Hans-Ulrich Jörges hält einen „Regimewechsel“ in Brüssel für überfällig. In seinem „Zwischenruf aus Berlin“ macht das Mitglied der „Stern“-Chefredaktion eine „Wende zur Entspannung“ in Europa aus; die Europawahl sei „Auftakt eines tief greifenden Wandels auf dem Kontinent“.
Dieser olle Barroso zum Beispiel sei nach zehn Jahren als Kommissionspräsident „politisch verschlissen“:
Mit dem Parlament war der Apparat des portugiesischen Konservativen teils rüde und selbstherrlich umgesprungen. Ein Beispiel mag das erläutern. Die Abgeordneten hatten, fraktionsübergreifend und unter Führung des sozialdemokratischen Parlamentspräsidenten Martin Schulz, die Gründung eines Europäischen Zentrums für Pressefreiheit (EZP) in Leipzig unterstützt und dafür eine Million Euro in den EU-Haushalt für 2013 gestellt. Die Kommission indes verteilte das Geld freihändig — das EZP erhielt nichts. Schulz protestierte, vergebens.
Böser Barroso. Guter Schulz. Schade um das EZP.
Das EZP, ein Projekt, dessen Initiator zufällig Hans-Ulrich Jörges ist, Mitglied der „Stern“-Chefredaktion.
Bestimmt hat Jörges nur vergessen, dieses Detail im Text zu erwähnen. Oder der „Stern“ hält es für keine Information, die die Leser interessieren müsste, dass Jörges hier in eigener Sache empört ist. Dass das „eine Beispiel“, das das Demokratiedefizit des EU-Kommissions-Präsidenten „erläutern mag“, zufällig sein Beispiel ist. Dass Jörges‘ Urteil über Barroso von einer sehr persönlichen Enttäuschung geprägt ist.
Seit gut drei Jahren kämpft Jörges darum, dass in Leipzig ein Zentrum gegründet wird, das sich um Verletzungen der Pressefreiheit vor allem in Ost-Europa kümmert. Es soll Öffentlichkeit herstellen und den bedrängten Journalisten helfen. „Reporter ohne Grenzen“ tut dies als unabhängiger, mit Spenden finanzierter Verein schon lange, aber sicher kann es nicht schaden, wenn sich auch andere, neue Organisationen um die gute Sache kümmern und dafür Geld bekommen.
Jörges‘ Mitstreiter sind unter anderem Axel-Springer-Außenminister Christoph Keese und die Leipziger Medienstiftung, die von der Leipziger Sparkasse finanziert wird. Ihr Plan war es, das Zentrum in Leipzig, wo sich „für das EZP ein perfekter Gebäudekomplex bietet“ (Jörges), vor allem aus europäischen Steuermitteln zu finanzieren. Der Springer-Verlag und der Verlag Gruner+Jahr, in dem der „Stern“ erscheint, wollten etwas dazu geben.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sei „begeistert“ gewesen von der Idee und ließ überparteiliche Unterstützung organisieren. Das Parlament bewilligte eine Million Euro.
Doch die EU wies das Geld nicht einfach für das Leipziger Projekt an, sondern machte eine öffentliche Ausschreibung: Eine Million Euro waren im Budget, aber es sollten zwei oder drei Vorschläge verwirklicht werden; mehr als 700.000 Euro waren für ein einzelnes Angebot nicht vorgesehen. Das EZP erhielt keinen Zuschlag.
Jörges war wütend.
Wohin mit seiner Wut? In den „Stern“. Am 12. Dezember 2013 nutzte er seine Kolumne in der Illustrierten vollständig dafür, sich über die Ungerechtigkeit zu beklagen, dass sein Projekt nicht die gewünschten EU-Mittel bekommen hat. Er schilderte den Ablauf mit den größtmöglichen Begriffen: ein „Skandal“ sei das Handeln der Kommission, ein „Handstreich der Macht“, möglich gemacht durch eine „zerstörerische Intrige“. „Dreist“ sei der angebliche Wille des Parlamentes, das Leipziger EZP zu unterstützen, ins Gegenteil verkehrt worden, sein Recht „mit Füßen getreten“.
Immerhin erwähnte Jörges damals, im Dezember, in seiner Kolumne, wer der Initiator des Projektes war, dessen Scheitern ihn so erschütterte: Er selbst.
Die Überschrift lautete damals trotzdem „Ein Parlament wird gedemütigt“ und nicht „Hans-Ulrich Jörges wird gedemütigt“, aber das eine schließt ja das andere nicht aus.
Sein Text endete so:
Martin Schulz, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei der Europawahl, möchte den nächsten Kommissionspräsidenten 2014 vom Parlament gewählt haben, nicht mehr von den Regierungschefs ernannt. Das wäre eine europäische Revolution. Und vielleicht das Ende der Willkür.
Jörges macht die europäische Sache zu seiner Sache, und umgekehrt. Er nutzt seine guten Kontakte, um ein eigenes Projekt zu befördern, und wenn er damit scheitert, beklagt er sich als Journalist darüber. Der „Stern“ gibt ihm den Raum dafür. Und besteht nicht einmal mehr darauf, dass er seine Befangenheit transparent macht.
„Meedia“-Mann Stefan Winterbauer weiß jetzt schon, dass wir mit „Krautreporter“ scheitern werden, „leider“. Das liegt daran, dass nach unserem Konzept auch Nicht-Mitglieder die Texte lesen können sollen:
Schon klar, die Krautreporter wollen den Fame und das Netz will die freie Info usw. Aber Geld zahlen fürs Kommentieren und reichlich ominöse Benefits (in Recherchen eingebunden, Hangouts und Treffen mit Autoren – wer will das?) – das wird nicht funktionieren.
Was Winterbauer als „Geburtsfehler“ bezeichnet, ist das, was ich spontan besonders reizvoll fand, als mir Sebastian Esser zum ersten Mal von der Idee erzählte: der Versuch, ein Online-Magazin von den Lesern finanzieren zu lassen, ohne die Inhalte hinter Bezahlmauern wegzuschließen. Paid Content ohne Paywall, wenn man so will.
Was das Netz ausmacht und zusammenhält, ist der Link; die Möglichkeit, auf einen Inhalt zu verweisen und den Leser mit einem Klick dorthin zu führen. Das war schon vor dem Siegeszug von Facebook und Twitter so. Viele Verlage bereuen heute, dass sie ihre Inhalte kostenlos ins Netz gestellt haben. Ich glaube, dass das nicht nur aus irgendeiner Verblendung geschah, sondern weil es die natürliche Form ist im Internet, oder wenigstens eine sehr naheliegende, seinem Wesen entsprechende.
Es ist auch die naturgemäße Haltung eines Journalisten, sich eine möglichst große Verbreitung zu wünschen. Nicht im Sinne einer Quotenfixiertheit, eines Schreibens für eine möglichst große Masse. Aber gerade, wenn wir glauben, dass es wichtig ist, was wir zu erzählen haben, relevant, lesenswert, wollen wir doch gehört werden, eine Wirkung erzielen, einen Unterschied machen. Wahrnehmbarer Teil der Debatte werden. Was Winterbauer gewohnt eloquent als Streben nach „Fame“ und „freie Info usw.“ bezeichnet, halte ich für einen elementaren Teil des journalistischen Selbstverständnisses.
Auch der Kollege Daniel Bouhs nennt das „Krautreporter“-Modell in der „taz“ „seltsam inkonsequent“:
Die 5 Euro im Monat sollen die „Krautreporter“-Fans nämlich allein dafür hinblättern, die Geschichten kommentieren und direkt mit der Redaktion in Kontakt treten zu können, etwa auf offenen Redaktionskonferenzen, Lesungen und Ausflügen.
Nein. Die 5 Euro im Monat sollen die „Krautreporter“-Fans vor allem dafür „hinblättern“, dass es „Krautreporter“ gibt.
Wer Mitglied im Club wird, soll auch was davon haben. Aber was der „Krautreporter“-Unterstützer für sein Geld vor allem bekommt, ist: „Krautreporter“. Ohne das Geld der Leser gibt es kein Magazin. So einfach ist das.
