Können wir noch einmal über das „Spiegel“-Gespräch mit Christian Wulff reden? Man erfährt daraus ja nicht nur, wie in den vergangenen Tagen breit diskutiert wurde, viel Erstaunliches darüber, wie der frühere Bundespräsident sich und die Welt sieht. Sondern auch über das Selbstverständnis von „Spiegel“-Journalisten.
Das beginnt bei deren lesbaren Erstaunen, dass Wulff die Gelegenheit dieses Gespräches nutzen wollte, ihnen Vorwürfe zu machen. In einer Art Vorwort zu dem Interview schreiben sie:
Der SPIEGEL hat mit seinen Recherchen zum Sturz des Bundespräsidenten beigetragen, er zählt für Wulff zu den Hauptschuldigen an seinem Untergang. Das Recht von Journalisten ist es, Fragen zu stellen — dass sie sich selber Fragen ausgesetzt sehen, kommt seltener vor.
Vielleicht ist das wirklich so, auch im Sommer 2014 noch, in der Wahrnehmung der Welt durch den „Spiegel“: Dass es „seltener“ vorkommt, dass Journalisten sich Fragen ausgesetzt sehen. In meiner Welt sehen sich Journalisten ununterbrochen Fragen ausgesetzt. In meiner Welt werden Journalisten mit kritischen Fragen bombardiert, bzw. teilweise schon nicht mehr bombardiert, weil bei einem größeren Teil des Publikums der Vertrauensverlust in die Medien schon so groß geworden ist, dass sie gar nicht mehr fragen, weil sie keine Antworten erwarten.
Aber für den „Spiegel“ scheint das eine ganz neue Erfahrung zu sein, dass ein Gesprächspartner sich nicht nur zum Verhör meldet, sondern zurückbeschuldigt. Die „Spiegel“-Leute können damit anscheinend nicht gut umgehen, sonst würden sie das nicht so betonen:
In diesem Fall ist ein SPIEGEL -Gespräch auch ein Gespräch über die Rolle des SPIEGEL geworden. Weil Wulff seine Vorwürfe direkt gegen die ihn Befragenden richtet, bleibt die Kritik natürlich nicht unwidersprochen.
Natürlich nicht. Was sind das für ungelenke Sätze und unentspannte Vorab-Entschuldigungen? Wie schwer kann es denn sein, sich einfach zu streiten?
Immerhin scheint man auch beim „Spiegel“ gemerkt zu haben, dass die Berichterstattung über Wulff damals bei Teilen des Publikums auf Ablehnung stieß. Er formuliert es so: Viele Bürger seien in der Beurteilung des Falls unsicher gewesen, „weil sie die Einhelligkeit in der medialen Bewertung störte“. Und schreibt:
Neben den eigentlichen Vorwürfen, die Wulff, 55, schließlich das Amt kosteten, ging es von Anfang an auch um die Rolle der Presse, die ihn mit Recherchen zu seinem privaten Finanzverhalten in Schwierigkeiten brachte. Da diese Debatte ebenfalls über die Medien ausgetragen wurde, stellte sich für viele Beobachter die Frage nach der Unparteilichkeit der sogenannten vierten Gewalt: Wie unvoreingenommen können Journalisten noch berichten, wenn ihr eigenes Verhalten infrage gestellt wird?
Was ist das denn für eine Frage? Ich möchte gar nicht wissen, wie viele „Spiegel“-Instanzen daran herumformuliert hatten, bis daraus diese sinn- und harmlose Wortfolge wurde. Die Unvoreingenommenheit von Journalisten ist doch nicht dadurch bedroht, dass ihr Verhalten infrage gestellt wird. Der Vorwurf war — um das einmal kurz als Service für die „Spiegel“-Leute zu rekapitulieren — dass die Journalisten nicht unvoreingenommen waren und sind; dass sie sich auf eine gemeinsame Jagd auf Wulff begeben hätten und nicht eher Ruhe geben würden, bis das Wild erlegt war.
