Netzeitungs-Reklamationen

Ich finde, die beiden Chefredakteure der „Netzeitung“ (NZ) sollten viel häufiger Interviews geben. Schon das von Michael Angele vor sechs Wochen bei onlinejournalismus.de hatte legendäre Momente. Zum Beispiel diesen:

„‚Vor Ort recherchiert‘ heißt bei uns [neben der Recherche am PC] primär: Telefonieren, telefonieren, telefonieren — wir machen ja sehr viele Interviews –, heißt, schauen, schauen, schauen (TV) und lesen, lesen, lesen (alles, was uns in die Finger kommt).

Oder die Stelle, als Angele gefragt wird, warum die „Netzeitung“ ihre Besucherzahlen nicht von der IVW messen lässt, wie es Standard ist in Deutschland:

„Das ist eine Entscheidung der Geschäftsführung. Es steht mir nicht an, sie hier zu kommentieren.“

Jetzt sprach die „taz“ mit der NZ-Chefredaktion und brachte folgende Geschichte mit:

Matthias Ehlert atmet tief durch. Die Frage war, wozu es seine „Netzeitung“ eigentlich braucht. Ein Standardanfang für ein Interview, einer, bei dem Chefredakteure erst einmal frei über ihre Wünsche und Visionen reden können. Doch Ehlert muss überlegen. Er sitzt im blauen Couchsessel seines Büros nahe der Berliner Friedrichstraße. Vor dem Fenster im zweiten Stock ruckelt alle paar Minuten die S-Bahn vorbei. Währenddessen überlegt Ehlert weiter. Auf dem Tonband sammelt sich eine halbe Minute Stille an, dann hat der 40-Jährige eine Antwort gefunden: „Nachrichten schlägt jeder um. Für mich gilt daher das Kioskprinzip. Es ist eine emotionale Entscheidung, welche Internetseite ich ansurfe.“

Hach. Die beiden scheinen ja noch euphorisierter und euphorisierender zu sein als ihre beiden Porträt-Fotos vermuten lassen.

Die „taz“ hat auch nach der Rubrik „Marktplatz“ gefragt, die hier kürzlich ein Thema war, weil sie so schön auch direkt neben dem „redaktionellen Kodex“ steht, gegen den sie verstößt. Während NZ-Chef Michael Angele hier sagte, der redaktionelle Kodex sollte „rasch überarbeitet werden“, zäumt NZ-Chef Matthias Ehlert in der „taz“ das Pferd von der anderen Seite auf und nennt den Marktplatz „eine Unsauberkeit, die wir demnächst lösen wollen“. (Man sieht, wie clever die Entscheidung ist, sich auch als finanziell schwachbrüstiges Unternehmen zwei Chefredakteure zu leisten.)

Inzwischen hat die „Netzeitung“ eine neue Form nicht gekennzeichneter Werbung akquiriert. Zwischen dem Kopf und den Artikeln liegt eine Art Menuleisten-Imitation von Microsoft Office:

Wenn man mit der Maus darüberfährt, klappt sie sich aus und zeigt anhand der redaktionellen Artikel darunter, wie leicht sich mit dem aktuellen MS Word Texte formatieren lassen:

Toll, oder?

Nachzutragen wäre noch, dass die NZ den zusammengestümperten Artikel über Second Life unauffällig nachbearbeitet hat: Fehler wurden korrigiert, schwierige Stellen gestrichen. Dagegen scheinen N24.de und sat1.de nun dauerhaft mit der grottigen Originalversion leben zu müssen, die ihnen die „Netzeitung“ geliefert hat. Vielleicht sind NZ-Artikel vom Umtausch ausgeschlossen.

23 Replies to “Netzeitungs-Reklamationen”

  1. warum werde ich den eindruck nicht los, dass hier ne Schlange ein Kaninchen zu fressen versucht.

  2. Lieber Stefan Niggemeier,

    ich weiß tatsächlich nicht genau, was Ihr Problem mit der Netzeitung ist. Mit sachlicher Kritik hat es auf jeden Fall nichts mehr zu tun.

    Nur eines: Der Hinweis auf mein Foto (es gibt, anders als sie behaupten, nur eines) ist unter der Gürtellinie, um nicht zu sagen: infam.

