„Spiegel Online“ und ein angeblicher erster Erfolg der Sanktionen

Und dann war da noch der „Spiegel Online“-Artikel, der vermeldete, dass die verschärften Sanktionen gegen Russland, die der „Spiegel“ so vehement gefordert hat, womöglich schon erste Wirkung zeigen. Unter der Überschrift „Wie Russland auf die Sanktionen reagiert“ heißt es:

Was passiert, wenn Putin stur bleibt?

Die 28 EU-Mitgliedstaaten sind bereit, die Sanktionen nach der Dreimonatsfrist noch einmal zu verschärfen. Putin hat jetzt signalisiert, OSZE-Beobachter an der russisch-ukrainischen Grenze zuzulassen — möglicherweise ein Signal ersten Entgegenkommens. Oberstes Ziel bleibt, Moskau zu Respekt gegenüber den Grenzen und Souveränitätsrechten seiner Nachbarn anzuhalten.

Das kann nicht stimmen. Putin hat nicht jetzt erst signalisiert, OSZE-Beobachter an der Grenze zuzulassen. Russland hat sie bereits vor gut zwei Wochen eingeladen. Am 14. Juli 2014 meldete die Nachrichtenagentur AFP:

Im Streit um die Kontrolle der russisch-ukrainischen Grenze sandte Moskau derweil ein Signal der Entspannung. Russland lade „als Geste des guten Willens“ Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein, sich zu den Kontrollposten Donezk und Gukowo zu begeben, teilte das Außenministerium mit. Zuvor war in einem russischen Grenzort ein Mann durch ein Geschoss getötet worden. Moskau machte die Ukraine dafür verantwortlich und drohte mit „irreversiblen Konsequenzen“.

Nach einigem Hin und Her beschloss die OSZE vor einer Woche einmütig (inklusive der Stimmen der Ukraine und Russlands) eine entsprechende Mission: 16 OSZE-Vertreter sollten „so schnell wie möglich“ an die Grenze geschickt werden und über die Situation an zwei russischen Grenzposten berichten.

Wir kommt also „Spiegel Online“ darauf, dass Putin jetzt einlenkte?

Auf meine Nachfrage erklärt die stellvertretende Chefredakteurin Barbara Hans:

An dieser Stelle war unser Text missverständlich formuliert. Unsere Autoren halten es aber — bei aller Vorsicht — für möglich, dass Putin die Einreiseerlaubnis vom Dienstag durchaus auch als versöhnliches Signal in Richtung Westen verstanden wissen will.

Wir werden den Satz folgendermaßen ändern und eine Anmerkung unter dem Text einfügen:

Putin hatte schon seit einigen Wochen signalisiert, OSZE-Beobachter an der russisch-ukrainischen Grenze zuzulassen. Dass russische Behörden sie am Dienstag einreisen und ihre Arbeit beginnen ließen, kann möglicherweise als ein Signal ersten Entgegenkommens verstanden werden.

Ja, möglicherweise.

Möglicherweise ist es auch nur die Umsetzung des von Russland vor einer Woche mitgetragenen Beschlusses der OSZE.

Und möglicherweise ist es ein Problem, dass der „Spiegel“ und „Spiegel Online“ so sehr von der Notwendigkeit und Wirksamkeit schärferer Sanktionen überzeugt sind, dass sie deren Erfolge schon herbeizuschreiben versuchen.

[via Mopperkopp]

„Spiegel“ verschärft Umfrageergebnis zu Sanktionen gegen Russland

Angeblich ist eine Mehrheit der Deutschen für härtere Sanktionen gegen Russland, selbst wenn das „viele Arbeitsplätze“ in Deutschland kosten würde. So berichtete es der „Spiegel“ am vergangenen Wochenende unter Berufung auf eine Umfrage, die er selbst bei TNS-Infratest in Auftrag gegeben hat. Und so meldeten es Nachrichtenagenturen treuherzig unter Berufung auf das Nachrichtenmagazin weiter.

In der Vorabmeldung heißt es:

Nach einer TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL sind 52 Prozent der Deutschen für härtere Sanktionen, selbst wenn das „viele Arbeitsplätze“ in Deutschland kosten würde.

(Alle Hervorhebungen von mir)

Ebenso in der Titelgeschichte von Benjamin Bidder im „Spiegel“ selbst:

Nach einer Umfrage für den SPIEGEL sind 52 Prozent der Deutschen für härtere Sanktionen, selbst wenn das „viele Arbeitsplätze“ in Deutschland kosten würde.

Bei „Spiegel Online“ ist die Formulierung leicht variiert, läuft aber auf denselben Sinn heraus:

Berlin/Moskau – Sollen nach dem Abschuss des malaysischen Flugs MH17 die Strafmaßnahmen gegen Russland verschärft werden? Ja, sagen die meisten Deutschen. 52 Prozent sprechen sich laut einer TNS-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL für schärfere Sanktionen aus, selbst wenn dies den Verlust „vieler Arbeitsplätze“ in Deutschland bedeuten würde.

Das entspricht aber nicht der Frage, die TNS-Infratest gestellt hatte. Die lautete wörtlich:

Nach dem Abschuss einer malaysischen Passagiermaschine über der Ukraine werden neue Wirtschaftssanktionen gegen Russland gefordert. Was meinen Sie: Sollten die Sanktionen verschärft werden, auch wenn dadurch viele Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet wären?

Abgesehen davon, dass der Vorsatz manipulativ wirkt, hat der „Spiegel“ die Bedingung im Nachhinein verschärft. Er hat die Befragten mit der Folge konfrontiert, dass viele Arbeitsplätze „gefährdet“ sind. Er behauptet aber, er hätte sie mit der Folge konfrontiert, dass viele Arbeitsplätze verloren gehen.

Ich gehe davon aus, dass beim „Spiegel“ der Unterschied zwischen einer Gefährdung und einem Verlust bekannt ist. Und dass man auch beim „Spiegel“ weiß, dass es bei Umfragen und der Interpretation ihrer Ergebnisse entscheidend ist, wie genau eine Frage formuliert wurde.

Der Pressekodex sieht deshalb in Richtlinie 2.1 ausdrücklich vor, bei der Veröffentlichung von Umfrageergebnissen „die Fragestellung“ mitzuteilen. Der „Spiegel“ tat dies nicht und formulierte die Frage, anstatt sie einfach wörtlich zu zitieren, leicht um.

Ich nehme nicht an, dass das ohne Absicht geschah. Das Ergebnis sollte noch eindrucksvoller klingen; es sollte noch größeren Druck auf die Politik bewirken.

