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Die Emanzipation der Youtuber

Krautreporter

Videoblogs boomen, aber im Wachstums- und Kommerzialisierungsrausch droht der Zauber des Mediums unter die Räder zu kommen. Eine Gruppe bekannter Youtuber will mit einem Verein Alternativen entwickeln und über Inhalte reden, nicht über Klickzahlen. Sie suchen auch nach ihrem eigenen Selbstverständnis.


Foto: www.svensonpictures.com

Ein Dachgeschoss-Loft in einer ehemaligen Fabrik in Berlin-Neukölln. Marie Meimberg steht am Kochblock und macht Käse-Spätzle, viele Käse-Spätzle. Eine Auflaufform voll steht schon im Backofen, in eine zweite schichtet sie abwechselnd frische Nudeln und Käse. Kerzen brennen, große Weingläser stehen bereit, im Hintergrund läuft unaufdringliche Jazzmusik, quer durch den großen, offenen Wohnbereich hängen noch Girlanden von einer Geburtstagsfeier in der letzten Woche, in der Ecke steht ein Fußball-Kicker.

Es wirkt, als hätte man sich in eine ZDF-Familienserie verlaufen.

Marie erwartet Gäste. Es ist Vereinsabend. Alle paar Wochen treffen sich die Mitglieder des Vereins „301+“, lassen es sich gut gehen und arbeiten an der Rettung der Youtube-Szene in Deutschland.

15 Freunde zwischen 21 und 31 sind sie, Studenten, Selbständige. Marie ist dabei, die persönliche Filme macht; Dominik, der versponnene Filme macht; Steven und Rick, die lustige Filme machen; Marti, der musikalische Filme macht, Robert, der Filmkritik-Filme macht. Die bekanntesten sind Nilam Farooq, die als daaruum über Mode und Lifestyle bloggt, und Florian Mundt, der als LeFloid das Zeitgeschehen kommentiert und den seine Freunde hier „Flo“ nennen.


Foto: www.svensonpictures.com

Die Szene der Youtuber wächst gerade wie blöd. Große Unternehmen, teils mit Millionen im Rücken, versuchen von dem Boom zu profitieren und heizen ihn weiter an. Sie vermarkten und vernetzen die einzelnen Videoblogger, helfen ihnen, ihr Publikum zu vergrößern und Geld zu verdienen. Worum es ihnen geht, formuliert Christoph Krachten, Präsident des größten Netzwerkes Mediakraft, in erstaunlicher Klarheit: „Wachstum, Wachstum, Wachstum!“

Die 15 Freunde von „301+“ eint der Gedanke, dass das nicht alles sein kann. Und die Sorge, dass bei dem Tempo und der Art des Wachstums gerade das auf der Strecke bleiben könnte, was den Reiz des Mediums eigentlich ausmacht. „Alles, was ich an Youtube immer propagiert habe, warum es so geil ist, dass ich mein eigener Herr über alles bin – das verkommt langsam“, sagt Flo. „Uns verbindet die Sorge um den guten Content und die Community.“

Er ist einer der erfolgreichsten. Sein Videokanal hat über zwei Millionen Abonnenten. Der Erfolg führt in dem Klima der überhitzten Kommerzialisierung und Professionalisierung aber nicht dazu, dass auch andere versuchen, ihren Weg zu gehen, sondern dazu, seinen nachzugehen. „Man hat Kanäle wie den von Flo genommen“, erzählt Marie, „und fast schon gesagt: Okay, was macht der? So müssen’s jetzt alle machen. Schlimm finde ich, dass sich die Inhalte angleichen. Jetzt lernen alle: Okay, ich muss möglichst viele Kooperationen machen, ich brauche ein Intro, eine ‚Endcard‘ am Schluss, die auf eine bestimmte Weise aussehen muss; in Minute so-und-so muss ich das tun; das Video darf nicht länger sein als so-und-so …“

„Das sind halt alles Regeln, die eigentlich irrelevant sind!“, sagt Dominik.

„Das ist so ein Quatsch!“, sagt Marie.

Flo, alias LeFloid, sagt, er leide darunter, wie sehr die kommerziellen Netzwerke den Nachwuchs beeinflussen, in jeglicher Hinsicht: „Heute werden Nachwuchs-Youtuber herangezüchtet, mit dem Versprechen, sie werden der nächste große, geile Shit – und das betrifft jedes einzelne Netzwerk, nicht nur Mediakraft. Das Problem daran ist, dass man sich heute mit Nachwuchskünstlern auseinandersetzen muss, die einen anderen Antrieb haben als wir. Die gar nicht mehr eine intrinsische Motivation haben, sondern aufgepumpt und hochgezüchtet werden und sich dann fragen: ‚Warum zur Hölle hab ich nach 14 Tagen immer noch nicht 100.000 Abonnenten?‘, ‚Warum wollen meine Netzwerk-Kollegen von Y-Titty mit drei Millionen Abonnenten jetzt nicht mit mir mit meinen 1.000 Abos kollaborieren, das müssen die doch machen.‘ Dieser Anspruch auf Erfolg, der da künstlich eingeimpft wird in jeden kleinen Hoffnungsträger, macht meiner Meinung nach vieles kaputt, was den kreativen Input angeht, die reine Motivation aus sich selbst heraus.“

So sind sie, diese jungen Youtube-Leute. Reden sich in Rage und bringen trotzdem noch Worte wie „intrinsische Motivation“ unter.

LeFloid hat gerade bekannt gegeben, dass er sich von Mediakraft trennen wird, und für ein Unternehmen, das derart zahlenfixiert ist, ist das ein besonders bitterer Verlust. Was man so hört, klingt nicht danach, als ob beide harmonisch auseinandergehen würden.

Die Netzwerke sind ein Teil des Problems, wobei den „301+“-Leuten wichtig ist, dass sie sich nicht als Gegner der Netzwerke verstehen. Sie wollen nur zeigen, dass es auch einen anderen Weg geben kann, in dieser Youtube-Welt, einen eigenständigen. Das ist gar nicht selbstverständlich, wie Robin alias RobBubble besonders handfest erlebte, als man ihn nicht bei den Videodays reinlassen wollte, dem jährlichen Mega-Event der Szene in Köln, bei dem viele Tausend Fans ihre Stars treffen. „Bei der Akkreditierung am Eingang wurde ich gefragt, zu welchem Netzwerk ich gehöre. Ich hab gesagt: Bei keinem. Da hieß es: Das geht nicht.“

Es muss eine lustige Szene gewesen sein, denn von den Fans war er längst erkannt worden und musste schon Autogramme geben. Sie ließen ihn schließlich rein.

Robin sagt: „Die Leute sehen uns und sehen, dass es auch anders gehen kann. Wir wollen den Markt ein bisschen aufrütteln, dann kann jeder selbst entscheiden. Ich bin auch ein großer Fan von dem, was Netzwerke leisten können. Nur haben sie momentan eine gewisse Monopolstellung. In Zukunft gehen Leute vielleicht nur dahin, wenn es wirklich für sie einen Mehrwert hat.“

Auch die Gründung von „301+“ hängt mit einem Abschied von einem Netzwerk zusammen: Vor einem halben Jahr hatte Marie bei Mediakraft gekündigt, wo sie als „gute Fee“ gearbeitet hat. „Es gab danach ganz viele, die mir angeboten haben, ein Netzwerk zu gründen. Mir war aber klar, wir brauchen jetzt nicht noch ein Netzwerk in dieser Szene, die sich fast schon anfühlt wie eine Immobilienblase, wo viel zu viele Netzwerke um viel zu wenige Youtuber buhlen.“ Sie fand dann ganz andere Themen relevant, die gerade im Gegenpart zur Wachstumsfixierung und Professionalisierung liegen: „Wo diskutieren Creators über ihre Verantwortung? Wann übernehmen sie Verantwortung? Wie wollen sie selber die Szene mitgestalten und sich nicht nur von ihrem Netzwerk vertreten lassen?“

Von einem „Empowerment“ der Videoblogger spricht sie. Es fallen dann noch Begriffe wie „Emanzipation“ und „Nachhaltigkeit“. Rick von den Space Frogs legt Wert darauf zu betonen, dass es nicht nur darum ging, dass sie unzufrieden waren, und Marie stimmt zu: „Es war schon eher ein positiver Moment.“

Sie verstehen sich als Freundeskreis, aber es war ihnen auch wichtig, zu zeigen, dass es ihnen ernst ist, dass das hier nicht nur eine Bierlaune ist. So entschlossen sie sich, den formellen, umständlichen und irgendwie merkwürdig altmodischen Weg zu wählen, einen richtigen deutschen Verein zu gründen, mit Schatzmeister und Protokollen und allem. Die Form ist eine klare Distanzierung von Netzwerken und gewinnorientierten Agenturen. Und sie soll auffallen, eine gewisse Resonanz hervorrufen, wie Flo sagt: „Damit die Leute sehen, es ist ein Bündnis.“ (Der Name „301+“ steht übrigens für die Zahl, die bei Youtube früher lange pauschal eingeblendet wurde, wenn ein Video mehr als 300 Abrufe hatte.)

Sie waren schon bei den Leuten von Youtube und haben Wünsche und Anliegen vorgetragen. Sie reden mit vielen. Und sie finden es nur halb abwegig, wenn man sie mit einer Gewerkschaft vergleicht – wobei sie erst einmal herausfinden müssen, was sie überhaupt leisten können und wollen. Rechtsberatung zum Beispiel sicher nicht, aber bei vielen Youtubern, meinen sie, würde schon der gute Rat helfen, einen Anwalt über die Verträge schauen zu lassen, die man unterschreibt.

