Vor zwei Wochen berichtete der „Spiegel“:
Kanzlerin Angela Merkel lehnt einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Sotschi wegen der Diskriminierung Homosexueller in Russland ab. Während der Veranstaltung im kommenden Februar sei die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Situation in Russland gerichtet, hieß es im Kanzleramt. Dies könne eher Veränderungen bewirken als ein Boykott, wie sich auch beim Eurovision Song Contest im vergangenen Jahr in Aserbaidschan gezeigt habe.
Vor zwei Tagen veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) einen Bericht über die Entwicklung in Aserbaidschan in den vergangenen eineinhalb Jahren. Er trägt den Titel „Tightening the Screws“ — die Schrauben anziehen.
Darin heißt es:
Seit einigen Jahren schon macht Aserbaidschan Rückschritte in Sachen Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungs-Freiheit, aber seit Mitte 2012 ist die Lage dramatisch schlechter geworden. Seitdem bemüht sich die Regierung gezielt, oppositionelle Aktivitäten einzudämmen, öffentliche Korruptionsvorwürfe und andere Kritik an der Regierung zu bestrafen und Nichtregierungsorganisationen stärker zu kontrollieren.
Nach den Angaben von HRW hat die Regierung
- Dutzende Aktivisten unter fabrizierten Strafvorwürfen festgenommen und inhaftiert,
- Gesetze verschärft,
- öffentliche Demonstrationen in der Hauptstadt konsequent aufgelöst
- und nicht versucht, die Täter zu ermitteln, die kritische Journalisten gewalttätig angegriffen und verleumdet haben.
Das schärfere Vorgehen der Behörden begann Anfang 2011, kurz nach den Aufständen in Arabien, als Jugendgruppen in Aserbaidschan versuchten, Proteste in Baku zu organisieren. Mitte 2012 wurde der Kurs weiter verschärft, offenkundig wegen der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Oktober 2013.
Die aserbaidschanische Regierung hat eine lange Tradition, Kritiker mithilfe falscher Anschuldigungen ins Gefängnis zu bringen und friedliche Demonstrationen mit Gewalt aufzulösen. Die Zahl der Verhaftungen in jüngerer Zeit sowie das massive Vorgehen, mit dem Protestkundgebungen verhindert oder aufgelöst werden, deutet nach Ansicht von Human Rights Watch aber darauf hin, dass die Regierung jetzt kalkuliert mit besonderer Energie gegen Oppositionelle und Bürgerrechtler im Land vorgeht.
Auf der Grundlage von zahlreichen Interviews dokumentiert der Bericht im Einzelnen 39 Fälle von Menschen, die festgenommen, angeklagt, verurteilt oder bedrängt wurden. HRW schreibt:
Dieses harsche Vorgehen zielt besonders auf junge, politisch aktive Menschen ab. So wurden beispielsweise im März und April 2013 sieben Mitglieder der Jugendbewegung NIDA (dt. „Ausrufezeichen“) verhaftet. Alle sieben waren aktive Facebook- und Twitter-Nutzer, die vielfach Meldungen über vermeintliche Fälle von Korruption innerhalb der Regierung und Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht hatten. Die Behörden behaupteten, die Festgenommenen hätten den Plan gehegt, Teilnehmer an friedlichen Demonstrationen zur Gewalt anzustiften.
Unter den Festgenommenen und Inhaftierten sind zudem mindestens sechs Journalisten, zwei Menschenrechtsaktivisten, die Hilfe für Flutopfer ermöglichen wollten, sowie ein Rechtsanwalt, der sich für die Entschädigungen von Menschen einsetzte, deren Wohnungen und Häuser zwangsgeräumt worden waren.
Die Behörden bedienten sich einer Reihe erfundener Vorwürfe, darunter Waffenbesitz oder Besitz von Betäubungsmitteln, Rowdytum, Aufhetzung und Landesverrat, um sich der Kritiker zu entledigen.
Regierungskritiker klagen, dass sie im Polizeigewahrsam verletzt wurden — die Behörden gehen den Vorwürfen nicht nach. Beschuldigte dürfen zeitweise nicht mit einem Verteidiger ihrer Wahl sprechen und müssen offenbar grundlos in Untersuchungshaft. In erstaunlicher Zahl scheinen bei politisch lästigen Menschen plötzlich Drogen gefunden zu werden. Kritische Journalisten werden aufgrund von fadenscheinigen Anschuldigungen zu Haftstrafen verurteilt.