Was ändert sich dadurch, dass auch Menschen, die kein Geld geben, die meisten Teile des Angebotes nutzen können? Es gibt zwei Motive, sich dadurch übervorteilt zu fühlen. Erstens, weil man glaubt, Geld für etwas zu geben, für das man gar kein Geld geben müsste. Das stimmt aber nicht: Wenn man kein Geld gibt, riskiert man, dass es das Projekt gar nicht gibt. Zugegeben, das ist eine Ebene abstrakter als die normale Pay-Logik: „Wenn ich nicht bezahle, kann ich das nicht nutzen.“ Aber man muss nicht einmal besonders altruistisch denken, um einen Nutzen im Bezahlen zu sehen. Man gönnt sich die Existenz einer journalistischen Alternative.
Zweitens könnte man es ungerecht finden, dass andere ein Angebot, für das man selbst bezahlt, einfach kostenlos nutzen. Ja, damit wird man als „Krautreporter“-Unterstützer leben müssen: Mit dem Gefühl, dass andere von dem eigenen finanziellen Engagement profitieren. Aber sind wir wirklich so? Dass wir sagen: „Ich gebe gerne Geld für das Projekt, aber nur, wenn andere, die nichts geben, nichts davon haben?“ Wir kaufen für unsere Ecke im Büro einen Ventilator, lassen aber, wenn es heiß ist, niemand anderes dort sitzen, die hätten sich ja selber einen Ventilator kaufen können? Und wenn sich nicht vermeiden lässt, dass auch andere etwas von der Kühlung abbekommen, verzichten wir lieber ganz auf den Ventilator?
Sascha Lobo hat auf der re:publica die sogenannte Netzgemeinde dafür beschimpft, dass sie nicht bereit ist, Geld zu geben für Dinge, die ihr angeblich etwas wert sind. Er nannte als Beispiel das Buch „Überwachtes Netz“, das netzpolitik.org zum kostenlosen Download anbot, mit der Bitte, die Arbeit bei Gefallen durch eine Spende zu unterstützen. Das Buch wurde 70.000 mal heruntergeladen. Einen sichtbaren Effekt auf die Spenden gab es nicht.
Das ist, gelinde gesagt, ernüchternd. Aber vielleicht reift allmählich auch die Einsicht, dass es ein Problem ist, wenn wir für Dinge, die einen Wert haben und uns etwas wert sind, nichts zahlen.
(Ob Ihnen „Krautreporter“ überhaupt etwas wert ist, ist natürlich eine ganz andere Frage. Hier geht es nur darum, wie die Erfolgsaussichten dadurch beeinflusst werden, dass Sie nicht bezahlen müssen, um mitlesen zu können.)
Andererseits: Andrew Sullivan. Er ist mit seinem vielbeachteten Blog „The Dish“ von den etablierten Medienhäusern weggegangen und hat stattdessen seine Leser dazu aufgerufen, ihn zu bezahlen. Es gibt eine Bezahlschranke, bei einigen deutlich längeren Texten. Wer kein Abonnent ist, kann nur fünfmal auf „Weiterlesen“ klicken. Aber das ist nur ein theoretische Schranke; ich glaube, die meisten Leser erreichen sie gar nicht.
Sullivan hat im ersten Jahr knapp 900.000 Dollar erlöst und fast 34.000 Abonnenten gewonnen. Ich bin sicher, dass die meisten davon nicht zahlen, weil sie mal an die Bezahlmauer gestoßen sind und gemerkt haben, dass sie zahlen müssen, um weiterzulesen. Die meisten davon zahlen, weil sie wollen. Und weil sie wissen, dass die Existenz dieses Angebotes davon abhängt, dass jemand zahlt — und wer sollte das sein, wenn nicht sie selbst? (Es gibt aber übrigens auch bei Sullivan zusätzliche Goodies: Podcasts und laaaange Essays. Ähnliche Angebote wird es auch bei „Krautreporter“ geben.)
Ich bin einer der zahlenden Abonnenten von „The Dish“ und komischerweise habe ich beim Lesen auf der Seite nie das Gefühl eines Nachteils, dass das meiste dort ja auch Leute lesen können, die gar nicht bezahlt haben. Ich habe, im Gegenteil, das gute Gefühl, mit dazu beigetragen zu haben, dass es diese Seite gibt. Das ist ein schöner und nicht zu vernachlässigender Bonus-Wert, außer den Inhalten selbst natürlich. Ich bin Teil einer Gemeinschaft.
(Sullivan hat sich Ende 2013 bei den Abonnenten mir mit den Worten bedankt: „You built that. And we’re incredibly grateful to live in it.“ Schon für das warme Gefühl im Bauch sind 19,99 Dollar im Jahr kein schlechter Deal.)
Vielleicht haben Stefan Winterbauer und Daniel Bouhs recht, dass unsere Idee eine Schnapsidee ist. Ich glaube aber, dass sich ein Versuch lohnt (und, ehrlich gesagt: auch drei, fünf, elf Versuche), ob es nicht auch anders gehen kann, als es bislang ging.
Für mich wäre das ein Traum, als Leser und als Journalist, ganz unabhängig vom konkreten „Krautreporter“-Projekt: Wenn genügend Leute für Inhalte zahlen, die ihnen etwas wert sind, diese Inhalte aber dafür nicht weggeschlossen werden müssen. Es würde einem Journalismus helfen, der nicht auf die große Masse zielen muss, und trotzdem nicht elitär sein will.
Der Erfolg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest macht es für alle, die anders sind als die anderen, ein kleines bisschen leichter und den Gegnern von Freiheit und Vielfalt schwerer.
Das Gefühl kommt von ganz innen und es ist so stark, dass es sich in einem körperlichen Abwehrreflex äußert. Würgen muss der Publizist Jürgen Elsässer, wenn er Conchita Wurst sieht. Ekel nennt er das, was er empfindet. Und selbst, wenn er wollte, schreibt er, könnte er nichts dagegen tun: „Bei Conchita Wurst wirken bei mir nicht nur politische Abwehrreflexe, sondern meine jahrmillionenalte DNS rebelliert.“
Irgendwelche Ur-Ängste muss der Anblick dieser bärtigen Frauengestalt bei Elsässer auslösen; irgendetwas in seiner Veranlagung, das von Jahrhunderten der Evolution, der Aufklärung, der Zivilisation unbeeinflusst blieb, schlägt Alarm. Das Gute an Leuten wie ihm ist, dass sie ihre Homophobie nicht verbrämen, dass sie nicht herumdrucksen wie andere, denen es womöglich ähnlich geht, sondern ihre Ablehnung in schärfster, fundamentaler Klarheit formulieren. Da weiß man, woran man ist.
Aber die Zeiten haben sich geändert, das hat der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest gezeigt. Der Ekel von Elsässer und seinen Leidensgenossen, er führt nicht mehr zu der Frage, wie krank so ein Geschöpf wie Conchita Wurst ist. Sondern zu der Frage, wie krank diejenigen sind, die sich so sehr davor ekeln. Was ihnen fehlt, dass sie es nicht schaffen, den Moment der Verstörung zu überwinden, den der Anblick einer bärtigen Frau auslöst, und die Verwirrung, dass diese Frau auch noch ein Mann ist, und sich mit nüchterner Rationalität zu fragen, was genau daran so furchteinflößend, so bedrohlich, so eklig sein soll. Warum sie glauben, dass man Kinder vor diesem Anblick schützen müsse. Welche Streiche ihre Fantasie ihnen spielt, wenn sie im Auftritt einer Drag Queen im langen, eleganten Kleid eine Art perversen Porno sehen.
„Die tut euch doch nichts“, möchte man ihnen zurufen und sie in den Arm nehmen (wenn die Vorstellung nicht auch ein ganz bisschen abstoßend wäre). Aber das würden sie eh nicht glauben. Sie sehen den Sieg von Conchita Wurst als Teil einer gigantischen Verschwörung zur Gehirnwäsche der Menschen. Der überall Verschwörungen witternde Journalist Gerhard Wisnewski
sieht in der Figur den „bisherigen Gipfel eines Umerziehungsprogramms“, den „Höhepunkt der psychologischen Kriegführung gegen das normale menschliche Empfinden und die schöpferische Ordnung von Mann und Frau.“
Sie tun so, hätte Tom Neuwirth sich als Conchita Wurst auf die Bühne gestellt, um zu sagen: Ihr müsst jetzt alle so werden wie ich. Dabei ist seine Botschaft eine andere: Ihr könnt auch so sein wie ich; vor allem aber könnt ihr so sein, wie ihr seid und sein wollt.
