Estland gewinnt völlig überraschend den Grand Prix, und nur die Dänen freuen sich nicht darüber.
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Der deutsche Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer glaubt, langsam eine Erklärung gefunden zu haben für das Phänomen, das immer wieder verblüfft: Die meisten Menschen verfolgen bei dem Pop-Wettbewerb im Fernsehen nicht die Auftritte der einzelnen Länder; mehr sitzen vor dem Ritual der Punktevergabe. „Europa nimmt sich einmal im Jahr diese Stunde, um kollektiv über die Beziehungen seiner Nationen untereinander zu meditieren“, sagt Meier- Beer. Nach den Wertungen zu urteilen, ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der skandinavischen Länder am Anfang des 21. Jahrhunderts intakt, auf britisch-irische Freundschaft kein Verlass, die Verbindung Frankreich-Portugal ungebrochen, und Deutschland ziemlich allein ohne seine Nachbarn Belgien, Schweiz und Österreich.
Eines aber erklärt Meier-Beers Theorie nicht: Warum sich Briten und Türken, Holländer und Griechen und noch einige mehr darüber einig waren, dass „Everybody“, ein altmodisches Stück amerikanischen Funks, gesungen von zwei unaufälligen Männern namens Tanel Padar and Dave Benton, die vor dem Contest in Kopenhagen kaum jemand wahrgenommen hatte, der beste Teilnehmer am diesjährigen Eurovision Song Contest gewesen sein soll. Die Europäer haben allem Anschein nach kaum noch Lust auf klassischen Schlager, aber der Weg nach vorne führt über die Vergangenheit. Denn die Alternative zu kitschigen Balladen waren Musikstile von gestern und vorgestern: Funk a la Cool and the Gang bei den Esten, eine Mischung aus Country und Kinderlied bei den Dänen, Bonnie-Tyler-Bombastpop bei den Slowenen. Die deutsche Vertreterin Michelle kam auf Platz acht.
Die Esten haben nun vier Wochen Zeit, dann steht ein Team der Eurovision bei ihnen vor der Tür und verlangt Rechenschaft, wo und wie sie es schaffen wollen, die Sendung im kommenden Jahr zu stemmen. Mit riesigem technischen und organisatorischen Aufwand (und nicht immer entsprechendem Ergebnis) haben die Dänen die angeblich größte Fernsehshow der Welt inszeniert – Übertragungen von Fußballspielen oder Konzerten nicht mitgerechnet. Da ist der Anspruch hoch, und die Gefahr für ein kleines Land, daran zu scheitern, ebenso. Mehr als 15 Millionen Mark soll die Sendung in diesem Jahr gekostet haben.
Für die Grand-Prix-verrückten Esten ist das Ergebnis ein Traum. Für die knapp geschlagenen Dänen eigentlich auch, die nun langsam anfangen können, die „Grand-Prix-Sonderangebote“ aus Einrichtungsläden und Modegeschäften in Kopenhagen abzuräumen. Die Mehrheit der 38000 Zuschauer im Fußballstadion „Parken“ ließ sich von dem Veranstaltungsort zwar zu einer Art Hooligan-Atmosphäre anstecken, buhte schlechte Wertungen für das eigene Land aus und sparte mit Applaus für die Sieger. Aber den Organisatoren war der zweite Platz lieber als ein Sieg. „Ich glaube nicht, dass man die gleiche Begeisterung hier noch einmal hinkriegen und die Besten des Landes aus allen Bereichen ins Team bekommen würde“, sagt Oberorganisator Jorgen Ramskov, der selbst für die Produktion des Festivals vor einem Jahr seinen Posten als Chef des staatlichen Fernsehsenders DR aufgegeben hatte. Er hatte sich das Ziel gesetzt, den Wettbewerb „nicht zu verjüngen, aber zu modernisieren“.
Ob das gelungen ist, ist schwer zu sagen. Einerseits waren nicht nur die Dänen im generationenübergreifenden Grand-Prix-Rausch, auch in Hamburg nutzten viele Tausend Menschen das schöne Wetter und den Hafengeburtstag, sich auf der Reeperbahn das Spektakel anzuschauen. Und mit mehr als acht Millionen Quote hat der Song-Contest das einzige für die ARD zählende Kriterium erfüllt. Andererseits waren viele Beiträge von einer Art, dass man hofft, dass die jeweils führende Boulevardzeitung in Bild-Manier wenigstens vorher mahnend gefragt hat, ob die für ihr Land überhaupt singen dürfen. Nach einem neuen Reglement müssen die sieben Länder mit den schlechtesten Ergebnissen im nächsten Jahr aussetzen – das trifft unter anderem große Grand-Prix-Nationen wie die Niederlande und Irland.
Deutschland wäre wie Frankreich, England und Italien selbst bei einem schlechten Ergebnis davon ausgenommen – aber Michelle landete ohnehin weit oberhalb der Abstiegszone, obwohl ihre Ballade „Wer Liebe lebt“ nur aus Portugal und Spanien nennswerte Punkte erhielt. Sie sagte, sie sei mit dem achten Platz sehr zufrieden und der Sieg für Estland gehe in Ordnung, weil das „ein kleines Land“ sei. Anders als bei der Probe zeigte sie im Finale stimmliche Schwächen – aber ob so etwas die abstimmenden Europäer überhaupt interessiert, bleibt eine der vielen ungeklärten Fragen dieser Veranstaltung.
(c) Süddeutsche Zeitung