 

Nachtrag, 31. Juli, 16:30 Uhr. Die „Spiegel“-Chefredaktion erklärt mir:

„Sie weisen zu Recht auf eine Differenz zwischen der Frage hin, die von TNS-Infratest im Auftrag des SPIEGEL gestellt wurde, und der Formulierung auf Seite 72 im aktuellen Heft. Es hätte auch im Artikel korrekt heißen müssen „(…) wenn dadurch viele Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet wären?“ und nicht „(…) viele Arbeitsplätze in Deutschland kosten würde?“. Es handelt sich um ein Versehen, das wir bedauern und richtigstellen werden, sowohl in der nächsten Ausgabe des SPIEGEL als auch in den auf SPIEGEL ONLINE erschienenen Beiträgen (dies ist inzwischen geschehen). Selbstverständlich hatten die Kollegen bei der Formulierung nicht die Absicht, die Aussage der Umfrage zu verändern oder zu verfälschen.“


Wie der „Spiegel“ mit dem Vorwurf der „Kriegshetze“ umgeht

Immerhin: Totstellen war diesmal für den „Spiegel“ offenbar keine Lösung mehr. Zu groß waren die Proteste gegen seine aktuelle, der „Bild“-Zeitung zum Verwechseln ähnlich sehende Titelgeschichte. Doch die Reaktion im SPIEGELblog ist nur ein weiteres eindrucksvolles Dokument der Unfähigkeit des Nachrichtenmagazins, mit seinen Lesern in einen Dialog einzutreten und auf Kritik einzugehen.

Auf dem Cover benutzt der „Spiegel“ die Toten des über der Ukraine abgestürzten Air-Malaysia-Flugzeuges, deren Fotos er sich irgendwo zusammengeklaubt hat, um die Forderung zu schreien: „STOPPT PUTIN JETZT!“ Die Kritik daran ist vielstimmig und wird offenbar auch von „Spiegel“-Redakteuren vorgebracht. Der „Spiegel“ aber entscheidet sich, die Kritiker als erstes zu diskreditieren.

Das Titelbild des aktuellen SPIEGEL mit der Zeile „Stoppt Putin jetzt!“ hat einige heftige Reaktionen ausgelöst — insbesondere in sozialen Netzwerken. Darunter waren auch organisiert auftretende, anonyme User, die schon seit Monaten jegliche Kritik an Russland mit einer Flut an Wortmeldungen in den Foren vieler Online-Medien kontern.

Ich will gar nicht ausschließen, dass auch ein organisierter pro-russischer Mob online Sturm lief gegen das Cover. Aber wenn das die Masse der Kritik ausmachen würde, hätte der „Spiegel“ nicht mit einem eigenen Blog-Eintrag „in eigener Sache“ reagieren müssen, denn die wird er eh nicht überzeugen.

Diejenigen, die er aber überzeugen wollen müsste, die Leser und Kritiker, die nicht namenlos und nicht organisiert sind, die steckt der „Spiegel“ gleich im zweiten Satz in eine Schublade mit Putins angeblichen Online-Trollen. Bevor er sich mit ihrer Kritik auseinandersetzt, diskreditiert er die Kritiker. Schlau ist das nicht.

Weiter im Text:

Während manche Nutzer die russische Politik in der Ukraine verteidigten, warfen einige besonders erregte Nutzer dem SPIEGEL vor, das Titelbild sei „kriegstreiberisch“. Das ist eine absurde Behauptung, die weder durch das Titelbild gedeckt wird noch durch die Artikel im Heft.

Oho, manche Nutzer sind „besonders erregt“. Sind sie sicher, aber können wir kurz einmal festhalten, wer auch besonders erregt ist? Dieses „Spiegel“-Cover.

Der SPIEGEL spricht sich in seiner Titelgeschichte dafür aus, Putin und den prorussischen Separatisten in der Ukraine Einhalt zu gebieten — und zwar ausschließlich mit harten wirtschaftlichen Sanktionen und ausdrücklich nur mit nichtmilitärischen Mitteln.

„Ausdrücklich“? Ich habe die Stelle nicht gefunden, an der die „Spiegel“-Titelgeschichte militärische Mittel ausdrücklich ausschließt, will aber nicht ausschließen, dass ich da einen Halbsatz übersehen habe.

Der „Spiegel“ schreibt in seinem Leitartikel:

Eine Garantie, dass Sanktionen schnell zum gewünschten Ergebnis führen, gibt es dennoch nicht. In einer ersten Reaktion könnte Putin um sich schlagen, einen überraschenden Gegenzug versuchen — aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass er mittelfristig nachgeben müsste.

Mit anderen Worten: Der „Spiegel“ selbst räumt ein, dass Sanktionen vermutlich kein schneller Weg sind, Putin zu stoppen. Auf der Titelseite aber steht in der größten Lautstärke, die man sich für das Blatt überhaupt vorstellen kann, die Forderung, Putin „JETZT!“ zu stoppen. „JETZT!“ mit Sanktionen, die wahrscheinlich mittelfristig wirken könnten?

Das Cover illustriert nicht die Forderung nach Wirtschaftssanktionen. Das Cover suggeriert, dass jetzt etwas getan werden, das Putin unmittelbar zum Ändern seiner Politik zwingt. Tja, was könnte das sein? Krieg nicht, sagt der „Spiegel“, denn das da hinein zu lesen, wäre „absurd“.

Der „Spiegel“ verteidigt das Cover weiterhin so:

Diese Forderung [des „Spiegels“ nach Sanktionen] ähnelt der veränderten Haltung der Bundesregierung, die solche Sanktionen an diesem Dienstag im Rahmen der EU mitbeschlossen hat — und auch der von 52 Prozent der Deutschen, die laut einer repräsentativen SPIEGEL-Umfrage Sanktionen auch dann unterstützen würden, wenn sie Arbeitsplätze kosten sollten.

Ah, das Cover, in dem der „Spiegel“ in lautesten Tönen danach ruft, Putin jetzt zu stoppen, illustriert also nur die Haltung der Bundesregierung. Der „Spiegel“ hat die Haltung der Bundesregierung und einer angeblichen knappen Mehrheit der Bevölkerung einfach mal in ein Cover gegossen. Es ist kein schriller Appell, wie man als unbefangener Leser denken könnte, sondern die Titelbildwerdung der Position der Bundesregierung, die die Position des „Spiegels“ ist.

Es ist ein völliger argumentativer Bankrott.

Zum Glück hört der „Spiegel“ nun aber auch schon wieder damit auf, scheinbar auf die Kritik an sich einzugehen, und veröffentlicht stattdessen online einfach den „Leitartikel“ aus dem gedruckten Heft.

Dieser Leitartikel beginnt so:

Die Absturzstelle von Flug MH17 ist ein Albtraum, der Europa heimsucht. Noch immer liegen Leichenteile zwischen Sonnenblumen. 298 Unschuldige sind hier ermordet worden, die Welt wurde Zeuge, als marodierende Banditen in Uniform die Toten bestahlen, ihnen die Würde nahmen.