Dass Österreich mit Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewonnen hat, ist deshalb so erfreulich, weil es den Bereich des Möglichen erweitert hat. Vorher war es für viele nicht vorstellbar, dass ein schwuler Mann, der in dieser provokanten und plakativen Form mit Geschlechterrollen spielt, in ganz Europa vom Publikum gewählt werden könnte. Conchita Wurst und die Menschen in Nord- und Süd-, West- und Ost-Europa haben gezeigt: Das ist möglich.
Es ist ein Sieg der Freiheit und der Vielfalt. Und es wäre ein grandioses Missverständnis, ihn umzuinterpretieren zu einer Verengung der Möglichkeiten, zu einer Pflicht, nun „so“ sein zu müssen, um den Grand-Prix zu gewinnen, oder die Figur der Conchita Wurst oder ihren Auftritt gut finden zu müssen.
Béla Anda hat das in besonders atemberaubender Weise getan. Der stellvertretende Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, der in der zweiten rot-grünen Koalition Chef des Bundespresseamtes sein durfte, beklagte sich in der vergangenen Woche, dass er „den Auftritt einer Dragqueen mit Bart jetzt schon gut finden MUSS“: „Es gibt keinen Kanal, keine Möglichkeit, sich dagegen zu artikulieren, und keinen Weg zu sagen: Das gefällt mir nicht“, artikulierte sich Anda dagegen in dem größten Kanal, den deutsche Online-Medien zu bieten haben: auf Bild.de.
Anda geht es ähnlich wie Elsässer, nur dass er es nicht so deutlich ausspricht. „Einige meiner besten Freunde sind homosexuell“, schrieb er (und der einzige Satz, der noch trauriger ist, ist natürlich der, den seine homosexuellen Freunde sagen müssen: „Einer meiner besten Freunde ist Béla Anda“). Trotzdem sträube sich „alles“ in ihm, wenn er Conchita Wurst lese (sic!): „Ein Bart im Gesicht einer Frau, noch dazu ein Vollbart, stört mich, stört mein ästhetisches Empfinden, stört auch mein Rollenverständnis von Mann und Frau.“ In Béla Andas Rollenverständnis hat der Mann die Hosen an und die Frau den Bart ab.
Das wird man vermutlich weder ändern können noch wollen, und es geht auch nicht darum, Andas „ästhetisches Empfinden“ anzugreifen. Es geht darum, dass das, was in der Öffentlichkeit stattfindet, sich nicht (mehr) diesem ästhetischen Empfinden unterordnen muss. Er muss Conchita Wurst oder andere Menschen, die seinem „Rollenverständnis“ nicht entsprechen, nicht gut finden. Aber er muss akzeptieren, dass es sie gibt und dass sie sich nicht verstecken und Respekt fordern. Und sogar Preise gewinnen und Sympathien der Massen.
Nach dem überraschenden Erfolg von Conchita Wurst machte schnell der Begriff vom „Sieg der Toleranz“ die Runde. Der ist problematisch. „Toleranz“, das Hinnehmen von etwas, das man eigentlich nicht mag, trifft es eigentlich gar nicht, denn die Menschen, die abgestimmt haben, haben die Sängerin ja offenkundig gemocht und positiv umarmt. Der Grund dafür ist fast egal: Ob es nun die Musik war, die Show, der Unterhaltungswert des Gesamtpaketes inklusive der schillernden Persönlichkeit des Künstlers. Die Menschen wollten, dass er, dass sie gewinnt. Vermutlich wollten die meisten kein politisches Statement damit abgeben – aber das wurde es auch so, durch das Ergebnis, allein dadurch, dass sie zeigten, dass sie eine solche Erscheinung nicht „eklig“ finden.
Das Wort vom „Sieg der Toleranz“ ist aber auch problematisch, weil es suggeriert, dass jeder andere Platz eine Niederlage für die Toleranz gewesen wäre; dass man also als aufgeklärter Zuschauer für Conchita Wurst stimmen musste. Das ist natürlich Unsinn – auch wenn einige aufgebrachte Fans hinterher die deutsche Jury dafür beschimpften, dass sie Österreich keinen Punkt gegeben hätte. Es wäre auch ein Sieg gewesen, wenn Conchita Wurst hinter den Niederlanden auf dem zweiten Platz gelandet wäre. Oder dem zehnten.
Es war schon ein Sieg, dass sie es ins Finale geschafft hatte und somit ihr Auftritt in ganz Europa ausgestrahlt wurde, auch in Russland und Weißrussland, mitsamt der euphorischen Reaktion in der Halle, mitsamt dem Geplauer in der Pause, als sich die Moderatorin zu ihr setzte und mit ihr scherzte und lachte und zeigte, dass man sie nicht mögen muss, aber kann, weil sie ein Mensch ist, und dass das ganz einfach ist. Und: ein Spaß.
Es wäre keine Niederlage der Toleranz gewesen, wenn Conchita Wurst zweite oder zehnte geworden wäre, aber so ist es natürlich noch schöner. Die ganzen Österreicher, die im Vorfeld öffentlich gewettert hatten, dass man mit diesem Vertreter keinen Blumentopf gewinnen könne und sie das Land blamieren werde, mussten sich nämlich nun eine neue Argumentation suchen. Sie werden auch damit leben müssen, dass Conchita Wurst eine Art Botschafterin Österreichs in der Welt geworden ist, dank eines Wettbewerbs, den man natürlich als Unsinn abtun und ignorieren kann und auch nicht mögen muss.
Auch in der Östereichischen Politik hat Conchita Wurst mit ihrem Sieg etwas möglich gemacht. Nun wird dort über eine Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe geredet. Das ist natürlich in keiner Weise eine zwingende Konsequenz aus dem Sieg beim ESC; vor allem die Sozialdemokraten nutzen einfach, rechtzeitig vor den Europa-Wahlen, die Gunst der Stunde. Aber genau diese Gunst der Stunde ist eben entstanden durch diesen komischen Wettbewerb und seinen besonderen Sieger.
In der Debatte, in Österreich, in Deutschland, in Europa, verständigen sich die Gesellschaften, was für sie akzeptabel ist und was nicht. Es sieht so aus, als ob es schwer wird für die Homophoben, eine bärtige Frau als inakzeptabel zu verdammen. Andererseits kann es sich der Rapper Sido, Mitglied der offiziellen deutschen Jury beim Eurovision Song Contest, noch leisten, dass auf seiner Facebook-Seite eine Vielzahl von Kommentatoren wüste Beschimpfungen inklusive Todeswünschen gegen Conchita Wurst ausspricht.
Die sich für normal haltenden Kämpfer gegen Toleranz und Vielfalt, sie sind in der Defensive. Sie sehen sich nicht nur überwältigt von Menschen und Medien, die ihre Ressentiments nicht teilen. Sie glauben auch, dass, wer „normal“ ist wie sie, diskriminiert wird. Als ob es überraschend wäre, dass ein Paradiesvogel, ein Hingucker, mit einer großen bunten Show und Geschichte, bessere Chancen hat auf der großen, bunten, skurillen Bühne des ESC. Als wäre es irgendwie Schiebung, wenn ein Mann als Frau mit einem Bart in ein Rennen um die besten drei Minuten Unterhaltung geht.
Umgekehrt bedeutete das natürlich auch, dass es falsch wäre, aus dem Votum zu weitreichende Schlussfolgerungen über die tatsächliche Toleranz gegen andersartigen Menschen im Alltag zu ziehen.
Tom Neuhaus wird unterstellt, dass seine Conchita Wurst nur ein Marketinggag ist. Das ist ohnehin ein merkwürdiger Vorwurf. Aber die Überzeugungskraft dieser Figur kommt auch daher, dass sie eben nicht nur eine Kunstfigur ist, sondern Teil der Persönlichkeit des Künstlers. Und eine Reaktion darauf, als schwuler, sich gerne weiblich kleidender Mann diskriminiert worden zu sein. Neuhause hat auf die Anfeindungen nicht defensiv reagiert, sondern ist mit Conchita Wurst in die größtmögliche Offensive gegangen.
Der Sieg von Conchita Wurst hat etwas bewirkt: Sie hat es für alle, die anders sind als die anderen, ein kleines bisschen leichter gemacht, das zu sein, was sie sind oder gerne wären. Man muss sie nicht mögen. Aber man kann sich schon freuen über die Niederlage der Menschen, die diese Freiheit und Vielfalt ablehnen.