Vor allem aber soll ihr Verein ein Ort sein, an dem man sich austauscht über das, was man tut. Über Inhalte statt über Reichweite. Und über das eigene Selbstverständnis.

Es ist ein merkwürdiges Medium, dieses Youtube, mit einem ganz besonderen Verhältnis zwischen den Machern und dem Publikum. Es ist unmittelbar, ungefiltert und sehr persönlich. Und trotzdem ein Massenmedium. Diese Kombination aus großer Nähe und großem Publikum ist nicht ohne Probleme, und damit ist nicht einmal gemeint, dass LeFloid nicht mehr zum Elektronikmarkt gehen kann, ohne eine halbe Stunde lang von einer Traube von Menschen belagert zu werden. Bei den Videodays haben Fans teilweise mehrere Stunden angestanden und konnten ihre Idole trotzdem nicht treffen – ein Scheißgefühl, wie LeFloid sagt.

Marie hat Anfang Oktober ein bemerkenswertes Video gemacht, das die besondere Beziehung zwischen den Youtubern und ihren Zuschauern thematisiert. Sie hat es „Ich bin nicht Eure Freundin!“ genannt und sagt darin:

„Ich habe das Gefühl, dass wir uns auf Youtube was vormachen, weil wir der Realität nicht ins Auge sehen und festhalten an einer Idee, die schon lange nicht mehr der Realität entspricht. Wir reden davon, dass wir alle auf einer Augenhöhe sind, dass Youtuber keine Stars sind und wir alle besser und anders sind als Fernsehen und Megastars und hastenichtgesehen. Aber das ist inzwischen nicht mehr wahr. Ich glaube, dass das Problem darin besteht, dass wenig Leute sagen, was Sache ist, weil man an dieser Illusion festhalten will. Dadurch verpassen wir aber die Möglichkeit, dieser Tendenz entgegenzuwirken oder zumindest ein Dazwischen zu finden. (…)

Wenn euch irgendjemand sagt, mit was weiß ich wieviel Tausend Abonnenten, dass jeder Abonnent ein Freund ist, dann lügt der euch einfach an. Dann ist das Quatsch. Das ist Quatsch. Und auch gefährlich, glaube ich.“

Es ist ein Video, das tastend nach einer Alternative sucht, etwas Neuem, einem Zwischending zwischen der Illusion von Freundschaft zwischen Youtube-Filmer und Youtube-Gucker einerseits und andererseits dem Verhältnis von Stars, die auf der Bühne stehen und von Fans, die vor der Bühne stehen, angehimmelt werden.

„Viele von uns wollen nicht nur Fans“, sagt Dominik, „sondern Leute, mit denen wir uns austauschen, wo Dialog entsteht.“ Das Thema beschäftigt sie alle.

„Wenn du dich für ein Leben mit Youtube entschieden hast“, sagt LeFloid, „bist du einen 24/7-Vertrag mit dir und deiner Arbeit eingegangen. Es wird einfach irgendwann ein Teil von dir, denn du bist verantwortlich für alles. Du bist verantwortlich für vieles und, wenn du darüber nachdenkst, auch für viele. Denn du hast bei vielen einen sehr, sehr hohen Stellenwert. Du bist irgendwann der große Bruder, die große Schwester. Das geht schon sehr nahe – dessen muss man sich auch bewusst sein.“

Ihr Verein ist ein Schritt aus dem Hamsterrad, um sich gemeinsam Gedanken zu machen, vielleicht der Anfang einer Independent- Bewegung, aber das ist alles noch offen. Langfristig, meint Marie, könnte so eine Youtuber-Emanzipation auch den großen Netzwerken zugute kommen: „Weil sie dann mit Leuten zu tun haben, die sich Gedanken gemacht haben, was sie wollen und was nicht.“

Amnesie vom Besten

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Kerner plaudert sich mit seinen Top-Deutschen ins Nichts.

Im ZDF liefen in dieser Woche zwei große Shows, insgesamt 200 Minuten lang, in denen „Deutschlands Beste“ durchgezählt wurden. Ich habe beide gesehen und kann mich an nichts erinnern.

Angeblich saß in der einen Maria Höfl-Riesch auf dem Sofa, ich möchte aber schwören, dass sie in den eineinhalb Stunden nichts gesagt hat, außer einmal kurz, das habe ich aber sofort wieder vergessen. Ich weiß noch, dass ein kleiner Film über Anni Friesinger abrupt abriss, als die Kamera gerade auf ihren Ausschnitt schwenkte, das gab ein kleines Hoho. Am Ende bekamen die Frauen Blumen. Moderator Johannes B. Kerner entschuldigte sich bei Marietta Slomka fürs Überziehen. Und dann war es nicht nur vorbei. Es war, als wäre es nie gewesen.

Das ZDF hat es geschafft, zwei komplett rückstandslose Shows produzieren. Das muss ihm erstmal einer nachmachen.

Zum Glück habe ich mir während des Anschauens Notizen gemacht, so dass ich Teile des Nicht-Geschehens rekonstruieren konnte. Auf der obskuren Grundlage einer Forsa-Umfrage, einem Aufruf der „Hörzu“ und einem Online-Voting (Kerner: „insofern kann man das schon ’n bisschen ernst nehmen“) wurden je einhundert vom ZDF ausgesuchte lebende deutsche Frauen und Männer in eine Reihenfolge gebracht und mit kurzen Schnipselcollagen gewürdigt. Die erste Sendung befasste sich mit Männern, weil man fand, wie Kerner erklärte: „Das schwache Geschlecht möge beginnen.“ Er freute sich über diesen Witz, und das Saal-Publikum lachte.

Kerner versprach „ganz tolle Gäste, die wir eingeladen haben; ganz wertvolle Filme, die wir produziert haben“, und tatsächlich gab es Gäste und Filme. Die Gäste waren fast alle selbst auf der Liste, was immer einen Sonder-Applaus gab, und freuten sich über ihre Platzierung und die Ranking-Nachbarn vor und hinter ihnen. Kerner siezte sie mit Vornamen und stellte ihnen Kerner-Fragen, etwa diese an Claus Kleber: „Klaus, wir haben Joschka Fischer geshen, auf Platz 37 ein Politiker, der sich jetzt aus der Öffentlickeit weitgehend zurückgezogen hat, vielleicht Vorträge hält und hier und da gefragt wird und auch mal was Kluges schreibt, sind die Politiker in Wirklichkeit doch ’n bisschen näher an den Leuten als man so denkt? Weil wir so alle schimpfen auf die Politiker – sind sie wertvoller, als wir glauben?“ Günther Jauch fragte er: „Günther, aus Ihrer Erfahrung jetzt mit der Talkshow am Sonntag: Politiker – besser als ihr Ruf?“ (Jauch reagierte mit einem angestrengten Dreifachschnaufer, was ich auf die Frage bezogen hätte, alle anderen aber auf die Politiker, weshalb Kerner lachend rief: „Reicht schon!“, und das Publikum applaudierte.)

Die Kurzvorstellungen der 50 besten Besten waren so geschnitten, dass man all den Unsinn, der darin gesagt wurde, kaum registrieren konnte. Reinhard Mey wurde als „der Ikarus der deutschen Musik“ vorgestellt, Gregor Gysi als „das personifizierte soziale Gewissen“, und Horst Seehofer als der Name des Selbstbewusstseins. Caren Miosga sei „das charmante Aushängeschild in der toughen ARD-Nachrichtenwelt“, und zu Sandra Maischberger fiel den Textern der Satz ein: „So schön kann Journalismus sein.“

Ob die Video-Schnipsel inhaltlich passten, war ohne Belang, solange sie nur gut zu dem Gesagten aussahen. „Das Engagement für Gleichberechtigung und den Schutz von Minderheiten, das ist Claudia Roths großer Wurf“, sagte der Sprecher, während die Grünen-Politikern mit einem Ball einen Stapel Dosen abräumt – auf denen das Atomkraft-Logo prangt. Zur Illustration, dass Gerhard Schröder wegen des Kosovo-Einsatzes 1998 als Kriegs-Kanzler beschimpft wurde, lief sein Satz: „Die Logik des Krieges hat sich gegen die Chancen des Friedens durchgesetzt“, der allerdings von 2003 ist und sich auf den Irak-Krieg bezieht, dem er sich ja gerade verweigerte. Aber um sich daran zu stören, müsste man sich erst einmal erinnern.

Es war Wohlfühlfernsehen mit den Pointen der fünfziger Jahre, zeitgemäß verpackt als modernes Nichts. „Wir verplaudern uns, das ist schön“, rief Kerner an einer Stelle aus. Er ist beim ZDF wieder zuhause angekommen.

Unberechenbar wach

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Nachruf auf Frank Schirrmacher.

Als Medienredakteur für ihn zu arbeiten, war nicht immer ganz unanstrengend. Im Zweifel hatte er mit den Kollegen, über die ich irgendetwas Unfreundliches schreiben wollte, gerade großes Gemeinsames geplant. Und mit etwas Pech wollte er nicht riskieren, dass ein Artikel die Stimmung oder das Gelingen torpedierte.

Mit etwas Glück aber war ihm das egal. Viel mehr noch: Er freute sich sogar, dass er auf diese Weise den anderen demonstrieren konnte, wie unabhängig seine Redaktion agiert, wie unbeeinflusst von irgendwelchen eigenen Interessen oder denen des Verlages. Ein eigentlich unpassender kritischer Artikel, auf den er sich bei der nächsten Gelegenheit von einem anderen Verleger oder Chefredakteur ansprechen lassen musste, war dann kein Grund für eine Entschuldigung, sondern für Selbstbewusstsein.