Hier, in der ostukrainischen Einöde, hat sich Putins wahres Gesicht gezeigt. Der russische Präsident steht enttarnt da, nicht mehr als Staatsmann, sondern als Paria der Weltgemeinschaft. Die Toten von Flug MH17 sind auch seine Toten, er ist für den Abschuss mitverantwortlich, und es ist nun der Moment gekommen, ihn zum Einlenken zu zwingen – und zwar mit harten wirtschaftlichen Sanktionen.

Niemand im Westen zweifelt noch ernsthaft daran, dass das Flugzeug mit einem Buk-Luftabwehrsystem abgeschossen wurde, das die Separatisten höchstwahrscheinlich aus Russland erhalten haben. Einer ihrer Anführer hat selbst zugegeben, dass sie über ein solches System verfügten, und die Indizienkette ist eindeutig.

Der Abschuss von MH17 mag ein tragisches Versehen gewesen sein. Wer die Rakete abfeuerte, wollte vermutlich kein Verkehrsflugzeug treffen. Doch der Abschuss ist die direkte Folge davon, dass Russland die Separatisten in den vergangenen Wochen militärisch aufgerüstet hat. Er ist ein Symbol für die Ruchlosigkeit Putins – und für das Versagen der bisherigen westlichen Politik. Die Trümmer von MH17 sind auch die Trümmer der Diplomatie.

Ist das nicht eine erstaunliche Kombination von absoluter Sicherheit, wer der Verantwortliche für die Toten ist (Putin), mit Wörtern wie „höchstwahrscheinlich“ und „Indizien“ und „mag gewesen sein“ und „vermutlich“?

Es gibt so viele Stellen in diesem Text, an die sich Zweifel knüpfen. Zum Beispiel die Sache mit den „marodierende Banditen in Uniform“, die „die Toten bestahlen, ihnen die Würde nahmen“. Richtig ist, dass die Welt scheinbar Zeuge wurde, wie zum Beispiel einer der Separatisten stolz das Stofftier eines der Opfer in die Höhe hielt. Später stellte sich allerdings heraus, dass das einzelne Foto womöglich nicht die ganze Geschichte erzählt.

Und dann gibt es zum Beispiel diese Reuters-Meldung, wonach der Chef einer niederländischen Mannschaft, die die Toten identifizieren sollte, die Arbeit der örtlichen Rettungsmannschaften sehr lobte.

Ich weiß nicht, wie es war. Ich weiß nicht, ob da nur ein paar Geschichten über das Verhalten der Separatisten falsch oder übertrieben waren, aber die grundsätzliche Bewertung als plündernde, skrupellose „Banditen in Uniform“ richtig ist. Ich weiß es nicht. Ich bräuchte Medien, denen ich vertrauen könnte. Bei denen ich das Gefühl hätte, dass sie mir auch Dinge erzählen, die den dominierenden Gut-Böse-Vorstellungen über diesen Konflikt vielleicht widersprechen. Medien, die die Welt nicht übersichtlicher machen als sie ist. Und die auf Kritik an ihrer Berichterstattung nicht mit durchsichtigen Ablenkungsmanövern reagieren.

Also nicht diesen „Spiegel“.

Vielleicht ließe sich einiges davon in einem Diskurs klären. Vielleicht könnte der „Spiegel“ erklären, welche Szenen von marodierenden Banden er genau meint, welche „Indizien“ für den Abschuss er für überzeugend hält und welche für Propaganda. Womöglich würde das Menschen, die ihn kritisieren, überzeugen. Nicht alle, aber ein paar.

Und vielleicht wären selbst die, die am Ende nicht überzeugt wären, beeindruckt, dass der „Spiegel“ für seine Überzeugung kämpft, indem er argumentiert und mit denen, die ernst zu nehmende Kritik an seiner Haltung üben, in einen Dialog eintritt.

Aber der „Spiegel“ diskutiert und argumentiert nicht. Er lädt nicht zum Gespräch oder zum Streit ein. Er sagt: Lest unseren Leitartikel und haltet die Klappe.

[Offenlegung: Ich habe das „Spiegelblog“ vor zwei Jahren für den „Spiegel“ entwickelt. Im Frühjahr 2013 habe ich meinen Vertrag beim „Spiegel“ gekündigt.]

Islamhassender „BamS“-Vize erschreibt sich „herrlichen Shitstorm“ und eine Art Abmahnung

Kommentare müssen polarisieren, subjektiv sein, auch mal wehtun. Nur das macht gute Kommentare aus.

Nicolaus Fest am 28. Mai im österreichischen „Standard“

Der stellvertretende Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, Nicolaus Fest, hat heute von Kai Diekmann, dem Herausgeber des Blattes, eine Art öffentliche Abmahnung bekommen. In dem Kommentar, der morgen in der gedruckten „Bild“-Zeitung erscheint und in dem Diekmann den Eindruck erweckt, auch im Namen des Unternehmens Axel Springer zu schreiben, wird Fests pauschale Ablehnung von Islam und Moslems als unvereinbar mit den Grundsätzen der „Bild“-Zeitung und des Verlages dargestellt.

Diekmann schreibt:

Bei BILD und Axel Springer ist (…) kein Raum für pauschalisierende, herabwürdigende Äußerungen gegenüber dem Islam und den Menschen, die an Allah glauben.

Wer eine Religion pauschal ablehnt, der stellt sich gegen Millionen und Milliarden Menschen, die in überwältigender Mehrheit friedlich leben.

Genau solche Auseinandersetzung entlang religiöser Grenzen wollen wir NICHT. Wir wollen sie nicht führen, nicht befördern und nicht herbeischreiben. Denn sie enden immer verheerend – das hat die Geschichte oft genug gezeigt!

All das, was Diekmann da aufzählt, hatte Nicolaus Fest in einem Leitartikel in der heutigen „Bild am Sonntag“ getan. Er schrieb:

Ist Religion ein Integrationshindernis? Mein Eindruck: nicht immer. Aber beim Islam wohl ja. Das sollte man bei Asyl und Zuwanderung ausdrücklich berücksichtigen!

Ich brauche keinen importierten Rassismus, und wofür der Islam sonst noch steht, brauche ich auch nicht.

Deutlicher kann man die pauschale Ablehnung einer Religion und ihrer Gläubigen kaum formulieren. Es geht Fest nicht nur um „Zwangsheiraten, ‚Friedensrichter‘, ‚Ehrenmorde'“, die es im Islam zweifellos gibt. Es geht ihm um den Islam als ganzes. Er geht soweit, zu suggerieren, dass man doch vielleicht das Gewähren von Asyl auf Nicht-Muslime beschränken könnte, was nicht nur viel über sein Bild von Moslems sagt, sondern auch über seine Vorstellung, was das Grundrecht auf Asyl eigentlich bedeutet.

