Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
„Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen.“ Das war immer schon der Satz, der mehr Menschen als jeder andere dazu brachte, stehen zu bleiben und zu gucken, insbesondere, wenn schon andere Menschen da standen und guckten.
Im Moment stehen sehr viele Leute auf der Welt da und gucken, was es in dem amerikanischen Städtchen Jackson Hole, Wyoming, an der Kreuzung zwischen Broadway und Cache nicht zu sehen gibt. Eine Webcam auf Youtube zeigt, was dort passiert, nämlich: nichts besonderes. Es ist eine Straßenkreuzung. Autos halten an und fahren weiter. Andere Autos halten an und fahren weiter. Fußgänger überqueren die Straße. Im Hintergrund sieht man Berge. Vor einem Park steht ein Torbogen. Links ist ein Ladengeschäft.
Das Besondere, es passiert nicht in Jackson Hole, Wyoming, sondern auf der anderen Seite der Webcam: Tausende Menschen aus aller Welt schauen sich das an und kommentieren das Geschehen. Die Nachrichten im Youtube-Chat neben dem Video rauschen in irrwitziger Geschwindigkeit hindurch.
Sie haben ein Spiel daraus gemacht, zu kommentieren – oder auch nur zu erwähnen – was passiert, und auf irgendeine wundersame Weise ist ein roter Truck so etwas wie der Hauptgewinn in diesem Spiel. Wenn er durchs Bild fährt, rasten alle aus (also, noch mehr als sonst). Und weil das Besondere, das auf dieser Seite der Webcam passiert, natürlich auch Einfluss auf die andere Seite der Webcam hat, sieht man nun immer wieder Menschen oder Autos auf der Straßenkreuzung mit Schildern, auf denen Sachen stehen wie: „Red Truck Is Life.“
Es ist alles sehr sinnlos. Es ist von schönster, reinster, atemberaubender, faszinierender Sinnlosigkeit. Niemand weiß so richtig, wie alles begann. Es gibt keine richtige Geschichte, keinen Mythos. Die Webcam von der Straßenkreuzung Ecke Broadway Broadway und Cache in Jackson Hole, Wyoming, hat kein Geheimnis, außer das, kein Geheimnis zu haben. Man könnte sich jede andere Straßenkreuzungswebcam im Internet angucken, aber warum sollte man das tun, wenn alle anderen sich diese angucken?
Die Internetseite Fusion hat einen schönen Begriff, den Reiz dieses Gemeinschaftserlebnisses zu beschreiben: simultaneity porn. Das meint mutmaßlich, wie sich viele Fremde daran aufgeilen, dass sie gleichzeitig das Gleiche tun. Dass es darüber diese Gemeinsamkeit hinaus keine Bedeutung des Tuns gibt (noch nicht einmal einen Bezug zu dem Ort, der das Ziel ihrer Aufmerksamkeit ist), macht seinen Reiz noch größer.
„Es lockt mit dem Unbekannten“, schreibt „Fusion“. „Mit dem Jackson-Hole-Stadtzentrum-Livestream weiß man nie, welche Farbe der nächste Truck hat, der erscheint.“
Morgens um sechs Uhr Ortszeit sind alle ganz aufgeregt, weil dann die Ampeln wieder auf Tagbetrieb umgeschaltet werden. Wenn ein Traktor duchs Bild fährt, rufen alle: „Tractor!“. Wenn sonst nichts passiert, ruft garantiert einer: „Lobpreiset den Torbogen!“ oder halt: „Der Torbogen ist das Böse!“
Neulich nachts, die Ampeln blinkten rot, erschien der Wagen des Sheriffs. Er fuhr über die Kreuzung und aus dem Bild, setzte wieder zurück, stieg aus und machte den Dab, eine Art Verbeugung mit Armschwingen, eine Tanz- und Jubel-Bewegung, die auch so eine rätselhafte Hype-Sache ist, die sich irgendwann verselbstständigt hat.
Der Sheriff machte den Dab, stieg wieder ein und fuhr weg. Das Internet war glücklich.