Medienjournalismus ist in allen Redaktionen ein heikles Geschäft, ein Slalomlauf, bei dem man die Stangen, die man umfahren muss, teilweise nicht einmal sieht. Das war auch mit einem Herausgeber wie Frank Schirrmacher nicht ohne Konflikte. Aber immer wieder – und gerade wenn es darauf ankam – gab es von ihm die Ermutigung, mehr noch: die Aufforderung, sich nicht von irgendetwas beeinflussen zu lassen als dem eigenen journalistischen Gespür, schon gar nicht von seiner eigenen abweichenden Position.

Er war im besten Sinne unberechenbar. Das ist eine Eigenschaft, die den Redaktionsalltag manchmal aufregender macht, als man es sich wünscht. Aber sie hält wach. Und befreit.

Und dann war da irgendwann: Vertrauen. Und die Erfahrung, dass dieser Mann nicht nur eine überwältigende Bereitschaft hat, sich in Rage zu denken; sich für Dinge zu begeistern oder sich über sie zu erregen. Sondern auch die Fähigkeit, loszulassen. Wenn er seine fortwährend spürbare Spannung an der entscheidenden Stelle mit einer großen Entspanntheit kombinierte – das war ein besonderes Geschenk und eine unschlagbare Motivation.

Ein Sieg der Möglichkeiten

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Der Erfolg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest macht es für alle, die anders sind als die anderen, ein kleines bisschen leichter und den Gegnern von Freiheit und Vielfalt schwerer.

Das Gefühl kommt von ganz innen und es ist so stark, dass es sich in einem körperlichen Abwehrreflex äußert. Würgen muss der Publizist Jürgen Elsässer, wenn er Conchita Wurst sieht. Ekel nennt er das, was er empfindet. Und selbst, wenn er wollte, schreibt er, könnte er nichts dagegen tun: „Bei Conchita Wurst wirken bei mir nicht nur politische Abwehrreflexe, sondern meine jahrmillionenalte DNS rebelliert.“

Irgendwelche Ur-Ängste muss der Anblick dieser bärtigen Frauengestalt bei Elsässer auslösen; irgendetwas in seiner Veranlagung, das von Jahrhunderten der Evolution, der Aufklärung, der Zivilisation unbeeinflusst blieb, schlägt Alarm. Das Gute an Leuten wie ihm ist, dass sie ihre Homophobie nicht verbrämen, dass sie nicht herumdrucksen wie andere, denen es womöglich ähnlich geht, sondern ihre Ablehnung in schärfster, fundamentaler Klarheit formulieren. Da weiß man, woran man ist.

Aber die Zeiten haben sich geändert, das hat der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest gezeigt. Der Ekel von Elsässer und seinen Leidensgenossen, er führt nicht mehr zu der Frage, wie krank so ein Geschöpf wie Conchita Wurst ist. Sondern zu der Frage, wie krank diejenigen sind, die sich so sehr davor ekeln. Was ihnen fehlt, dass sie es nicht schaffen, den Moment der Verstörung zu überwinden, den der Anblick einer bärtigen Frau auslöst, und die Verwirrung, dass diese Frau auch noch ein Mann ist, und sich mit nüchterner Rationalität zu fragen, was genau daran so furchteinflößend, so bedrohlich, so eklig sein soll. Warum sie glauben, dass man Kinder vor diesem Anblick schützen müsse. Welche Streiche ihre Fantasie ihnen spielt, wenn sie im Auftritt einer Drag Queen im langen, eleganten Kleid eine Art perversen Porno sehen.

„Die tut euch doch nichts“, möchte man ihnen zurufen und sie in den Arm nehmen (wenn die Vorstellung nicht auch ein ganz bisschen abstoßend wäre). Aber das würden sie eh nicht glauben. Sie sehen den Sieg von Conchita Wurst als Teil einer gigantischen Verschwörung zur Gehirnwäsche der Menschen. Der überall Verschwörungen witternde Journalist Gerhard Wisnewski
sieht in der Figur den „bisherigen Gipfel eines Umerziehungsprogramms“, den „Höhepunkt der psychologischen Kriegführung gegen das normale menschliche Empfinden und die schöpferische Ordnung von Mann und Frau.“

Sie tun so, hätte Tom Neuwirth sich als Conchita Wurst auf die Bühne gestellt, um zu sagen: Ihr müsst jetzt alle so werden wie ich. Dabei ist seine Botschaft eine andere: Ihr könnt auch so sein wie ich; vor allem aber könnt ihr so sein, wie ihr seid und sein wollt.

Dass Österreich mit Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewonnen hat, ist deshalb so erfreulich, weil es den Bereich des Möglichen erweitert hat. Vorher war es für viele nicht vorstellbar, dass ein schwuler Mann, der in dieser provokanten und plakativen Form mit Geschlechterrollen spielt, in ganz Europa vom Publikum gewählt werden könnte. Conchita Wurst und die Menschen in Nord- und Süd-, West- und Ost-Europa haben gezeigt: Das ist möglich.

Es ist ein Sieg der Freiheit und der Vielfalt. Und es wäre ein grandioses Missverständnis, ihn umzuinterpretieren zu einer Verengung der Möglichkeiten, zu einer Pflicht, nun „so“ sein zu müssen, um den Grand-Prix zu gewinnen, oder die Figur der Conchita Wurst oder ihren Auftritt gut finden zu müssen.

Béla Anda hat das in besonders atemberaubender Weise getan. Der stellvertretende Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, der in der zweiten rot-grünen Koalition Chef des Bundespresseamtes sein durfte, beklagte sich in der vergangenen Woche, dass er „den Auftritt einer Dragqueen mit Bart jetzt schon gut finden MUSS“: „Es gibt keinen Kanal, keine Möglichkeit, sich dagegen zu artikulieren, und keinen Weg zu sagen: Das gefällt mir nicht“, artikulierte sich Anda dagegen in dem größten Kanal, den deutsche Online-Medien zu bieten haben: auf Bild.de.

Anda geht es ähnlich wie Elsässer, nur dass er es nicht so deutlich ausspricht. „Einige meiner besten Freunde sind homosexuell“, schrieb er (und der einzige Satz, der noch trauriger ist, ist natürlich der, den seine homosexuellen Freunde sagen müssen: „Einer meiner besten Freunde ist Béla Anda“). Trotzdem sträube sich „alles“ in ihm, wenn er Conchita Wurst lese (sic!): „Ein Bart im Gesicht einer Frau, noch dazu ein Vollbart, stört mich, stört mein ästhetisches Empfinden, stört auch mein Rollenverständnis von Mann und Frau.“ In Béla Andas Rollenverständnis hat der Mann die Hosen an und die Frau den Bart ab.

Das wird man vermutlich weder ändern können noch wollen, und es geht auch nicht darum, Andas „ästhetisches Empfinden“ anzugreifen. Es geht darum, dass das, was in der Öffentlichkeit stattfindet, sich nicht (mehr) diesem ästhetischen Empfinden unterordnen muss. Er muss Conchita Wurst oder andere Menschen, die seinem „Rollenverständnis“ nicht entsprechen, nicht gut finden. Aber er muss akzeptieren, dass es sie gibt und dass sie sich nicht verstecken und Respekt fordern. Und sogar Preise gewinnen und Sympathien der Massen.

Nach dem überraschenden Erfolg von Conchita Wurst machte schnell der Begriff vom „Sieg der Toleranz“ die Runde. Der ist problematisch. „Toleranz“, das Hinnehmen von etwas, das man eigentlich nicht mag, trifft es eigentlich gar nicht, denn die Menschen, die abgestimmt haben, haben die Sängerin ja offenkundig gemocht und positiv umarmt. Der Grund dafür ist fast egal: Ob es nun die Musik war, die Show, der Unterhaltungswert des Gesamtpaketes inklusive der schillernden Persönlichkeit des Künstlers. Die Menschen wollten, dass er, dass sie gewinnt. Vermutlich wollten die meisten kein politisches Statement damit abgeben – aber das wurde es auch so, durch das Ergebnis, allein dadurch, dass sie zeigten, dass sie eine solche Erscheinung nicht „eklig“ finden.

Das Wort vom „Sieg der Toleranz“ ist aber auch problematisch, weil es suggeriert, dass jeder andere Platz eine Niederlage für die Toleranz gewesen wäre; dass man also als aufgeklärter Zuschauer für Conchita Wurst stimmen musste. Das ist natürlich Unsinn – auch wenn einige aufgebrachte Fans hinterher die deutsche Jury dafür beschimpften, dass sie Österreich keinen Punkt gegeben hätte. Es wäre auch ein Sieg gewesen, wenn Conchita Wurst hinter den Niederlanden auf dem zweiten Platz gelandet wäre. Oder dem zehnten.

Es war schon ein Sieg, dass sie es ins Finale geschafft hatte und somit ihr Auftritt in ganz Europa ausgestrahlt wurde, auch in Russland und Weißrussland, mitsamt der euphorischen Reaktion in der Halle, mitsamt dem Geplauer in der Pause, als sich die Moderatorin zu ihr setzte und mit ihr scherzte und lachte und zeigte, dass man sie nicht mögen muss, aber kann, weil sie ein Mensch ist, und dass das ganz einfach ist. Und: ein Spaß.

Es wäre keine Niederlage der Toleranz gewesen, wenn Conchita Wurst zweite oder zehnte geworden wäre, aber so ist es natürlich noch schöner. Die ganzen Österreicher, die im Vorfeld öffentlich gewettert hatten, dass man mit diesem Vertreter keinen Blumentopf gewinnen könne und sie das Land blamieren werde, mussten sich nämlich nun eine neue Argumentation suchen. Sie werden auch damit leben müssen, dass Conchita Wurst eine Art Botschafterin Österreichs in der Welt geworden ist, dank eines Wettbewerbs, den man natürlich als Unsinn abtun und ignorieren kann und auch nicht mögen muss.