Fests Aufruf zu weniger Toleranz folgt für ihn offenkundig unmittelbar aus dem plakativen Appell der „Bild“-Zeitung am vergangenen Freitag, Antisemitismus in Deutschland nicht schweigend hinzunehmen. Viele Prominente und Politiker hatten sich in die entsprechende „Bild“-Kampagne einspannen lassen. Einzelne davon forderten „Bild“ heute immerhin auf, sich für Fests Äußerungen zu entschuldigen.

Der Grüne Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu nennt den „Bild am Sonntag“-Kommentar Fests in einem Gastkommentar für die morgige „Bild“-Zeitung „Rassismus pur“:

Die Hasstiraden des Autors schüren ohne Not Vorurteile, Ängste und Menschenfeindlichkeit.

Nicolaus Fest hatte sich vorher auf Twitter noch über die Aufmerksamkeit gefreut:

Auch Marion Horn, die Chefredakteurin der „Bild am Sonntag“, hatte Fests Kommentar zunächst noch mit dem Hinweis auf „Meinungsfreiheit bei Springer“ verteidigt und behauptet, Fest sei „kein Islamhasser“ und „nicht hasserfüllt!!!“:

Erst Stunden später schwenkte sie dann auf die Linie Kai Diekmanns um und twitterte:

Warum sie sich bloß für den „entstandenen Eindruck“ entschuldigte und nicht einfach für den Kommentar um Entschuldigung bat, der diesen „Eindruck“ nicht nur provozierte, sondern unzweifelhaft islamfeindlich war, weiß ich nicht.

Dann reden wir mal über Nicolaus Fest. Der Sohn des bekannten früheren FAZ-Herausgebers Joachim Fest arbeitet seit Jahren daran, sich einen Ruf als kompromissloser Hardliner und vermeintlicher „Klartext“-Sager zu erarbeiten, leider bislang ohne die öffentliche Aufmerksamkeit dieses Sonntags.

Die rechte Szene rund um das Hetzblog „Politically Incorret“ hat ihn schon vor Jahren für seine Bild.de-Texte gefeiert. In seiner früheren Kolumne „HIEB- UND STICHFEST“ polemisierte er immer wieder gegen Zuwanderung und Integration von Ausländern in Deutschland. Um aus dem BILDblog von 2008 zu zitieren:

Vorläufiger Höhepunkt war sein Beitrag in der vorigen Woche, in den man, wenn man wollte, fast ein Lob des Völkermordes lesen konnte. Fest rühmt darin die „Vorteile homogener Gesellschaften“ und argumentiert, dass die Beseitigung von kultureller Vielheit Gesellschaften „Frieden und Stabilität“ bringen könne.

Die preisgekrönte Reporterin und Autorin Carolin Emcke urteilt über seinen Text: „Das gab es so explizit wirklich lange nicht mehr zu lesen von Autoren, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Es ist ein pseudohistorisch verkleideter Rassismus und eine gar nicht verkleidete Aufforderung zur Homogenisierung unserer offenen Gesellschaften.“

Ihr Gastbeitrag ist gerade auch im Kontext der aktuellen Diskussion um Fest lesenswert. Seine radikalen Ansichten waren kein Geheimnis. Er veröffentlichte sie auf Bild.de.

Nun wäre es falsch, Nicolaus Fest auf seine Ablehnung des Islam zu reduzieren. Man sollte auch seine Kaltblütigkeit und Ahnungslosigkeit würdigen, mit der er die Exzesse der Berichterstattung nach dem Amoklauf von Winnenden verteidigte (in Anwesenheit der Mutter eines der dabei getöteten jungen Frau). Oder die Art, wie er gegen die Resozialisierung ehemaliger Terroristen wetterte.

Fakten sind auch nicht so seins. Oder Textverständnis.

Er formuliert mit einer Schärfe, Gnadenlosigkeit und Übertreibung, die selbst im „Bild“-Kosmos gelegentlich auffällt. Eine spätere Kolumnenreihe von ihm hieß „Fest(e) drauf“.

Vor der Umstellung der Gebühren für ARD und ZDF kündigte er 2010 an, dass das neue System die Zahler jährlich „einige Milliarden mehr“ kosten würde. 2013, als sich herausstellte, dass es tatsächlich Mehreinnahmen in Höhe von 0,3 Milliarden Euro jährlich wurden (die ARD und ZDF nicht behalten bzw. verwenden dürfen), sprach er von einem „Betrug“.

Zur Debatte um die Skandal-Rede von Sibylle Lewitscharoff twitterte er:

Aber das ist natürlich Kinderkram im Vergleich zu seiner Ablehnung von Integration und seinen Ressentiments gegen Moslems. Die Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus kann er nicht nachvollziehen. Damit und mit seinem „BamS“-Leitartikel straft er Kai Diekmann Lügen, der behauptet, „für BILD und Axel Springer gab und gibt es bei all diesen Debatten eine klare, unverrückbare Trennlinie zwischen der Weltreligion des Islam und der menschenverachtenden Ideologie des Islamismus“.

Eben nicht. (Den „BamS“-Artikel, der Anlass für den Kommentar ist, erwähnt Diekmann mit keinem Wort.)

Ob Fests Durchbrechen dieser „unverrückbaren Trennlinie“ irgendwelche Konsequenzen hat, wollte Diekmann heute nicht sagen. Meine Feststellung, dass er sich, wenn Diekmann es ernst meinte mit seinem „Kein Platz für“, nun einen neuen Arbeitgeber suchen müsste, konterte Diekmann mit: „So ein Quatsch!“

Nachtrag, 3. August. „Bild am Sonntag“-Chefredakteurin versucht in der heutigen Ausgabe den vielfachen Rittberger:

Es ist der Eindruck entstanden, dass sich BILD am SONNTAG gegen den Islam stellt. Das ist nicht so! Dass dieser Eindruck entstanden ist, bedaure ich sehr. (…)

Aber in unserem Verlag ist es möglich, unterschiedliche Meinungen zu haben. Deshalb habe ich mich als Chefredakteurin für den Abdruck entschieden. Wohl eine Fehleinschätzung, denn wir haben mit diesem Kommentar viele Menschen verletzt. (…)

Ich bitte alle Menschen um Entschuldigung, die sich durch uns gekränkt fühlen.

Mittlerweile bin ich dankbar für die heftigen Reaktionen, die wir ausgelöst haben. In der Öffentlichkeit, in Politik, Verlag, in unserer Redaktion, in unseren Familien. Lange ist über dieses wichtige Thema nicht mehr so offen und kontrovers diskutiert worden.

Vielleicht sorgt unser Kommentar am Ende dafür, dass Missverständnisse ausgeräumt werden und wir lernen, eine offene Debattenkultur zu entwickeln. Das muss unsere demokratische Gesellschaft aushalten, das muss BILD am SONNTAG aushalten.