Noch einmal: Der „Spiegel“ schreibt, dass es Journalisten womöglich schwerer fällt, unabhängig zu berichten, wenn ihr Verhalten in Frage gestellt wird? In welchem Paralleluniversum ergibt das Sinn? Und wieso weiß der „Spiegel“ nicht, dass die Arbeit von Journalisten ununterbrochen in Frage gestellt wird, und zwar: zu recht?
Gut, vielleicht stellen „Spiegel“-Journalisten ihre Arbeit weniger in Frage als andere, aber sie müssten doch gemerkt haben, dass andere es tun. Verzeihung, wenn ich mich da in Rage schreibe, aber nach meiner Überzeugung ist es eine wesentliche Aufgabe von Journalisten, Dinge in Frage zu stellen, warum sollten nun ausgerechnet Journalisten davon als Objekt ausgenommen sein und warum sollte es bei ihnen etwas Schlechtes sein?
Man kann den Verlauf des eigentlichen Gesprächs mit Wulff dann vielleicht am besten so erklären, dass sich beide Seiten Zugeständnisse vom Gegenüber erhofft hatten, ein bisschen Einsicht in die Fehler, die begangen wurden. Wulff räumt dabei, obwohl er sich weiter zutiefst ungerecht behandelt fühlt und als Opfer sieht — an vielen Stellen Fehler und Versäumnisse ein. Der „Spiegel“ hingegen sieht kein Problem in seiner Berichterstattung und hat nichts falsch gemacht. Also: nichts. Im Sinne von: nichts.
„Spiegel“-Redakteur Peter Müller, der das Gespräch zusammen mit Christiane Hoffmann und Chefredakteur Wolfgang Büchner geführt hat, sagt dazu in einem Video:
Für uns beim „Spiegel“ kam hinzu, dass wir uns, vor allem was die entscheidende Phase vor Wulffs Rücktritt angeht, nichts vorzuwerfen haben, was unsere Berichterstattung angeht. Dies war uns in dem Interview auch wichtig, weil wir natürlich wussten, dass damals, was die Berichterstattung angeht, natürlich nicht nur drei, vier Kollegen, sondern ein ganzes Team von zehn, 15 Leuten sich immer wieder mit dem Fall Wulff beschäftigt hatten, und jeden Anwurf von Wulff, dass damals auf unserer Seite unsauber gearbeitet worden wäre, das war uns wichtig und entscheidend, dass wir den auch von uns gewiesen haben.
Das ist natürlich eine interessante Position, um in ein „Streitgespräch“ zu gehen: Die erklärte Absicht, in diesem Streit nicht auch nur den Hauch von Selbstkritik zuzulassen, was die eigene Rolle und die eigene Berichterstattung angeht. Und das umso mehr, als die drei Gesprächspartner Wulffs offenbar bewusst nicht die sein sollten, die damals wesentlich im „Spiegel“ über ihn berichtet haben. Umso weniger durften sie ihren Kollegen in den Rücken fallen und irgendwelche Unzulänglichkeiten und Übertreibungen von damals einräumen.
Es kommt dann in dem Gespräch (oder jedenfalls der fünf Wochen nach dem Interview vom „Spiegel“ veröffentlichten Version, auf die sich beide Seiten geeinigt habe) zu folgendem Wortwechsel:
SPIEGEL: Was hat die Berichterstattung, die Sie in den Wochen vor Ihrem Rücktritt erlebt haben, persönlich mit Ihnen gemacht?
Wulff: Ich habe mich entschieden, davon wenig preiszugeben. In meinem Buch zitiere ich einige besonders niederträchtige Artikel, da fragen sich die Leser selbst: Was hätte das mit mir gemacht?
SPIEGEL: Sie haben sehr viel Gewicht verloren.
Wulff: Ich bin damals regelrecht abgemagert, das war ungesund. Und wenn ich so wenig Einsicht bei Medienschaffenden sehe wie bei Ihnen in diesem Interview, brauche ich wohl noch ein paar zusätzliche Aufbaukurse.
SPIEGEL: Mit Verlaub, Herr Wulff, was haben Sie denn von uns erwartet? Einen Kniefall und eine Entschuldigung?
Puh. Sein Wort war „Einsicht“. Der „Spiegel“ hört: „Kniefall und Entschuldigung“.
