Kategorie: Fernsehblog

Die scheinheilige Begnadigung der Andrea Kiewel

Wie lange soll eine Fernsehmoderatorin büßen müssen, die von einem Unternehmen Geld dafür bekommen hat, in Sendungen Schleichwerbung für ein Diät-Programm zu machen?

Ein Jahr ist es her, dass sich das ZDF mit scheinbar klaren Worten von Andrea Kiewel trennte. „Schleichwerbung in Sendungen des ZDF ist nicht akzeptabel“, formulierte der Intendant Markus Schächter damals (meinte damit aber natürlich nur solche Schleichwerbung, die mit dem ZDF nicht abgesprochen ist – dass Thomas Gottschalk den Millionen „Wetten, dass“-Zuschauern Markenlogos hinhält, ist für den Sender überaus akzeptabel). Kiewels Aktivitäten hätten „die Vertrauensbasis zwischen uns zerstört“.

Heute nun bestätigt ZDF-Programmdirektor Thomas Bellut offiziell, was als Gerücht schon seit Monaten kursiert: Kiewel wird begnadigt und darf vom Mai an wieder den ZDF-„Fernsehgarten“ moderieren. „Wenn einer einsichtig ist, sollte man ihm eine zweite Chance geben“, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. Als die sich erkundigte, wie er denn „Klarheit und Ehrlichkeit durchsetzen“ wolle, „wenn niemand ernste und nachhaltige Sanktionen fürchten braucht“, fragte er zurück: „Wie viel Strafe wäre denn angemessen?“

Das ist theoretisch eine gute Frage, die praktisch relativ bedeutungslos ist. Natürlich wäre es übertrieben, jemanden wie Andrea Kiewel lebenslang zu sperren – obwohl die Art, wie sie Sender und Zuschauer täuschte, schon von ausgesuchter Dreistigkeit war. Und theoretisch könnte man durchaus argumentieren, dass „ein Jahr auf dem Abstellgleis“, wie Bellut es formulierte, eine angemessene Strafe sind.

Und doch sollte man dem ZDF nicht den Gefallen tun, darüber zu diskutieren, denn in Wahrheit sind solche Fragen nur ein Ablenkungsmanöver. Dass das ZDF Andrea Kiewel jetzt zurückholt, hat mutmaßlich einen einzigen Grund: Die Quoten des „Fernsehgartens“ sind unter ihrem Nachfolger Ernst-Marcus Thomas gesunken, und das ZDF traut ihr zu, sie wieder steigen zu lassen. Jede Wette: Wenn es diese Not nicht gegeben hätte, hätten die Verantwortlichen beim ZDF genau so überzeugend erklärt, dass man Frau Kiewel keineswegs schon wieder trauen könne. Entscheidend sind nicht irgendwelche ethischen Fragen. Entscheidend ist die Quote.

Das erklärt auch, warum Bellut eine Begnadigung von Elke Heidenreich, die das ZDF im Gegensatz zu Andrea Kiewel nicht betrogen hat, mit ekliger Gönnerhaftigkeit („Ich wünsche ihr alles Gute im World Wide Web“) ausschließt. Ein Quotenbringer war Heidenreichs Sendung „Lesen!“ schließlich nie.

Böse Bescherung bei „Big Brother“

RTL 2 hat sich nach Informationen des Medienmagazins DWDL.de von seinem Programmdirektor Axel Kühn getrennt, und Schuld sein sollen nicht zuletzt die schlechten Quoten von „Big Brother“. Ein großes Rätselraten herrsche im Sender und bei der neuerdings von Ex-9Live-Chef Marcus Wolter geführten Produktionsfirma Endemol, woran das liegen mag, dass die jungen Menschen die tägliche Container-Show plötzlich verschmähen. Dabei sind die Kandidaten extra schon in Dezember für ein Dreivierteljahr in den Container gezogen. „Weihnachten und Silvester im Haus – fern ab von den lieben Verwandten und Bekannten“, hatte Kühn zuvor gesagt, „das ist einfach spannend.“

Nun. Dann schauen wir uns das doch mal an.

Heiligabend im „Big Brother“-Haus. Der Morgen beginnt für viele mit einem Kater. Besonders für Madeleine, die großes Interesse an Daniel hat, der sein Interesse für sie am Abend vorher aber in folgende Worte kleidete:

„Es ist so, dass ich die schönen Sachen an dir sehe. Aber es ist auch so, dass es halt einige Sachen gibt, die nicht mit dem übereinkommen, was ich in einer Partnerin finden möchte.“

Er meint wohl ihr Aussehen.

Die 29-jährige Desi taucht als neue Mitbewohnerin auf. „Schließlich muss ja nicht immer nur Weihnachten vor der Tür stehen“, sagt der Sprecher aus dem Off. Wir werden noch viel von ihm hören.

Alle stellen sich Desi vor. Bussi.

Desiree bekommt das Haus gezeigt, das erneut in einen reichen und einen armen Bereich geteilt ist, die sich diesmal aber „Himmel“ und „Hölle“ nennen, was natürlich ganz etwas anderes ist. Die Leute in der Hölle müssen zum Beispiel auch den Müll der Himmelsbewohner trennen und ihre Wäsche waschen.

Jana erklärt Desi, was blöd ist an der Hölle: das Duschen im Freien:

„Wenn es windig ist, ist blöd, dann stehste nicht mehr unter dem Strahl. Aber das draußen Schlafen ist obercool. Wir haben viel bessere Luft als die da oben.“

Die Frauen sind sich einig, dass das Schlimmste an der Hölle ist, dass man in einer Art Sträflings-Einheitskleidungherumlaufen muss. „Du kannst Dich gar nicht identifizieren“, sagt Madeleine. Desi stellt fest, dass es schwierig ist, ohne eigene Sachen, zu zeigen, ob man Tussi ist, Schickimicki oder eher so locker.

Noch ein neuer Bewohner zieht ein: Oliver. Alle stellen sich vor. Bussi.

Die anderen Himmelsbewohner müssen entscheiden, wer von den beiden Neuen in die Hölle muss. Weil es vier Männer und nur zwei Frauen sind, entscheiden sie sich für Desiree. Hey, nur deswegen, echt.

Oliver muss in die erste Etage gehen, sich dort ausziehen und gelangt durch eine Rutsche wieder ins Erdgeschoss – aber auf die Höllenseite.


