Grand-Prix: Puterlos ins Finale

Vielleicht war es doch nicht die allerbeste Idee, einen Teddybär mit auf die Bühne zu bringen. Vielleicht hätten es mindestens zehn Teddybären sein müssen. Oder, noch besser: gar kein Teddybär. Europa ist noch nicht bereit für mittelalte Frauen, die mit Teddybär im Arm auf einer großen Bühne schöne jazzige Easy-Listening-Nummern singen. Das ist zwar schade, weil „Century Of Love“ von Geta Burlacu aus Moldau einer meiner persönlichen Favoriten war. Und weil sie, was bemerkenswert, aber vielleicht auch ein bisschen gewagt war, ganz alleine gesungen hat, ohne einen mehrstimmigen Background-Chor. Aber schon in der Sekunde, da ich den Teddybär sah, verließ mich mein bisschen Hoffnung.

Das erste Halbfinale ist gelaufen, und das erste prominente Opfer ist ein Truthahn. Dustin, die sehr angestrengt witzige Kinderfernsehpuppe aus Irland, hat es nicht ins Finale geschafft, was man durchaus als gutes schlechtes Zeichen für die anderen gewollt trashigen Kandidaten dieses Jahres sehen darf. Auch die Witztruppe aus Estland ist durchgefallen.

Geschafft hat es eine sehr, sehr bunte Mischung aus zehn Kandidaten: Das Spektrum reicht von den Hardrockern mit verstörenden Dschinghis-Khan-Anleihen aus Finnland über die Möchtegern-Mariah-Carey aus Norwegen bis hin zur „jemenitischen Nachtigall“ aus Israel, über die Kommentator Peter Urban sehr treffend sagte: „Ein großartiger Sänger, der ärmellos tragen darf — da zeigt sich, was Landarbeit bringen kann.“

Es war, bei allem, was man Schlechtes über den Eurovision Song Contest sagen kann (und das ist auch in diesem Jahr sehr viel) ein außerordentlich abwechslungsreicher Abend mit hohem Unterhaltungswert gewesen. Wen kümmert’s, dass es den meisten Liedern musikalisch entweder an Originalität oder Professionalität (oder beidem) mangelte, wenn sie mit soviel Willen zum Entertainment, so aberwitzigen Choreographien, so mutigen Kostümen und so hochtourigen Windmaschinen vorgetragen werden. (Übrigens müsste mal jemand nachschauen, ob an den Ventilatoren die Schalter abgebrochen sind: Sie durchwehten nicht nur fröhlich die dafür gemachten Frisuren der Frauen, sondern ließen auch schütteres estnisches Männerhaar zu Berge stehen und brachten die Mähnen der finnischen Rocker in eine interessante, aber nur halb gewollt aussehende Horizontale.)

Überhaupt ist das einer der absurdesten Vorwürfe gegen den Grand-Prix der letzten Jahre: dass es ja nur noch auf die abgefahrenste Show ankäme. Als sei der Versuch, das Publikum mit allen Mitteln zu unterhalten, irgendwie verwerflich.

Und im Zweifelsfall reicht es immer noch zu unfreiwilliger Komik, wie bei den Russen, deren Sänger barfuß auf der Bühne stand, während ein Eisläufer ihn umkreiste, was angesichts mancher schräger Töne nicht nur zu blutigen Fantasien meinerseits führte, sondern überhaupt merkwürdig aussah: Das Ersatzeis aus Plastik ließ den Sportler in unglücklicher Langsamkeit rumrumpeln.

Das große Drama, gerne musical- oder operettenhaft, kam beim abstimmenden Publikum an. Neben dem Duett von Popsängerin und Opernsänger aus Rumänien schaffte es auch Debütant Aserbaidschan auf Anhieb ins Finale. Die brachten tatsächlich ihre Engel- und Teufel-Nummer aus dem Video auf die Bühne, inklusive eines Komplettumzugs des Teufels von schwarz nach weiß (üblicherweise sind Garderobentricks beim Grand-Prix eher Sache der Frauen). Vorher übergoß der teuflische Sänger aber noch ein weibliches Wesen, das sich vor und unter ihm wand und räkelte, mit etwas, das sicher wie Blut aussehen sollte, aber vermutlich nicht einmal billiger Rotwein war:

Und auch das muss man sagen (und ist keineswegs typisch für diese Veranstaltung): Live singen konnten die meisten, die da heute um die Wette auftraten, manche Stimmen waren sogar richtig gut. Es half halt manchmal, die Augen zuzumachen. Im Radio zum Beispiel würde man Isis, die für Polen antrat, viel besser genießen, weil man nicht wüsste, dass sie während ihres Vortrags entweder Tai-Chi-Übungen macht oder versucht, mit den Fingerspitzen die entgegengesetzten Wände der Halle gleichzeitig zu berühren.