Die „Bild am Sonntag“ kämpft für eine Welt, in der Kaffeemaschinen den fertigen Kaffee solange weiter erhitzen dürfen, bis er zu einem dicken Brei aus Bitternis geröstet wurde. Eine Welt, in der Kaffeemaschinen mit Thermoskannen auch nach dem Ende des Brühvorganges noch unbegrenzt eingeschaltet bleiben, vielleicht, weil das Lämpchen so ein schönes rotes Licht macht.
Ich würde ja dazu tendieren, jemanden, den dafür kämpft, für irre zu halten. In der Art, wie wir und unsere Medien über Europa diskutieren, sind aber nicht diese Leute irre, sondern Gesetze gegen eine solche Stromverschwendung.
Und so wärmt die „Bild am Sonntag“ heute noch einmal „Die fünf verrücktesten EU-Verordnungen“ auf; „absurde Blüten“, die die „europäische Regelungswut“ treibt.
Offenbar gibt es nicht so wahnsinnig viele verrückte EU-Verordnungen, sonst würden die Journalisten nicht immer wieder die gleichen aufschreiben. Andererseits müssten sie neue Beispiele erst einmal mühsam recherchieren statt sie irgendwo abzuschreiben. Und womöglich funktionieren „Kaffeemaschinen“ und „Staubsauger“ inzwischen als Begriffe beim Leser schon ähnlich als Trigger der EU-Verachtung wie früher die Gurken. Man will den Leser ja nicht unnötig mit etwas konfrontieren, das er noch nicht weiß.
Jedenfalls, also, natürlich: die Kaffeemaschinen. Eine der fünf „verrücktesten EU-Verordnungen“ ist laut „Bild am Sonntag“ (und ungezählten deutschen Medien vor ihr) die Richtlinie, wonach sich ab 2015 Maschinen mit Isolierkanne fünf Minuten nach Ende des Brühvorgangs abschalten sollen, Maschinen ohne Isolierkanne 40 Minuten danach.
Das Verrückte ist, dass die Medien uns so lange schon die Geschichten von der „Regelungswut der EU“ und ihren „verrückten Verordnungen“ erzählen, dass sie nicht einmal mehr erklären müssen, was daran nun verrückt ist. Dass man seinen Kaffee nicht mehr endlos verschmurgeln lassen kann? Im Ernst?
Wäre es irgendwie besser, wenn es nicht die EU wäre, die solche Regeln forciert, sondern die Bundesregierung? Ach guck mal, tut sie sogar.
Oder ist das Verrückte an dieser Regel, dass sie so läppisch und bedeutend ist, dass kein Parlament und kein Verwaltungsapparat damit seine Zeit verschwenden sollte? Laut der Vorschrift könnte die Begrenzung der Einschaltzeit bei Kaffeemaschinen bis 2020 zu zusätzlichen Strom-Einsparungen von mehr als 2 TWh pro Jahren führen. Zum Vergleich: Das entspräche rund einem Sechstel des jährlichen Stromverbrauchs der Stadt Hamburg.
Wenn wir uns einigermaßen darauf einigen können, dass wir Energie sparen und nicht verschwenden wollen, ist diese Sache nicht ein wunderbarer Mosaikstein? Dessen einzige Konsequenz für unseren Alltag mutmaßlich darin besteht, dass wir den Filterkaffee aus der Glaskanne im Büro nachmittags nicht mehr wegschütten, weil er ungenießbar ist, sondern kalt.
Das erste Beispiel für die EU-Verrücktheiten, das die „Bild am Sonntag“ recherchiert hat wiederholt, ist natürlich die Staubsauger-Sache, die vor ein paar Wochen schon absurderweise die Gemüter erhitzt hat.
1. Staubsauger ohne Puste
Staubsaugern geht nach dieser neuen EU-Verordnung (Nr. 666/2013) spätestens ab Herbst 2014 die Puste aus: Die maximale (Nenn)leistung muss ab dann unter 1600 Watt liegen, ab 2017 sogar unter 900 Watt. Das soll „Ökodesign-Anforderungen“ erfüllen. Und das, obwohl bislang ein Staubsauger dann als gut galt, wenn er eine möglichst hohe Saugkraft, sprich Wattzahl hatte.
Das „galt“ in dem letzten Satz ist verräterisch. Anscheinend hat selbst die „Bild am Sonntag“ schon davon gehört, dass die Leistung beim Saugen gar nicht entscheidend ist. Seit Jahren weist etwa die Stiftung Warentest darauf hin, dass nicht die Kraft des Motors entscheidend ist, sondern die Konstruktion des Gerätes. Testsieger Anfang des Jahres wurde ein Modell, das mit 870 Watt auskam.
Trotzdem gab es in den vergangenen Jahren ein regelrechtes Wattrüsten. Die EU schätzt, dass der jährliche Stromverbrauch der Staubsauger in Europa vo 18 TWh 2005 auf 34 TWh 2020 ansteigen könnte. Laut einer Studie, die der Regulierung vorausging, könnte dieser Stromverbrauch „erheblich gesenkt werden“.
Und die „Bild am Sonntag“ findet es „verrückt“, die Leistung zu begrenzen, weil sie bislang als Qualitätsmerkmal „galt“? Weil die Menschen fälschlicherweise annahmen, dass ein Gerät mit mehr Watt besser saugt? Regulierungen sollen also dann nicht erlassen werden, wenn sie den — falschen — Vorurteilen der Konsumenten widersprechen? Waaaaaa!
Nochmal: Wer ist hier verrückt?
Die neue EU-Richtlinie sieht auch vor, dass Staubsauger zukünftig von Teppichboden mindestens 70 Prozent, von Hartböden mindestens 95 Prozent des Staubes entfernen. Ist das nicht verrückt? Lasst uns dafür kämpfen, dass uns die Industrie auch in Zukunft Geräte andrehen darf, die nur 50 Prozent des Staubes schaffen! Oder noch weniger! Freiheit für den Staub!
Und dann wärmt die „Bild am Sonntag“ natürlich auch nochmal die „Pizza Napoletana“ auf, die in den vergangenen Wochen steile Medienkarriere gemacht hat:
5. Gesetz oder Rezept?
„Mehl, Wasser, Salz und Hefe werden vermischt. 1 Liter Wasser wird in die Knetmasse gegossen, darin werden 50 bis 55 Gramm Meersalz aufgelöst und etwa 10 Prozent der vorgesehenen Gesamtmenge Mehl hinzugegeben. Danach werden 3 Gramm Bierhefe aufgelöst, die Knetmaschine wird in Gang gesetzt und nach und nach werden 1,8 Kilo Mehl W 220-380 bis zum Erreichen der gewünschten Konsistenz hinzugegeben, die als punktgenau richtiger Teig bezeichnet wird. Dieser Vorgang muss 10 Minuten dauern …“ Was sich hier wie das Geheimrezept einer italienischen Mama liest, ist in Wahrheit knallharter Gesetzestext der EU-Verordnung Nr. 97/2010. Der definiert für alle Europäer eine „Pizza Napoletana“.
Hintergrund dieser Beschreibung ist, dass das italienische Landwirtschaftsministerium einen Antrag gestellt hat, diese Pizza mit einem EU-Qualitätskennzeichen als „garantiert traditionelle Spezialität“ auszeichnen zu lassen.
die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse nachhaltig zu unterstützen,
Qualität von Lebensmitteln dauerhaft zu gewährleisten
Missbrauch und Nachahmung von Produktbezeichnungen zu unterbinden sowie
den Verbrauchern eine Orientierungshilfe zu geben, die sie vor Irreführung schützt.
Den Verbraucher vor Irreführung schützen, wie lächerlich und verrückt ist das! Man mag ja die detaillierte Beschreibung merkwürdig finden (und muss sie als Konsument auch nicht verstehen). Ich bin mir sicher, dass es daran im Detail viel zu kritisieren gibt. Aber ist das nicht prinzipiell in unserem Sinne, dass wir uns als Verbraucher darauf verlassen können, dass wenn „Pizza Napoletana“ drauf steht, auch „Pizza Napoletana“ drin stecken muss?
