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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Zeitungen erforschen ihre Leser und erfahren, daß sie sich ändern müssen.

Zeitungsleser sind merkwürdig. Sie mögen es, wenn in einem Artikel ein Kasten mit einem Zitat steht. Aber wenn sie dann den Text lesen, hören sie gerne exakt an der Stelle, an der das Zitat im Artikel auftaucht, wieder auf zu lesen. Ein schlauer Redakteur, der solche Erkenntnisse ernst nimmt, wählt deshalb als Zitat für den Kasten eines, das erst weit hinten in seinem Artikel auftaucht. Oder, ganz pfiffig, eines, das gar nicht vorkommt.

Zeitungsjournalisten sind auch merkwürdig. Am liebsten würden sie das gar nicht so genau wissen. Zu abschreckend ist das Beispiel des Fernsehens, das in der Illusion lebt, sekundengenau nachvollziehen zu können, wann gutverdienende 19- bis 39jährige Frauen zur Kochshow umgeschaltet haben. Und man sieht ja, was aus dem Fernsehen geworden ist, das nur noch auf diese Zahlen starrt und sich nicht mehr fragt, was es eigentlich erzählen will. Da ist es kuscheliger als Zeitungsmacher, der kaum weiß, ob seine Artikel nur von Kollegen zur Kenntnis genommen werden oder von vielen Lesern. Im Zweifelsfall glaubt er, ohnehin selbst am besten zu wissen, was der Leser lesen sollte – und wenn der es dann nicht tut, ist es nun wirklich seine eigene Schuld.

Die Vorstellung von Quoten im Zeitungsalltag ist ein Kulturschock für Printjournalisten. Umfragen, was die Menschen lesen wollen, gab es immer schon – aber da gaben dann auch Boulevardzeitungsleser an, daß sie auf Sex & Crime gut verzichten könnten, aber Kultur und Leitartikel: ein Muß! Tagesaktuelle Daten, was die Leute wirklich lesen, welche Artikel und bis zu welcher Zeile, gibt es erst seit wenigen Jahren. „ReaderScan“ heißt die Methode, die der Schweizer Carlo Imboden vertreibt und bei der rund einhundert Menschen stellvertretend für die tatsächliche oder gewünschte Leserschaft mit einem elektronischen Stift markieren, was sie gelesen haben. Angeblich sind ihre Angaben nach einer Eingewöhnungszeit recht realistisch. Imboden ist überzeugt, daß die Daten die Zeitungslandschaft dramatisch verändern werden.

Knapp dreißig deutsche Zeitungen hat er inzwischen als Kunden, darunter „Berliner Zeitung“, „Kölner Stadt-Anzeiger“, „Die Zeit“, „Main Post“. Auch die „Bild“-Zeitung gehört dazu, obwohl deren „Sprecher“ das nicht bestätigt. Gerüchten zufolge wird in der Frankfurter „Bild“-Ausgabe mit ReaderScan getestet, welche Überschriften am besten funktionieren. Über mehrere Wochen erhalten die Zeitungen täglich detaillierteste Angaben über Lesequoten jedes Artikels und können versuchen, Zusammenhänge mit dem Thema, der Aufmachung oder der Länge herzustellen. Die Ergebnisse sind nicht immer die, die man sich als ambitionierter Journalist wünscht. Bei der „Berliner Zeitung“ zum Beispiel kam heraus, daß jeder Versuch einer feuilletonistischen Überschrift die Leser abschreckt, selbst wenn es in der Unterzeile um so sachlicher zugeht. Andererseits stellten die Redakteure verblüfft fest, daß man die Lesequote schon mit kleinen handwerklichen Tricks erheblich steigern konnte.