Die Bühne soll den Zusammenfluss von Donau und Save (und das Motto dieses Jahres „A confluence of sound“) darstellen — und macht, auch wenn man die Trilliarden LEDs und ihre Effekte aus dem „DSDS“-Studio kennt, richtig was her.

Das ist ja vielleicht das wirklich einzigartige an dieser Veranstaltung: Nicht so sehr die, äh, unterschiedliche Qualität der Musiktitel, sondern der Kontrast zur höchst aufwendigen und modernen technischen Präsentation.

Da sitzen dann auf der flimmernden, glitzernden, blinkenden Bühne vier strickende bosnische Bräute neben einer Wäscheleine, während zu einem merkwürdigen Stück Musik, das man wohlwollend „ambitioniert“ nennen könnte, eine Besessene vor ihnen Löcher in das Plexiglas zu tanzen versucht.

Der genauso, aber ganz anders merkwürdige belgische Beitrag hat es übrigens nicht geschafft. Ich würde die Schuld spontan bei den Kostümdesignern suchen…

…aber wahrscheinlicher ist, dass schon morgen wieder die absurde Diskussion um die Ostmafia oder Balkan-Connection beginnt. Denn obwohl die zwei Halbfinals kunstvoll so bestückt wurden, dass benachbarte Länder nach Möglichkeit getrennt wurden (Schweden und Norwegen ebenso wie zum Beispiel Kroatien und Bosnien-Herzegowina, Estland und Lettland, Weißrussland und Russland), schafften es aus Westeuropa nur Finnland und Norwegen ins Finale; Niederlande, Belgien, Irland, San Marino und Andorra blieben auf der Strecke.

Zu Recht, wie ich nicht nur mit Blick auf das Kleid von Gisela (Andorra) sagen möchte:

Sendetermine:
2. Halbfinale: Nacht auf Freitag, 0.45 Uhr, NDR-Fernsehen (Aufzeichnung)
Finale: Samstag, 21 Uhr, Das Erste

Alle Sendungen auch live und on demand auf eurovision.tv

Der große Grand-Prix-Führer 2008

38 Replies to “Grand-Prix: Puterlos ins Finale”

  1. Ich fand Bosnien auch ganz OK. Die Musik wurde schon kompetent kommentiert, deshalb von mir bisschen was allgemeines.

    Die ganze Show fand ich richtig gut gemacht. (Kleine Fehlerchen passieren doch immer.) Die Bühne (und das drum herum) und wie sie genutzt wurde, fand ich sehr gut. Ebenso die Idee mit den Postkarten. Leider war die Schrift bei nahezu allen Ländern nur schlecht zu lesen. Außerdem einen riesen Lob an die Gastgeber-Akts. Ich hatte schon irgendwo aufgeschnappt, dass Blasmusik die Show eröffnen soll und hatte Angst, dass das zu, ähm, lokal daherkommt. Ich bin positiv überrascht worden und fand diese Eröffnung schließlich sogar zu kurz. :-(

    Aber dieses Orchester vor den Ergebnissen war für mich die größte positive Überraschung. Ich glaube, dass ich in einem Augenblick hätte losfliegen können, wenn ich es nur versucht hätte.

  2. Mit Verlaub, welche Sänger hatten denn großartige Stimmen? Noch nicht mal die Moldawierin kam fehlerfrei daher.

    Aber allerschlimmsten war allerdings die russische Mafi-Produktion. Mit Geld bekommt man Timbaland als Produzent und einen Schlittschuhläufer und vielleicht reicht es auch noch für eine Stradivari und das alle den gleichen schwulen Haarschnitt bekommen, um noch ein paar mehr Punkte zu bekommen. Der Sänger von denen hat doch schon letztes Mal oder vor zwei Jahren mitgemacht und auch damals hat er keinen Ton getroffen. Ebenso diesmal. Ich verstehe ja, wie aller möglicher Schrott gewählt wird, dass aber trotzdem – sofern sie nicht aus England kommen – Sänger gewählt werden, die keine Töne treffen, verstehe ich nicht.