HRW-Vize-Direktorin Rachel Denber, die ich auch in Baku getroffen habe, sagt, die aserbaidschanische Regierung habe unmittelbar nach dem Eurovision Song Contest begonnen, verschärft gegen Oppositionelle vorzugehen, und seitdem nicht mehr aufgehört. Im Frühjahr und Sommer dieses Jahres habe sich die Situation eindeutig verschärft. „In den vergangenen 18 Monaten haben die Behörden mindestens 22 politische Aktivisten, Journalisten und Menschenrechtler verhaftet oder verurteilt, andere ernsthaft bedroht und für schlimmste Schmierkampagnen gegen bekannte investigative Journalisten gesorgt.“
Angela Merkel sagt, Aserbaidschan sei ein positives Beispiel für die Veränderungen, die ein internationales Großereignis wie der Eurovision Song Contest oder die Olympischen Spiele bewirken kann, wenn man teilnimmt anstatt sie zu boykottieren. Sie verrät damit gleichzeitig die bedrängten Menschenrechtsaktivisten in Aserbaidschan und die verfolgten Homosexuellen in Russland.
Manche in Merkels Partei sehen Homosexualität immernoch kritisch. Insofern kann sie die Entwicklung in A. durchaus als positiv bezeichnen.
Anders als zynisch kann man da kaum drauf reagieren.
Klar, wäre ein Boykott der Spiele angemessen und wenn ich Sportler wäre, dann würde ich mir meine Fingernägel lackieren…
Aber wer meint die olympischen Spiele seien eine Bühne für die Opposition und die Sache von Menschenrechtsaktivisten sollte sich nur daran erinnern, wie China mit dem Thema umgegangen ist. Die olympische Tradition neuer Zeitrechnung ist davon geprägt grundsätzlich der Staatsräson des Gastgebers zu folgen. Der Boykott der Sommerspiele in Moskau war eine Ausnahme und wäre undenkbar ohne den Ost-West-Konflikt zu Zeiten des des kalten Krieges. Der Generaldirektor des DOSB Dr. Michael Vesper hat nicht das Format einen Boykott der olympischen Spiele in Sotchi mit politischem Inhalt zu füllen. Es gibt viele Gründe die olympischen Spiele der Neuzeit in ihrer bestehenden Struktur zu boykottieren, ob nun in Sotchi oder Rio. Und nicht nur wegen der Situation der Menschenrechtsaktvisten. Das ganz System Olympia, mit seinen unsäglichen Sponsorverträge gehört boykottiert – doch, wenn die dt. Sportler selbst im TINA Modus stecken, wird sich die olympische Bewegung weiter so verhalten, wie die drei Affen.
Die Teilnahme Deutschland an den Spielen ist für Merkel defacto „alternativlos“, weil von besonderer wirtschaftlichen Bedeutung. Die Aufmerksamkeit der Kanzlerin gehört ganz dem DOSB und der deutschen Wirtschaft. Wer baut denn die Stadien Olympias?
Ob das Thema die nächsten 6 Monate bestimmt, wage ich, angesichts der drohende Kriegsgefahr in Syrien, zu bezweifeln.
Das Rumgeeiere und Niederhalten der NSA-Enthüllungen, Vorratsdatenspeicherung, wissentliche Unterstützung von Rechtsradikalen durch die Verfassungsschutzämter, selten geahndeter Kadavergehorsam bei Vergehen innerhalb des Polizeiapparates, die Weigerung zur Ratifizierung der Antikorruptionsrichtlinie undsoweiter und so fort…
Dass DDR-Konformistin Angela Merkel die Entwicklungen in Aserbaidschan seit dem ESC 2012 als Positivbeispiel heranzieht, kann doch jetzt nicht wirklich überraschen, oder?