Auch in der Östereichischen Politik hat Conchita Wurst mit ihrem Sieg etwas möglich gemacht. Nun wird dort über eine Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe geredet. Das ist natürlich in keiner Weise eine zwingende Konsequenz aus dem Sieg beim ESC; vor allem die Sozialdemokraten nutzen einfach, rechtzeitig vor den Europa-Wahlen, die Gunst der Stunde. Aber genau diese Gunst der Stunde ist eben entstanden durch diesen komischen Wettbewerb und seinen besonderen Sieger.

In der Debatte, in Österreich, in Deutschland, in Europa, verständigen sich die Gesellschaften, was für sie akzeptabel ist und was nicht. Es sieht so aus, als ob es schwer wird für die Homophoben, eine bärtige Frau als inakzeptabel zu verdammen. Andererseits kann es sich der Rapper Sido, Mitglied der offiziellen deutschen Jury beim Eurovision Song Contest, noch leisten, dass auf seiner Facebook-Seite eine Vielzahl von Kommentatoren wüste Beschimpfungen inklusive Todeswünschen gegen Conchita Wurst ausspricht.

Die sich für normal haltenden Kämpfer gegen Toleranz und Vielfalt, sie sind in der Defensive. Sie sehen sich nicht nur überwältigt von Menschen und Medien, die ihre Ressentiments nicht teilen. Sie glauben auch, dass, wer „normal“ ist wie sie, diskriminiert wird. Als ob es überraschend wäre, dass ein Paradiesvogel, ein Hingucker, mit einer großen bunten Show und Geschichte, bessere Chancen hat auf der großen, bunten, skurillen Bühne des ESC. Als wäre es irgendwie Schiebung, wenn ein Mann als Frau mit einem Bart in ein Rennen um die besten drei Minuten Unterhaltung geht.

Umgekehrt bedeutete das natürlich auch, dass es falsch wäre, aus dem Votum zu weitreichende Schlussfolgerungen über die tatsächliche Toleranz gegen andersartigen Menschen im Alltag zu ziehen.

Tom Neuhaus wird unterstellt, dass seine Conchita Wurst nur ein Marketinggag ist. Das ist ohnehin ein merkwürdiger Vorwurf. Aber die Überzeugungskraft dieser Figur kommt auch daher, dass sie eben nicht nur eine Kunstfigur ist, sondern Teil der Persönlichkeit des Künstlers. Und eine Reaktion darauf, als schwuler, sich gerne weiblich kleidender Mann diskriminiert worden zu sein. Neuhause hat auf die Anfeindungen nicht defensiv reagiert, sondern ist mit Conchita Wurst in die größtmögliche Offensive gegangen.

Der Sieg von Conchita Wurst hat etwas bewirkt: Sie hat es für alle, die anders sind als die anderen, ein kleines bisschen leichter gemacht, das zu sein, was sie sind oder gerne wären. Man muss sie nicht mögen. Aber man kann sich schon freuen über die Niederlage der Menschen, die diese Freiheit und Vielfalt ablehnen.

Unter Schafen

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Endloser Regen, twitternde Schäfer und die „passiv-subversivsten Tiere diesseits des Esels“: Wie die Herdwicks den Lake District im Nordwesten von England prägen.

Der Schäfer drückt mir das Lamm in die Hand, damit ich den Unterschied fühlen kann. Es ist mit einem dunklen, dicken, dichten Lockenmantel auf die Welt gekommen. Robust fühlt es sich an. Kein Vergleich zu dem hellen, dünnen, weichen Flaum auf der Haut des Standard-Lämmchens, das er daneben hält.

Das wenige Tage alte Schaf, das ich auf dem Arm habe, ist ein Herdwick, ausgestattet mit dem vielleicht besten Wetterschutz, den die Natur für kleine Lämmer zu bieten hat, gemacht für eine Umgebung, in der es im Zweifel immer gerade regnet.

Lake District heißt diese Gegend ganz im Nordwesten von England. Sie könnte auch Rain District heißen. In einem ihrer Täler liegt der regenreichste Ort Englands. Vor einem Pub dort hängt eine Gedenktafel: „In liebender Erinnerung an einen sonnigen Tag in Borrowdale.“ Im Süßigkeitenladen in Keswick bieten sie neben Schokoladenhasen und Schokoladenküken Schokoladenregenschirme an. Und die Verkäuferin im Fish-and-Chips-Geschäft in Windermere erzählt, dass es eigentlich immer regnet, nur manchmal woanders auch, dann verteilt sich das schlechte Wetter etwas mehr, so dass es hier nicht ganz so schlimm ist.

Es hat etwas merkwürdig angemessenes, hier im Nieselregen an den weißgetünchten alten Höfen vorbeizulaufen, Weiden, die zu Sumpflandschaften geworden sind, zu durchqueren, tosende Wasserströme zu kreuzen und über moosbewachsene Steinmauern zu klettern. Es ist kein Ort für Schönwetterwanderer, überall sind auch im Regen Menschen unter zugezurrten Kapuzen unterwegs. Doch dann pustet der Wind plötzlich die Wolken weg und mit einem Mal ist im Sonnenschein alles tiefgesättigte Farbe: das Blau der Seen, das Grün der Wiesen, erstaunliches Rot, Braun, Gelb, Ocker auf den baumlosen Berghängen.

Ein Traum, der das Schroffe schottischer Gebirge mit der Lieblichkeit südenglischer Hügellandschaften aufs Romantischste kombiniert.

Es ist eine Landschaft, die von den Schafen geprägt wurde, und es sind Schafe, die von der Landschaft geprägt wurden. Seit Jahrhunderten grasen Herdwicks hier auf den Bergkuppen, harren in Wind und Regen aus. Sie sind unabhängig und hart im Nehmen, und auch wenn die Theorie, dass die Wikinger sie vor tausend Jahren in diese Gegend gebracht haben, unbewiesen ist, will man das sofort glauben: Dass es legendär furchtlose Krieger waren, die solch toughen Haustiere mitbrachten. Es gibt Geschichten von Herdwicks, die wochenlang unter Schnee überlebten. Als man sie fand, sollen sie blind gewesen sein und ihre eigene Wolle gefressen haben – aber sie erholten sich.

Sie sind, andererseits, sehr niedlich, und es ist kein Wunder, dass sich die Kinderbuchautorin Beatrix Potter in sie verliebte. Sie wirken wie Schafe in Reinform, reduziert auf das Wesentliche und als wären sie von oder für Kinderbuchillustratoren entwickelt worden: Zwei Knopfaugen im glatten, hellen Gesicht; Mund und Nase wie genäht; eine großer, rechteckiger Flauschkörper in vielfältig grauen Marmorfarben auf stämmigen Beinstummeln. Kopf und Beine sollen im Idealfall die Farbe von Raureif haben.

Sie sehen so sympathisch und perfekt schafhaft aus, wenn sie ihre weißen Köpfe aus dem Gras nehmen und für einen Moment aufhören zu kauen: Stoisch schauen sie einen an, nicht unfreundlich, aber nur mit gerade so viel Interesse, wie unbedingt nötig ist, um abzuschätzen, ob es ratsam sein könnte, ein paar Meter weiterzuschlurfen, um ungestört weiter an der dünnen Grasnarbe knabbern zu können. Ihre Gesichter leuchten hell in der Landschaft, was es zu einem besonderen Erlebnis macht, wenn der Wanderweg durch eine Wiese führt und man plötzlich Dutzende Herdwick-Köpfe auf einen gerichtet sieht.

Sie waren eigentlich aus der Mode gekommen, keine Rasse für einen modernen Schäfer, und auch der Mann, der heute als „Herdwick Shepherd“ über sie twittert, hätte sich vor gut zehn Jahren noch nicht vorstellen können, ausgerechnet Herdwicks zu züchten. Aber dann kam die Maul- und Klauenseuche, die im Lake District besonders verheerend war. Und Schäfer-Familien wie seine stellten sich nach dieser Apokalypse die Frage, unter welchen Bedingungen es sich überhaupt lohnen könnte, noch Schafe zu halten.

Die Herdwicks boten eine Antwort, weil sie so verhältnismäßig wenig menschliche Aufmerksamkeit und Unterstützung brauchen. Aber wenn der Herdy Shepherd – der nicht möchte, dass man seinen richtigen Namen nennt – heute von seinen Herdwicks erzählt, tut er das mit einer Leidenschaft für genau diese Tiere, die nichts mit wirtschaftlicher Notwendigkeit zu tun hat.

Er bekommt ein Leuchten in den Augen, wenn man ihn anspricht auf das eine Schaf unten im Feld vor seinem Hof, das schon zwei Lämmer bei sich hat. Es ist eins von denen, die er seine „Schönheitsköniginnen“ nennt. Sie hat schon Routine im jährlichen Lauf der Dinge hier und weiß, dass um die Ecke eine Wiese ist, die in den vergangenen Wochen schaffrei gehalten wurde, damit sie und die anderen Mütter dort reichlich Gras finden würden.

In ein paar Wochen wird sie dann über uralte Wege mit den anderen dorthin gehen, wo sie eigentlich zuhause sind. Der Schäfer zeigt in die Ferne auf eine der Bergkuppen, die hier „fell“ heißen und auf denen man Mitte April noch größere Schneeflecken sieht. Die ersten Tiere, die ohne Nachwuchs, sind jetzt schon da, es folgen dann Mütter mit nur einem Lamm und schließlich die Familien mit Zwillingen.