Bei Schwäbische Spätzle/Schwäbische Knöpfle handelt es sich um eine Eierteigware aus Frischei mit
Hausmachercharakter, unregelmäßiger Form und rauer, poriger Oberfläche, bei welcher der zähe Teig direkt in kochendes Wasser/Wasserdampf eingebracht wird.
Bayerische Brezen sind ein traditionelles Laugengebäck, die im Verkehr auch als Bayerische Brezn, Bayerische Brez’n und Bayerische Brezel bezeichnet werden. In der Form ähnelt (und symbolisiert) die Breze zum Beten verschränkten Armen. Diese Form ergibt sich aus dem Schlingen (Übereinanderschlagen) eines dünn ausgerollten Teigstrangs mit Doppelknoten im Mittelteil, wobei die beiden Enden des Strangs in einem Abstand an den dickeren Brezenbogen angedrückt sind, dass möglichst drei gleichmäßig große Felder entstehen. Typisch für das Aussehen einer Bayerischen Laugenbreze ist die satt-glänzende, kupferbraune Krustenfarbe, zu der die beim Backen entstandenen wilden Risse im Brezenbogen einen hellen Kontrast bilden.
Wertbestimmend für den Genusswert ist der laugige Geschmack in Verbindung mit dem röschen, kurzen Bruch der Breze sowie die wattige, noch weiche Beschaffenheit der Krume beim Verzehr.
Es gibt sie in verschiedenen Varianten und Größen, meist mit grobem Salz bestreut. Alternativ können aber auch Mohn, Sesam und Kürbis- oder Sonnenblumenkerne und Käse verwendet werden. Die Kruste der Breze ist dünn, kastanienbraun und glänzend gebacken. Der Teig dagegen ist saftig, zart und hell.
Klicken Sie sich gern mal durch die Datenbank. Ich verspreche Ihnen Stunden voller Spaß.
Und das gute Gefühl, dass sich vor Ihnen ungefähr kein Journalist hierhin verirrt hat, der einfach nur die Pizza-Napoletana-Sache irgendwo abgeschrieben hat, um billige Ressentiments seiner Leser gegen die EU zu bedienen und zu schüren.
Alle fünf Juroren aus Georgien haben beim Eurovision Song Contest am Samstag ihre Punkte für die ersten acht Plätze exakt gleich vergeben. Ihre Wertung wurde deshalb annulliert; Georgien droht eine mehrjährige Sperre.
Man sollte die georgische Jury aber eigentlich nicht wegen des Verdachts auf unerlaubte Absprachen disqualifizieren. Sondern wegen erwiesener Dummheit. So blöd muss man erstmal sein, das abgesprochene/erwünschte/gekaufte Ergebnis nicht ein bisschen zwischen den einzelnen Juroren zu variieren, damit es nicht so auffällt.
Die Jury aus Aserbaidschan hat das besser gemacht. Ihre fünf Juroren haben nicht exakt gleich abgestimmt. Sie haben nur fast gleich abgestimmt. Ihr Votum ist nicht identisch, aber in einem solchen Maße ähnlich, dass ich mir schwer vorstellen kann, dass es dabei mit rechten Dingen zugegangen ist.
Aufgabe der Juroren ist es, einzeln, ohne Absprachen, 25 Titel in eine Reihenfolge zu bringen. Vielleicht haben Sie das selbst mal beim ESC versucht. Es ist gar nicht so leicht. Man kann sich mit sich selbst ganz gut auf eine Handvoll Favoriten einigen. Und man findet schnell auch Kandidaten, die man problemlos auf den letzten Platz einsortiert, den vorletzten und vielleicht auf den vorvorletzen.
Es ist aber gar nicht so leicht, für sich selbst zu unterscheiden, wer auf den elften Platz gehört und wer auf den zwanzigsten. Ich würde wetten, dass es den meisten von uns nicht gelänge, das eigene Abstimmungsergebnis am nächsten Tag von 1 bis 25 zu wiederholen, weil so viel in der Mitte willkürlich, zufällig, erratisch war.
Mit anderen Worten: Es ist extrem unwahrscheinlich, dass fünf Juroren sämtliche 25 Plätze mit nur minimalsten Abweichungen gleich sortieren, selbst wenn diese Juroren denselben Geschmack hätten, denselben fachlichen Hintergrund, dieselben politischen Abneigungen.
Dass alle fünf Juroren Armenien auf den letzten Platz gesetzt haben, ist kein Grund, Verdacht zu schöpfen, sondern Ausdruck der politischen Realität in Aserbaidschan. Dass alle Conchita Wurst doof fanden und auf den 23. oder 24. Platz setzen, finde ich auch nachvollziehbar. Und warum sollte es nicht weitgehende Übereinstimmung geben, dass Russland und Weißrussland besser waren als der Rest?
Nein, der Grund, das aserbaidschanische Jury-Urteil anzuzweifeln, ist die frappierende Übereinstimmung in dem ganzen Bereich dazwischen. Die Abweichungen sind minimal. In keinem einzelnen Fall wich das Urteil eines einzelnen Jurors über einen Beitrag mehr als zwei Punkte von dem gemeinsamen Durchschnitt ab. Es gab keinen einzigen Juror, der auch nur ein einziges Lied, gegen den Trend, besonders toll oder misslungen oder mittel fand.
Wenn man einer Jury sagen würde, welche Platzierung gewünscht ist, sie aber aufforderte, ein bisschen zu variieren, damit es nicht auffällt, käme eine Verteilung wie in diesem Jahr in Aserbaidschan heraus. (Was natürlich kein Beweis dafür ist, dass es so war.)
Die folgende Tabelle zeigt das Abstimmungsverhalten der fünf aserbaidschanischen Juroren. Dahinter steht die resultierende Jurywertung (also der Durchschnitt). In der letzten Spalte habe ich die Standardabweichung σ ausgerechnet. Sie ist ein statistisches Maß, das angibt, wie weit die einzelnen Werte im Durchschnitt vom Mittelwert abweichen. (Zur Verdeutlichung: Wenn alle Juroren dieselbe Punktzahl vergeben, ist die Standardabweichung 0. Angenommen, von vier Juroren geben zwei einem Beitrag zwei Punkte und zwei vier Punkte, ist der Mittelwert drei Punkte und die Standardabweichung davon 1 Punkt.)
Jury-Votum Aserbaidschan:
Juror A
Juror B
Juror C
Juror D
Juror E
Ø
σ
Russland
1
3
1
1
2
1
0,8
Weißrussland
3
2
3
4
1
2
1,0
Ungarn
2
1
4
3
4
3
1,2
Rumänien
5
6
2
2
3
4
1,6
Griechenland
4
4
6
5
7
5
1,2
Ukraine
6
5
5
7
6
6
0,7
Italien
8
7
9
6
5
7
1,4
Malta
7
9
7
8
9
8
0,9
Slowenien
11
8
8
10
8
9
1,3
Montenegro
9
11
10
9
10
10
0,7
Polen
10
10
12
11
12
11
0,9
Spanien
12
13
11
14
11
12
1,2
San Marino
13
14
13
12
13
13
0,6
Frankreich
15
12
15
13
14
14
1,2
Finnland
14
15
14
15
16
15
0,7
UK
16
17
16
16
15
16
0,6
Dänemark
17
16
18
17
17
17
0,6
Island
19
18
17
19
19
18
0,8
Niederlande
18
19
19
18
20
19
0,7
Norwegen
20
21
20
20
18
20
1,0
Schweiz
21
20
21
22
21
21
0,6
Deutschland
23
22
22
21
22
22
0,6
Schweden
22
23
24
23
24
23
0,7
Österreich
24
24
23
24
23
24
0,5
Armenien
25
25
25
25
25
25
0,0
Die größte Streuung ist bei Rumänien. Hier liegt das beste Einzelvotum um vier Plätze über dem schlechtesten. In allen anderen Fällen umfasst die Bandbreite höchstens drei Plätze, meistens liegen die Juroren nur ein oder zwei Plätze auseinander. Bei Armenien sind sie sich natürlich einig.
Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass ein solches Abstimmungsergebnis zufällig zustande kommt, selbst wenn die Juroren ganz ähnliche Vorlieben haben. Es würde nicht nur bedeuten, dass sich die Juroren extrem einig sind in ihren Geschmäckern, sondern dass sie es schaffen, zwischen, sagen wir, Platz 13 und Platz 20 zu differenzieren. Norwegen auf Platz 20 fand niemand in der aserbaischanischen Jury besser als Platz 18 und niemand schlechter als Platz 21. San Marino auf Platz 13 fand niemand in der aserbaischanischen Jury besser als Platz 12 und niemand schlechter als Platz 14. Das lässt sich durch alle Plätze durchdeklinieren.
