Süddeutsche Zeitung
Jörg Draeger, Moderator von „Geh aufs Ganze“, macht in guten Momenten aus einer billigen Sendung kostbare Unterhaltung.
Zwei Handbreit ist sein Gesicht von ihrem entfernt. Keine Sekunde lässt er sie aus dem Blick. Seine Augen bohren sich tief in sie hinein und lassen sie nicht mehr los. Sein ganzer Körper ist ihr zugewandt, nicht dem Publikum, nicht den Kameras. Weil er so dicht vor ihr steht, finden ihre Augen keinen Fluchtpunkt, immer wieder nur sein Gesicht.
Zwei Minuten dauert das. Ewig. Bis sie sich entschieden hat, den unbekannten Preis hinter einem Tor zu nehmen, nicht die 1000 Mark, die er ihr anbietet. Und bis er ihre Entscheidung akzeptiert. 1500? 2000?
Nein, endgültig. Ja, bestimmt.
Das mit den zwei Handbreit täuscht. In Wahrheit ist die Distanz, die Jörg Draeger seinen Kandidaten lässt, genau null. Was er macht mit den Leuten, ist das gleiche wie Günther Jauch in Wer wird Millionär ein paar Stunden später, ein paar Millionen Zuschauer populärer, ein paar Gehaltsstufen höher. Er spielt mit ihnen. Führt sie demonstrativ auf die falsche Fährte und heimlich auf die Richtige. Lässt sie blind vertrauen und grundlos zweifeln. Lockt abwechselnd ihre Gier und ihr Sicherheitsbedürfnis. Macht sie nackt.
Bei Jauch haben sie manchmal noch ihr Wissen als Schutz, bei Draeger geht es um Glück — da haben sie nichts. Jauch lehnt sich zurück und zieht seine Kandidaten an langen Marionettenfäden dahin, wo er sie haben will. Draeger beugt sich vor und führt sie am Nasenring. Nicht ganz so elegant, die Technik. Genauso perfekt.
Er ist nicht der klassische Fernsehheld. 55, braun gebrannt, mit einem Schnauzer, der jeden Imageberater suizidal werden lässt, die vielen Haare zu einem furchtbar federnden Scheitel gezähmt. Doch, er sieht schon aus wie ein Moderator. Aber wie einer, der die Karnevalsgala im Kurhaus zu Bad Rothenfelde leitet oder die Hauskapelle der Schlagerbar auf Mallorca.
Auch seine Sendung ist kein naheliegender Ort für televisionäre Höhepunkte. Geh aufs Ganze, täglich zur klassischen Nebenbei-Beriesel-Zeit am Vorabend, 40 Minuten Zocken um Preise, deren Präsentation eigentlich Anlass der Sendung ist.
Simpler geht es nicht: Moderator sucht Kandidaten aus dem Publikum. Lässt sie aus Toren und Umschlägen wählen, die große Gewinne, kleine Gewinne oder die Niete in Gestalt eines begehrten roten Flauschzottels namens Zonk enthalten. Er zählt ihnen Geldscheine in die Hand, um sie zu verführen, aus dem Spiel auszusteigen. Immerhin: Kabel 1 pflegt die Sendung, die hier nach acht Jahren auf Sat 1 seit zwei Jahren läuft. Hat ihr gerade ein neues schmuckes Studio gegönnt und fordert das Publikum auf, ihre Tipps für die Kandidaten nicht mehr reinzubrüllen („den ROTEN Umschlag!“). Casino statt Karneval soll es werden, sagt der Warm-Up-Mann, „naja, eher Casino in Bad Neuenahr als in Las Vegas“, sagt Draeger realistisch.
Als Moderator der Sat-1-Nachrichten und im Frühstücksfernsehen hat er keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, mit einer RTL-Sendung über ungeklärte Phänomene ist er fürchterlich baden gegangen. Aber Geh aufs Ganze, das ist seine Sendung, „mein Baby“, da macht ihm keiner was vor. Ohne ihn, sagt die Kabel-1-Sprecherin, hätte man die Show gar nicht wiederbelebt, und nachdem Sat 1 es einmal mit Ersatzmann Elmar Hörig versucht hatte, ist das mehr als ein Lippenbekenntnis.
Er tritt auf, und während das Publikum noch applaudiert, sucht er sich daraus ein Opfer. Gecastet wird nicht, die Redaktion gibt ihm höchstens Tipps, wer vor der Sendung originell schien, aber für Draeger, ganz Diva, ist das eher ein Grund, jemanden anderes zu wählen. Er verlässt sich auf seine Intuition und die Faustregel: Eine Oma, eine Blonde mit Riesendekolleté.