Dort oben auf den Bergen ist traditionell offenes Gemeinschaftsland, Commons, Allmende – die größte Fläche in Europa. Die Herdwicks können sich weit ausbreiten, was sie weniger anfällig für Krankheiten macht. Und sie wissen, wo sie hingehören. Sie haben einen Flecken Erde, an den sie sich gebunden fühlen; die Muttertiere geben das Wissen an ihren Nachwuchs weiter.

Traditionell gehören die Schafe hier deshalb zu den Höfen: Wenn dessen Mieter wechselt, übernimmt er die Tiere. Herdwicks sind die Brieftauben unter den Schafen: Sie haben einen besonders ausgeprägten Heimfindeinstinkt – und einen Drang, zu „ihrem“ Berg zurückzukehren. Zu den Geschichten des Lake Districts gehören die von kleinen Schaftrupps, die beim Durchqueren von Ortschaften angetroffen werden, nachdem sie sich eigenmächtig auf dem Weg dahin zurück gemacht haben, wo sie ihrer Meinung nach hingehören. Manche sollen ein halbes Jahr, nachdem sie verkauft wurden, auf ihrem Ursprungs-Hang wieder aufgetaucht sein, Dutzende Kilometer entfernt.

Philip Walling, der in dem Buch „Counting Sheep“ die Hirten-Kultur Großbritanniens würdigt, nennt die Herdwicks „die passiv-subversivsten halb-domestizierten Tiere diesseits des Esels“: „Wenn sie in einem Feld glücklich sind, bleiben sie da, aber immer nur aus freien Stücken. Ihr Ur-Drang nach Freiheit ist nie weit unter der Oberfläche. Wie Kriegsgefangene lauern sie auf die kleinste Gelegenheit zum Ausbruch und behalten beim Grasen das Gatter im Auge, für den Fall, dass es jemand offen lässt.“

In diesen Tagen sind sie aber überwiegend damit beschäftigt, Lämmer zur Welt zu bringen. 500 Tiere hat der Herdy Shepherd; für Problemfälle hat er eine kleine Entbindungsstation in seinem Stall eingerichtet. Die besten Lämmer sind pechschwarz, mit etwas weißem Flaum an den Ohrenspitzen sowie im Nacken, als erste Andeutung dessen, was später einmal eine eindrucksvolle Mähne sein soll.

Stolz zeigt der Herdy Shepherd Fotos von seinen preisgekrönten Böcken und erzählt, wie wichtig es ihm ist, den Respekt der alten Schäfer zu erwerben, deren Tradition er fortzuführen versucht. Solche Vorzeige-Zuchttiere lassen sich auch deutlich teurer verkaufen, was hilft, das mühsame Geschäft ein bisschen wirtschaftlicher zu machen.

Seit kurzem wird viel daran gearbeitet, die Wertschätzung für die Herdwicks und die mit ihnen verbundene landwirtschaftliche Kultur zu steigern. Es gibt Herdy-Tassen, Schlüsselanhänger und Eierbecher. Prinz Charles hat vor zwei Wochen die erste Versteigerung von Herdwick-Schafen mit einem eigenen Qualitäts-Markenzeichen besucht.

Twitter hilft vielleicht auch. Über 25.000 Menschen folgen @herdyshepherd1 auf Twitter. Er teilt mit ihnen Fotos von Lämmern, erzählt Geschichten von schweren Geburten und Schäferhund-Lehrlingen und beantwortet Fragen wie: „Habt ihr ein Problem mit Wölfen?“ („Nicht seit 1750, seit jemand den letzten in Großbritannien erschossen hat.“)

Medien auf der ganzen Welt haben über ihn berichtet. In einem Gastbeitrag für den „Atlantic“ schrieb er: „Twittern ist so etwas wie ein Akt des Widerstandes und des Trotzes, eine Möglichkeit, der manchmal desinteressierten Welt entgegenzurufen, dass man dickköpfig ist und stolz und nicht nachgibt, während überall sonst in eine Kopie von überall sonst verwandelt wird.“ Die Leute aus der Landwirtschaft seien traditionell schlecht darin, der Öffentlichkeit ihre Sicht der Dinge zu vermitteln, erzählt er, was sich oft räche.

Vergangene Woche postete er Bilder von der ersten Runde Herdwicks, die in diesem Jahr zurück auf ihre angestammten Berge geführt wurden. Und dann ein Foto von Floss, der Schäferhündin, nach der Arbeit auf dem Quad-Bike, mit weitem Blick über die Hügel. „Floss mag die Landschaft“, twitterte er. „Oder vielleicht sieht sie in der Ferne irgendwelche entkommenden Schafe, die ich nicht sehe.“

Nicht jedem wird bei diesem Anblick warm ums Herz. Der Umweltschützer und „Guardian“-Kolumnist George Monbiot findet die Landschaft „eine der deprimierendsten in Europa“ und nennt sie „sheepwrecked“ – zerstört von der „weißen Plage“ der Schafe, die die Berge nackt halten, „jede essbare Pflanze, die ihren Kopf hebt, abmähen, und Tiere ihres Lebensraumes berauben“.

Monbiot kämpft dafür, die Landschaft zu „renaturieren“ und sie in einen Zustand zu versetzen, in dem sie seit Jahrhunderten nicht war. Vermutlich muss man es vor dem Hintergrund solcher Kritiker lesen, wenn der Herdy Shepherd zwischendurch vier Tweets lang aufzählt, welcher Artenvielfalt von Tieren er bei der Arbeit begegnet ist.

Die britische Regierung hat beschlossen, den Lake District 2016 für die Unesco-Welterbe-Liste vorzuschlagen – als herausragende Kulturlandschaft. Das soll natürlich dem Tourismus dienen. Aber es wäre auch eine besondere Anerkennung für die besonderen kulturellen und landwirtschaftlichen Traditionen, die diese Landschaft geformt haben. Also auch und vor allem: für die Herdwicks.

Man sagt über sie, sie lebten „von frischer Luft, sauberem Wasser und guter Aussicht“. Aber ein bisschen Liebe kann vermutlich nicht schaden.

Das Ende der Toleranz

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ist das wirklich das Jahr 2014? Ist es wirklich wahr, dass Homosexualität zwar geduldet wird – aber nur dann, wenn Lesben und Schwule möglichst unsichtbar bleiben? Ein paar notwendige Worte zum Kulturkampf.

Johann Wolfgang Goethe hätte der Diskussion gutgetan. Gleich am Anfang der Talkshow von Sandra Maischberger in dieser Woche, als sich die Runde hoffnungslos in der Frage verhedderte, ob man von den Menschen verlangen dürfe, dass sie Homosexualität akzeptieren, oder nur, dass sie sie tolerieren.

Die konservative Journalistin Birgit Kelle hatte auf dieser Unterscheidung bestanden und bot Toleranz, aber keine Akzeptanz. Sie müsse bestimmte Dinge hinnehmen, sagte sie, aber sie müsse sie nicht gut finden. Akzeptanz aber würde bedeuten, „dass ich meinen Standpunkt ändern muss“.

Aber dann sollte sie sagen, ob sie die Travestiekünstlerin Olivia Jones „akzeptiert“ oder „toleriert“, und Maischberger stolperte darüber, dass sie nicht wusste, ob sie den als Frau auftretenden Mann nun als „er“ oder „sie“ bezeichnen sollte, und Frau Kelle verwirrte mit dem Satz, sie müsse ja auch andere politische Meinungen innerhalb des demokratischen Spektrums nicht „akzeptieren“, und die kleine Chance, an einem entscheidenden Punkt der Debatte für Klarheit zu sorgen, verpuffte im allgemeinen Durcheinander.

Goethe hätte geholfen. In seinen „Maximen und Reflexionen“ findet sich der Spruch: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Was er meint, hat der Philosoph und Politikwissenschaftler Rainer Forst anhand von Beispielen aus der Geschichte erläutert. Dem Edikt von Nantes etwa, mit dem Heinrich IV. den protestantischen Hugenotten im katholischen Frankreich 1598 religiöse Toleranz gewährte. Das erlaubte ihnen innerhalb enger Grenzen die Ausübung der Religion, machte aber die Ausbreitung des Protestantismus gleichzeitig faktisch unmöglich. Es erkannte die Hugenotten als Staatsbürger an, fixierte aber ihren Status als Staatsbürger zweiter Klasse.

Oder die „Toleranzpatente“ des deutschen Kaisers Joseph II. von 1781, die es drei christlichen Minderheitskonfessionen in den Habsburger Erbländern erlaubten, ihre Religion auszuüben – im Privaten. Ihre Kirchen durften keine Glocken haben und keinen Eingang von der Straße.

Diese „Toleranz“ war für die betroffenen Minderheiten ein großer Fortschritt. Sie bedeutete das Ende der Verfolgung. Aber sie zementierte zugleich die Ungleichheit. Rainer Forst spricht von „Inklusion bei gleichzeitiger Exklusion“.

Toleranz in diesem Sinne bedeutet, etwas, das man ablehnt, aus pragmatischen Gründen hinzunehmen. Es bedeutet ausdrücklich nicht, es als gleichwertig zu akzeptieren.

Die Begriffe „Toleranz“ und „Akzeptanz“ werden im Alltag so unscharf und austauschbar verwendet, dass der Versuch aussichtslos ist, den Unterschied anhand der Wörter zu erklären. Aber die verschiedenen Konzepte lassen sich sehr klar beschreiben. Konservative wie Birgit Kelle sind bereit, Homosexualität als Tatsache hinzunehmen, und sie sind sogar dafür, dass Homosexuelle nicht mehr verfolgt werden. Aber sie lehnen es scharf ab, Lesben und Schwule und deren Partnerschaften als gleichberechtigt anzuerkennen. Und sie gehen auf die Barrikaden, wenn der Staat den Kindern in den Schulen vermitteln will, dass es „sexuelle Vielfalt“ gibt und dass andere Identitäten als die heterosexuelle nicht minderwertig sind.