Es scheint nicht möglich zu sein, mit diesen Leuten darüber zu reden, was damals schiefgelaufen ist, ob der Fall Wulff nicht auch für Journalisten, womöglich sogar für „Spiegel“-Journalisten, Anlass gibt, über die eigene Arbeit und die Wirkung nachzudenken. Ob man sich, rückblickend, wirklich jede hämische Formulierung, jedes vor Verachtung triefende Urteil Dirk Kurbjuweits, jede Empörung sogar über ein harmloses Titelbild der Präsidentengattin in einer Frauenzeitschrift, hätte leisten müssen. Ob man sich nicht tatsächlich auch in eine Art Rausch geschrieben hat und ob gelegentlich nicht auch ein paar Maßstäbe verrutscht sind. Und ob die Schilderungen Wulffs in seinem Buch, wie die Wucht eines so umfassenden und fast einmütigen medialen Angriffs auf denjenigen wirkt, der ihr ausgesetzt ist (so sehr er sie durch sein eigenes Handeln auch provoziert haben mag), nicht auch Grund wären, nachdenklich zu werden.
Nein, das kann man sich abschminken vom „Spiegel“, Selbstreflexion und Nachdenklichkeit, Selbstkritik und Zugeständnisse, oder wie man all das beim „Spiegel“ zu nennen scheint: „einen Kniefall“.
Kurz vor Schluss des veröffentlichten Gesprächs geht es noch einmal um die Macht der Medien:
Wulff: Mir war immer bewusst, dass ich als Aufsteiger unter besonderer Beobachtung stand. Ein Aufsteiger im höchsten Staatsamt, noch jung an Jahren, mit einer jungen, attraktiven Frau an seiner Seite, das war für viele an sich schon eine Provokation. Und die Journalisten interessierten sich für jedes Detail unseres Zusammenlebens; ein zwölfjähriges Mädchen in unserem Nachbarhaus fragten sie am Telefon aus, wie denn mein Verhältnis zu meiner Frau sei. Journalisten können gruselig sein.
SPIEGEL: Politiker haben ganz andere Machtmittel. SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein musste einst ins Gefängnis, weil Franz Josef Strauß unliebsame Berichterstattung verhindern wollte.
(Kurz einmal innehalten, um den zeitlichen und logischen Sprung, den die drei „Spiegel“-Leute hier machen, zu würdigen.)
Wulff: Heute haben sich die Kräfteverhältnisse umgekehrt.
SPIEGEL: Das sehen wir anders. Viele Medien haben heute gar nicht mehr die Mittel, um Regierungshandeln sinnvoll zu kontrollieren. Heute gibt es wahrscheinlich mehr Pressesprecher als festangestellte Redakteure in Tageszeitungen.
Wulff: Das Handeln der Regierung zu kontrollieren ist auch Aufgabe des Parlaments und der Justiz, nicht nur der Medien. Und weil Sie ein wichtiges und zwingend notwendiges Kontrollgremium sind, warum betreiben Sie dann immer häufiger die Personalisierung und die Skandalisierung? Warum zielen Sie immer häufiger auf die Person, die Familie, das Private? Manches Inhaltliche ist manchen vielleicht auch zu kompliziert oder sperrig für die Auflage.
SPIEGEL Sie scheren alle Medien über einen Kamm. Der SPIEGEL und viele andere Medien werden Qualitätsansprüchen gerecht.
Den letzten Satz mag ich. Sie haben sich trotz aller Überzeugtheit von sich selbst und ihrer Arbeit offenbar nicht getraut, ein Adjektiv einzusetzen. Sowas wie „höchsten“ oder gar „allen Qualitätsansprüchen“. Der „Spiegel“ und viele Medien werden irgendwelchen unbestimmten Qualitätsansprüchen gerecht.
Ja, darauf können wir uns einigen. Und das ist dann vermutlich auch der komplette Beitrag, den wir vom „Spiegel“ für den nicht nur von Wulff gewünschten „öffentlichen Diskurs über die Rolle der Medien im digitalen Zeitalter“ erwarten können.