Mit Jürgen setzt er sich auf einen Barhocker und fragt, welches der drei Tore er wolle. Jürgen will Tor 2. Draeger zeigt ihm den Inhalt der anderen: je ein Auto. „Gestern“, sagt Draeger, „war hinter jedem Tor ein Auto. “ Er plaudert beiläufig über Heimatort, Familie, Beruf, und während Jürgen schwitzt, weil er sich fast sicher ist, dass hinter dem Tor 2 auch ein Smart ist, aber eben nur fast, taxiert Draeger ihn und plant, wie viel sicheres Bargeld er gegen den unsicheren Wagen wohl bieten muss, bevor Jürgen aussteigt.
Das Verblüffende ist, dass man bei dieser billigen Show in guten Momenten mehr über die Kandidaten erfährt und die Menschen an sich, als in vielen teuren Sendungen. Monika hat sich fest vorgenommen, zu zocken und nicht auf ein Geldgeschenk einzugehen.
Draeger zählt: 1000 Mark. 1500. 1800. 12000. Monika verliert die Fassung. So einfach ist das.
Er knackt sie fast alle. „In 99 Prozent der Fälle kann ich steuern, wie sie sich entscheiden werden“, sagt Draeger. Manche schmelzen sofort wie Wachs. Eine junge Frau hat sich für einen blauen Umschlag entschieden. „Könnte ich Sie überreden, den roten zu nehmen, mir zuliebe“, fragt Draeger. „Ja“, haucht sie und tauscht. „War nur ein Test“, sagt er nun, „würden Sie ihn mir auch wieder zurückgeben?“ Würde sie und hat ganz unverdient wieder den Hauptpreis in der Hand.
Sie würde auch springen, wenn er sie bäte. Ihm zuliebe.
Müssten seine Augen nicht groß sein, offen, weit? Jörg Draeger hat kleine, tiefliegende, engstehende Augen. Doch das passt. Er ist ja nicht der vertrauenswürdige Onkel. Er ist der Gebrauchtwagenhändler. Man weiß, dass er verschlagen ist, einen übers Ohr hauen will, sieht es ihm sogar an. Aber seine Angebote sind so verlockend.
Wenn er vornehm wirken will, sich verbeugt oder einen Handkuss gibt, wirkt er theatralisch, verkrampft. Im persönlichen Gespräch ist er ganz nah, laut und direkt. Er sitzt in seiner Garderobe, ein Bein wippt über der Lehne, eine Hand spielt mit dem Schlüssel, die andere hält einen Kaffeebecher, mit beiden gestikuliert er. Distanz? Seine schwangere Assistentin stellt er mit den Worten vor: „Ich war’s nicht“. Worüber Kollegen, die Geschichten von ihm erzählen, wie er Mitarbeiterinnen Eiswürfel in den Ausschnitt wirft und wieder herausholt, nur bedingt lachen können.
Als Moderator aber zeichnet ihn aus, Grenzen der Kandidaten zu erkennen, an sie heranzugehen und sie dann ganz knapp nicht zu überschreiten. Mit großer Sicherheit fängt er den Kandidaten auf, den er gerade nacheinander acht Motorräder hat verspielt lassen und wägt ab, wen er zur Verzweiflung treibt und wen nicht. „Ich bin ein typischer Straßenköter aus dem Ruhrgebiet“, sagt er. „Ich war als Kind nicht stark oder schlau und ich hatte keinen Florett-Roller, der die Mädchen beeindruckte.“
Was er hatte und zur Perfektion entwickelte, war Schlitzohrigkeit und Menschenkenntnis, wenn er Kumpel überredete, für ein paar Pfennig Kohlen zu schippen, wofür er gerade viel mehr von seinen Großeltern bekommen hatte.
Draeger ist Showmaster — er beherrscht die Sendung und ist besessen von ihr. Kurz vor der Aufzeichnung geht er mit seiner Assistentin den Ablauf durch, den die Redaktion entwickelt hat, und ändert: Hier einen Smart mehr, da bitte nur Zonks im Umschlag, das alberne Trimmrad nur als Trostpreis. Selbst in der Sendung wirft er dauernd den Spielplan durcheinander, macht kurzerhand eine Extrarunde mit einem vorwitzigen Zuschauer, improvisiert — die Kameramänner können sehen, wie sie das ins Bild kriegen. „Ich habe Freiheiten in dieser Show, die sonst nur die ganz Großen haben“, sagt er.
Vielleicht ist es deshalb nicht gelogen, wenn er sagt, er sehne sich nicht danach, noch einmal in die Erste Reihe zu kommen, raus aus dem Vorabendwerbegetto. „Ich habe in meinem Berufsleben für meine Möglichkeiten alles gemacht“, sagt er. Irgendwann, vielleicht schon nächstes Jahr, will er ganz aufhören und auf Teneriffa bleiben, wo er mit seiner Familie lebt. Dem „Vieh, dem ich meine materielle Sicherheit verdanke“, hat er dort ein Denkmal gesetzt: In seinen Swimmingpool hat er aus roten Mosaiksteinen einen Dreimeter-Zonk einarbeiten lassen. „Das sieht einfach sensationell aus.“
Auch das ist ein Reiz des Jörg Draeger und seiner Show: Manchmal macht er einem einfach Angst.