Sie lehnen es ab, mehr zu sein als tolerant. Und vor allem lehnen sie es ab, dass der Staat es ist oder wird.

Das ist im Kern der Kulturkampf, der da tobt. Die Menschen, die in Baden-Württemberg und anderswo auf die Barrikaden gehen, kämpfen für das Recht, Homosexualität und Homosexuelle „nicht gut“ finden zu müssen (als ergäbe das irgendeinen Sinn). Sie sind oder geben sich insoweit tolerant, als sie Lesben und Schwule nicht mehr verfolgt wissen wollen. Aber sie sagen: Das muss jetzt gefälligst reichen!

Und die Lesben und Schwulen und ihre liberalen Verbündeten sehen, dass diese Art von Duldung eine Beleidigung ist, und sind nicht mehr bereit, das zu akzeptieren. Es geht um das Ende der Toleranz, auf beiden Seiten.

Ironischerweise können die Leute auf beiden Seiten gerade nicht fassen, was für eine Debatte da gerade stattfindet. Auf der einen Seite die, für die der Umgang mit sexueller Vielfalt längst selbstverständlich ist und die nicht glauben können, dass das in öffentlich-rechtlichen Talkshows im Jahr 2014 noch ein umstrittenes Thema sein könnte. Und auf der anderen Seite die, die eigentlich der Meinung sind, dass dem Thema ohnehin zu viel Aufmerksamkeit zuteil wird, und die doch eigentlich dafür kämpfen, dass sie (und ihre Kinder!) nicht dauernd damit behelligt werden.

Die aufgeklärten Homosexuellen-Gegner von heute haben nichts dagegen, wenn Lesben und Schwule ihre Veranlagungen im Privaten ausleben, solange sie dabei keine Glocken läuten. Aber es ist schon zu viel, wenn ein Unternehmen wie Facebook seinen Nutzern die Möglichkeit bietet, sich auf der Seite nicht mehr als „Mann“ oder „Frau“ identifizieren zu müssen, sondern aus Dutzenden teils sehr spezifischen Geschlechtskategorien diejenigen zu wählen, die sie am besten beschreiben. Angeboten werden etwa: „Gender Fluid“, „Trans Person“ und „Neutrois“.

Jeder Facebook-Nutzer darf weiter einfach „Mann“ oder „Frau“ bleiben, und trotzdem fühlen sich die, denen das als Beschreibung völlig ausreicht, und die finden, dass das gefälligst auch für alle anderen ausreichen sollte, von der neuen Wahlmöglichkeit unterdrückt. „Ich will mich gar nicht erst zu sehr darüber auskotzen“, schreibt sofort ein Kommentator auf „Zeit Online“ unter die Meldung von dem neuen Auswahlfeld: „ich finde es nur unsäglich bis unerträglich, wie penetrante, laut schreiende, winzige Minderheiten die große Mehrheit tyrannisieren.“

Das ist keine Einzelmeinung. Eine vernehmlich große Gruppe von Menschen fühlt sich tyrannisiert und als Opfer.

Sie können es nicht fassen, welche öffentliche Aufmerksamkeit der Fußballspieler Thomas Hitzlsperger für sein Coming-out erfahren hat: dass er so viel Anerkennung dafür bekam, dass er sichtbar machte, was nach ihrer Ansicht vielleicht zu tolerieren ist, aber nicht in die Öffentlichkeit gehört.

Dahinter steckt oft auch ein Missverständnis darüber, worüber wir reden, wenn wir über Homosexualität reden. Es geht nicht um Sexualität im Sinne irgendwelcher Praktiken, nicht um Einblicke in das Intimleben eines Menschen. Es geht um einen elementaren Teil seiner Identität, um Aspekte seines Lebens, die bei Heterosexuellen völlig selbstverständlich Teil des öffentlichen Lebens sind.

Der Sozialpsychologe Ulrich Klocke hat auf „Zeit Online“ in diesen Tagen in einem lesenswerten Beitrag erklärt, woher Homophobie kommt und wie sie zu heilen wäre, und dabei erst einmal aufgezählt, wie penetrant Heterosexualität im Alltag zur Schau gestellt wird: „Paare, die händchenhaltend flanieren; Kolleginnen, die auf der Arbeit von ihrem Freund erzählen; Politiker, die auf Wahlplakaten mit Frau und Kindern posieren; Tanten, die ihren Neffen fragen, ob er schon eine Freundin hat.“ Geht es um Homosexualität, ist all das gleich eine Zumutung, ein öffentliches Zurschaustellen von eigentlich höchst Privatem, eine Diskussion über Sex, vor der zum Beispiel Kinder geschützt werden sollen.

Diejenigen, die Homosexualität „tolerieren“, fühlen sich genervt, wenn ein Prominenter öffentlich sagt, dass er schwul ist, obwohl er damit weniger über sein Privatleben sagt, als wenn er sich mit seiner Freundin auf dem roten Teppich zeigen würde. Klaus Wowereit musste sich von Guido Westerwelle vor dessen Coming-out noch öffentlich als eine Art Exhibitionist darstellen lassen, der sein „Schlafzimmer“ ausstellt.

Natürlich ist die Aufmerksamkeit, die Hitzlspergers Coming-out bekommen hat, übertrieben. Natürlich wird der dritte, fünfte oder neunte prominente Fußballspieler, der vielleicht irgendwann mal sein Schwulsein öffentlich macht, keine große Nachricht mehr sein, sondern nur noch eine kleine. Aber Normalität wird auch dann nicht bedeuten, seine Homosexualität gar nicht mehr öffentlich zu machen.

Dabei war das die paradoxe Hoffnung, die sich für Konservative mit der Toleranz gegenüber Homosexuellen verband: dass Schwule und Lesben, wenn sie nicht mehr verfolgt werden, wieder unsichtbar würden.

Der leitende „Weltwoche“-Redakteur Philipp Gut hat das in einem Aufsatz, den die „Welt“ nachdruckte, schon vor fünf Jahren in besonders entlarvender Weise formuliert. Er beschwerte sich, dass es alle möglichen Interessenvertretungen gibt, „von den Schwulen Eisenbahnfreunden in Deutschland über die Schwulen Väter und den LesBiSchwulen Jugendverband bis zu schwulen Offizieren und Polizisten“. Er beschwerte sich über den Lehrer, der seiner Klasse schon am ersten Schultag erzählte, dass er schwul sei, und über die Christopher-Street-Day-Paraden. Er schrieb: „Nach der erfolgreichen Emanzipation der Schwulen dürfte man eigentlich erwarten, dass die Homosexuellenbewegung etwas lockerer wird. Welche Bedeutung hat die penetrante, ja das öffentliche Leben bedrängende ,Sichtbarkeit‘ noch?“

Er wollte nicht verstehen, dass die „Sichtbarkeit“ von Lesben, Schwulen, Trans- und Intersexuellen nicht nur Mittel zum Zweck der Emanzipation ist, sondern ihr Ziel.

Diese Sichtbarkeit empfinden die toleranten Homo-Gegner als Belästigung und als Bedrohung; und die Versuche, Kindern und Jugendlichen sexuelle Vielfalt gleich als Selbstverständlichkeit zu vermitteln, als einen Angriff auf ihr gottgegebenes Recht, Homosexuelle und deren Liebe weiter als unnormal und defizitär abzuwerten. Sie fühlen sich in ihrer Toleranz verraten: So wie für die tolerierten religiösen Minderheiten vor zweihundert oder vierhundert Jahren die Pflicht galt, keine neuen Anhänger zu werben, sollten auch Lesben und Schwule ihren vermeintlichen „Lebensstil“ nicht als „erstrebenswert“ anpreisen dürfen – als ließe sich homosexueller Nachwuchs anwerben.

Vorgestern sprach die 26-jährige kanadische Schauspielerin Ellen Page auf einer Veranstaltung der LGBT-Bürgerrechts- und Lobby-Organisation Human Rights Watch, und man hörte ihrer Stimme an, wie aufgeregt sie war. „Ich will mich nicht mehr verstecken und lügen“, sagte sie. „Ich bin homosexuell.“ Die Zuhörer im Saal sprangen auf und jubelten ihr zu.

Es wird Leute geben, die das wieder missverstehen und glauben, dass da jemand dafür gefeiert wird, dass sie lesbisch ist, und die sich in ihrem Wahn bestätigt sehen, dass es so weit kommen werde, dass man sich dafür entschuldigen müsse, Hetero zu sein. Und die nicht sehen, dass Ellen Page dafür gefeiert wird, dass sie endlich einfach das tut, was für Heterosexuelle völlig alltäglich und selbstverständlich ist, aber anscheinend selbst für kanadische Schauspielerinnen immer noch Mut erfordert.

Matthias Matussek

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Der Klügere tritt nach, wird sich Matthias Matussek gedacht haben. Nach einer längeren Zeit in wechselnden Positionen hat er Ende Januar den „Spiegel“ verlassen und ihm zum Abschied ein kleines Geschimpfe hinterlassen.