Ach ja, die durchgedrückten und dann mit eingezogenem Schwanz zurückgestutzten Internetsperren hab ich noch vergessen…
„Dutzende Aktivisten unter fabrizierten Strafvorwürfen festgenommen und inhaftiert,
Gesetze verschärft,
öffentliche Demonstrationen in der Hauptstadt konsequent aufgelöst
und nicht versucht, die Täter zu ermitteln, die kritische Journalisten gewalttätig angegriffen und verleumdet haben.“
ohne die situation in aserbaidschan relativieren zu wollen: die ersten drei punkte treffen auch auf deutschland zu. zum vierten findet sich sicher auch das ein oder andere beispiel der näheren vergangenheit, wenn man mal ein paar minuten länger googlet. ich würde mich freuen, auch darüber etwas hier lesen zu können.
trotzdem danke für den post, stefan.
Pofalla hat sicherlich einen Brief der aserbaidschanischen Regierung bekommen und konnte diese Sache für beendet erklären.
[…] http://www.stefan-niggemeier.de/blog/merkels-aserbaidschan/ […]
Dass sich der Eurovision Song Contest hinsichtlich der Einhaltung von Menschenrechten nun positiv auf das Land ausgewirkt haben sollte, kann in der Tat niemand behaupten. Wer würde allerdings heute über die dortigen Zustände reden, wenn die Veranstaltung nicht stattgefunden hätte?
Länder die permanent gegen Menschenrechte verstoßen sind medial uninteressant, da Medien notwendig auf Differenzen angewiesen sind. Kontinuierlich andauernde Zustände können nur schwer von Medien aufgegriffen werden. Veranstaltungen von (mehr oder weniger) internationalem Interesse lassen es zu die dortigen Zustände mit dem Neuigkeitswert der Veranstaltung zu verknüpfen.
Was mehr kann eine solche Veranstaltung überhaupt leisten, als unsere Aufmerksamkeit auf ein Land und damit (auch) auf dessen Probleme zu richten?
Hätten Sie Herr Niggemeier ohne den Eurovision Song Contest sich je für die Menschenrechtslage in Aserbeidschan interessiert?
Warum berichten Sie auch heute noch über die Situation dort, während es Sie anscheinend nicht weiter interessiert, wie die Menschenrechtslage in ähnlichen Staaten, etwa in Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan aussieht?
Anscheinend hat der ESC in Aserbaidschan zumindest dazu geführt, dass man in Europa die Situation in diesem Land genauer beobachtet.
Wenn man in Aserbaidschan jetzt die Schrauben fester anzieht, dann hat dies sicher nichts mit dem ESC zu tun, eher mit den Folgen der Arabellion, deren Überschwappen auf dieses Land die herrschenden Cliquen dort fürchten.
@vulkansurm:
In jedem Fall hat der ESC entgegen Merkels Behauptung zu keiner Verbesserung der Menschenrechtslage geführt. Und das ist im Artikel schlüssig dargelegt.
Oder wollen Sie jetzt SN dafür kritisieren, dass er immer noch über Aserbaidschan berichtet und noch nichts über Turkmenistan schreibt. Und wenn er dann über Turkmenistan statt Aserbaidschan schreibt, kommt dann der Hinweis darauf, dass sich in Aserbaidschan die Menschenrechtslage verschlechtert hat und warum SN nicht doch noch da am Ball geblieben ist? Oder die Frage nach den Menschenrechten in Burma, Nepal und Kolumbien? Und warum schreiben Sie hier gegen die Niggemeierschen Missstände der Menschenrechtsberichtserstattung an, während drüben im lawblog zu Georgien, Armenien oder Tadschikistan kein Wort erwähnt wird (warum haben eigentlich Sie die vergessen?). Wäre Ihr mahnender Zeigefinger da nicht noch viel eher angebracht. Immerhin scheint die Aserbaidschanberichterstattung ja zumindest dazu geführt zu haben, dass die Leserschaft die Situation in seinem Blog nun genauer beobachtet.
Aber ich sehe schon, gescheit daherreden kann man wohl auch ohne zu Wissen was man eigentlich schreiben wollte.
Jetzt mal ernsthaft: Die bereits vor dem ESC in Aserbaidschan bekannt schlechte Lage der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind jetzt das Argument dafür, die Sommerspiele in Rußland zu boykottieren? Nachdem es kein Problem damit gab, in China olympisch zu feiern?
Das Gesetz gegen die „Förderung der Homosexualität“ ist sicherlich bizarr, genau wie die Einstufung von NGOs als ausländische Agenten. Aber Boykott?