    Michael Angele

  3. welcher teil meiner kritik war nicht sachlich? der an dem vor fehlern strotzenden second-life-artikel, den die netzeitung klammheimlich nachgebessert hat? der an der praxis, den eigenen artikel nachzubessern, aber nicht dafür zu sorgen, dass auch bei den eigenen kunden die fehler korrigiert werden? der an dem widerspruch zwischen den aussagen des einen chefredakteurs und des anderen chefredakteurs? der an der nicht gekennzeichneten werbung, die sich mit redaktionellen inhalten mischt?

    war die „taz“-passage, die ich zitiere, auch nicht „sachlich“? und finden Sie wirklich, beim nochmaligen lesen, dass Ihre definition von vor-ort-recherche als das benutzen von pcs, fernsehgeräten, telefonen und zeitungen, nicht – vorsichtig gesagt – eine gewisse komik hat?

    und was ist daran infam, auf Ihr foto zu verlinken (keinen privaten schnappschuss, sondern Ihr offizielles portraitfoto auf der offiziellen netzeitungs-mitarbeiter-seite!) und meiner meinung ausdruck zu verleihen, dass es ähnlich viel euphorie verbreitet wie Ihre interviews? (ja, ich weiß, dass da kein foto von herrn ehlert ist. das war quasi ein witz.)

    lustig: wann immer ich kritisch über die netzeitung schreibe, fragen die netzeitungs-leute, was wohl mein problem mit der netzeitung ist und suchen nach irgendwelchen unbekannten motiven (der faz-herausgeber, den Ihr vorgänger als hintergrund vermutete, scheidet diesmal ja leider aus).

    ich sage Ihnen, was mein problem mit der netzeitung ist: die netzeitung.

  4. Der taz-Einstieg ist jedenfalls das Lustigste, was ich seit langem lesen durfte. Nee, stimmt nicht, das Posting von Angele war noch ein kleines bisschen lustiger.

  5. Mir gefällt am Besten die Passage

    „Daneben verfasste er ein Buch […] und eins über die Melancholie in der Welt.“

    von der offiziellen Netzeitungs-Mitarbeiter-Seite. Das ist wirklich Euphorie verbreitend äh lustig nein, komisch.

  6. lieber herr niggemeier,

    sie schreiben, dass ihr problem mit der netzeitung die netzeitung selbst ist. aber kennen sie unsere zeitung überhaupt?

    jedenfalls schreiben sie in einem 39-fragen interview, das wir mit ihnen anfang des jahres geführt haben:

    „Ich lese diverse Fernsehnachrichtenseiten, in der ‚Netzeitung‘ manchmal das Altpapier, und dann noch eine Reihe Blogs. “

    sie kennen die netzeitung also immer nur dann, wenn man wieder einmal refelexhaft zubeißen und die alte häme erneuern kann.

    natürlich ist es ärgerlich, wenn ein artikel wie der über second life fehler enthält. aber wir sind nun einmal eine kleine redaktion, die viel arbeit stemmt, und da kann so etwas vorkommen, wenn der redakteur, der eigentlich im thema steckt, gerade nicht da ist.

    Aber was um gottes willen soll dagegen sprechen, diese fehler zu korrigieren? so funktioniert journalismus im netz. und „klammheimlich“ geschieht das auch nicht, wir zeigen an, wenn ein artikel geändert wird. sollen wir zusätzlich noch eine pressemitteilung rausgeben? ich bitte sie.

    wir haben übrigens auch artikel über second life publiziert (z.B. von bodo mrozek „virtueller swingerclub“), die sehr früh und sehr profund den überzogenen hype kritisiert haben. schade, dass sie darauf nie verlinkt haben.

    das diekmann-porträt („gott im gänsemarkt“), das wir vorab gedruckt haben, wurde immerhin auf ihrem bildblog verlinkt. glück gehabt, sonst hätten sie uns sicher vorgeworfen, wir würden mit diesem beitrag schleichwerbung für das buch „alpha-journalisten“ betreiben …

    was ich sagen will: auch ihre kritik, die so viel auf sachlichkeit hält, ist nicht frei von neigung.

    mit freundlichen grüßen,

    ihr michael angele

  7. herr angele,

    spiegel online und viele, viele online-medien in der welt schaffen es, bei fehlerkorrekturen einen kurzen nachtrag zu schreiben: „in einer früheren version hatten wir fälschlicherweise behauptet: xxx“ etc. warum schafft das die netzeitung nicht? zu dem zeitpunkt, als ich diesen eintrag schrieb, fehlte auch in der datumsanzeige noch der hinweis auf eine nachträgliche „ergänzung“, wie das bei der netzeitung heißt.