Im Online-Magazin „The European“ redet er über die alten Kollegen: die „journalistische Vollniete“, das „sehr beschränkte Großmaul“ und den „eifernden Denunzianten“. Er erzählt die tragische Geschichte, wie sich in der Zeit, als er kurz mal Kulturchef war, einer seiner Untergebenen über ihn beim Chefredakteur beschwerte, nur weil er ihn bedroht hatte. Er lässt uns Anteil haben am Schicksal eines Menschen, der so genial und erfolgreich ist, dass es ihm die anderen neiden. Der die Ungerechtigkeit in der Welt kaum erträgt, dass Leute, die ihm etwas verdanken, trotzdem nicht glauben, alles von ihm hinnehmen zu müssen.

Und mit was für Kleingeistern er sich abgeben musste! Diesem Georg Diez zum Beispiel, einem „Neuankömmling“ beim „Spiegel“, der darauf bestanden habe, mit seinem „knallroten Angeber-Golf mit Heckflossen“ Matusseks gut gelegenen Parkplatz zu übernehmen. Aber er hätte diese „Tröte“ ja auch mal nicht eingestellt, „weil ich ihn zu halbseiden fand“.

„European“-Autor Alexander Wallasch reicht Matussek als Verehrer freundlich die Stichworte an. In den Kommentaren schwärmt er halb ohnmächtig von „dieser Lebensleistung“ und bekennt, beim Lesen von Matussek-Texten „schon nach wenigen Absätzen wackelige Knie“ zu bekommen.

Am besten kann man sich die Entstehung dieses Textes erklären, wenn man sich vorstellt, dass beide Partner beim Gespräch Erektionen hatten: der eine wegen Matussek, und der andere auch. Gemeinsam haben sie ein Stück Prosa produziert, das für aufgeregte Branchenmeldungen taugt („Matussek beschimpft Ex-Kollegen“, meldete „Meedia“), vor allem, weil man ihm nicht anmerkt, dass es sich in weiten Teilen um Fiktion handelt. Diez zum Beispiel fährt weder einen roten Golf, noch braucht er als Berliner „Spiegel“-Redakteur überhaupt einen Parkplatz in Hamburg. Und Matussek wollte ihn nicht nicht einstellen, sondern doch.

Andererseits ist leider nicht alles erfunden, was die Interpretation ein bisschen erschwert. Es hilft aber zweifellos, den Text als Versuch einer Satire zu lesen. Dann ist es plötzlich nämlich keine Ranwanzerei, wenn Matussek die „Spiegel Online“-Kolumne von Jan Fleischhauer als „das Brillanteste, was die konservative Publizistik in Deutschland zu bieten hat“, bezeichnet. Sondern schnöde böse Ironie.

Von nun an will Matussek freundlicherweise ausschließlich für die Tageszeitung „Die Welt“ schreiben. Am Freitag bewarb er sich hier öffentlich um ein Interview bei einem „Pop-Titan“. Sein Artikel endete: „Ja, Glückwunsch, Dieter Bohlen, Sie wären ein interessanter Gesprächspartner, im Grunde der interessanteste, den es in diesen Zeiten geben könnte. Vielleicht ein Gespräch über die ewige Jugend in einer alternden Gesellschaft oder auch das ewige Leben.“ Matussek fügte hinzu: „Nun ist er 60. Ich bin es in drei Wochen. Wie entsetzlich!“ Och. Gibt Schlimmeres.

(Aus der FAS-Kolumne „Die lieben Kollegen“.)

Medienlexikon: Liveticker

Der Spiegel

Liveticker, onlinejournalistische Form, die zugunsten des Gefühls, dabei zu sein, auf Kriterien wie Relevanz und Erkenntnisgewinn verzichtet.

12:05. Kaffee gemacht. Gleich geht es los mit dem Schreiben der Kolumne über Liveticker.
12:07. Textverarbeitungsprogramm gestartet, neue Datei geöffnet und „Kolumne Liveticker“ genannt.
12:08. Warten auf Inspiration.
12:09. Lustiges YouTube-Video gefunden und auf Facebook gepostet.
12:11. Warten auf Inspiration.
12:58. Puh. Mal nachsehen, wie die Kollegen das machen. Am Mittwochabend um sieben hat Apple die neue Version seines erfolgreichen Mobiltelefons vorgestellt. Die Präsentation wurde nicht direkt live übertragen, sondern nur über den Umweg der livetickernden Journalisten. Um 18.50 Uhr notiert „Die Welt“: „Es sind noch 10 Minuten bis zum Start der Apple-Präsentation – und der Konzern ist erfahrungsgemäß sehr pünktlich damit.“ 18.58 Uhr, Bild.de: „Ankündigung: ‚The Event will begin shortly‘! Es geht los!“ 19:05 Uhr, sueddeutsche.de: „Apple-Chef Tim Cook hat pünktlich die Bühne in San Francisco betreten.“
13:10. Da ist sie, die Inspiration! Große Pointe eingefallen!!
13:11. Doch nicht.
13:55. Anruf aus der Redaktion, Nachfrage, wo die Kolumne bleibt.
14:02. Zweifel an der Idee. Sind im Vorfeld doch zu große Erwartungen geweckt worden? War das nicht alles längst bekannt? Wo ist der Witz?
14:25. Verzweiflungstat Recherche. Nachlesen diverser „Liveticker“ von der Verkündung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Rettungsschirm. Nicht so wichtig wie das neue iPhone natürlich, aber auch nicht ganz unbeachtet. 10.02 Uhr, stern.de: „Die Anwesenden erheben sich. Die Verfassungsrichter betreten den Saal. Es geht los.“ 10.26 Uhr, stern.de: „Aus Versehen sagt Voßkuhle die Eil-Anträge seien ‚begründet‘. Gemurmel. Er korrigiert sich: ‚unbegründet‘.“ 9.58 Uhr, Spiegel Online: „Bei Phoenix heißt es, das Urteil sei 85 bis 87 Seiten lang – die Urteilsverkündung werde wohl bis 11.15 oder 11.30 Uhr dauern.“
14:27. Tippfehler gefunden und berichtigt.
14:28. Länge des bisher Geschriebenen noch einmal nachgezählt. Immer noch elf Zeilen zu kurz.
14:55. Warten auf Inspiration.
14:58. Plötzlich kommt Spannung auf: Wird der Text rechtzeitig vor Redaktionsschluss fertig werden? Kommt am Ende doch noch ein Knaller?
14:59. „Eine Sache noch.“
15:00. Ja, das war dann wohl der Liveticker vom Schreiben einer Kolumne über Liveticker. Vielen Dank für Ihr Interesse, wir bleiben an der Sache dran.

Einer gegen die VG Wort: Martin Vogel und die zweifelhaften Ansprüche der Verlage

Medium Magazin

Es ist ein ungleicher Kampf. Auf der einen Seite die deutschen Verlage, die großen Journalistenverbände und -gewerkschaften, die Verwertungsgesellschaften sowie womöglich sogar zigtausend Journalisten, die in diesem Sommer keinen Scheck von der VG Wort bekamen. Und auf der anderen Seite Martin Vogel, 65 Jahre alt, Urheberrechtsexperte und Patentrichter in München.

Die einen warnen davor, das bestehende System der Verwertungsgesellschaften zu gefährden, verweisen auf Tradition und Gewohnheit und darauf, dass doch alle irgendwie ganz gut damit fahren, so wie es ist. Und der andere sagt: So wie es ist, widerspricht es aber dem Gesetz.

Es geht um das Geld, das die VG Wort von Kopiergeräteherstellern und Copy-Shops einsammelt, um die Vervielfältigung urheberrechtlich geschützter Werken zu vergüten: die Reprographieabgabe. Diese Einnahmen schüttet sie nämlich nicht nur an die Urheber aus, sondern beteiligt daran mit 30 bis 50 Prozent auch die Verlage. Die Verlage haben die VG Wort mit begründet; die Gemeinsamkeit sollte sie auch stark machen.

Doch sie haben nach Ansicht von Vogel gar keinen Anspruch, der eine Beteiligung rechtfertigen würde. Das Geld, zig Millionen Euro jährlich, stünde allein den Urhebern zu.

Die Materie ist kompliziert, und es macht die Sache nicht leichter, dass viele Beteiligte schon seit vielen Jahren an dem Streit beteiligt sind. Die juristischen Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen verschiedener Interessen werden überlagert von persönlichen Verletzungen. Vogel ist in der Rolle eines einsamen Querulanten — oder wird, je nach Standpunkt, in sie gedrängt. Aber er gehört zu den renommiertesten deutschen Urheberrechtlern, und seine Positionen und Interpretationen sind keineswegs die exotischen Minderheitenmeinungen, als die seine Gegner sie darstellen.

Es ist ein bisschen anstrengend, mit ihm zu reden. Fast jede Frage, die auf die Gegenwart zielt, beantwortet er mit einem Exkurs in die Vergangenheit. Für ihn ist es so etwas wie seine Lebensaufgabe geworden. „Ich habe einen Großteil meiner Freizeit in diese Arbeit gesteckt, um für die rechtliche Besserstellung der Urheber zu kämpfen.“

Er hat für die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin am sogenannten „Stärkungsgesetz“ mitgewirkt, mit dem die rot-grüne Koalition 2002 die Position der Kreativen gegenüber den Verwertern verbessern wollte. In einem neuen Paragraph 63a wurde darin festgehalten, dass Urheber auf ihre Ansprüche aus der Reprographie-Vergütung nicht verzichten und sie nur an eine Verwertungsgesellschaft abtreten können. Damit konnten Verlage sich diese Rechte nicht mehr von den Autoren übertragen lassen und bei der VG Wort geltend machen. Als Folge wurde in einem Kompromiss — ebenfalls erst nach Druck von Martin Vogel — beschlossen, den Verlegeranteil an den Ausschüttungen zögernd und schrittweise zu reduzieren.