Die durchschnittliche Standardabweichung bei der Jury aus Aserbaidschan beträgt 0,9. Zum Vergleich: Bei der Jury aus Österreich beträgt sie 5,0; bei Großbritannien 4,7; bei Russland 3,1. Selbst bei der deutschen Jury, die sich ja, zum Beispiel was Platz 1 (Dänemark) und Platz 2 (Niederlande) angeht, frappierend einig war, beträgt die durchschnittliche Standardabweichung 2,8.
Wenn Jurys beim ESC nicht nur wegen erwiesener Dummheit, sondern auch wegen des Verdachts auf Absprachen und Manipulation disqualifiziert werden können — es gäbe im Jury-Urteil aus Aserbaidschan viele Anhaltspunkte dafür.
Diese grandiose neue amerikanische Fernsehserie, über die alle reden, „True Detective“. Was würden Sie schätzen, wie viele Zuschauer die in den USA hatte?
Im Schnitt keine zweieinhalb Millionen pro Folge. Damit wäre sie selbst im viel kleineren Deutschland spätestens nach der zweiten Folge als peinlicher Flop abgesetzt worden.
Zum Glück ist „True Detective“ aber eine HBO-Serie. HBO finanziert sich über Abonnements. Und die Logik ist eine andere als bei Sendern, die sich über Werbung finanzieren. Es geht nicht so sehr darum, die Zahl der Zuschauern zu maximieren. Es geht darum, die Zufriedenheit der Zuschauer zu maximieren. Programme zu machen, über die die Menschen reden, die ihnen etwas wert sind.
Dieser Unterschied ist fundamental. Dass „True Detective“ so gut ist, liegt auch daran, dass die Serie keine zehn Millionen Zuschauer erreichen muss und es auch nicht versucht hat, mit all den Zugeständnissen und Kompromissen an den Massengeschmack, die damit verbunden wären. Viele deutsche Serien sind so enttäuschend, weil sie nicht dafür gemacht sind, eine begrenzte Zahl von Menschen möglichst glücklich zu machen, sondern von möglichst vielen Menschen irgendwie halbwegs okay gefunden zu werden.
Okay, wenn ich jetzt als nächstes sagen würde, dass wir das „True Detective“ des deutschen Online-Journalismus machen wollen, wäre das nicht nur anmaßend und größenwahnsinnig, sondern auch bekloppt. Was wir aber machen wollen: die Logik der Finanzierung von Online-Journalismus ändern. Und ich glaube, dass die Unterschiede ähnlich fundamental wären wie bei Fernsehserien.
Deutsche Online-Medien finanzieren sich zum größten Teil über Werbung. Wer mehr Klicks generiert, verdient mehr. Weil Online-Werbung billig ist, müssen Online-Medien ganz besonders viele Klicks generieren. Es müssen möglichst viele Artikel publiziert werden, die geklickt werden. Jeder einzelne Artikel muss möglichst häufig geklickt werden. Innerhalb des Artikels muss es möglichst viele Anreize geben, nochmal irgendwo hinzuklicken.
Wohin das bestenfalls führt, sieht man bei „Spiegel Online“. Es ist ein Medium, in dem ununterbrochen Aufregung herrscht. Es gibt dauernd einen Grund, irgendetwas anzuklicken, denn ununterbrochen passiert etwas in der Welt, das meine Aufmerksamkeit fordert. Am besten kommt man in spätestens einer Stunde wieder, denn dann ist sicher schon wieder etwas neues Aufregendes passiert, und wenn nicht, hat „Spiegel Online“ einen weiteren Artikel zu dem alten Aufregenden veröffentlicht.
Ich meine das mit dem „bestenfalls“ im vorigen Absatz durchaus ernst, denn unter der Maxime, möglichst viele Klicks zu generieren, macht „Spiegel Online“ seinen Job gut. Dort arbeiten gute Kollegen, die recherchieren und vernünftige journalistische Regeln befolgen und nicht alles tun würden für einen schnellen Klick.
Deren Auftrag aber natürlich trotzdem ist: Möglichst viele Klicks zu generieren.
Das ist in der ökonomischen Logik dieser Medien völlig zwingend, konsequent und richtig. Und obwohl ich als Leser immer wieder einer dieser Klicks bin, ist das gar nicht unbedingt in meinem Interesse.
Dass, zum Beispiel, „Spiegel Online“ am Abend des 8. Januar einen bizarren Leer-Text mit blöden Fragen zum Coming-Out von Thomas Hitzlsperger veröffentlichte, lässt sich am besten damit erklären, dass zu diesem Zeitpunkt eigentlich alles schon gesagt worden war, und zwar viele Male, aber die Artikel immer noch so gut geklickt wurden, dass ein weiterer Artikel weitere Klicks versprach, zur Not dann eben ohne Inhalt.
Wie viele sinnlose Aufgeregtheiten wird ein Medium produzieren, das von jeder sinnlosen Aufgeregtheit profitiert, die es produziert? All diese Atemlosigkeit, die „Spiegel Online“ ausstrahlt, fühlt sich für mich immer häufiger nach einem Medium an, das kurz vor einem Burn-Out steht. Oder bei mir als Leser einen auslöst. Und es ist ja nicht nur „Spiegel Online“.
Wild winkend, hüpfend, johlend kämpfen im Netz Artikel um meine Aufmerksamkeit, betteln darum, geklickt zu werden. Im Zweifel gewinnt eine übergeigte Überschrift, die durch den Inhalt des Artikels kaum gedeckt wird. Im Zweifel gewinnt die besonders steile These, die besonders überdrehte Pointierung, die besonders skandalisierende Interpretation.
Natürlich tue ich mit dieser Pauschalisierung Kollegen und Medien Unrecht, natürlich gibt es viele, die verantwortungsvoll berichten und wissen, dass es einem seriösen Medium, das einen Ruf zu verlieren hat, schaden würde, alles der Klickmaximierung unterzuordnen. Bei süddeutsche.de, zum Beispiel, hat man sich von früheren Auswüchsen deutlich sichtbar verabschiedet.
Es ist aber nicht so leicht, angesichts der knappen Kassen und der ökonomischen Logik, bewusst auf einen möglichen Klick zu verzichten. Wenn sich ein Medium entscheidet, einen albernen Hype um irgendein Boulevardthema nicht mitzumachen, auf den gerade alle anspringen, verzichtet es im Zweifel auf bares Geld.
„Krautreporter“ ist ein Versuch, aus dieser Logik auszubrechen. Wir wollen ein Online-Magazin machen, das sich nicht über Werbung finanziert, sondern ausschließlich über unsere Leser. Sie ermöglichen es uns, nicht auf den billigen nächsten Klick schielen zu müssen. Wir bieten ihnen dafür einen im besten Sinne ausgeruhten Online-Journalismus, der ihnen etwas wert ist. Der aufregend ist, nicht aufgeregt.
Das ist der Traum. Und der Plan. Und jetzt probieren wir das mal.
Wir brauchen dafür 15.000 Menschen, die 60 Euro geben. Das reicht für ein Jahr, entspricht also 5 Euro im Monat.
Wir haben vier Wochen Zeit, diese Menschen zu gewinnen. Wenn wir es schaffen, gibt es ab Herbst Krautreporter. Wenn nicht, nicht.
Es hängt also von Ihnen ab.
Mehr über Krautreporter, die Idee, die Beteiligten und das Crowdfunding erfahren Sie hier.
„Nie wieder mach ich sowas mit, ehrlich“, twitterte Madeline Juno gestern. Den Tweet hat sie inzwischen gelöscht, aber ihre Verzweiflung scheint sich nicht gelegt zu haben.
Die achtzehnjährige Sängerin war eine von fünf deutschen Juroren beim Eurovision Song Contest (ESC). Weil sie die Siegerin Conchita Wurst, wie die andern deutschen Juroren, nur auf einen Platz im Mittelfeld gesetzt hatte, wird sie in den sozialen Netzwerken von einigen wüst beschimpft.
Das ist übel und dumm.
