört darüber zeigte, dass der Mann auf freien Fuß gesetzt wurde.

Ausländerfeinde erkennt man daran, dass sie solche Einzelfälle verallgemeinern und instrumentalisieren. Man bekämpft sie nicht dadurch, dass man bestreitet, dass es solche Fälle gibt. Wenn man es tut, liefert man ihnen nur noch mehr Munition.

Die „Huffington Post“ hätte mit wenigen Minuten Online-Recherche herausfinden können, dass hinter dem Symbolfoto eine im Kern wahre Nachricht steckt. Und unter dem Artikel stehen Kommentare von Leuten, die die „Huffington Post“ zwar womöglich demnächst wieder als „Hassfratzen“ an den Pranger stellen kann, die aber mit ihren Hinweisen nicht unrecht haben, dass der Vorfall in der regionalen Presse hinreichend dokumentiert sei.

„Dass Ausländerfeinde nicht sonderlich viel in der Birne haben, ist hinlänglich bekannt“, schreibt die „Huffington Post“. Der Satz wendet sich mit Wucht gegen sie selbst.

© 2024 Stefan Niggemeier