Kleines Land, großer Wahnsinn: Die Dänen wollen es mit ihrem European Song Contest am Samstag erheblich krachen lassen.
Wie in einem Märchenwald wirft Sonnenlicht Staubstreifen in die dunkle Arena. Das Gestänge, an dem das Dach aufgehängt ist, lässt dem Licht ein paar Lücken. Dem Wind auch. Kalt ist es. Draußen feiern die Kopenhagener den Frühling: Auf jedem Bordstein sitzt einer, lässt sich anstrahlen und strahlt zurück. Drinnen erinnern sich ein paar Deutsche, die auf den Rängen frösteln, wie die Nationalmannschaft hier vor einem halben Jahr verloren hat. Damals war das Parken-Stadion noch ein normales Fußballstadion, ohne Dach. Der Prospekt sagt, dass man die Halle schnell mit heißer Luft füllen kann. Am Samstag Abend findet hier also der Schlager-Grand-Prix statt (ARD, 21 Uhr).
Ganz so ist es nicht, dass das Stadion extra dafür ein teures Dach bekommen hat. Die Pläne lagen schon in den Schubladen. Aber für das längst totgesagte Fernsehritual hat man sie ‚rausgeholt. Deshalb werden die Kopenhagener in Zukunft, wenn sie hier Madonna zujubeln, dem Grand Prix dankbar sein – auch eine Antwort auf die ewige Frage nach dessen Sinn und Daseinsberechtigung.
Nicht, dass die in Kopenhagen in diesen Tagen viele stellen würden. Die Feuerwehrleute nicht, die eine Woche lang als Sicherheitsleute hinter den Kulissen stehen und sich ein paar Kronen dazu verdienen, damit sie in einem Monat zu den internationalen Polizei- und Feuerwehr-Spielen nach Amerika fliegen können. Die Tourismus-Leute von „Wonderful Copenhagen“ nicht, die jedem Delegationsmitglied am Flughafen das Gefühl geben, die „Wonder Brass“- Band spiele nur für ihn. Und die Leute vom dänischen Fernsehen schon gar nicht. Die haben seit einem Jahr eine Mission. Nach dem Sieg der Olsen-Brüder in Stockholm wollen sie die größte Fernsehshow aller Zeiten veranstalten. Um es den Schweden, den dänischen Lieblingsgegnern, mal richtig zu zeigen? „Nein“, sagt der örtliche Event-Manager Christian Have, „um es der Welt zu zeigen“.
Vielleicht muss man sich einmal vorstellen, was passieren würde, wenn unsere süße Michelle gewänne: Bild würde zwei Wochen komplett ausrasten und die Nation abstimmen lassen, ob Ex-Freund Matthias Reim zurück darf zu Michelle oder nicht. RTL und Sat 1 würden jeden ihrer Schritte zu ewigem Ruhm oder mal eben in den Abgrund mit der steady cam begleiten. Ralph Siegel würde sich heulend in seinem Studio einschließen, weil nicht er es war, der den Grand Prix nach Deutschland holte.
Aber sonst? Der NDR würde routinemäßig die Preussag-Arena buchen und die Fernsehleute engagieren, die die Arena schon bei der Vorentscheidung ganz fürchterlich nach Hannover aussehen ließen. Grand-Prix-Koordinator Jürgen Meier-Beer würde versuchen, Claudia Schiffer als Moderationspartnerin für Axel Bulthaupt zu gewinnen. Die schwulen Grand-Prix-Fanclubs könnten die Tickets unter sich aufteilen. Stefan Raab würde ein paar Sondersendungen machen. Und den meisten Menschen wäre die Geschichte, jenseits eines kultigen Fernsehabend mit Käse-Igeln und viel Alkohol, egal. Grand Prix halt.
In Dänemark ist es so, dass heute sämtliche Minister und der Regierungschef in der ersten Reihe sitzen werden, um sich anzusehen, wie junge unbekannte Menschen mit erstaunlich guten Stimmen erstaunlich uninspirierte Lieder um die Wette singen. „In diesem Jahr ist das für uns kein Song Contest“, sagt Cheforganisator Jørgen Ramskov: „Es ist ein Staatsakt.“ Der Stroget, die Einkaufsstraße, die der Reiseführer als möglicherweise längste Fußgängerzone der Welt beschreibt, hat sich in die sicherlich größte Ausstellung von Grand-Prix-Wahnsinn verwandelt: Eine Konditorei hat in ihrer Auslage den Titel jedes dänischen Beitrags der Geschichte in einer Torte dargestellt. Rosendahl hat seine Schaufenster leergeräumt und ein einzelnes Besteckset hineingestellt, das offizielle Grand-Prix-Besteck, in edler Box, statt 1624 nur 999 Kronen.