„Bild‘-Hasser sind kein Stück besser als Homo-Hasser“

Es ist an der Zeit, über eine Gruppe von Menschen zu reden, denen übel mitgespielt wird in unserer Gesellschaft. Die regelmäßig Opfer von Diskriminierung werden. Die Ablehnung und Benachteiligung erfahren, nicht für das, was sie sind, homosexuell oder behindert oder Ausländer. Sondern unfassbarerweise für das, was sie tun. Die sich immer wieder dasselbe Max-Goldt-Zitat anhören müssen. Und das nur, weil sie sich entschieden haben, für ein ekliges Lügenblatt zu arbeiten.

Die armen Mitarbeiter der „Bild“-Zeitung.

Unschuldige Menschen wie Matthias B. Ein junger Mensch, der, wie immer mehr junge Menschen, über die Axel-Springer-Akademie da hineingeschlittert ist. Schon während der Ausbildung schrieb er für Bild.de und entdeckte — vielleicht — einen Außerirdischen auf dem Mars. Seit Anfang des Jahres ist er Redakteur bei „Bild“.

Gerade musste er auf Twitter erleben, dass es Menschen gibt, die deshalb nichts mit ihm zu tun haben wolle.

Es begann mit dem Tweet eines „Ben“, der den Regierungssprecher fragte, wie die Bundeskanzlerin die Beschränkung des Adoptionsrechtes für Homosexuelle rechtfertigte, wenn neueste Studien doch wieder belegten, dass Homos das Kindeswohl nicht gefährden. Matthias B. reagierte mit der Bemerkung:

Na die Studie möchte ich gern mal sehen.

Anstatt ihm das schwierige Googlen zu ersparen und einfach einen Link zu schicken — zum Beispiel zur aktuellen Antwort auf eine Anfrage der Grünen, in der die Bundesregierung erklärt, dass sich laut einer Studie, die sie für aktuell und aussagekräftig hält, „Kinder und Jugendliche in Regenbogenfamilien ebenso gut entwickeln wie Kinder in anderen Familienformen“ — pöbelte „Ben“ Matthias B. wegen seiner Arbeit für die „Bild“-Zeitung an.

Matthias B. fand das bigott: Gegen die Diskriminierung von Homosexuellen sein, aber für die Diskriminierung von „Bild“-Mitarbeitern. Er fragte:

Schon mal drüber nachgedacht, dass deine Vorurteile so schlimm sind, wie die eventuellen bei Merkel?

Und legte ironisch nach:

Leute, die gegen Vorurteile z. B. gegen Homosexuelle kämpfen und dann Vorurteile ggü. Berufsgruppen haben … I like

An dieser Stelle mischte sich mein Freund Michalis Pantelouris in die Diskussion:

Ich verwehre mich absolut dagegen, dass Vorurteile gegen die BILD-Gruppe ein Vorurteil gegen eine Berufsgruppe ist.

Matthias B.:

Fakt ist, Vorurteile sind scheiße, vor allem unbegründete. BILD-Hasser sind kein Stück besser als Homo-Hasser.

Nur 110 Zeichen, aber man weiß gar nicht, wo man anfangen, geschweige denn aufhören soll mit dem Antworten.

Zwei gute Vorschläge kamen von Björn Stroiczek:

Für die @bild zu arbeiten, ist also ein Persönlichkeitsmerkmal. Mir wird einiges klar.

und von Marc Haisenko:

Okay… dann ist also bei der BILD zu Arbeiten eine Veranlagung? Ich glaube, das könnte sogar stimmen.

Matthias B. aber antwortete nicht mehr auf die Tweets von Pantelouris und erklärte das auf Nachfrage wie folgt:

Sorry, ich diskutiere nicht mit Spinnern, die MENSCHEN aufgrund ihres Jobs, Hautfarbe oder Sexualität diskriminieren.

Die Reihung „Job, Hautfarbe, Sexualität“ ist in der Aufzählung nicht zu diskriminierender, äh, Eigenschaften eines Menschen durchaus selten (insbesondere, da es genauer ja „Arbeitgeber, Hautfarbe, Sexualität“ heißen müsste), aber vielleicht gibt es da ja in den Menschenrechts-Chartas der Welt eine bislang nicht beachtete Lücke.

„Jo_Welex“ twitterte als Reaktion:

Und ich dachte immer,BILD „hassen“ ist Zeichen geistiger Reife, und Homos-hassen das Gegenteil

Pantelouris schrieb dann noch:

Bei @bild nennt man Menschen Spinner, wenn sie finden, Homo-Hass ist schlimmer als BILD-Hass

Und B. antwortete:

Genau das hab ich eben nicht geschrieben! Genau lesen und richtig stellen, bitte. #tatsachenverdreher #zitatefaelscher

… löschte den Tweet aber wieder.

Und da stehen wir nun, wir Möchtegern-Gutmenschen und Anti-Diskriminierungs-Kämpfer und müssen feststellen, dass es Gruppen gibt, denen es noch viel schlimmer ergeht; die nicht einmal als Diskriminierte anerkannt werden. Menschen, über die andere Menschen negative Urteile fällen, obwohl sie sie womöglich gar nicht kennen und nichts über sie wissen, außer dass sie bei einer Zeitung arbeiten, die ihre Skrupellosigkeit, Gewissenslosigkeit und Verantwortungslosigkeit im Laufe der Jahre so gründlich bewiesen hat wie in Deutschland keine Zweite.

Grüner wird’s nicht: „Frontal 21“ sagt es durch die Blume

Ich möchte wetten, dass in den Redaktionsräumen von „Frontal 21“ beim ZDF in jedem Büro der Spruch „Vordergrund macht Bild gesund“ eingerahmt an der Wand hängt. Und ich möchte weiter wetten, dass die Kamerateams von „Frontal 21“ zum Dreh eigene Grünpflanzen mitbringen, nur für den Fall, dass vor Ort keine vorhanden sind.

Ich hab das jetzt nicht weiter recherchiert. Ich bin nur gestern beim Zappen zufällig in den „Frontal 21“-Bericht über die Zumutung der Schufa-Auskunft geraten, dessen Schlüsselszenen ich im Folgenden dokumentieren möchte:















 

Nachtrag, 24. Juli. Es stellt sich heraus: Der „Frontal 21“-Beitrag war nur die Kurzform einer halbstündigen „ZDFzoom“-Sendung zum Thema. Oder anders gesagt:












Screenshots: ZDF

Der „Spiegel“ wird Qualitätsansprüchen gerecht

Können wir noch einmal über das „Spiegel“-Gespräch mit Christian Wulff reden? Man erfährt daraus ja nicht nur, wie in den vergangenen Tagen breit diskutiert wurde, viel Erstaunliches darüber, wie der frühere Bundespräsident sich und die Welt sieht. Sondern auch über das Selbstverständnis von „Spiegel“-Journalisten.