Wann wollen wir denn die Supermacht USA boykottieren, wegen des erneuten Überfalls eines nahöstlichen Staates mit Begründung „Chemiewaffen“? Übrigens der Finanzier von HRW. Deswegen schreiben wir auch Artikel gegen Syrien, aber nicht gegen Saudi Arabien, oder Bahrein, etc.
Gegen Rußland wurde ja schon mal boykottiert. Stellen Sie doch mal eine Liste auf von Ländern, in denen Sportereignisse, Musikfestivals und Misswahlen zulässig sind. Oder eine Liste mit zwingend einzuhaltenden Regeln. Hält Katar diese ein?
Entschuldigung, werden Winterspiele.
@Nobilitatis: Mein Punkt war, dass der ESC in Aserbaidschan zumindest kein Argument gegen einen Boykott ist. Und es zeugt schon entweder von größerem Zynismus oder erstaunlicher Ahnungslosigkeit, wenn man, wie Merkel, positive Veränderungen in Aserbaidschan aufgrund des Nicht-Boykotts unterstellt und das als Vorbild für den Umgang mit Russland empfiehlt.
Insoweit gebe ich Ihnen ausdrücklich recht.
Aber was wäre ein stichhaltiges Argument FÜR einen Boykott? Befürworter eines Boykotts finden Sie überall.
Man soll ja nie Bösartigkeit und Niedertracht unterstellen, wenn schlicht Dummheit oder Ahnungslosigkeit als Erklärung ausreicht. Die glaubt das wahrscheinlich sogar.
@Nobilitatis: Es geht hier doch gar nicht um Argumente FÜR einen Boykott, sondern darum, sich für die Gegenposition nicht auf abwegige Vergleiche zu beziehen
[…] “Merkels Aserbaidschan” – Stefan Niggemeier entlarvt eine andere Schönrederei der Kanzlerin […]
Ich nehme mal an, dass Ihr Interesse an Aserbaidschan über den ESC-Videoblog für Sie auch zu einer persönlichen Sache geworden ist. Ich habe den Eindruck, dass einigen der hier Versammelten und auch mir dieser persönliche Zugang fehlt.
Was mich persönlich wirklich betroffen macht ist, wie Frau M mit diesem Thema umgeht. Und ich finde, sie steht da exemplarisch für die deutsche politische Elite. Ob eine Frau M das so meint oder nicht, oder ob sie dafür Pillen nehmen muss oder nicht, ist eigentlich gar nicht wichtig.
Was ist das für eine Demokratie in der solche Menschen in politische Ämter gewählt werden?
Merkels Äußerungen lassen einen nur mit dem Kopf schütteln. Man schämt sich für so eine Kanzlerin. Am 22.9. wird sie wiedergewählt. Putin ist auch in Deutschland möglich, machen wir uns nichts vor.
@micha
Jaaa, das ist das Verdienst der EBU. Wir reden drüber. Davon geht es den Menschen in Aserbaidschan auch gleich viel besser. Das ist gewiss sehr tröstlich, gegen die Knastwände andenken zu können, dass irgendwo im fernen Deutschland Menschen sitzen, die darüber reden, wie scheiße sie es finden, dass Aserbaidschan nichts für Menschenrechte übrig hat. Wenn Hans Müller aus dem wirtschaftlich bedeutenden Traben-Trabach drüber nachdenkt, was alles in einem anderen Land scheiße ist, da erstarrt der gemeine Diktator vor Ehrfurcht zur Salzsäule, und die Schmerzen des zusammengeknüppelten Aktivisten tun gleich nur noch halb so weh.
@SvenR:
„..Man soll ja nie Bösartigkeit und Niedertracht unterstellen, wenn schlicht Dummheit oder Ahnungslosigkeit als Erklärung ausreicht..“
Ein schöner Satz für mein Poesiealbum. Aber ich glaube, es kommt bei Merkel noch eine Prise von „Wunschwirklichkeit“ hinzu. Es ist zwar anzunehmen, dass Andrea Nahles beim ESC in Baku wg. „phonetischer Grausamkeit“ verhaftet worden wäre, aber es müsste doch mal erforscht werden, ob in der Geburtsurkunde von Frau Angela noch weitere Vornamen eingetragen sind. Pippilotta oder so.
@Polyphem:
Danke. Ich meine das auch gar nicht böse, sondern nur beschreibend.