Weihnachtsmann. Screenshot: RTL 2

„Besuch ist eingetroffen“, erzählt der Sprecher. „Ho-ho-hoher Besuch, denn kein geringerer als der Weihnachtsmann höchstpersönlich gibt sich die Ehre.“ Tatsache: Ein trauriger alter Mann mit Bart steht da. Er sagt unbewegt:

„Das Leben hält immer Überraschungen bereit. Und was eben noch dunkel und ausweglos erschien, dreht sich vielleicht im nächsten Moment. Heute feiert ihr den Heiligen Abend, wie ihr ihn noch nie gefeiert habt. Und nicht nur ihr feiert ihn anders, sondern eure Leute zuhause auch. Mit einer, einer Sicherheit könnt ihr natürlich hier bleiben: Sie denken an euch. Sie denken an euch.“

Seine Ansprache treibt mehreren Kandidaten die Tränen in die Augen, vielleicht aber nur aus Rührung.

Nur die Himmelsbewohner bekommen nun je ein Päckchen und persönliche Worte:

„Orhan, du bist impulsiv, hast sehr viel Energie, und manchmal weißt du gar nicht, wohin damit.“

„Sascha, ich weiß, dein Humor ist sehr speziell. Und du magst es manchmal, unbequem zu sein. Du bist du, konsequent und willensstark. Und das ist gut so.“

Bevor er geht, schlägt der Weihnachtsmann den leer ausgegangenen Höllenbewohnern vor, sich „mit dem kleinen Wörtchen Danke“ zu beschenken.

Endlich Bescherung. Zwei Wochen sind die Bewohner von zuhause weg, aber schon ein Bild der Liebsten reicht, dass sie völlig die Fassung verlieren. Einer nach dem anderen heult Schnotten und Rotz. Die anderen heulen aus Solidarität mit.

Sascha hat eine große Fahne bekommen:

„Super-Geschenk. Viele Leute haben unterschrieben. Hier haben viele Leute unterschrieben, die ich teilweise einmal im Jahr sehe oder bis jetzt auch nur einmal gesehen habe.“

Vermutlich hätte man ihm eine noch größere Freude gemacht, wenn noch Leute unterschrieben hätten, die er noch nie getroffen hat.


Cathy, aufgelöst, mit Geschenk. Screenshot: RTL 2

Cathy wird von „Big Brother“ vor die Wahl gestellt, ob sie ihre Geschenke von zuhause haben will oder stattdessen ihr Herzblatt Beni aus der Hölle zu sich holen. Cathy entscheidet sich für ihn. Beni sagt, sie darf das nicht tun. Cathy entscheidet sich für die Geschenke. Sie heult. Sie bekommt ein Foto von ihrer Schwester. „Sie was das wunderschönste Baby, das ich je gesehen habe“, erklärt Cathy den anderen fassungslos. „Ja, danke. Ich liebe euch. Und vermisse euch ganz doll. Frohe Weihnachten.“

Der Tisch ist festlich gedeckt für das Weihnachtsessen. Aber nur für die Bewohner des Himmels. Großer Aufruhr. Die Himmelsbewohner beschließen, wenn die anderen nichts kriegen, auch nichts zu essen. Das sind zwar eigentlich die Spielregeln, aber jetzt ist Weihnachten. Und Weihnachten ist, wie Madeleine sagt, „ein anderer Tag“.

Der Sprecher stabreimt etwas vom „Bankett-Boykott“ und „festlichem Fasten“:

„Mit den Herzen sind die Himmels-Bewohner ganz nah bei ihren höllischen Nachbarn; mit dem Magen… naja. (…) Lieber ein gutes Gewissen als ein festlicher Bissen. (…) Stullen-Nacht statt Stiller Nacht?“

Immerhin hat der Weihnachtsmann den Sascha glücklich gemacht.

„Die ersten Worte, wo alle gelacht haben, ob sie meinen Humor verstehen oder nicht: So bin ich, so bin ich auch draußen. Aber als er meinte, weisse was: Du bist dir treu. Was schöneres… klar: Brief wichtig, Fahne wichtig, aber dass du dir selber treu bist, das hat sonst keiner gehört. Weisse? Dieses Ding ist für mich das wichtigste, weisse?“

Es gibt dann noch ein paar Diskussionen, ob man sich nur normal küssen lassen muss, wenn man unter dem Mistelzweig durchgeht, oder auch mit Zunge, und dann ist Heiligabend vorbei im „Big Brother“-Haus. Am nächsten Tag wird „Big Brother“ die Grenzen zwischen den Bereichen aufheben, das gibt ein großes Hallo.

Komisch, dass das keiner sehen wollte.

Auch Fernsehshow-Anrufer haben Rechte – in Großbritannien

Die Briten haben eine erfrischend eindeutige Haltung zu Fernseh- und Radiosendungen, in denen das Publikum dazu aufgefordert wird, die ein oder andere kostenpflichtige Telefonnummer anzurufen: Wenn der Zuschauer Geld ausgibt, muss er auch etwas dafür bekommen. Eine tatsächliche Chance auf einen Gewinn, zum Beispiel. Oder die Möglichkeit, eine Wahl mit einer abgegebenen Stimme tatsächlich zu beeinflussen.

Es war keine böse Absicht, dass die BBC am vergangenen Wochenende gegen diese Regel verstieß und wieder einmal den Volkszorn provozierte. Es war reine Dusseligkeit. Und das ausgerechnet bei der seit Monaten unter größter Anteilnahme der Nation laufenden Show „Strictly Come Dancing“, die auf deutsch in Deutschland „Let’s Dance“ heißt und in der Prominente um die Wette tanzen. Heute Abend ist das große Finale – es werden weit über zehn Millionen Zuschauer erwartet.

Eigentlich hätte im Halbfinale am vergangenen Samstag eines von drei verbliebenen Paaren ausscheiden sollen. Die Wertungen von vier Juroren einerseits und die Abstimmung des Publikums andererseits bestimmen jeweils zur Hälfte die Platzierung der Kandidaten. Die beiden schlechteren Paare müssen in ein Duell, in dem dann die Jury alleine entscheidet.

Es ergab sich aber, dass die Jury zufällig zwei Paare punktgleich auf den ersten Platz gesetzt hatte. Das drittplatzierte Paar hatte aufgrund des Punktesystems keine Chance mehr, den ersten Platz zu erreichen und so vor dem entscheidenden Duell gerettet zu werden – ganz egal, wie das Publikum abgestimmt hätte. Entgegen der ununterbrochenen Aufrufe, für das eigene Lieblingspaar zu stimmen und es so vor dem Duell zu bewahren, war jede Stimme für die Drittplatzierten verschenkt.