Aus den Daten lassen sich nicht die vielleicht zu erwartenden Argumente für eine Verflachung der Inhalte ablesen. Die Leute werden zwar gerne unterhalten, aber sie lesen Zeitung vor allem, um solide und hintergründig informiert zu werden. Die „Berliner Zeitung“ merkte, daß die vermeintlich so angesagten kleinteiligen Serviceseiten viel schlechter ankamen als gute durchgeschriebene Texte. Bei der „Zeit“ sollen ausgerechnet die Artikelriesen im „Dossier“ besonders gut gelesen worden sein, beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ kamen die großen Politiktexte auf den Seiten zwei und drei gut an. „Es gibt einen Bedarf nach langen und ausführlichen Texten“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Joachim Frank. „Allerdings: Sobald so ein Artikel schlecht geschrieben oder schlecht gestaltet ist, steigen die Leser in Scharen aus.“

Auch beim „Berliner Kurier“, der die Methode als erste Boulevardzeitung eingesetzt hat, staunte man, wie gut politische Themen ankamen. Bei größeren Ereignissen sei der „Kurier“ nun eher bereit, den Seitenumfang für die Politik auch zu verdoppeln, sagt Chefredakteur Hans-Peter Buschheuer. Verblüfft registrierte die Redaktion auch, daß ein eher versteckter Artikel über Breitbandangebote hervorragende Leserzahlen hatte, versuchte erfolgreich, das Ergebnis zu reproduzieren, und weiß nun, daß die „Kurier“-Leser sich heftig für „Digital Lifestyle“ interessieren.

Natürlich gibt es Ressorts, die unter der Betrachtung nach Quoten leiden. Die Feuilletons zum Beispiel. Sie müssen feststellen, daß die Leserzahl klassischer Rezensionen gegen null geht. Während die Kulturjournalisten nicht überrascht gewesen sein dürften, trifft es ihre Kollegen aus dem Sport eher unvermutet: Viel weniger Menschen als vermutet lesen Sportteile, und bei der verschwindend geringen Zahl von Lesern der Lokalsport-Seiten wäre es vermutlich günstiger, die Spielberichte einzeln durchzutelefonieren. Andererseits sind die örtlichen Lokalsportler und Kulturschaffenden trotz ihrer überschaubaren Zahl nicht ganz unwichtige und notfalls lautstarke Leser, wie die „Main Post“ erleben mußte, als sie ihren Kulturteil nach einer ReaderScan-Welle radikal umbaute und einen Sturm der Empörung auslöste.

Schon die Existenz der Zahlen ist brisant. Sie lassen sich als Machtinstrument gegen vermeintliche Luxus-Angebote einsetzen. Man kann mit ihnen Kosten-Nutzen-Rechnungen anstellen, in denen die gesellschaftliche Funktion der Tageszeitungen keine Größe ist. Ist ein Ressort als Quotenkiller ausgemacht, kann es unter erheblichen Rechtfertigungsdruck geraten – auch wenn Verleger großer Regionalzeitungen sich beeilen, sich zum Wert solcher Minderheitenangebote zu bekennen. „Das Abschaffen oder Zusammendampfen des Kulturteils wäre für eine Zeitung unseres Zuschnitts undenkbar“, sagt Joachim Frank für den „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Aber wir versuchen jetzt, einen Kulturteil zu machen, der einen weiteren Kulturbegriff hat und mehr Leute anspricht.“

Aber wie ist das, wenn — wie bei der „Berliner Zeitung“ — plötzlich kein klassischer Verleger mehr hinter dem Titel steht, sondern renditeorientierte Investoren und ein erklärter Hochkulturverächter? Da wünschte man sich vielleicht, ihm nicht ganz so viele Argumente in die Hand geliefert zu haben. „ReaderScan-Ergebnisse eins zu eins umzusetzen wäre blanker Selbstmord“, warnt ein Redakteur.

Die Quote ist ein zweischneidiges Instrument: Einerseits bringt sie bestimmte Ressorts in die Defensive, andererseits liefert sie ihnen Anhaltspunkte, mit welchen handwerklichen Mitteln sich die Leserzahl eines Artikels erhöhen läßt — so daß gerade die eher schwierigen, aber wichtigen Themen ihr Publikum finden. „Wichtig ist, nicht die Quoten vom Panorama-Ressort mit denen des Kulturteils zu vergleichen“, sagt Joachim Frank.