Juno hatte die Sache aber noch verschlimmert, indem sie so tat, als sei sie eigentlich Conchita Wursts größter Fan und hätte Österreich unter die Top 5 gewählt. Das ließ sich aufgrund der in diesem Jahr erstmals veröffentlichten Einzelstimmen der Juroren leicht widerlegen.
Diese Transparenz hat weitreichende Folgen, nicht nur für Madeline Juno.
Der ARD-Unterhaltungskoordinator und deutsche Grand-Prix-Teamchef Thomas Schreiber sagte auf Anfrage, er sei als Mitglied der „Reference Group“ des ESC mit der Eurovision im Gespräch, „wie ein respektvollerer Umgang der Fans mit abweichender Meinung mit der Jury unterstützt werden kann“:
Die Art und Weise, wie in sozialen Netzwerken sowohl die Siegerin Conchita Wurst als auch unter anderem deutsche Jurymitglieder behandelt werden, ist nicht akzeptabel. Eine Drohung bei Facebook gegen die ESC-Gewinnerin ist ebenso wenig hinzunehmen wie das unflätige Beschimpfen der deutschen Jurymitglieder für ihre Wahl. Alle Jurymitglieder sind, unabhängig vom Lebensalter, Größen in der deutschen Popmusik und können erwarten, für ihr Urteil mit einem Mindestmaß an Respekt und Anstand behandelt zu werden. Wenn der Sieg von Conchita Wurst als ein Zeichen der Toleranz in Europa betrachtet wird, ist es eine Selbstverständlichkeit, dem Urteil der „music industry professionals“ dieselbe Toleranz entgegenzubringen.
Die Entscheidung, im Sinne der Transparenz alle Abstimmungsergebnisse zu veröffentlichen, hält Schreiber nach wie vor für richtig.
Die Ausfälle und Anfeindungen stellen auch deshalb ein Problem für ihn dar, weil sie zukünftige Kandidaten für die Jury abschrecken. Schon in diesem Jahr soll es schwer gewesen sein, bekannte Künstler für diese Aufgabe zu finden.
Nach eigenen Angaben entscheidet Schreiber „natürlich nicht“ allein über die Zusammensetzung der Jury, die ja erheblichen Einfluss auf das Ergebnis hat. Ein rund fünfköpfiges NDR-Team plus Schreiber stelle die Jury zusammen und rede dafür mit Künstlern, Managements, Labeln, Rechtsanwälten. Schreiber:
Der Aufwand für die Zusammenstellung der Jury wird von außen vermutlich unterschätzt. Mitunter dauert es von der ersten Anfrage bis zur Jurytätigkeit zwei Jahre. Ein Grund für die Zurückhaltung von „music industry professionals“ ist unter anderem die öffentliche Reaktion auf Juryentscheidungen (siehe Deutscher Vorentscheid 2013, siehe soziale Netzwerke 2014).
Trotz dieses angeblichen Aufwandes ist es der ARD nicht gelungen, eine Jury zusammenzustellen, die eine der Anforderungen der Eurovision erfüllt: ein breites Altersspektrum abzudecken. Die vom NDR ausgesuchten Vertreter waren alle zwischen 18 und 35 Jahre alt. „Ältere von uns angesprochene Künstler standen dieses Jahr leider nicht zur Verfügung“, sagte Schreiber vor dem Wettbewerb, „wir haben es aber natürlich versucht.“
Mangelnde Vielfalt bei der Zusammensetzung wäre auch eine Erklärung dafür, warum sich die deutschen Juroren teilweise erstaunlich einig waren in ihrem Abstimmungsverhalten. Trotzdem ist es verblüffend, dass zufällig alle fünf vermeintlich unabhängig voneinander zu dem Urteil gekommen sind, Dänemark (!) auf den ersten Platz zu setzen.
Angeblich hatten die Juroren keine Möglichkeit, sich abzusprechen. Schreiber:
Die Jurysitzungen finden alle unter notarieller Aufsicht statt, Handys sind abzugeben etc. Ein Austausch der Juroren untereinander findet während der Sendung und der anschließenden Abstimmung nicht statt. In einem runden Drittel der Länder wird die Jurysitzungen zusätzlich von PWC-Mitarbeitern stichprobenartig beobachtet.
Der Auftritt Dänemarks in der zweiten Generalprobe, auf deren Grundlage die Juroren urteilen, soll besonders gut gewesen sein (auch wenn er eine so durchschlagende Wirkung nur auf die deutsche Jury hatte). Das zeigt aber ein weiteres Problem mit dem Abstimmungsprozedere: Wenn die Juroren eine andere Show bewerten als jene, die die Zuschauer sehen, ist ihr Votum auch deshalb für die Öffentlichkeit schwer nachvollziehbar. Nach den Worten Schreibers lässt sich das aber nicht ändern, da das Juryvotum das Backup für den Fall darstellt, dass aus technischen Gründen kein valides Telefonvoting zustande kommt.
Conchita Wurst, die Siegerin des Eurovision Song Contest 2014, ist bei den Zuschauern in ganz Europa gut angekommen. Spanien und Estland ist das einzige Land, in dem sie es bei den Anrufern nicht unter die ersten fünf Plätze schaffte.
Es waren die Jurys, deren Urteil die Hälfte des jeweiligen Länder-Votums ausmacht, bei denen der Beitrag weniger gut ankam. Die deutschen Juroren zum Beispiel setzten Österreich nur auf Platz 11 — bei den Anrufern aus Deutschland lag Conchita Wurst auf Platz 1. Die Jurys aus Armenien, Aserbaidschan und Weißrussland hatten gar nichts für den österreichischen Beitrag übrig — die Zuschauer hingegen hatten auch dort mit der bärtigen Frauenfigur keine Probleme und stimmten in großer Zahl für ihren Auftritt.
Anders als man es vielleicht erwarten konnte, gab es keine große Kluft zwischen den Menschen in West- und Ost-Europa, was die Bereitschaft anging, für die Drag-Queen zu stimmen. Wenn man in ihrem Sieg ein Votum für Toleranz sehen will, war es ein Votum, das von west- und osteuropäischen Menschen ausging. Einen markanten Unterschied zwischen Ost und West gab es nur beim Abstimmungsverhalten der Juroren; da wäre dann aber Deutschland auf osteuropäischer Seite.
Dies sind die Plätze, die Österreich in den jeweiligen Ländern errang (samt Umrechnung in ESC-Punkte), aufgeschlüsselt nach Jury- und Zuschauervotum:
Platzierung
Punkte
Land
Juryvotum
Televoting
Juryvotum
Televoting
Albanien
6.
–
5
–
Armenia
24.
2.
0
10
Aserbaidschan
24.
3.
0
8
Belgien
3.
3.
8
8
Dänemark
2.
3.
10
8
Deutschland
11.
1.
0
12
Estland
8.
8.
3
3
Finnland
1.
1.
12
12
Frankreich
4.
2.
7
10
Georgien
–
2.
–
10
Griechenland
1.
2.
12
10
Island
2.
3.
10
8
Irland
1.
3.
12
8
Israel
1.
2.
12
10
Italien
3.
2.
8
10
Lettland
10.
5.
1
6
Litauen
1.
5.
12
6
Malta
9.
1.
2
12
Mazedonien
14.
5.
0
6
Moldau
4.
4.
7
7
Montenegro
17.
5.
0
6
Niederlande
1.
1.
12
12
Norwegen
4.
2.
7
10
Polen
19.
4.
0
7
Portugal
6.
1.
5
12
Rumänien
7.
2.
4
10
Russland
11.
3.
0
8
San Marino
14.
–
0
–
Schweden
1.
1.
12
12
Schweiz
1.
1.
12
12
Slowenien
1.
1.
12
12
Spanien
2.
2.
10
10
Ukraine
3.
5.
8
6
Ungarn
8.
2.
3
10
Vereinigtes Königreich
3.
3.
8
8
Weißrussland
23.
4.
0
7
Summe
214
306
(Quelle.) Bei Albanien und San Marino wurde das Zuschauervotum nicht berücksichtigt, vermutlich wegen zu geringer Teilnehmerzahl. Bei Georgien wurde das Jury-Votum für ungültig erklärt.)