In den Plattenläden steht die CD mit den Liedern aller Teilnehmer, der Verkäufer rechnet fest damit, dass die bald auf Platz eins der Hitparade sein wird. Gleich neben den Sammlungen vom „Danske Melodi Grand Prix“ 2000, 1999 und 1954-1998, diversen Best-Ofs und der Platte von Johnny Logan, dem Iren, der zweimal gewonnen hat; die Platte hat er gerade extra für die Dänen aufgenommen. Rund um den Kongens Nytorv Platz strahlt ein Blumenbild mit Blütenklecksen, das die Noten des dänischen Beitrags darstellen soll.
„Es ist eine Geschichte ganz nach dem Geschmack der Dänen“, sagt Christian Have, „wir sind ein kleines Land, wir halten nicht viel von großem Startum. Wir lieben es, dass im vergangenen Jahr mit den Olsen-Brüdern zwei alte Männer gewonnen haben, die ihre große Zeit vor 20 Jahren hatten – und die niemand wirklich auf der Liste hatte.“ Nein, man kann nicht sagen, dass die Dänen vorbereitet waren auf diesen Sieg: Die öffentlich-rechtliche Anstalt Danske Radio hatte gerade beschlossen, ihre Unterhaltungsabteilung aufzulösen. Der frühere Grand-Prix-Beauftrage musste in eine kaufmännische Abteilung wechseln.
Nun hatten auch die Dänen vor ein paar Jahren noch ihre Zweifel an dieser merkwürdigen Veranstaltung. Nach dem Sieg erkannten sie schnell, dass dies die Chance war, der Welt etwas zu beweisen. Danske Radio ist ein kleiner Sender, wie man ihn sich in einem kleinen Land wie Dänemark vorstellt, in dessen Fernsehabteilung nachts und morgens noch das Testbild läuft. Ramskov, der eher auf Rockkonzerte geht und dem Michelle nicht in den CD-Player käme, kündigte seine Position als Fernsehchef, um ein Jahr lang etwas vorzubereiten, das nicht mehr Schlagerwettbewerb, sondern Mammut-Party werden sollte: „Wir erfinden den Song Contest neu. Entweder man macht ihn richtig oder gar nicht.“
Etwas beunruhigt verfolgten die Eurovisions-Kollegen den Gigantismus der Dänen und fragten sich nicht nur, ob das Dach über Parken rechtzeitig fertig würde, sondern auch, ob es überhaupt genügend Leute gebe für die 38 000 Plätze. Das Dach steht, die Karten für die Veranstaltung und zwei Generalproben waren innerhalb von 50 Minuten ausverkauft. Junge Menschen übernachteten in Schlafsäcken auf dem Rathausplatz, um Tickets zu ergattern, die heute für fast 1000 Mark auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden.
15 Millionen Mark soll die ganze Veranstaltung kosten, sechs Millionen bekommt Danske Radio von den größeren Eurovisions-Kollegen, den Rest sollen Sponsoren und Partner decken.
„Es war ein Pokerspiel“, sagt der deutsche Grand-Prix-Mann Jürgen Meier Beer. Er verfolgt diesmal nicht nur fasziniert, warum ernstzunehmende Menschen heftig über die Frage streiten können, wie furchtbar es ist, dass alle Teilnehmer plötzlich eine Strophe auf Englisch singen. Für ihn wäre so ein finanzielles und organisatorisches Pokerspiel kaum zu machen – „der Stellenwert des Grand Prix ist für ein kleines Land einfach ein anderer“. Andererseits hat er es geschafft, dass der deutsche Botschafter in Kopenhagen einen Empfang für Schlagermaus Michelle gegeben hat, in einer Kirche, deren Kirchenvorstand darum bat, die Sängerin auf seiner Harley fahren zu dürfen, bevor sie von den Olsen Brothers mit dem Lied „Michelle“ überrascht wurde. Ah, schön!
Am Samstag wird sie auf der Bühne stehen und ihr Lied „Wer Liebe lebt“ singen, von dem sie sagt, dass es eine Botschaft habe: Dass wir alle mehr lieben müssen. Außer von Nicole damals werde das ja viel zu selten gesungen. Die Russen zeigen, dass auch aus Wladiwostok erfolgreiche Musiker kommen können und diese aber trotzdem nicht gut sein müssen. Die Schweden könnten dafür sorgen, dass in Zukunft auch Abba-Kopien als Verstoß gegen die Genfer Menschenrechtskonvention gewertet werden. Aus England kommt eine junge Frau, die aussieht, als habe man sie bei Hempels unterm Sofa gefunden, aber sie singt wie eine Göttin.
Am Ende könnten die Franzosen gewinnen, was gut wäre, weil die keine Lust mehr haben auf einen Grand Prix, bei dem sie dauernd verlieren. Oder die Slowenen, was auch gut wäre, weil es dann auch im nächsten Jahr wieder einen Staatsakt statt eines Schlager-Wettbewerbs gäbe.
Ach ja, die Schlager. Dieses Problem haben die Dänen in ihrem Eifer noch verschlimmert: Auf einer riesigen Bühne sieht man schnell ganz klein aus.
(c) Süddeutsche Zeitung