Das beginnt bei deren lesbaren Erstaunen, dass Wulff die Gelegenheit dieses Gespräches nutzen wollte, ihnen Vorwürfe zu machen. In einer Art Vorwort zu dem Interview schreiben sie:

Der SPIEGEL hat mit seinen Recherchen zum Sturz des Bundespräsidenten beigetragen, er zählt für Wulff zu den Hauptschuldigen an seinem Untergang. Das Recht von Journalisten ist es, Fragen zu stellen — dass sie sich selber Fragen ausgesetzt sehen, kommt seltener vor.

Vielleicht ist das wirklich so, auch im Sommer 2014 noch, in der Wahrnehmung der Welt durch den „Spiegel“: Dass es „seltener“ vorkommt, dass Journalisten sich Fragen ausgesetzt sehen. In meiner Welt sehen sich Journalisten ununterbrochen Fragen ausgesetzt. In meiner Welt werden Journalisten mit kritischen Fragen bombardiert, bzw. teilweise schon nicht mehr bombardiert, weil bei einem größeren Teil des Publikums der Vertrauensverlust in die Medien schon so groß geworden ist, dass sie gar nicht mehr fragen, weil sie keine Antworten erwarten.

Aber für den „Spiegel“ scheint das eine ganz neue Erfahrung zu sein, dass ein Gesprächspartner sich nicht nur zum Verhör meldet, sondern zurückbeschuldigt. Die „Spiegel“-Leute können damit anscheinend nicht gut umgehen, sonst würden sie das nicht so betonen:

In diesem Fall ist ein SPIEGEL -Gespräch auch ein Gespräch über die Rolle des SPIEGEL geworden. Weil Wulff seine Vorwürfe direkt gegen die ihn Befragenden richtet, bleibt die Kritik natürlich nicht unwidersprochen.

Natürlich nicht. Was sind das für ungelenke Sätze und unentspannte Vorab-Entschuldigungen? Wie schwer kann es denn sein, sich einfach zu streiten?

Immerhin scheint man auch beim „Spiegel“ gemerkt zu haben, dass die Berichterstattung über Wulff damals bei Teilen des Publikums auf Ablehnung stieß. Er formuliert es so: Viele Bürger seien in der Beurteilung des Falls unsicher gewesen, „weil sie die Einhelligkeit in der medialen Bewertung störte“. Und schreibt:

Neben den eigentlichen Vorwürfen, die Wulff, 55, schließlich das Amt kosteten, ging es von Anfang an auch um die Rolle der Presse, die ihn mit Recherchen zu seinem privaten Finanzverhalten in Schwierigkeiten brachte. Da diese Debatte ebenfalls über die Medien ausgetragen wurde, stellte sich für viele Beobachter die Frage nach der Unparteilichkeit der sogenannten vierten Gewalt: Wie unvoreingenommen können Journalisten noch berichten, wenn ihr eigenes Verhalten infrage gestellt wird?

Was ist das denn für eine Frage? Ich möchte gar nicht wissen, wie viele „Spiegel“-Instanzen daran herumformuliert hatten, bis daraus diese sinn- und harmlose Wortfolge wurde. Die Unvoreingenommenheit von Journalisten ist doch nicht dadurch bedroht, dass ihr Verhalten infrage gestellt wird. Der Vorwurf war — um das einmal kurz als Service für die „Spiegel“-Leute zu rekapitulieren — dass die Journalisten nicht unvoreingenommen waren und sind; dass sie sich auf eine gemeinsame Jagd auf Wulff begeben hätten und nicht eher Ruhe geben würden, bis das Wild erlegt war.

Noch einmal: Der „Spiegel“ schreibt, dass es Journalisten womöglich schwerer fällt, unabhängig zu berichten, wenn ihr Verhalten in Frage gestellt wird? In welchem Paralleluniversum ergibt das Sinn? Und wieso weiß der „Spiegel“ nicht, dass die Arbeit von Journalisten ununterbrochen in Frage gestellt wird, und zwar: zu recht?

Gut, vielleicht stellen „Spiegel“-Journalisten ihre Arbeit weniger in Frage als andere, aber sie müssten doch gemerkt haben, dass andere es tun. Verzeihung, wenn ich mich da in Rage schreibe, aber nach meiner Überzeugung ist es eine wesentliche Aufgabe von Journalisten, Dinge in Frage zu stellen, warum sollten nun ausgerechnet Journalisten davon als Objekt ausgenommen sein und warum sollte es bei ihnen etwas Schlechtes sein?

Man kann den Verlauf des eigentlichen Gesprächs mit Wulff dann vielleicht am besten so erklären, dass sich beide Seiten Zugeständnisse vom Gegenüber erhofft hatten, ein bisschen Einsicht in die Fehler, die begangen wurden. Wulff räumt dabei, obwohl er sich weiter zutiefst ungerecht behandelt fühlt und als Opfer sieht — an vielen Stellen Fehler und Versäumnisse ein. Der „Spiegel“ hingegen sieht kein Problem in seiner Berichterstattung und hat nichts falsch gemacht. Also: nichts. Im Sinne von: nichts.

„Spiegel“-Redakteur Peter Müller, der das Gespräch zusammen mit Christiane Hoffmann und Chefredakteur Wolfgang Büchner geführt hat, sagt dazu in einem Video:

Für uns beim „Spiegel“ kam hinzu, dass wir uns, vor allem was die entscheidende Phase vor Wulffs Rücktritt angeht, nichts vorzuwerfen haben, was unsere Berichterstattung angeht. Dies war uns in dem Interview auch wichtig, weil wir natürlich wussten, dass damals, was die Berichterstattung angeht, natürlich nicht nur drei, vier Kollegen, sondern ein ganzes Team von zehn, 15 Leuten sich immer wieder mit dem Fall Wulff beschäftigt hatten, und jeden Anwurf von Wulff, dass damals auf unserer Seite unsauber gearbeitet worden wäre, das war uns wichtig und entscheidend, dass wir den auch von uns gewiesen haben.

Das ist natürlich eine interessante Position, um in ein „Streitgespräch“ zu gehen: Die erklärte Absicht, in diesem Streit nicht auch nur den Hauch von Selbstkritik zuzulassen, was die eigene Rolle und die eigene Berichterstattung angeht. Und das umso mehr, als die drei Gesprächspartner Wulffs offenbar bewusst nicht die sein sollten, die damals wesentlich im „Spiegel“ über ihn berichtet haben. Umso weniger durften sie ihren Kollegen in den Rücken fallen und irgendwelche Unzulänglichkeiten und Übertreibungen von damals einräumen.

Es kommt dann in dem Gespräch (oder jedenfalls der fünf Wochen nach dem Interview vom „Spiegel“ veröffentlichten Version, auf die sich beide Seiten geeinigt habe) zu folgendem Wortwechsel:

SPIEGEL: Was hat die Berichterstattung, die Sie in den Wochen vor Ihrem Rücktritt erlebt haben, persönlich mit Ihnen gemacht?