Leider fiel das den Verantwortlichen erst auf, als die Abstimmung längst lief. Und leider gab es keine Regel, was in einem solchen Fall zu tun sei. Und so beschloss die BBC, die Abstimmung nach einer Stunde „einzufrieren“ und alle drei Paare ins Finale kommen zu lassen. Die bereits abgegebenen Stimmen sollen dann dort gelten.

Ein Anruf in der Sendung kostet nur vergleichsweise lächerliche 15 Pence (16 Cent), aber das Ausmaß an Empörung und Schiebung-Rufen war dennoch gewaltig. Es legte sich erst dann ein wenig, als die BBC öffentlich erklärte, all die Anrufer, die wirklich unglücklich seien über den veränderten Ablauf, könnten ihr Geld zurück bekommen – zunächst hatte die BBC genau das abgelehnt. Aber bei kostenpflichtigen Telefonspielen sind die Briten besonders sensibilisiert, seit herauskam, dass nicht nur Sender und Sendungen nach dem Vorbild von 9Live die Zuschauer in die Irre führten, sondern die Anrufer auch in großen Shows und sogar Benefiz-Galas getäuscht wurden. Die Aufsichtsbehörde Ofcom griff mit Strafen in Höhe von mehreren Millionen Euro durch. Noch in dieser Woche verhängte sie eine Geldbuße von rund 100.000 Euro, weil vorher aufgezeichnete Radiosendungen der BBC so taten, als könne man live anrufen.

Eine funktionierende Medienaufsicht aber ist in Deutschland ähnlich unvorstellbar wie die Art, in der sich ein BBC-Verantwortlicher in den BBC-Nachrichten unangenehme Fragen vom Moderator nach dem peinlichen Chaos bei „Strictly Come Dancing“ gefallen lassen musste (Video). Vor allem aber fehlt bei uns fast jedes Gefühl, dass mit dem Geld, das die Fernsehsender durch die teuren Anrufe einnehmen, eine Verpflichtung verbunden ist.

Als im vergangenen Jahr der Kandidat Max Buskohl die RTL-Casting-Show „Deutschland sucht den Superstar“ außer der Reihe verließ, behaupteten er und sein Vater hinterher, der Sender habe ihn überredet, nicht sofort zu gehen, sondern erst nach der nächsten Entscheidungsshow. So konnte RTL am Samstag durch die Telefonanrufe der Zuschauer noch Einnahmen in schätzungsweise sechsstelliger Höhe generieren – bevor am Sonntag klar wurde, dass all diese Anrufe bedeutungslos waren, weil Buskohl ging und deshalb der vom Publikum herausgewählte Kandidat bleiben durfte. Die zuständige Landesmedienanstalt sah sich nicht veranlasst, bei RTL überhaupt nachzufragen, was denn da los war, ein öffentlicher Aufschrei über den Betrug an den Zuschauern blieb aus. Vermutlich hätte man das Gelächter der RTL-Verantwortlichen durch die halbe Republik gehört, wenn einer der Anrufer versucht hätte, sein Geld zurück zu bekommen.

Wallfahrt zum Recycling-Tempel

Vielleicht bringt der neue Vorstandsvorsitzende von Pro Sieben Sat.1, wenn er im März sein Amt antritt, auch neue Euphemismen nach Unterföhring mit. Bis dahin behält sicher noch „Optimierte Ausnutzung des Programmvermögens“ als Umschreibung für die systematische Verslumung des Programms Gültigkeit. Die Sendergruppe ist zu einem gigantischen Recycling-Unternehmen geworden. Was als „Galileo“-Beitrag auf Pro Sieben beginnt, taucht mit großer Wahrscheinlichkeit in „Abenteuer Alltag“ auf Kabel 1 wieder auf, um schließlich, am Ende der NahrungsVerwertungskette, stolz von Dieter Kronzucker auf N24 präsentiert zu werden – und umgekehrt.

Das tägliche Mittagsmagazin „Sam“ ist im internen Wettkampf um den Titel als bester Programmvermögen-Ausnutzungs-Optimierer ganz vorne dabei. „Eine tagesaktuelle Sendung zu machen, ist eine Herausforderung, der wir uns jeden Morgen wieder gerne stellen“, hat Silvia Laubenbacher vor ein paar Jahren über „Sam“ gesagt. Aber wahrscheinlich haben sie damals schon intern darüber gelacht. In dieser Woche füllt die zweistündige Sendung jeweils eine Stunde täglich damit, fünf „Prominente“ beim Pilgern auf dem Jakobsweg zu begleiten. Moderatorin Silvia Laubenbacher gibt sich Mühe, den Eindruck zu erwecken, dass die Leute – passend zur Adventszeit – in diesen Tagen für ProSieben unterwegs sind, obwohl es sich dann, nach den Bildern zu urteilen, um einen wirklich außerordentlich heißen Spätherbst in Nordspanien handeln müsste.


Screenshot: Pro Sieben

In Wahrheit liegt die Pilgerreise schon über ein Jahr zurück. Pro Sieben zeigte sie im vergangenen Herbst als „Das große Promi-Pilgern“ in der Primetime unter mäßiger Anteilnahme des Publikums. Zur Wiederverwertung hat Pro Sieben die Sendung nicht einmal neu verpackt: „Sam“ zeigt einfach täglich je eine unbearbeitete Folge „Promi-Pilgern“ als Teil von „Sam“. Und das anspruchslose Mittags-Publikum guckt gerne zu: Über 400.000 Zuschauer waren es gestern — das sind immerhin fast halb so viele, wie die Sendung in der Originalausstrahlung am Sonntagabend hatte.

Der zukünftige Chef von ProSiebenSat.1, Thomas Ebeling, hat übrigens Psychologie studiert und kommt von dem Pharma-Unternehmen Novartis. Sagt ein Sendermitarbeiter: „Der Mann ist Psychologe und hat Ahnung von Drogen. Beides können wir gerade gut gebrauchen.“

Die Inflation des Elends


Foto: RTL

Man tut Michael Hirte nicht unrecht, wenn man sagt, dass er kein großer Mundharmonikerspieler ist. Dass die RTL-Show, die er am vergangenen Samstag gewonnen hat, zwar „Das Supertalent“ heißt, er aber vielleicht eher nur ein So-mittel-Talent ist. Den Fernsehzuschauern, die ihn wählten, war es egal, ob es bessere Mundharmonika-Spieler gibt und größere Talente. Das Publium war sich mit überwältigender Mehrheit einig: Dieser Mann hatte es verdient zu gewinnen. Weil er so sympathisch wirkt und in seinem Leben viel Pech hatte. Es gibt Dinge, die sind wichtiger als Talent.