Ich merke das schon bei mir im Unternehmen. Die Geschäftsführung bekommt nur noch durch die Directors vorgefilterte, von den Programme Managern aufbereitete, durch die Project Manager zusammengefasste Allgemeinplätze zu hören.
Da wird so lange vereinfacht, verallgemeinert, zugespitzt, schöngeredet und ungeschärft, dass aus einer guten Idee für eine Verbesserung ganz unten dann ganz oben der Eindruck entsteht, wir würden das schon immer so tun. Und die Idee wird dann natürlich nicht mehr umgesetzt.
Und wir sind kein wirklich großer Laden, gerade mal 6.000 Mitarbeiter in 25 Ländern…
Ein Boykott einer wie auch immer gearteten Veranstaltung hat meines Wissens noch nie zu irgendetwas geführt, außer zur moralischen Erhebung der Boykotteure. Was sicherlich mal helfen würde und dringend erforderlich wäre:
– Kürzung der Entwicklungshilfe
– Aussetzung von Handelsbegünstigungen
– Einreiseverbot bzw. Strafverfolgung von handelnden Personen.
Bei konsequenter Anwendung wären allerdings auch viele andere Staaten in Afrika oder Asien auf der Liste.
#23: Und bums! Treibt das Exportland Deutschland nur noch Handel mit sich selbst. So was funktioniert nur bei einheitlicher Linie der „westlichen Länder“, wenn China und Co. nicht dagegenhalten und es nur einzelne Länder sind. Ach, und vorher asollte man als Politiker deutliche Worte finden.
Demokratie, Diktatur, völlig egal. Hauptsache marktkonform.
Dem Schröder hält man noch heute seinen „lupenreinen Demokraten“ vor, die Teflonkanzlerin dagegen kann sich alles erlauben und bekommt noch
Beifall.
[…] Merkels Aserbaidschan […]
So etwas kommt dann dabei raus, wenn man kaum noch zu vertuschen versucht, dass einem beide Themen – Menschenrechtsaktivisten in Aserbaidschan (und sonstwo), Homosexuelle in Russland (und sonstwo) meilenweit am Allerwertesten vorbeigehen. Geistlose, hingerotzte Statement.
Daran stören tut sich doch schon längst fast keiner mehr. Den meisten geht es hierzulande ganz gut, neben dem gekauften Familienvan steht ein geleaster Kleinwagen, einmal im Jahr Mallorca sitzt ebenso dran wie ein Shoppingtrip nach New York, alle elektronischen Gadgets sind auf dem neuesten Stand. Das ist Lebenswirklichkeit für geschätzte 45 % der Menschen hierzulande. Und damit das so bleibt, wird diese Frau dann von diesen 45 % gewählt. Selbst die einstmals aufmüpfige Jugend müpft da nicht mehr auf und wählt dasselbe, in der Hoffnung auf einen Job nach dem Praktikum und weil auch der geleaste Kleinwagen einen zu McFit bringt.
Ja, stimmt schon, es ist abwegig zu glauben, dass die Olympischen Winterspiele in Sotschi irgendwas an der Situation der Homosexuellen in Russland verbessern werden. Mag sein, dass Aserbaidschan ein Beleg für die Abwegigkeit dieser Vermutung ist. Warum sollte sich auch durch eine große Sportveranstaltung oder einen internationalen Gesangswettbewerb die Menschenrechtssituation in einem Land dauerhaft ändern? Ich habe nie verstanden, wie Leute auf diese Idee kommen.
Zu glauben, dass sich durch einen Boykott der Olympischen Winterspiele in Sotschi die Situation der Homosexuellen in Russland zum Positiven verändern wird, halte ich aber für genauso abwegig. Ich glaube, ein Boykott würde deren Situation eher verschlimmern als verbessern.
Wie stellen sich denn die Befürworter eines Boykotts die Reaktion der meisten Menschen in Russland auf einen solchen vor? Glauben sie, das 70-jährige Ehepaar aus dem Kuban (einer Region im Süden des Landes, die als extrem konservativ gilt), das seine Informationen vorwiegend aus dem Staatsfernsehen bezieht und der Sowjetzeit nachtrauert, wird sagen: „Schau mal, etliche westliche Länder boykottieren unsere Olympischen Winterspiele! Vielleicht ist es jetzt wirklich mal an der Zeit, dass wir unsere althergebrachten und von einigen (Staats-)Medien teils immer noch propagierten Vorurteile über diese Bevölkerungsgruppe endlich mal überdenken und anfangen, diese Leute, die wir bisher für psychisch krank/pervers/sonstwas gehalten haben, als ganz normale Menschen zu betrachten, die die selben Rechte haben sollten wie heterosexuelle Menschen auch!“ Doch wohl kaum, oder?