Wulff: Ich habe mich entschieden, davon wenig preiszugeben. In meinem Buch zitiere ich einige besonders niederträchtige Artikel, da fragen sich die Leser selbst: Was hätte das mit mir gemacht?

SPIEGEL: Sie haben sehr viel Gewicht verloren.

Wulff: Ich bin damals regelrecht abgemagert, das war ungesund. Und wenn ich so wenig Einsicht bei Medienschaffenden sehe wie bei Ihnen in diesem Interview, brauche ich wohl noch ein paar zusätzliche Aufbaukurse.

SPIEGEL: Mit Verlaub, Herr Wulff, was haben Sie denn von uns erwartet? Einen Kniefall und eine Entschuldigung?

Puh. Sein Wort war „Einsicht“. Der „Spiegel“ hört: „Kniefall und Entschuldigung“.

Es scheint nicht möglich zu sein, mit diesen Leuten darüber zu reden, was damals schiefgelaufen ist, ob der Fall Wulff nicht auch für Journalisten, womöglich sogar für „Spiegel“-Journalisten, Anlass gibt, über die eigene Arbeit und die Wirkung nachzudenken. Ob man sich, rückblickend, wirklich jede hämische Formulierung, jedes vor Verachtung triefende Urteil Dirk Kurbjuweits, jede Empörung sogar über ein harmloses Titelbild der Präsidentengattin in einer Frauenzeitschrift, hätte leisten müssen. Ob man sich nicht tatsächlich auch in eine Art Rausch geschrieben hat und ob gelegentlich nicht auch ein paar Maßstäbe verrutscht sind. Und ob die Schilderungen Wulffs in seinem Buch, wie die Wucht eines so umfassenden und fast einmütigen medialen Angriffs auf denjenigen wirkt, der ihr ausgesetzt ist (so sehr er sie durch sein eigenes Handeln auch provoziert haben mag), nicht auch Grund wären, nachdenklich zu werden.

Nein, das kann man sich abschminken vom „Spiegel“, Selbstreflexion und Nachdenklichkeit, Selbstkritik und Zugeständnisse, oder wie man all das beim „Spiegel“ zu nennen scheint: „einen Kniefall“.

Kurz vor Schluss des veröffentlichten Gesprächs geht es noch einmal um die Macht der Medien:

Wulff: Mir war immer bewusst, dass ich als Aufsteiger unter besonderer Beobachtung stand. Ein Aufsteiger im höchsten Staatsamt, noch jung an Jahren, mit einer jungen, attraktiven Frau an seiner Seite, das war für viele an sich schon eine Provokation. Und die Journalisten interessierten sich für jedes Detail unseres Zusammenlebens; ein zwölfjähriges Mädchen in unserem Nachbarhaus fragten sie am Telefon aus, wie denn mein Verhältnis zu meiner Frau sei. Journalisten können gruselig sein.

SPIEGEL: Politiker haben ganz andere Machtmittel. SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein musste einst ins Gefängnis, weil Franz Josef Strauß unliebsame Berichterstattung verhindern wollte.

(Kurz einmal innehalten, um den zeitlichen und logischen Sprung, den die drei „Spiegel“-Leute hier machen, zu würdigen.)

Wulff: Heute haben sich die Kräfteverhältnisse umgekehrt.

SPIEGEL: Das sehen wir anders. Viele Medien haben heute gar nicht mehr die Mittel, um Regierungshandeln sinnvoll zu kontrollieren. Heute gibt es wahrscheinlich mehr Pressesprecher als festangestellte Redakteure in Tageszeitungen.

Wulff: Das Handeln der Regierung zu kontrollieren ist auch Aufgabe des Parlaments und der Justiz, nicht nur der Medien. Und weil Sie ein wichtiges und zwingend notwendiges Kontrollgremium sind, warum betreiben Sie dann immer häufiger die Personalisierung und die Skandalisierung? Warum zielen Sie immer häufiger auf die Person, die Familie, das Private? Manches Inhaltliche ist manchen vielleicht auch zu kompliziert oder sperrig für die Auflage.

SPIEGEL Sie scheren alle Medien über einen Kamm. Der SPIEGEL und viele andere Medien werden Qualitätsansprüchen gerecht.

Den letzten Satz mag ich. Sie haben sich trotz aller Überzeugtheit von sich selbst und ihrer Arbeit offenbar nicht getraut, ein Adjektiv einzusetzen. Sowas wie „höchsten“ oder gar „allen Qualitätsansprüchen“. Der „Spiegel“ und viele Medien werden irgendwelchen unbestimmten Qualitätsansprüchen gerecht.

Ja, darauf können wir uns einigen. Und das ist dann vermutlich auch der komplette Beitrag, den wir vom „Spiegel“ für den nicht nur von Wulff gewünschten „öffentlichen Diskurs über die Rolle der Medien im digitalen Zeitalter“ erwarten können.

Torresgate? So gingen die Deutschen 2008

Manchmal findet man erstaunliche Sachen auf YouTube. Und in Zeitungsarchiven.

Mathias Richel hat dieses Video von der Zweiter-Platz-Feier am Brandenburger Tor nach der EM 2008 ausgegraben:

Er twittert dazu:

EM 2008, die Nationalspieler singen am Brandenburger Tor „So gehen die Deutschen …“ und keinen interessiert’s.

Ein Kommentator unter dem Video sieht es ähnlich:

Damals hatten die FAZ/TAZ/SpiegelOnline-Redakteure noch keinen Stock im Arsch… kann mich an keinen Skandal aufgrund dieses Liedes erinnern… >.>

Nun täuscht ja so Erinnerung gerne. So auch in diesem Fall.

Der „Tagesspiegel“ nörgelte damals:

Es enterte dann allerdings Oliver Pocher die Bühne. Auch er sang. „Schwarz und weiß?“ und „So gehen die Deutschen“, den Spruch den die Nationalspieler auf ihren T-Shirts trugen. Da mussten dann alle mithüpfen. Und wer nicht unten im Fan-Pulk stand und sich mitreißen ließ, konnte schon den Eindruck bekommen, dass die Veranstalter ein wenig unwürdig mit ihren Hauptdarstellern umgingen.

Möglicherweise ist eben das der Grund für das schale Gefühl, dass sich gestern vor dem Brandenburger Tor eine Veranstaltung abspielte und keine herzliche Umarmung, wie damals im Sommer 2006.

Und die „FAZ“ nörgelte damals:

Im Vordergrund, anbiedernd dargeboten von den eigentlich zur Distanz verdonnerten „Journalisten“ Johannes B. Kerner und Monica Lierhaus moderiert, nimmt derweil die Vereinnahmung der Fankultur durch die Marketingstrategen ihren Lauf. Der DFB-Ausrüster klaut den beliebten Fan-Slogan „So gehen die Deutschen“, mit denen die Fans seit geraumer Zeit ihre Spieler nach Siegen im Stadion zu feiern pflegen, aus den Boxen dröhnt der „White Stripes“-Hit „Seven Nation Army“, die ehemalige Erkennungsmelodie der Ultrabewegung, die schon bei den Europameisterschaftsspielen als Einlaufmelodie missbraucht wurde.