Bevor Michael Hirte zum ersten Mal in der Show spielte, hatte RTL den Zuschauern schon seine Geschichte erzählt: Dass der LKW-Fahrer 1991 schwer verunglückt ist, für zwei Monate Koma fiel, seitdem gehbehindert ist und auf einem Auge nicht sehen kann, zur Zeit arbeitslos ist, von Hartz-IV lebt und sich ein paar Euro als Straßenmusiker verdient. Ohne diese traurige Geschichte wäre der große Erfolg des Mundharmonika-Spielers nicht zu erklären, und das ist völlig in Ordnung so: für ihn, für das Publikum, für die Show, für alle.

Dieser Effekt ist auch nicht neu. Neu ist, dass das noch nicht genug ist: die Behinderung, die Arbeitslosigkeit, die Geldnot. Dass Michael Hirtes Schicksal gerade fast jeden Tag noch tragischer werden muss.

Inzwischen ist bekannt: Dass er von seiner Ehefrau verlassen wurde, angeblich war sie eines Tages einfach weg. Dass seine Frau ihn anzeigte, wegen Körperverletzung, und ihn als Trinker bezeichnet. Dass zwei Männer in seine Wohnung eingedrungen sein und ihn verprügelt haben sollen. Dass er einen Offenbarungseid ablegen musste.

Heute informierte „Bild“ die Öffentlichkeit darüber, dass sein „Stiefpapa“ dement sei und von Michael Hirtes Mutter betreut werde. Dass sie schweren Krebs habe, sich regelmäßig ärztlichen Behandlungen unterziehen müsse und einen künstlichen Darmausgang trage. „Was keiner weiß“, hat die Zeitung davor geschrieben. Das wird man nicht mehr so oft schreiben können im Zusammenhang mit diesem „Supertalent“.

Michael Hirte setzt gerade ungewollt Maßstäbe, wie viel ein Mensch erlitten haben muss, um sich unsere Anteilnahme zu verdienen. Es ist eine Entwertung des Elends. Aber jede weitere Veröffentlichung von traurigen Details aus seinem Privatleben lässt uns nun sogar doppelt Mitleid haben mit ihm: nicht nur, dass er das alles erleiden muss, sondern auch, dass all das nun öffentlichkeitswirksam ausgebreitet wird, verwurstet zu Schlagzeilen, Bilderstrecken, „Explosiv“-Beiträgen.

Joey Kelly, der selbst mit der Kelly-Family jahrelang als Straßenmusiker über die Dörfer zog, bevor der große Erfolg kam, hat Michael Hirte am Montag in der RTL-Sendung „Extra“ einen erstaunlich offenen Ratschlag gegeben: Er solle jetzt „alles mitnehmen, was geht und richtig Vollgas geben, die nächsten ein, zwei Jahre, weil: Das kann schneller aussein, als man denkt.“ Joey Kelly weiß, wovon er spricht, und vermutlich hat er Recht. Nur dass es so scheint, als sei Michael Hirte einer dieser neuen „Stars“, für die „alles mitnehmen, was geht“ in Wahrheit bedeutet „alles abgeben, was geht“ – von seiner Privatsphäre.

2008 vs 2008! – Die Konferenzschaltung

In einem ungewohnten Akt von Zuschauerfreundlichkeit haben sich das ZDF und RTL entschlossen, ihre ausführlichen vorzeitigen Jahresrückblicke auf einen gemeinsamen Termin zu legen, um die Zahl der jahresrückblickfreien Tage im Dezember zu erhöhen — ein Vorbild, dem sich im nächsten Jahr hoffentlich weitere Sender anschließen werden. Wir würdigen die historische Entscheidung mit einer Konferenzschaltung: Niggemeier schaut Jauchs „2008! Menschen, Bilder, Emotionen“ (RTL), Schader Kerners „Menschen 2008“ (ZDF). Und wenn Sie mögen, sparen Sie sich einfach beide Rückblicke und verfolgen Sie hier live, was passiert. Um 20.15 geht’s los.

20:12 Uhr: Foul im ZDF! Kerners Show hat drei Minuten zu früh begonnen. Frühstart. Müsste zur unmittelbaren Disqualifikation führen. Pfeift aber keiner ab.

20:20 Uhr: Ein sehr merkwürdiger Effekt stellt sich bei der Begrüßung ein. Es sieht aus, als würden Jauch und Kerner in der gleichen Dekoration, vor dem gleichen Publikum, in der gleichen Show stehen. Die totale Verwechselbarkeit. Jauch beginnt mit Fabian Hambüchen — oder, wie er allgemein formuliert: Einem Mann, der wie viele von uns, sich in diesem Jahr Großes vorgenommen hat, es dann aber nicht ganz schaffte. Der Turner darf seinen missglückten Auftritt am Reck aus Peking noch einmal wiederholen. „Diesmal im Gold-Standard“, wie Jauch ankündigt.

20.25 Uhr, ZDF: Im ZDF geht’s mit dem „Horror von Hamburg“ los: dem Lufthansa-Flieger, der im März bei der Landung beinahe verunglückt wäre, und die Kamera zoomt passend dazu im Schwenkflug auf Kerner und seine Gäste hinab – den Premiere-Moderator Hansi Küpper (der in der Maschine saß) und Lufthansa-Chefpilot Jürgen Raps. „Hat die Lufthansa den Passagieren inzwischen mal ein Freiticket geschenkt – vielleicht für eine Bahnfahrt“, witzelt Kerner.

20.30 Uhr, RTL: Wir lernen einen 96-jährigen Rentner kennen, der dreifacher Uropa ist und Klimmzüge macht wie viele 26-jährige nicht. Nun turnt er mit Jauch und Hambüchen um die Wette. So ein Jahresrückblick ist für Jauch auch nur Stern-TV-XXL. Zu seinem hundertsten Geburtstag will er ihn wieder einladen, zum Jahresrückblick 2012 (der dann vermutlich schon in den frühen September vorgerutscht ist).

20.31 Uhr, ZDF: Das ZDF wiederholt gerade den halben Fernsehpreis, weil gleich Marcel Reich-Ranicki kommt. Also: nicht ins Studio, sondern bloß per Schaltung auf den Bildschirm. Und die sieht nicht so aus als sei sie live.