Könnte es nicht viel eher sein, dass die Homosexuellen im Falle eines Boykotts auch noch als Sündenböcke dafür herhalten müssten, dass die Olympischen Winterspiele nicht so verlaufen wie gewünscht? Schließlich werden sie schon jetzt von vielen, z. B. rechtspopulistischen Politikern, für die konstant niedrigen Geburtenraten und vieles andere verantwortlich gemacht. Und ausgerechnet ein Boykott der Olympischen Winterspiele aufgrund der Situation der Homosexuellen soll zu deren Verbesserung beitragen? Tut mir leid, das verstehe ich nicht.
Außerdem würden die allermeisten Russen die Motivation für den Boykott völlig anders interpretieren, als er vielleicht gemeint wäre. Ich glaube, dass sich viele von ihnen spätestens unter dem Eindruck der 90er Jahre (als der sogenannte Westen von der damaligen Krise Russlands wirtschaftlich wie geopolitisch enorm profitiert hat, um es mal vornehm auszudrücken), die zynische Haltung angewöhnt haben, dass es so etwas wie idealistische oder wertegeleitete (Außen-)Politik nicht gibt. Politik, so sehen es viele Russen, ist immer interessengeleitet. Wenn die USA Bomben auf Syrien werfen, dann tun sie das nicht, um unterdrückten Menschen zu helfen, sondern um Assad aus dem Amt zu bomben, eine US-hörige Marionettenregierung zu installieren und so ihren Einfluss im Nahen Osten zu vergrößern (siehe Irak). Wenn Deutschland und/oder andere westliche Länder die Olympischen Winterspiele in Sotschi boykottieren, dann ist das Argument, dass Homosexuelle dort unterdrückt werden, nur vorgeschoben. In Wirklichkeit gönnt man es den Russen nicht, dass sie eine solche Sportveranstaltung austragen dürfen.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Das ist nicht unbedingt meine Meinung, sondern ich glaube, dass viele Leute in Russland einen Boykott so interpretieren würden. Somit würde er nur den Graben zwischen Russland und dem sogenannten Westen weiter vergrößern. Und dann, glaube ich, würden die Schikanen gegen Homosexuelle in Russland eher zunehmen – weil Putin und andere antiwestlich eingestellte Politiker dann zeigen wollen: „Seht her, durch euren Boykott lassen wir uns mit Sicherheit nicht von unserer Linie abbringen!“Wäre vor diesem Hintergrund ein Boykott nicht geradezu verantwortungslos – ausgerechnet gegenüber denjenigen, mit denen die Boykott-Befürworter sich eigentlich solidarisieren wollen?
Wer glaubt, ein Boykott der Spiele würde etwas verbessern, hat den Kern des Problems nicht verstanden. Russland besteht nicht nur aus einem bösen Präsidenten, der durch Strafaktionen zur Raison gebracht werden muss (Durch diese lässt er sich ohnehin nicht beeindrucken, sondern nutzt sie für antiwestliche Propaganda). Warum lässt sich ein solches Gesetz dort durchsetzen und findet allem Anschein nach bei der Mehrheit der Bevölkerung auch noch Zuspruch? Weil das Thema Homosexualität in Russland nie enttabuisiert worden ist. Weil schlicht das Wissen fehlt. Weil in Russland eine bestürzend große Zahl von Menschen offenbar immer noch glaubt, dass Homosexualität eine psychische Krankheit sei, die geheilt werden kann und muss. Ich glaube, dass das Land allgemein ein Problem mit mangelnder sexueller Aufklärung hat. Das sieht man zum Beispiel an einer hohen HIV-Infektionsrate und vielen ungewollten Schwangerschaften, die dann wiederum in eine hohe Zahl von Abrtreibungen münden. Muss man sich wundern, dass in einem Land, in dem offenbar viele junge Leute nicht wissen, wie man richtig verhütet, warum das wichtig ist etc., auch das Wissen über Homosexualität nicht sehr verbreitet ist? Hier müsste man ansetzen und nicht irgendwelche symbolischen Strafaktionen durchführen, die sowieso nichts bewirken, jedenfalls nichts Positives.