Es kommt aber noch besser. Auch der DFB fand das damals angeblich doof. Die „Sport-Bild“ berichtete sechs Wochen später über die Party am Brandenburger Tor:

[Nationalmannschaft-Manager Oliver] Bierhoff: „Wir müssen noch mehr Einfluss und Kontrolle nehmen, was den Ablauf einer solchen Veranstaltung angeht. Das Fernsehen hatte viel vorgegeben, dazu gehörte auch der Auftritt von Oliver Pocher.“

Vor Millionen Fans am Fernseher und auf der Fanmeile hatte der TV-Komödiant die Spanier veralbert: „So geht Torres“, sang Pocher mit gedämpfter Stimme über den Siegtorschützen und schlurfte in gebückter Haltung über die Bühne. Dann sprang er auf und brüllte: „So gehen die Deutschen!“ Fans und Fußballer fanden den Ulk lustig. Die DFB-Funktionäre nicht.

„Bei solchen Auftritten müssen wir künftig darauf achten, dass eine gewisse Seriosität und der sportliche Charakter gewahrt bleiben“, räumt Bierhoff ein, der bei der WM erfolgreich ein Veto gegen Pochers Auftritt eingelegt hatte.

Warum der Manipulations-Skandal beim ZDF nur halb überraschend ist


Illustration: Dennis Horn

Wenn Oliver Fuchs, der Unterhaltungschef des ZDF, die Sache mit dem ADAC ein bisschen verfolgt hat, fängt er vielleicht schon mal an, private Dinge aus seinem Büro in Kartons zu packen. Denn wer auch immer da konkret die Entscheidung getroffen hat, die Umfrage-Ergebnisse bei der Wahl von „Deutschlands Besten“ zu manipulieren — die Verantwortung dafür liegt mindestens bei ihm.

Ich hätte jetzt einerseits nicht gedacht, dass in der Redaktion einer solchen Sendung tatsächlich plump von Hand die Ergebnisse verändert werden. Dass da Leute sitzen, die Sachen sagen wie: Komm, die Hannelore Kraft sitzt bei uns auf dem Sofa, lass uns die doch vor die von der Leyen schieben, ist doch viel netter. Und: Beckenbauer auf der 31? Das tut ihm doch weh. Das ist doch nicht schön. In die Top-Ten muss der mindestens. Und: Dass der RTL-Kloeppel vor unserem Kleber gelandet ist, muss doch keiner wissen, hier, zack, Platztausch.

Andererseits ist es, gerade wenn man die Shows gesehen hat, sowas von gar keine Überraschung, dass die Leute, die diese Sendungen gemacht haben, auf den Gedanken gekommen sind, das Ergebnis zu schönen.

Es war eine unglaubliche Lobhudelei, und das lag keineswegs nur an Moderator Johannes B. Kerner. Es gab an ungefähr keiner Stelle den Versuch, die „bedeutenden Menschen“ angemessen zu würdigen, sondern nur blinde blöde Verklärung. Tatsächlich ist es angesichts der Verklärung von Franz Beckenbauer zur „Lichtgestalt des deutschen Fußballs“ ein Wunder, dass er von der Redaktion nur auf Platz 9 (von 31) hochmanipuliert wurde und nicht gleich auf Platz 2 hinter dem vermutlich unvermeidlichen Helmut Schmidt.

Die Sendung war durchdrungen vom Willen zur Schönfärberei. Hinzu kam dann mindestens Dilettantismus — wenn es stimmt, wie das ZDF jetzt behauptet, dass der Redaktion erst im Laufe des Verfahrens auffiel, dass es schwer ist, eine repräsentative Umfrage in irgendeiner sinnvollen Form mit den Ergebnissen einer Abstimmung per Internet und Postkarte (!) zu kombinieren.

Wenn man das Verfahren eh schon klammheimlich ändert, warum nicht dann noch die Ergebnisse so anpassen, dass sie den Anwesenden gut gefallen und ihnen noch mehr schmeicheln, als es die Worthülsen Kerners und der Redaktion ohnehin tun?

In der Pressemitteilung des ZDF ist immer die Rede davon, dass es „die Redaktion“ war, die die diversen Entscheidungen getroffen und die Listen gefälscht habe. Ob damit die Verantwortlichen im Sender oder in der Produktionsfirma gemeint sind, bleibt offen. Das schöne Schlimme an der ganzen Sache ist: Es bleibt irgendwie in jedem Fall im Haus. Die Produktionsfirma Riverside Entertainment gehört indirekt je zur Hälfte dem ZDF und dem NDR. (Besitzer sind zu 49 Prozent die ZDF-Tochter ZDF Enterprises und zu 51 Prozent Studio Hamburg Productions, eine Tochter der Studio Hamburg GmbH, eine Tochter der NDR Media GmbH, eine Tochter des NDR.)

Und dann bleibt festzuhalten, dass das ZDF die Öffentlichkeit wiederholt falsch über die Umstände des Votings informiert hat. Die Darstellung in der Pressemitteilung widerspricht der vorherigen Pressemitteilung, die wiederum der vorherigen widersprach — und das sind nur die Varianten nach den ersten Zweifeln an dem Voting. Im Mai hatte das ZDF behauptet, dass das Publikum auf der Grundlage einer von Forsa repräsentativ ermittelten Auswahl von je 100 Männern und Frauen online abstimmen könne. Tatsächlich hatte der Sender zu diesem Zeitpunkt längst eine zweite Forsa-Umfrage durchführen lassen, von der aber öffentlich noch nicht die Rede war. In der ersten Sendung sprach Kerner von einer Kombination von Forsa-Umfrage und Internet-Abstimmung; am Anfang der zweiten Sendung ließ er das Internet weg. Am Wochenende nach der Sendung sagte das ZDF, das Ranking sei allein durch zwei Forsa-Umfragen zustande gekommen. Am vergangenen Dienstag sagte Unterhaltungschef Oliver Fuchs, es seien „Ergebnisse des Zuschauer-Votings mit den Ergebnissen der Forsa-Umfrage vermischt“ worden. Nun ist von den Zuschauer-Votings keine Rede mehr, sondern nur noch von einer gezielten Manipulation der Forsa-Zahlen.

Auch dieses Kommunikationswirrwarr erinnert an den ADAC-Skandal. Den Gedanken, dass das alles nur an irgendeinem kleinen Redakteur lag, der nun womöglich „arbeitsrechtliche Konsequenzen“ fürchten muss, halte ich für abwegig.