20.36 Uhr, RTL: Der Komiker Mario Barth ist in diesem Jahr vor 70.000 Menschen im Olympia-Stadion aufgetreten. RTL hat damit schon viele Stunden Programm bestritten. So gesehen natürlich nur konsequent, auch den Jahresrückblick damit zu füllen.

20.38 Uhr, ZDF: Gute Nachrichten, kündigt Kerner an: Die Geburtenrate in Deutschland steigt – und zählt dann die deutschen Promigeburten auf, gefolgt von denen aus Übersee: „Auch Hollywood ist endlich wieder fruchtbarer Boden.“ Hat er wahrscheinlich aus der „Bunten“ abgelesen. Bisher ist im Zweiten aber noch kein Live-Promi in Sicht.

20.40 Uhr, RTL: 2008 war anscheinend das Jahr, in dem eine Frau eine Gabel verschluckt hat.

20.43 Uhr, ZDF: Und Kerner spielt Rudi Carrell: Die Dame mit den Zwillingen, von denen einer helle Hautfarbe hat und einer dunkle, bekommt als Überraschung ihre lange nicht gesehene Mutter aus Ghana eingeflogen, drückt Kerner deswegen beinahe in die Bewusstlosigkeit und will gar nicht mehr weg. Kerner sagt: „Wir wollten die eigentlich alleine lassen, weil wir dachten: ist ne Familienangelegenheit. Aber jetzt bleiben die einfach auf der Bühne.“

20.48 Uhr, ZDF: Das Zweite erledigt Florian Hambüchen übrigens im Olympia-Rückblick-Einspieler. Wenigstens sieht man darin, was in Peking alles los war. Dem Kollegen Niggemeier fehlt das ja offenbar ein bisschen bei RTL. Anschließend sitzen Britta Heidemann, Matthias Steiner, Hinrich Romeicke – klarer Olympionikenvorteil für Kerner.

20.51 Uhr, RTL: Ich bereue ein bisschen, mich nur wegen einer gewissen Kerner-Allergie für RTL entschieden zu haben. Die Beliebigkeit hier ist grenzenlos. Andererseits, immerhin, klarer Pluspunkt: Werbepausen!

20.55 Uhr, ZDF: Hilfe, Johannes B. Kerner hat sich Fips Asmussen als Gagschreiber ausgeliehen? Oder wer erfindet sonst Sätze wie: „Hinrich Romeicke ist im richtigen Leben Zahnarzt, hat also von Natur aus mit Gold zu tun.“ (Wir sind noch bei Olympia.) Und der erzählt dann, dass es ein bisschen doof ist, dass er als Springreiter immer erst nach Feierabend üben kann, auf dem Pferd zu sitzen. Ha, was sollen denn das all die Marathonläufer mit Bürojob sagen?

20.58 Uhr, RTL: RTL scheint sich für einen reinen Kuriositätenjahresrückblick entschieden zu haben. Nun kommt ein Mann, der bei einer dieser Freier-Fall-Anlagen ungesichert außen an einem Sitz hing und dann damit 40 Meter in die Tiefe raste. Nach einer Minute war sein gefährlicher Hängeakt vorbei. Der Sprecher sagt: „Es ist vorbei.“ Aus dem Off singt Peter Heppner: „Es ist vorbei.“ Erste Frage von Jauch an den Mann im Studio: „Hatten Sie zwischenzeitlich mit dem Leben abgeschlossen?“ Antwort: „Eigentlich nicht.“ Sympathischer Mann.

21.00 Uhr, ZDF: Zum wievielten Mal muss Gewichtheber Matthias Steiner jetzt erzählen, wie er sich dazu entschieden hat, bei seiner Olympia-Siegerehrung das Foto seiner verstorbenen Frau hochzuhalten? Kürzlich erst beim Bambi, vor einigen Wochen bei Oliver Geißen in der „Show der Woche“ (müssen Sie nicht kennen, hat RTL längst wieder abgesetzt) – und jetzt eben im ZDF-Jahresrückblick. „Ich hab’s ja bei der Europameisterschaft schon genau so gemacht – da hat’s nur keiner gesehen“, sagt Steiner. Wenn die Fernsehleute das gewusst hätten!

21.04 Uhr, RTL: Michael Ballack sitzt vor einem Kamin in London und versucht wortreich, nichts zu sagen. Jauch fragt ihn dann wenigstens noch, warum er denn geheiratet hätte, obwohl er doch schon vorher ganz gut mit seiner Frau zusammen gelebt hätte. Ballack weiß es erst auch nicht, aber dann: „War ein bisschen Zeit im Sommer, deshalb haben wir das auch gemacht.“

21.07 Uhr, ZDF: Oh, apropos Kuriositätenrückblick: Ich hab hier gerade Gertrud Scheu, 82, die ihrem Mann Eugen zur diamantenen Hochzeit einen selbst gemachten Rückwärtssalto vom Drei-Meter-Brett geschenkt hat. Sind die Herrschaften etwa bei RTL entwischt?

21.11 Uhr: „dankegut“ schlägt unten in den Kommentaren vor: „Nächstes Jahr bitte den Rückblick im ZDF mit Jauch als Moderator!“ Wir sind dafür.

21.13 Uhr, ZDF: Eckart von Hirschhausen ist im ZDF ein Mann des Jahres, weil er gestern bei der ZDF-Sendung „Ein Herz für Kinder“ aus eigener Kasse 250.000 Euro gespendet hat. Oder weil seine Comedy-CD sich sechs Milliarden Mal verkauft hat (geschätzt). Eins von beidem halt.

21.24 Uhr, RTL: Sarah Connor, in der Rubrik „Trennungen des Jahres“. Jauch spricht einen typischen kleinen „RTL-Exclusiv“-Beitrag. Es klingt merkwürdig, mit seiner Stimme Sätze zu hören wie: „Aber die beiden bleiben Eltern.“ Oder: „Auf ihrem T-Shirt steht ‚Always Family“, und das gilt auch für ihre Musik.“ Sie singt, will aber zu ihrer Trennung nichts sagen. Gleich kommt ihre Mutter, die ja in diesem Jahr Zwillinge bekommen hat, bringt aber ihre Zwillinge nicht mit, weil sie schon schlafen. (Wenn sich das hier langweilig liest, könnte das an der Sendung liegen.)