Doch die Verlagsvertreter erreichten es, dass der Paragraph 63a revidiert wurde. In einer Neufassung, die 2008 in Kraft trat, wurde ausdrücklich erlaubt, dass Urheber ihre Verwertungsrechte an Verleger abtreten können, wenn diese wiederum sie in die VG Wort einbringen. Dadurch sollte die langjährige Praxis der VG Wort, die Verlage nach vorgegebenen Pauschalanteilen an den Erlösen zu beteiligen, wieder legitimiert werden.

Martin Vogel kritisiert die Neufassung als Schwächung der Position der Urheber — meint aber, dass diese Neufassung es der VG Wort trotzdem nicht erlaubt, einfach zu ihrer alten Praxis zurückzukehren. Viele Urheber hätten einen Wahrnehmungsvertrag mit der VG Wort geschlossen, was die spätere Abtretung ihrer Vergütungsansprüche an einen Verlag ausschließe. Deshalb könne die VG Wort nicht einen Teil der Zahlungen, die den Autoren zustehen, einfach an die Verlage weiterreichen.

Nach mehreren Versuchen, eine außergerichtliche Regelung zu finden, klagte er. Der DJV, bei dem er Mitglied ist, lehnte es ab, ihm Rechtsschutz zu gewähren, aber Vogel fand einen Weg, den Streitwert und damit seine Kosten gering zu halten: Er klagte nur wegen acht Artikeln, die er selbst verfasst hatte, gegen die VG Wort. Im Mai gab ihm Landgericht München I in erster Instanz recht.

Die VG Wort scheint das Urteil völlig unerwartet getroffen zu haben — „obwohl ihr die Klage seit Dezember vorlag“, wie Vogel sagt. Die Entscheidung stellt ihre Praxis — obwohl es sich nicht um einen Musterprozess handelt — fundamental in Frage. Die VG Wort kündigte daraufhin an, bis nach einer genauen Prüfung zunächst gar kein Geld auszuschütten, was den Nebeneffekt hatte, dass Martin Vogel nun für viele Autoren nicht derjenige war, der für ihre Rechte stritt, sondern derjenige, der Schuld war, dass sie erst einmal kein Geld bekamen.

Interessensvertreter wie Gerhard Pfennig, bis Ende 2011 Vorsitzender der VG Bild-Kunst, versuchten, Stimmung gegen Vogel zu machen: „Dass die von vielen nicht beamteten, sondern freiberuflichen Urhebern dringend benötigten Zahlungen der VG Wort und der VG Bild-Kunst jetzt erst einmal auf längere Zeit ausbleiben werden, muss einen Patentrichter, für den die Zahlungen bestenfalls die Weihnachtsgans finanzieren, nicht weiter stören, sofern es nur der Wahrheitsfindung dient“, schrieb Pfennig im Mai in einem Leserbrief an die „Süddeutsche Zeitung“. Er versuchte darin, Vogels Kampf gegen die Verteilungspraxis der VG Wort als einen persönlichen Rachefeldzug darzustellen, weil ihm der „gewünschte Aufstieg in die Verwaltungsgremien versagt blieb“.

Auch Vertreter des Deutschen Journalistenverbandes schürten öffentlich die Wut auf Vogel. Michael Hirschler, Referent für Freie Journalisten, nannte das Urteil eine „Katastrophe für die freien Journalisten“ und spielte deren angenommene chronische Geldknappheit gegen das vermutete Auskommen des Patentrichters Vogel aus. „Wohlbestallter Richter kippt die Autorenzahlungen der VG Wort“, polterte Hirschler in einem DJV-Blogeintrag, nannte Vogel „mutmaßlich wohlversorgt“ und schimpfte, er dürfe „wohl weniger finanzielle Sorgen haben“ als die Urheber, die er um ihr Geld bringe — „und spielt zugleich den Unschuldigen“.

Es ist erstaunlich, in welchem Maß die Gewerkschaften für die Interessen der Verleger zu kämpfen scheinen. DJV-Justiziar Benno H. Pöppelmann aber bestreitet das und sagt, der Verband kämpfe bloß für den Erhalt der VG Wort in der jetzigen Form. „Es geht uns dabei um die Interessen der Autoren. Wenn dieses Urteil rechtskräftig wird, könnte die VG Wort so nicht weiter existieren.“ Bis ein Ersatz etabliert sei, könnte es Jahre dauern „und die ganze Ausschüttung zum Stillstand kommen.“

Zunächst läuft sie wieder. Ende August hat die VG Wort schließlich doch das Geld an Urheber (und Verlage) ausgezahlt — unter Vorbehalt und „unter Hinweis auf mögliche Rückforderungen“, falls die Entscheidung des Gerichtes Bestand hat. Tatsächlich kann es sein, dass in diesem Fall nicht nur die Verlage, sondern auch die Autoren Geld zurückzahlen müssen. Dann nämlich, wenn sie die ihnen eigentlich zustehenden Wahrnehmungsrechte schon an die Verlage abgetreten haben — was aber nach Meinung Vogels auch gegen geltendes Recht verstoßen kann.

Das Urteil, das Martin Vogel erstritten hat, kann also dafür sorgen, dass einige Urheber nicht mehr Geld von der VG Wort bekommen, sondern gar keins. Auch dafür wird er von Gewerkschaftsvertretern verantwortlich gemacht, dabei wäre das eine Folge der Neufassung des Paragraphen 63a, an der sie mitgearbeitet haben. „Ich bin der Sündenbock dafür, dass die diesen Mist gemacht haben und ich das aufgedeckt habe“, sagt Vogel.

Von „zivil- und urheberrechtlichem Formalismus“ spricht ver.di-Justiziar Wolfgang Schimmel. Martin Vogel sagt: „Die VG Wort muss ihre Strukturen dem Gesetz anpassen, nicht umgekehrt.“

Bestätigt sieht Vogel seine Position auch durch das sogenannte „Luksan“-Urteil des Europäischen Gerichtshofes, wonach die Zahlungen aus gesetzlichen Vergütungsansprüchen originär dem Urheber zustehen. Die Praxis der VG Wort, die Verleger daran pauschal zu beteiligen, wäre nach Vogels Ansicht demnach auch nach europäischem Urheberrecht unzulässig.

Gegenwind bekommen die Verwertungsgesellschaften auch aus Brüssel: Die EU-Kommission hat einen Richtlinienentwurf vorgelegt, der von ihnen viel größere Transparenz fordert.

Die VG Wort hat gegen das Münchner Urteil Berufung eingelegt. Für „zigtausend Euro“ habe sie dafür Gutachten eingeholt, sagt Vogel — Geld, das wiederum eigentlich den Urhebern zustehe. „Warum sollten die Urheber das mitfinanzieren“, fragt er, „wenn es doch nach der Lukas-Entscheidung und nach nationalem Urheberrecht allein um die vermeintlichen Rechte der Verleger geht.“

Medienlexikon: Manfred Spitzer

Der Spiegel

Spitzer, Manfred, deutscher Hirnforscher und der Thilo Sarrazin unter den Psychiatern; spricht in der Pose des einsamen Mahners aus, was die meisten immer schon sagen und meinen: Computer sind Teufelszeug.

Das Gute an Manfred Spitzer ist, dass man sich mit ihm nicht auf das einigen kann, auf das sich alle anderen sonst immer einigen können. Wie viele Diskussionen über Risiken neuer Medien enden mit einem wohlfeilen gemeinsamen Appell, mehr für die Medienkompetenz zu tun, damit junge Menschen lernen, verantwortungsbewusst mit Internet, Handy, Spielkonsole umzugehen? Spitzer aber sagt: „Medienkompetenz ist ein Unbegriff“. Wer nach Medienkompetenztrainings für Kinder rufe, könne im Kindergarten oder der Grundschule auch gleich den verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol trainieren.

Die einzige Möglichkeit, die Gefahren der neuen Medien zu minimieren, besteht nach Spitzer darin, uns und unsere Kinder so vollständig wie irgend möglich davon fernzuhalten. Das hat im Vergleich zum alltäglichen und allgegenwärtigen Kulturpessimismus immerhin eine fast erfrischende Radikalität, die sich auch von der damit verbundenen Realitätsferne nicht beirren lässt. Spitzer beginnt sein neues Buch „Digitale Demenz“ mit dem Zitat einer Leserzuschrift: „Herr Spitzer, Sie kämpfen gegen Windmühlen – nein, gegen ganze Windfarmen. Machen Sie bitte weiter!“ Es ist nicht ganz klar, ob ihm die Ironie des Vergleichs mit Don Quijote bewusst ist.

Ohnehin lässt sich der größte Gewinn aus der Auseinandersetzung mit Spitzer und seinen Thesen schlagen, wenn man ihn als als anschauliche Warnung vor einer wahnhaften Fixierung nimmt. Er ist so überzeugt vom Ziel seiner Argumention, dass ihm jeder Weg recht ist, es zu erreichen, egal wie oft er dazu aus der Realität abbiegen muss.

Er vergleicht den Medienkonsum mit dem Autofahren: Das sei ja auch erst ab 18 erlaubt. Und zwar deshalb, suggeriert Spitzer, weil nur Erwachsene in der Lage sind zu erkennen, dass es schädlich ist, nicht zu Fuß zu gehen, und deshalb, wenn sie verantwortungsbewusst sind, zwischendurch joggen gehen.

Er antizipiert den Einwand von Kritikern, es gebe die von ihm diagnostizierte „Digitale Demenz“ gar nicht, und pariert ihn dadurch, dass schon eine Google-Suche das Gegenteil beweise: Dort gebe es tausende Treffer für den Suchbegriff. Man kann nur hoffen, dass Spitzer nie nach „Rosa Elefanten“ googelt.