Viele Schlußfolgerungen, die sich aus den Zahlen ziehen lassen, entsprechen klassischen Journalistenregeln: Gute Texte werden mehr gelesen als schlechte, es hilft, wenn Text und Bild nicht auseinanderklaffen, wenn überhaupt ein Bild da ist. Um das zu wissen, müßte man natürlich nicht einem Schweizer Geschäftsmann einen sechsstelligen Betrag für das aufwendige ReaderScan-Verfahren zahlen. Aber es scheint einen Unterschied zu machen, diese Regeln theoretisch vorgebetet zu bekommen oder ihre Auswirkungen täglich in der Praxis zu sehen.

Die „Neue Osnabrücker Zeitung“ hat sich gerade einen recht radikalen neuen Anstrich gegeben — auf der Grundlage von klassischen Umfragen und ReaderScan. „Ich weiß nicht, ob wir ohne Reader-Scan so weit gegangen wären“, sagt der stellvertretende Chefredakteur Berthold Hamelmann. Im neuen Blatt erkennt man an vielen Stellen typische ReaderScan-Lehren wieder: So stehen die Kommentare nicht mehr geballt an einem Platz, sondern neben dem zugehörigen Artikel, und der Kommentator ist immer mit Bild zu sehen. In zwei weiteren Forschungswellen wird nun überprüft, ob diese und andere Umstellungen die Lesequote erhöhen.

Buschheuer vom „Berliner Kurier“ ist schon einen Schritt weiter. Gegen den Trend gewinnt seine Zeitung seit kurzer Zeit Auflage. Er führt das zu einem wesentlichen Teil darauf zurück, daß man Lehren aus den Quoten gezogen habe. „Durch die über Jahre sinkenden Verkaufszahlen gab es eine latente Verunsicherung in der Redaktion“, sagt Buschheuer. Nun habe sie die „Erdung“ wiedergefunden. „Das ist ein Hilfsmittel, um nicht gegen das Leserinteresse zu arbeiten.“ Es geht bei seiner Zeitung darum, den knappen Platz optimal zu nutzen und die Lesedauer zu erhöhen. Auch er warnt davor, alles rauszuwerfen, was nicht genug Quote bringt. Auch im Supermarkt würden die meisten Leute nur eine kleine Auswahl der angebotenen Produkte je kaufen, aber sie würden erwarten, daß er mehr Produkte anbietet. „Ein ähnliches Sortimentsbedürfnis müssen sie auch als Zeitung befriedigen.“

ReaderScan-Erfinder Imboden glaubt, daß Zeitungen die Ansprache von Minderheiten zum Beispiel im Sport- oder Kulturbereich radikal überdenken müssen. Andererseits sei die Angst vor den Quoten oft unbegründet: „Was die Leser von ihrer Zeitung erwarten, deckt sich stark mit dem, was der Journalist für wichtig hält — da gibt es keinen Widerspruch zu der wichtigen Rolle, die der Tageszeitung von der Gesellschaft in der Demokratie zugeschrieben wird.“ Letztlich bedeute der Einsatz der Quote auch eine Rückbesinnung auf den Kern einer Zeitung: „Sie können eine Zeitung nicht auf Dauer dadurch im Markt halten, daß sie den Lesern Kaffeemaschinen schenken, sondern nur dadurch, daß ihre Inhalte den Leserbedürfnissen entsprechen. Das Geld muß zurück ins Produkt.“

Wenn die Zeitung im härter werdenden Kampf um Aufmerksamkeit überleben will, wird sie auf Dauer nicht darum herumkommen, die Interessen und Verhaltensweisen ihrer Leser besser kennenzulernen und auf sie zu reagieren. Und auch wenn alle ReaderScan-erfahrenen Zeitungsmacher betonen, daß die Quote nicht die Erfahrung, das „Bauchgefühl“ und die Kreativität des Journalisten ersetzt, wünschen sich viele schon den nächsten Schritt, an dessen Umsetzung Imboden gerade arbeitet: ReaderScan als Dauerinstrument, an dem man jeden Tag ablesen kann, von welchem Thema die Leser genug haben und von welchem sie gar nicht genug kriegen können.

Und so verführerisch der Gedanke ist, so sehr klingt das nach der Quotenabhängigkeit, durch die das Fernsehen seine Relevanz verloren hat.