    ja, bestimmt gab und gibt es auch gute artikel in der netzeitung. womöglich gibt es auch interviews, wo herrn ehlert nach weniger als 30 sekunden einfällt, warum es die zeitung geben sollte, deren chef er ist. und bestimmt gibt es auch werbung, die als solche gekennzeichnet ist. soll ich lieber über die schreiben? „heute wieder ordentlich gekennzeichnete werbung auf netzeitung.de gefunden, z.b. hier, hier und hier.“

    wenn da ein interessanter artikel steht, verlinke ich vielleicht mal daruf (wie wir es bei bildblog getan haben). und wenn da mist steht, schreibe ich vielleicht mal darüber. nein, ich habe nicht alle interessanten nz-artikel verlinkt. aber ich habe auch nicht über alle missratenen nz-artikel geschrieben. wo ist Ihr problem??

    natürlich ist meine kritik nicht frei von neigung. ich neige auch zu kritischen artikeln über spiegel online, rtl, sat.1, pro sieben, das fernsehen überhaupt, 9live, die welt, sueddeutsche.de, bild, den eurovision song contest und peter turi. letzteres versuche ich mir gerade abzugewöhnen, aber ich sehe keinen grund, die netzeitung nicht weiter kritisch zu verfolgen.

    das müssen Sie schon aushalten.

  8. Genau das,

    „aber wir sind nun einmal eine kleine redaktion, die viel arbeit stemmt, und da kann so etwas vorkommen, wenn der redakteur, der eigentlich im thema steckt, gerade nicht da ist.“

    ist meiner unmaßgeblichen Meinung nach ein Teil des Problems, nicht nur Ihres sondern im Allgemeinen.

    Dieter Nuhr sagt dazu sehr treffend immer

    „Wenn man keine Ahnung hat: Einfach mal Fresse halten!“

    Was nützt es Ihnen, wenn da einer was schreibt, wovon er offensichtlich nichts versteht? Nichts! Sie bekommen hämische Artikel auf die Sie überreagieren.

    Gerade eine Netzzeitung müsste doch die Vorteile, dass es keine Printversion gibt einfach ausnutzen. Wenn nichts passiert oder niemand kompetent darüber berichten kann, einfach mal nichts zu dem Thema veröffentlichen. Sie müssen keine Seiten füllen damit Sie in Druck gehen können. Sie dürfen auch Fehler machen, nur warum kann man dann nicht den alten, fehlerhaften Artikel stehen lassen und/oder Hinweise geben, dass man gerade noch etwas anderes veröffentlicht hat?

  9. Ich kann den Verfechtern der Großschreibung nur empfehlen, Stefans Blog über RSS-Feed zu lesen. Dort bekommt man nämlich nach wie vor die richtige Schreibweise!

  10. Am schönsten ist es doch immer, wenn der Kritisierte sich in den Comments selbst zu Wort meldet. Der Schlagabtausch ist spannend zu lesen. Es könnte ruhig noch eine Weile so weitergehen. Ob der Verweis auf ein misslungenes Bild sein muss, das weiß ich nicht. Aber gelungen ist es tatsächlich nicht. Sowas hat natürlich auch immer eine gewisse Symbolwirkung.

  11. höhö… komisch, dass Herr Niggemeier selber einiges an Fehlern im Blog hat(te) und die dann auch – lalalala – korrigiert, psssst Mäuschen natürlich. Wie peinlich….

  12. Ich habe Verständnis dafür, dass Matthias Ehlert auf die Frage „Wozu braucht es eigentlich die ‚Netzeitung‘?“ nicht spontan geantwortet hat. Ich hätte mich auch erstmal gefragt, was denn bitte die Intention dieser Frage sein könnte. Vermutlich wollte der Fragensteller damit ausdrücken, dass es vor Gründung der „Netzeitung“ doch schon sehr viele sehr änhliche Publikationen gab und die „Netzeitung“ eigentlich nichts weltbewegend Neues bietet. Aber dann könnte man sich auch fragen: Wieso ist „TV Today“ gestartet, obwohl es doch bereits etliche Programmzeitschriften gab? Wozu N24, wenn wir doch n-tv haben? Wieso ist „Vanish Oxi Action“ auf den deutschen Markt gekommen, wo es doch schon „Sil Oxi“ und „Oxy Magic“ gab? Natürlich ist es legitim, sich all diese Fragen zu stellen. Aber dann doch bitte innerhalb einer Grundatzdiskusssion über den Sinn und Unsinn der Marktwirtschaft.

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