Süddeutsche Zeitung
Unser Mann in Birmingham. Wie der Schlagersänger Guildo Horn mit Hilfe der Medien unschlagbar wurde.
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Der neue Meister des Grand Prix ist klein, hat seine Haare auf Millimeterlänge rasiert, trägt graue Anzüge und heißt Johannes Kram. Ein paarmal ist er dem alten Meister des Grand Prix, Ralph Siegel, vor der Veranstaltung in die Arme gelaufen. Der hat ihn an sich herangezogen und den Journalisten vorgestellt als den Mann, der eigentlich den Preis verdient hätte: für die geniale PR-Kampagne. Kram hat leicht gequält gegrinst, etwas gemurmelt von ‚Möge der Bessere gewinnen‘ und sich entschuldigt.
Johannes Kram ist der Manager, der die Nußecke in die deutsche Medienwelt gebracht hat. Regelmäßig zelebriert sein Schützling Guildo Horn seine Liebe zu diesem Gebäck der Mutter — eines von vielen Ritualen, die den Rummel um den Künstler ausmachen, der am Donnerstag die deutsche Vorausscheidung zum europäischen Schlagerwettbewerb gewonnen hat. Am 9. Mai vertritt er Deutschland in Birmingham. Horn ist 35 und zieht seit sieben Jahren mit seiner Band Die orthopädischen Strümpfe durch Dörfer und Städte. Zum Geheimtip wurde er nicht nur dadurch, daß er als einer der ersten das Potential entdeckte, das der deutsche Schlager der 70er und 80er als Popkultur für die Jugend der 90er hat. Sein Auftreten mit wirrem Haar, nacktem, speckigem Oberkörper und Kostümen, die jede Geschmacksgrenze sprengen, ist zu skurril, um ernstgenommen zu werden. Und seine Musik und Show sind zu gut, um ihn als bloße Comedy abzutun, die den Schlager lächerlich macht.
Was skeptische Beobachter ins Grübeln bringt, läßt die Fans rasen. Seine Fans nennen ihn „Meister“ und unterstützten ihn bei der Vorentscheidung in Bremen mit „Guildo für Deutschland“-Rufen, Spruchbändern und T-Shirts. Horn weiß, was er tut: Er hat Pädagogik studiert, Musik- und Theaterarbeit mit Behinderten gemacht und seine Diplomarbeit über „Die Befreiung von der Vernunft“ geschrieben.
Seit drei Wochen spaltet Guildo Horn angeblich die Nation und eint die Medien. Damals titelte die Bild-Zeitung „Darf dieser Mann für Deutschland singen“ und befragte ein paar ausrangierte Schlagersänger, die mit einem empörten „Oh mein Gott, wo kämen wir denn da hin?“ antworteten. Der Artikel sorgte dafür, daß außer der überschaubaren Masse ursprünglicher Guildo-Anhäger auch Gegner von Bild und des klassischen Schlagers aktiv wurden, und erfüllte damit genau seinen Zweck. Johannes Kram und sein Team hatten ihn selbst geplant. Exklusiv arbeiten sie mit dem Blatt zusammen, dessen Reporterin ihm sogar die Haare föhnen darf.
Am Tag der Entscheidung legte Bild noch mal nach: „Dramatischer Zwischenfall: Guildo Horn — Notarzt! Klinik!“ Der Sänger hatte sich mit einem Handtuch die Augen gerieben, auf dem ausgerechnet der Siegel-Klan Rheumasalbe zurückgelassen haben soll. Daß das rechtzeitig zur Endphase der Proben und vor der Abreise zur Harald-Schmidt-Show ein Unfall gewesen sein könnte, glaubt in Bremen zwar niemand — spielt aber auch keine Rolle: Horn hatte die erste und die letzte Schlagzeile vor der Grand-Prix-Wahl. Er gewann die Abstimmung mit 62 Prozent der TED-Anrufe.
Dazwischen lagen drei Wochen, in denen die meisten Medien in eine kollektive Hysterie verfielen. „Es war eine Entscheidung der Menschen auf der Straße“, sagte Guildo Horn nach seinem Sieg, den er als „Perestrojka“ des deutschen Schlagers sieht. Das ist bei 420 000 Fans, die für ihn stimmten, unbestreitbar. Wäre dies ein Umsturz nach osteuropäischem Vorbild, hätte das Volk allerdings mit tatkräftiger Unterstützung durch Prawda und fast allen anderen Medien des Landes gekämpft. Viele Fernsehsender und Zeitungen brachten die Bild-Geschichte in Variationen. 40 Interviews habe er in den vergangenen Tagen gegeben, sagte Peter Plate von der Gruppe Rosenstolz, die den zweiten Platz belegte, in 20 sei es nur um Horn gegangen. Die meisten Jugendradios riefen ihr Publikum dazu auf, massenhaft für Guildo zu stimmen. Sie bejubelten, daß da endlich jemand aufgetaucht ist, der die für sie immer größere Unerträglichkeit des deutschen Grand Prix gleichzeitig personifiziert und persifliert. Und Viva-Moderator Stefan Raab, der besonders heftig für Horn warb, verriet erst zum Schluß, daß er selbst als Komponist und Produzent von Horns Titel Guildo hat euch lieb hinter dem Pseudonym Alf Igel steckt.