21.25 Uhr, RTL: Breaking News: Sarah Connors Mutter (ca. 50) nimmt jetzt die Pille.

21.26 Uhr, ZDF: So. Jetzt wird‘s wieder ernst. Finanzkrise bei Kerner. Also: nicht bei ihm direkt, sondern in der Sendung. Und wen hat das ZDF dazu eingeladen? Island? Nee, Karlheinz Bellmann, der seine Ersparnisse in Island angelegt hatte und dann dorthin gefahren ist, um sich zu beschweren. „Wiso“-Chef Michael Opoczynski soll derweil mal erklären, wo es hin ist, das Geld. Kann er aber auch nicht sagen. Und Kerner fragt eine Rentnerin, die von ihrer Bank Anlagen bei Lehman Brothers angedreht bekommen hat: „Sie sind aber nicht so ne Zockerin?“

21.32 Uhr, ZDF: Das Zweite lässt in der Fußgängerzone wieder die Hits des Jahres nachsingen. In der Mainzer Innenstadt natürlich, wo sonst? Die lustigsten Minuten bisher. Ehrlich.

21.36 Uhr, RTL: ölkjölmö.öööölyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyyy

Oh Verzeihung, kurz auf der Tastatur eingenickt. Kurt Beck war da. Die kurzen Filme zur Vorstellung werden anscheinend von den gleichen Leuten mit Musik unterlegt, die sonst „Bauer sucht Frau“ machen. Zu den Bildern von Becks Rücktritt hören wir die Zeile „I used to rule the world“ von Coldplay. Dann ist er im Studio, und Jauch fragt ihn, was für ihn nach diesem Jahr schwerer wiege – das Scheitern in Berlin oder dass er in Rheinland-Pfalz seine Heimat wiedergefunden habe. (Kurze, verstörende Sehnsucht nach den richtigen Psychofragen von Reinhold Beckmann.) Becks antwortet: „Ich lebe mit beidem.“ Außerdem sagt er: „Ich habe auch gerade ein Paket geschnürt“, für gegen die Finanzkrise, nehme ich an. Aber er mag Katzen und hat ein Katzenbild für einen Kalender gemalt (siehe unten). Jauch bedankt sich zum Schluss bei ihm besonders, weil man so viele Politiker angefragt hätte, aber nur er zugesagt hätte. Kann man auch als Entschuldigung an die Zuschauer verstehen, im Sinne von: Wenn wir jemanden aufregendes bekommen hätten, hätten wir ihn natürlich genommen.

21.42 Uhr, ZDF: Jetzt hat das ZDF bald alle Showklassiker-Elemente durch: Zwei Mädchen kennen alle Cornelia-Funke-Bücher auswendig und wollen die Titel an drei Sätzen erkennen, die ihnen Gottschalk, äh: Kerner vorliest. Das dürfte den in den Medien so beliebten „Wetten dass…?““-Nachfolgespekulationen eine unerwartete Wendung geben. Cornelia Funke ist auch da und sagt: „Fantastisch! Unglaublich!“

21.50 Uhr, RTL. Eine Ehepaar hing dieses Jahr irgendwann irgendwo zweieinhalb Stunden kopfüber mit ihrem Flugzeug in einer Stromleitung. Das war bestimmt total dramatisch. Also, ganz anders als diese Sendung.

21.51 Uhr: Herr Niggemeier, war der Mann schon da, dessen Fallschirm beim Sprung nicht aufgegangen ist und der trotzdem überlebt hat? Ach, halt, das war im letzten Jahr – ich weiß nur nicht mehr, ob bei Kerner oder Jauch.

21.52 Uhr, RTL. Philipp Lahm. RTL übererfüllt die Fußballer-Quote. Anscheinend ist „Das Spiel“ insgesamt offensiver geworden, schneller auch. Aber hinten ist auch wichtig.

21.59 Uhr, ZDF: Gerade erzählt Nujood Ali aus dem Jemen, wie sie dieses Jahr im Alter von zehn Jahren von ihren Eltern an einen 20 Jahre älteren Mann zwangsverheiratet werden sollte, sich dagegen wehrte und vor Gericht die Scheidung durchsetzen konnte. Also: interessanter als Philipp Lahm. Anschließend erzählt Kerner, dass das ZDF dem Mädchen eine Reise ans Meer schenken wolle, weil sie sich das so wünsche und schenkt ihr als Symbol – eine Landschildkröte aus Plüsch.

22.01 Uhr, RTL. Auftritt Paul Potts, der Mann aus der Telekom-Werbung. Gut, das war zweifellos der Werbespot des Jahres und auf ’ne Art das Lied des Jahres. Ich hoffe nur, dass der einfach nur singen darf und nicht auch gleich Jauch noch erklären muss, wie das war, wie er sich gefühlt hat, damals, als er bei „Britain’s Got Talent“ gewonnen hat, und wie das jetzt ist für ihn, wie er sich fühlt, da er in Deutschland ein Star ist etc pp.

22.08 Uhr, RTL. Okay, ich lag daneben. Tatsächlich fragte Jauch: „Was erinnert Sie heute noch an Ihr altes Leben?“ („Ich hab immer noch Kontakt mit den Freunden, mit denen ich früher gearbeitet habe, oder meiner Familie, normalerweise über SMS, aber ich genieße das Jahr jetzt.“) Und: „Warum haben Sie Ihre Zähne richten lassen? („Ich hab mich immer blöd gefühlt, wenn ich gelächelt habe. Selbst auf meinen Hochzeitsbildern habe ich den Mund geschlossen.“) Nachher kommt noch Michael Hirte.

22.13 Uhr, ZDF, RTL: „Was uns dieses Jahr bewegt hat“, zeigt das ZDF im Schnelldurchlauf: Katastrophen, Entführungen, Rettungsversuche. Nachher spricht „Aktenzeichen XY“-Moderator Rudi Cerne über das Holzklotz-Attentat von der Autobahnbrücke. Und der Münchner Rentner, der in der U-Bahn von zwei Jugendlichen brutal angegriffen wurde, muss dem ZDF nochmal erklären, wo genau es passiert ist. Kollege Niggemeier erzählt, bei Jauch werde gerade das Brandunglück von Ludwigshafen diskutiert. Wir sind also auf beiden Sendern in der ernsthaften Phase des Abends angelangt.

22.17 Uhr, RTL: Zu Gast sind Kamil Kaplan, der in Ludwigshafen ein Baby aus dem brennenden Haus geworfen hat, und der Polizist Uwe Reubner, der es auffing. Hinterher bekommt die Tochter von Kaplan, die im Publikum sitzt, von Jauch als Weihnachtsgeschenk eine Digitalkamera, die sie sich wohl gewünscht hat. Kurze Schrecksekunde bei mir. Ist aber keine „Bild“-Leser-Reporter-Kamera.