Das Urteil von Jurys und Zuschauern klaffte insgesamt teilweise dramatisch auseinander. So setzten in Großbritannien die Zuschauer Polen auf den ersten Platz, die Juroren auf den letzten. Das Ergebnis: null Punkte vom Vereinigten Königreich für Polen. Die fünf Juroren dort haben es geschafft, das Votum der Mehrheit der Tausenden anrufenden Zuschauer vollständig zu annullieren. Es könnte schwer werden, den Menschen in den kommenden Jahren zu erklären, dass ihr Anruf zählt. Im Zweifel zählt er in diesem System eben: nicht.
Fragen wirft auch das Abstimmungsverhalten der deutschen Jury auf. Alle fünf Juroren setzten im Finale Dänemark auf den ersten Platz. Nun heißt es zwar, dass der dänische Auftritt in der Probe, auf deren Grundlage die Juroren abstimmen, besonders gut gewesen sein soll. Aber nur bei den deutschen Juroren löste er eine solche einmütige Begeisterung aus.
Das Sieger-Votum der deutschen Jury ist europaweit eine Anomalie. Bei den drei anderen Ländern, bei denen die Juroren sich über den Sieger ebenfalls einig waren, deckte sich ihr Urteil immerhin mit dem der Anrufer. Die deutschen Zuschauer aber wählten Dänemark nur auf den zehnten Platz.
Es genügt, die Pressefotos zu kennen, die das ZDF zu seinem großen „Duell: McDonald’s gegen Burger King“ anbietet, um einen guten Eindruck davon zu bekommen, was das Problem dieser Sendung und all dieser ZDF-Sendungen ist.
Fotos: ZDF
Ein glücklicher Nelson Müller präsentiert grinsend, als wolle er sich als Produktvorführer bei „Der Preis ist heiß“ bewerben, einen attraktiv hindrapierten Berg von Fast-Food-Produkten. Am Anfang der Sendung fällt der Satz, dass der Test „unter den strengen Augen von Nelson Müller“ stattfinde. Das da oben, das sind in der fluffig-aufschäumten Kuschel-Welt dieser ZDF-Verbrauchersendungen die „strengen Augen“ von Nelson Müller.
Ich habe ZDF-Chefredakteur Peter Frey gefragt, ob es nicht ein Problem ist, dass die Reihe „ZDFzeit“ am Dienstag um 20.15 Uhr anbiedernden „Galileo“-Journalismus betreibt, während RTL plötzlich die investigative Reportage für sich entdeckt hat und damit Burger King ernsthaft in Bedrängnis bringt. Das Interview erscheint morgen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.
Aber eigentlich muss man sie gesehen haben, die Sendung, und vor allem: gehört.
Was mich mehr noch als alles andere zum Stöhnen bringt, wenn ich mir diese Filme ansehe, ist die Musikauswahl. Mit Ausnahme eines Teils, in dem es um die Arbeitsbedingungen bei Burger King geht und der wirkt, als sei er nachträglich (wegen der RTL-Enthüllungen, deren Urheber das ZDF natürlich verschweigt) hingeschnitten, ist alles mit einem Happy-Sound unterlegt. Damit der Zuschauer nie das Gefühl haben muss, er würde hier mit sowas Lästigem wie Journalismus behelligt, selbst dann nicht, wenn ein paar kritische Sätze fallen.
Es ist nicht nur die übliche Penetranz der musikalischen Verdoppelung des Gesagten und Gezeigten, aber die natürlich auch. Wenn erklärt wird, woraus ein Milkshake gemacht wird, läuft natürlich erst der „Milkshake“-Song von Kelis, dann „Shake, Rattle and Roll“ und schließlich, wenn der Zucker hinzugefügt wird, „Sweets for my Sweets“.
Immer wiederkehrendes Motiv der Sendung ist „Apache“ von Michael Viner’s Incredible Bongo Band, was nicht nur gute Laune macht, sondern auch den behaupteten „Duell“-Charakter illustriert. Optisch hat man da auch keine Kosten und Mühen gescheut:
Verstärkend, womöglich aus Sorge, dass es sonst zu subtil sein könnte, vielleicht aber auch, weil es eine Vorschrift gibt, es in solchen Kontexten als Klischee einzusetzen, folgt dann noch das Hauptthema aus „Zwei glorreiche Halunken“.
Das, immerhin, lässt sich alles erklären. Die Entscheidung, unter die ausführliche Aufdröselung, wieviel verschiedene Fast-Food-Menus kosten, „Get Lucky“ zu legen, ist dann schon rätselhafter, macht aber richtig gute Laune und führt beim Zuschauer sicher zu einem schönen „Ach, das kenn ich“-Gefühl.
Die überglückliche Grundstimmung wird später durch „Happy up here“ von Röyksopp verstärkt. Ich bin ein bisschen überrascht, dass „Happy“ von Pharell Williams nicht vorkam, aber vielleicht habe ich das nur überhört.
McDonald’s ist so nett, Nelson Müller mit dem Kamerateam in die Küche gucken zu lassen, und das ist, nach der Musik zu urteilen, natürlich eine heiße, detektivische Sache: Es erklingt „Der rosarote Panther“. Das ist ein lustiger Kontrast zur tatsächlichen Situation, in der Müller da steht und sagt: „Ich würde gerne wissen, wie wird bei Ihnen ein Burger gemacht.“ Und der McDonald’s-Mann sagt: „Ich würde sagen, dann machen wir direkt einen.“ Die Off-Sprecherin staunt: „Alles sieht besonders aufgeräumt und sauber aus.“
Überhaupt, die Sprecherin! Es ist Rita Ringheanu, und die ist ohne Zweifel eine großartige Sprecherin. Hier scheint sie den Auftrag zu haben, mit mindestens der gleichen Euphorie und Begeisterung zu sprechen, wie sie es tut, wenn sie für die großen Marken Werbespots aufnimmt. „Deutschlands Fast-Food-Liebhaber teilen sich in zwei Große Lager!“, freut sie sich und macht die fehlende Fallhöhe der folgenden 45 Minuten gleich am Anfang deutlich, wenn wir irgendwelche Leute sehen, die Nelson Müller mit Küsschen begrüßt: „Werden die Fans ihrem Lager treu bleiben? Oder wird es Überläufer geben?“ Die Frage „Kümmert es uns?“ hat danke der Energie in Ringheanus Stimme keine Chance.
Selbst Sätze wie „In der Cola von McDonald’s und Burger King wurden Rückstände gefunden“ sagt sie mit einer solchen positiven Energie, dass man fast denkt, das sei doch wenigstens gerecht und irgendwie eine gute Sache.
So moderiert sie mir ihrer Stimme auch, wenn die Punkte für die Unternehmen vergeben werden, alles allzu Kritische weg. „Essens-Zubereitung wie am Fließband mag nicht jedermanns Sache sein“, heißt es dann. „Aber McDonald’s ist immerhin um Transparenz bemüht.“ Eben. Immerhin!
Und die skandalösen Zustände bei der Konkurrenz, die natürlich zu einem Punkt für McDonald’s führen, sind in den Texten von „ZDFzeit“ kein grundsätzliches Problem, kein Prinzip, sondern nur eine Frage des Noch-nicht-ganz-soweit-Seins: „Beim Thema Fairness hat Burger King noch einiges aufzuholen.“
Wenn es zu den Bauernhöfen geht, von denen das Fleisch für die Burger stammt, erschallt fröhlich „Timber“ von Pitbull, und die Kühe, die beim Melken im Kreis auf einer riesigen Scheibe stehen, drehen sich lustig in höherem Tempo, während Daft Punks „Harder Better Faster Stronger“ erklingt.
Und so weiter und so weiter. Ich habe mir aus dem Soundtrack der Sendung noch „Breadcrumbs“ von Thomas Newman notiert, „Thriller“ von Michael Jackson, „Shot me Down“ von Skylar Grey, „Closer“ von den Nine Inch Nails, „Don’t Stop Til You Get Enough“ von Michael Jackson.
Meine Lieblingsstelle ist aber, wenn im Labor die Burger auf propolyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe untersucht werden. Im Hintergrund macht Stevie Wonder besten Party-Funk mit „I Wish“, die Sprecherin sagt gut gelaunt über diese Kohlenwasserstoffe: „Die schädigen das Erbgut und gelten als krebserregend“, und dann setzen die fröhlichen fetten Bläser ein.
Peter Frey konnte überhaupt nicht verstehen, wie ich diese tolle ZDF-Dokumentation, die doch wirklich viele kritische Punkte anspreche, als peinlich, werblich und industrienah empfinden konnte.