Die Wucht der Medienmaschinerie, die er selbst mit in Bewegung gesetzt hatte, überrollte schließlich auch Johannes Kram. Daß die Medien Guildo, und zwar nur Guildo wollten, überfordete nicht nur sein Team, sondern gefährdete auch das Image von Horn als nettem Irren unter lieben Schlagerkollegen. Am Ende zog Kram ein überraschendes Fazit: „Beschämt“ habe ihn die Unfähigkeit der Medien, noch andere Themen zu behandeln. Dasselbe Wort wählte NDR-Organisator Jürgen Meier-Beer. Er freute sich über das Interesse und die doppelt so hohen Quoten wie üblich (knapp acht Millionen). Die Bedeutung, die dem Ereignis beigemessen wurde, treibt ihn aber zur Aussage: „Das hier hat größere Dimensionen als die Niedersachsenwahl.“
Selbst seinen Sender NDR 2 konnte er nicht davon abhalten, längere Auszüge aus Horns Stück zu spielen — obwohl das Reglement das untersagt. Fast alle Fernsehsender zeigten Horns Auftritt vorab. Die „Wettbewerbsverzerrung“, die Ralph Siegel beklagte, interessierte im allgemeinen Horn-Fieber niemanden.
Manager Kram versuchte, gegen die schlechte Stimmung hinter den Kulissen zu kämpfen und sagte den Konkurrenten, sie hätten sich ja auch eine nette PR-Strategie überlegen können. Er erntete ein müdes Lächeln: Ein solches Produkt, mit dem das möglich gewesen wäre, hatte keiner zu bieten. „Der Grand Prix hat den skurrilen Reiz, Popmusik und so was wie nationale Ehre miteinander zu verbinden“, versucht Meier-Beer eine Erklärung. „Das Thema Horn funktioniert hervorragend, weil es eine Provokation auf beiden Ebenen darstellt.“ Ein Reporter der Berliner B.Z., die als eines der wenigen Blätter Front gegen Horn machte, meinte, der Medienrummel beruhe schlicht auf Faulheit, sich die Mühe zu machen, andere Themen zu recherchieren. Denn nicht nur Horn brachte neue Ideen und bereitete den Siegelschen Produkten ein Debakel. Fokker sang: „Sie trat mir in die Hoden, in mein Leben trat sie nicht.“ Auch Die drei jungen Tenöre und der Punk-Pop von Maria Perzil sprengten die Grenzen der bis dahin bekannten Grand-Prix-Kunst. Gegen die Medienmacht für Horn hatten sie keine Chance. „Ich hätte mich schon gefreut, wenn wir gewonnen hätten“, sagte Rosenstolz-Mann Plate. Vor der Abstimmung.
[…] deutschen Teilnehmern verlor sich mein Interesse ein bisschen, aber im Revolutionsjahr 1998 war ich in Bremen dabei, als Guildo Horn und seine Fans alles überrannten (und mir mit ihrer aggressiven Party- und […]
[…] pur! Stefan Niggemeier auf Bildblog.de Frage zum Anfang Stefan Niggemeier auf stefan-niggemeier.de Guildo Horn Kai Müller auf Stylespion.de Designer T-Shirts Angebot […]
[…] weitere ab sofort unter oslog.tv. „Unser Mann in Birmingham”, SZ, 28.02.1998 [↩]„Gaga? Nur äußerlich!”, SZ, 18.2.2000 [↩]„Die Welt […]
[…] deutschen Teilnehmern verlor sich mein Interesse ein bisschen, aber im Revolutionsjahr 1998 war ich in Bremen dabei, als Guildo Horn und seine Fans alles überrannten (und mir mit ihrer aggressiven Party– und […]
[…] Horn ins Rennen ging, eine feindliche Übernahme. Sie stürmten die Veranstaltung, schafften es, die gesamte mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und aus dem traditionsreichen, trostlosen Event ihre Veranstaltung zu […]