22.23 Uhr, ZDF: Weil es im Sommer beim EM-Spiel der Nationalmannschaft während der Live-Übertragung Bildausfall gab, hat „der findige ZDF-Mann“ Thorsten Schmidt, der als Bildingenieur in der Zentrale in Mainz Dienst hatte, die Idee gehabt, das Signal des Schweizer Fernsehens aufzuschalten. Und ist vom Sender nachher als Dank nicht nur zum Endspiel eingeladen worden, sondern jetzt auch zu Kerner. Was man nicht alles für seinen Arbeitgeber zu ertragen bereit ist.

Anschließend geht’s weiter mit Bastian Schweinsteiger, Jens Lehmann und dem Fußball-Rückblick.

22.34 Uhr, RTL. Zum ersten Mal wirkt Jauch spontan und locker – als er Angst hat, sich auf den Formel-1-Wagen von Sebastian Vettel zu setzen und nicht weiß, ob er etwas kaputtmachen kann oder sich den Hintern verbrennt. Vettel ist ein Gast, um den sich die Jahresrückblickseinlade-Experten in den nächsten Jahren streiten sollten. Er erzählt, wie das war, beim Reinfahren ins Studio, ganz knapp an den Zuschauern in der ersten Reihe vorbei: „Die Leute haben wie beim Staubsaugen zuhause die Füße hochgenommen.“ Und auf die Frage, warum seine Freundin nicht mit zu den Rennen kommt, ob sie das nicht will oder er nicht, sagt er: „Das ist ja mein Büro, und wer nimmt schon seine Freundin mit ins Büro?“

22.37 Uhr, ZDF: Ok, das war natürlich unvermeidlich: Oliver Kahn, der dieses Jahr seine Torwartkarriere beendete, beglückt seinen neuen Co-Kommentator Kerner mit einem Besuch – und der bedankt sich mit einer derart überschwänglichen Ankündigung, dass man glauben könnte, Kahn müsse demnächst Bundeskanzler werden. Mindestens.

22.44 Uhr, RTL. Leona Leewis singt „Bleeding Love“. Kollege Schader stöhnt. Ich hatte schon drei Show-Blöcke zur Erholung, er nur einen.

Werbepause.

22.48 Uhr, ZDF: „Menschen des Jahres“ sind beim ZDF übrigens auch die Fußballer vom 1. FC Germania 08 Forchheim, die Kerner jetzt als Gag auf der Couch sitzen hat, weil sie in der Kreisklasse 216 Tore kassiert haben, bevor sie selber mal den Ball reingekriegt haben und sich jetzt als „schlechtester deutscher Fußballverein“ verspotten lassen müssen. Die schlimmere Fehlleistung ist aber wohl, die Einladung des ZDF angenommen zu haben.

22.53 Uhr, ZDF: Die schönsten fünf Minuten kamen gerade von den „Frontal 21“-Kollegen Doyé und Wiemers, die sonst die Politsatire „Toll!“ machen und schon mal die lustigsten Höhepunkte aus diesem Jahr zusammenschneiden durften. Mehr gibt’s im „Satirischen Jahresrückblick“ am 16. Dezember im ZDF – und den kann ich schon mal vorab empfehlen.

23.00 Uhr, ZDF: Kerner erklärt eine Lokalpolitik-Posse aus dem bayerischen Bergtheim. Es wird gerade etwas beliebig hier. Und gleich Udo Lindenberg. Da kann ich ja kurz ein Nickerchen machen.

23:01 Uhr, RTL: Thomas Beatie, der Mann, der eine Frau war, aber nach seiner Geschlechtsumwandlung ein Kind bekam (und gerade wieder schwanger ist), ist mit Frau und Kind zu Gast. Jauch fragt, ob die beiden ihrer Tochter früh erzählen wollen, dass ihr Vater sie ausgetragen hat. Er antwortet, dass sie es ihr die ganze Zeit schon erzählen… „Es ist einfach so, dass ihre Mutter sie nicht austragen konnte, ihr Vater konnte es aber.“ So einfach ist das. „Durch Ihren Auftritt hier haben Sie, glaube ich, ein paar Millionen Menschen, die Ihnen Ihr Glück wünschen“, sagt Jauch. Und als Geschenk für das Baby und ihr zukünftige Schwester gibt es zwei Plüsch-Seepferdchen, „die einzigen Tiere, bei denen auch die Männer die Jungen austragen“. Awwwwww.

23.08 Uhr, RTL: Gold-Schwimmerin Britta Steffen. Mittendrin im Gespräch zeigt Jauch den auch beim x-ten Ansehen noch grandiosen, lustigen und bewegenden Fernsehausschnitt, wo sie unmittelbar nach dem Sieg in der ARD hemmungslos heulend ihre Familie grüßt. Und mir wird plötzlich klar, was ich lieber sehen würde als diese ganzen Gespräche: einen Jahresrückblick.

23.08 Uhr: Herr Niggemeier, ist Frau van Almsick irgendwo in der Nähe und weint vor Freude?

23.10 Uhr, ZDF: Lindenberg schmiert ein Selbstporträt auf ein Flipchart. Wetten, dass das gleich versteige… – oh, ist schon soweit.

23.14 Uhr, RTL und ZDF: Das Timing ist perfekt. Exakt gleichzeitig in beiden Programmen Oliver-Kahn-Parodien. Das ZDF hat die gute mit Max Giermann („Switch Reloaded“), RTL die andere mit Oliver Pocher.

23.16 Uhr, ZDF: „Switch Reloaded“ darf fürs ZDF sogar einen kompletten „heute journal“-Jahresrückblick nachstellen. „Hier geht es jetzt weiter mit Johannes B. Kerner – naja, immer noch besser als Bauer sucht Frau im Unterschichtenfernsehen“, moderiert der falsche Claus Kleber ab. Dann ist ein Viertel des „Switch Reloaded“-Teams zu Gast und Kerner stell Kerner-Fragen: „Wie schafft man sich so ’ne Figur drauf?“ Aber: gute Idee, die einzuladen.

23:18 Uhr, RTL: In einem Schnelldurchlauf als Musikvideo zappt RTL sekundenweise durch: Obama, Ypsilanti, Reich-Ranicki, Merkel, Zumwinkel, Kaukasus-Krieg, Karadczic, Anstetten, ICE, Klimawandel, Erdbeben in China, Fackellauf… All das, was in einem Jahresrückblick vorgekommen wäre.

23:35 Uhr, RTL: Zum Finale: der deutsche Paul Potts, Michael Hirte. RTL ist sich selbst genug.