Und von all dem mal abgesehen: Wenn jetzt verschiedene Länder die Olympischen Spiele boykottieren, dann bestraft man die Sportler gleich mit. Wie will man einem Athleten erklären, dass er auf die Olympia-Teilnahme, auf die er vermutlich seit Jahren hinarbeitet und sich darauf freut, verzichten muss? Nicht weil er zu schlecht ist, sondern weil in dem Land, in dem die Spiele stattfinden, die politische Lage leider so ist, wie sie ist? Könnte es nicht vielleicht sein, dass Sportler keine Lust haben, in diesem Kampf – der zweifellos einem guten Zweck dienen soll, den er nur leider verfehlen wird – als Kanonenfutter missbraucht zu werden? Ist es gerechtfertigt, den Sport haftbar zu machen für Probleme, für deren Lösung andere zuständig sind?
Und noch etwas: Ist der internationale Profisport wirklich geeignet als Vorkämpfer für die Rechte von Schwulen und Lesben? Wie viele Athleten auf der Welt haben sich denn bisher geoutet? Letztes Jahr hat eine Zeitschrift ein Interview mit einem anonymen schwulen Bundesliga-Fußballer veröffentlicht (http://www.fluter.de/de/114/thema/10768/). Darin erzählt er, wie das so ist, wenn man dauernd in der Öffentlichkeit steht und doch seine Neigung verheimlichen muss, wenn man bei offiziellen Anlässen auf Alibi-Freundinnen angewiesen ist etc. In anderen Sportarten ist es meines Wissens nicht viel anders. Widerspricht mir jemand, wenn ich sage, dass der Sport eine der letzten Hochburgen der Homophobie in unserer Gesellschaft ist? Bitte korrigiert mich, wenn ich mich irre.
Ein Boykott der Spiele würde also bedeuten, dass Sportler und Funktionäre von Russland Toleranz gegenüber Menschen fordern, für die in den eigenen Reihen kein Platz ist. Ist das nicht ein wenig bigott?
Toleranz und Akzeptanz gegenüber Minderheiten entwickeln sich in einer Gesellschaft entweder langsam oder gar nicht, aber jedenfalls nicht von heute auf morgen und schon gar nicht durch irgendwelche Sanktionen und Vergeltungsmaßnahmen. Auch bei uns haben Homosexuelle lange um gesellschaftliche Anerkennung und Rechte kämpfen müssen. Und nur weil Medien und immer mehr Politiker sich gerne liberal und tolerant geben, heißt das nicht, dass es bei uns die Homophobie ausgerottet ist.
In Russland scheint dieser Kampf gerade erst begonnen zu haben. Warum sollte ein Prozess, der sich bei uns über Jahrzehnte hingezogen hat, in Russland innerhalb von ein paar Monaten vonstatten gehen? Gerade große Länder, die eine gewisse Rolle in der Weltpolitik spielen, tun sich erfahrungsgemäß schwer damit, sich ein Beispiel an anderen zu nehmen. Oder haben die USA bisher die Todesstrafe abgeschafft, weil die mit ihnen verbündeten Staaten in Westeuropa sie abgeschafft habe?
Ich weiß auch nicht, wie man vom Ausland aus die Situation der Homosexuellen in Russland verbessern soll. Ich fürchte, dass unsere Möglichkeiten dazu mehr als begrenzt sind. Im Endeffekt muss der entscheidende Impuls dazu aus dem Land selbst kommen. Einen Boykott der Olympischen Winterspiele halte ich jedenfalls für einen falschen und sogar gefährlichen Weg.
man mag mich zynisch nennen, aber noch dürften deutsche Wirtschaftsinteressen ( und damit Arbeitsplätze ) für die Bundeskanzlerin von größerer Bedeutung sein, als die Menschenrechte in Ländern, in denen sie keine Regierungsverantwortung trägt.
Und – ganz realpolitisch betrachtet – wäre es anders herum, würde ich mir als Steuerzahler und Wähler auch irgendwie Sorgen machen.
Euren Idealismus in allen Ehren, aber so einfach ist Politik halt nicht.