23.37 Uhr, ZDF: Während Herr Niggemeier weiter darauf wartet, einen Jahresrückblick zu sehen und keine beliebige Kuriositätensammlung, zeigt das ZDF, welche Stars und Prominente dieses Jahr gestorben sind – das gehört nun mal dazu. Kerner hat schon zwanzig Minuten überzogen und kündigt den letzten „Mensch des Jahres“ an: „Feuchtgebiete“-Autorin Charlotte Roche. Ups, da hat Andrea Ypsilanti, die auch mal angekündigt war, wohl abgesagt.

23:40 Uhr, RTL: ERSTER! Ich bin durch. Und Michael Hirte, der in seiner spröden Art eine Belebung für jede dieser glatten Sendungen ist, sagte am Ende in die Verabschiedung noch mit großer Selbstverständlichkeit: „Ich wünsche allen ein großes Fest.“

23.41 Uhr, ZDF: Roche sagt: „Ich will nicht das ganze Jahr über Analverkehr reden.“ Und: „Meine Eltern war früher stolz auf mich, als ich Fernsehen gemacht habe. Seit dem Buch nicht mehr.“ Und Marcel Reich-Ranicki darf es noch „rezensieren“ (innerhalb von 20 Sekunden): „völlig literarisch wertlos“. Und jetzt bitte AUFHÖREN! Nach dreieinhalb Stunden.

23.44 Uhr, RTL: Vielleicht könnte RTL im nächsten Jahr einen richtigen RTL-Jahresrückblick zeigen. Also einen, der konsequent auf das RTL-Jahr zurückblickt, mit den Gewinnern in den von RTL übertragenen Sportarten plus „Domino Day“, den Helden der RTL-Castingshows, den Tops und Flops von „RTL-exclusiv“, den schönsten Spots im RTL-Programm. Sie sind schon nah dran. Man müsste nur ein paar Alibi-Geschichten weglassen. Aber es wäre so viel konsequenter. Und noch müheloser. Vermutlich könnte man es auch komplett aus den „Stern TV“- Sendungen des Jahres zusammenschneiden. (Ist jetzt nicht das bestgelaunte Fazit des Abends, aber das fällt mir nach dreieinhalb Stunden auch schwer.)

23.46 Uhr, ZDF: Schluss in München, „Ich & Ich“ singen: „So soll es bleiben“. Das gilt aber hoffentlich nicht für den Jahresrückblick-Marathon von ZDF und RTL – auch wenn das Zweite eindeutig den besseren Rück-Blick hinbekommen hat.

Gute Nacht aus Berlin. Und vielen Dank fürs Mitlesen und Kommentieren.

Von Bambis, Beben, Blutbädern und Brennpunkten

Die eigentliche Frage, warum die ARD sich Jahr für Jahr dafür hergeben muss, eine Werbeveranstaltung des Burda-Verlages namens „Bambi“ zu übertragen, hat sich natürlich kein ARD-Verantwortlicher zu stellen getraut (dafür aber mit genüsslicher Boshaftigkeit das Magazin „Der Tag“ von hr2). Stattdessen gab es nur ein halböffentliches Geraune einiger Chefredakteure, dass es wenigstens vor der Show einen „Brennpunkt“ zu den Anschlägen in Bombay hätte geben müssen. Der sei ihnen vom neuen ARD-Programmdirektor Volker Herres aber verweigert worden.

Um daraus einen echten Aufreger zu machen, fehlte allerdings die Fallhöhe, denn der ARD-„Brennpunkt“ ist schon lange nicht mehr, was er war: eine Art öffentliches Hyperventilieren, mit dem der Sender, sobald ein bisschen Wind mehr als zwei Bäume umknickte, das Publikum nach der „Tagesschau“ noch eine Viertelstunde länger bei sich halten konnte – zum Ärger der privaten Konkurrenz. Und bei dem am Ende nicht immer klar war, ob die größere Katastrophe sich gerade in der Welt, oder auf dem Bildschirm abgespielt hatte.

So sparsam geht das Erste inzwischen mit seinem Sonderprogramm um:

ARD-„Brennpunkte“ 2007

18.01.2007: „Orkan über Deutschland“ / „Stoiber gibt auf“
19.01.2007: „Orkan über Deutschland“
17.04.2007: „Blutbad in Blacksburg“
24.05.2007: „Alles nur gedopt?“ (Geständnisse von Zabel und Aldag)
18.06.2007: „Tod im Reisebus“
26.08.2007: „Flammenhölle in Griechenland“
05.09.2007: „Al Kaida in Deutschland?“
13.11.2007: „Der Rücktritt“ (Müntefering)

ARD-„Brennpunkte“ 2008

28.01.2008: „Regieren – Aber wie?“ (Hessen-Wahl)
14.04.2008: „Milbradt tritt zurück“
13.05.2008: „Tod unter Trümmern – China nach dem Beben“
14.05.2008: „Tod unter Trümmern – Wettlauf mit der Zeit“
20.08.2008: „Flugzeugabsturz in Spanien“
07.09.2008: „Chaos in der SPD“ (Rücktritt Beck)
29.09.2008: „Beben in Bayern – Was passiert mit der CSU?“
10.10.2008: „Kippt jetzt die Wirtschaft?“ (Kursstürze an den Börsen)
03.11.2008: „Machtwechsel geplatzt – Wie weiter in Hessen?“
05.11.2008: „Der neue Mann im Weißen Haus“ / „Todesfalle Bus“
28.11.2008: „Tod und Terror in Bombay“

Den Indien-„Brennpunkt“ gab es dann also doch noch, nur einen Tag später. Besser als umgekehrt: Im September war das Erste nach der Bayern-Wahl mit seinem „Brennpunkt“ einen Tag zu früh dran, weil Erwin Huber partout nicht zurücktreten wollte. BR-Chefredakteur Sigmund Gottlieb blieb deshalb viel, viel Zeit, um in ein oberbayerisches Wirtshaus zu schalten, wo der Reporter bei einem zünftigen Bier mit CSU-Anhängern reden durfte.

Einen Tag später ist Huber dann tatsächlich zurückgetreten. Dafür gab’s dann aber keinen „Brennpunkt“ mehr.

Bislang fehlt in diesem Jahr sogar noch der obligatorische Schneechaos-„Brennpunkt“. Nach unbestätigten Informationen verhandelt ARD-Chef Volker Herres noch mit dem Wetter über einen passenden Termin. Donnerstags wär‘ ganz schlecht.