  3. Dann doch noch eine Eingrenzung: Ich habe geschrieben, dass ich es sehr gut fand, „wie die Bühne genutzt wurde“. Ich meinte das Potential, das zur Verfügung stand. Was die Länder damit gemacht haben ist eine andere Sache. Diese Einschränkung schreibe ich damit niemand auf die Idee kommt, ich fände den russischen Eistänzer irgendwie gelungen. Eistanz auf 4 Quadratmetern ist peinlich, selbst wenn der Weltmeister läuft. War die „Eisfläche“ nur improvisiert? Ein Profi-Eistänzer, eine Stradivari, eine Timerland-Produktion und sich ausziehen ist irgendwie „Neu-reiche-Russen-mäßig“.

  4. scheisse, ich lach immernoch. wie geil ist denn der artikel geschrieben. danke für 3 herliche minuten! (das lohnt deutlich mehr als die rotze anzuschauen!!!!)

  5. Der Truthahn stand ja auf meiner geheimen Liste „entweder Top 3 oder Flop 3“. Die galt aber eigentlich erst fürs Finale. Dass er dermaßen floppen würde, hatte ich nicht gedacht. (Vermutlich hätte die Nummer im Finale funktioniert, beim Halbfinale sehen aber nur die wirklich Interessierten zu.)

  6. @6: Das ist doch der Punkt, man muss sich halt durch die Show kämpfen damit man hinterher weiß worum’s geht wenn drüber gelästert wird.

    Russland war großartig. Dieser triefende Gesang mit der Präsentation, die Playback-Stradivari, der Eiskunstlaufweltmeister auf 4qm, ganz großes Gruseltheater.

  7. Hatte ich schonmal „laaaaangweilig“ als Kommentar gepostet… nur um sicher zu gehen.

  8. Schade, dass meine persönlichen 3 Favoriten (Belgien, Estland, Irland) alle nicht ins Finale gekommen sind.
    So besteht ja bisher nur eine Entscheidung zwischen Schmalz und, ähm, Schmalz.
    Der Trash wird wohl schon in der Vorrunde aussortiert.

  9. Mal jenseits der „Musik“: Wie hält eigentlich ein Peter Urban seit Jahren solche Horror-Abende aus? Was kann man sich dafür einwerfen? Allein dieses Jahr muss er 3 Mal da durch… Wir können ja zur Not abschalten, aber er… Respekt!

  10. Ich fand auch, dass die im Großen und Ganzen die Acts ihre Lieder im Griff hatten. Sprich, es gab nicht so viele schiefe Töne, wie sonst schonmal gehört im Halbfinale.

    Leider war jetzt auch kein Song dabei, der mich richtig vom Hocker gehauen hat, dafür war aber auch nur Estland wirklich grottig. Naja, mal schauen, ob ich es schaffe, das zweite Halbfinale noch vor dem Finale zu schauen. Kommt ja leider nicht live…

  11. Ich hatte einen sehr unterhaltsamen Abend gestern zusammen mit meiner Frau auf der Couch. Sie hatte parallel dazu eine SMS-Konversation mit einem schwulen Bekannten und ärgerte sich darüber, dass ihre Freundin aus Polen die sonnengegerbte Arielle nicht sehen konnte, weil NDR hier in Hessen nicht im DVB-T-Netz ist.

    Auch ich fand die ganze Anmutung sehr professionell, die Ländereinspieler waren witzig und von großér Kreativität. Schade nur, dass die Halle halb leer war, aber das wird am Samstag sicher anders sein.

  12. Selten so gelacht als bei deiner Zusammenfassung.

    Jetzt muss ich doch noch zusehen, dass ich irgendwo ne aufzeichnung herbekomme. Oder wird das isgendwo wiederholt?

    Alex

  13. Ist ja alles ganz (mäßig) lustig… Aber gibt’s wirklich nix wichtigeres, schlimmeres, ulkigeres, als mehrere (!) Artikel über diese Schlagerveranstaltung zu verfassen? Medienkritik? Oder, kleiner Verdacht: ist der verehrte S.N. gar ein Fan von dem Zeugs?
    Vielleicht kommt demnächst was über Tanzturniere im TV? Die haben auch sowas außerirdisches. Vor allem wenn man den Ton abstellt und dazu laut alte Stones-Titel abspielt.

  14. Wir haben uns zuhause gut amüsiert und schade ist es eigentlich nur um Belgien und Moldau, die kamen bei uns ganz gut an, fielen aber beim Voting durch. Alles in allem ein netter Abend.

  15. Ich bin dafür, dass hier ab jetzt Abstimmungen stattfinden darüber, was als Thema zugelassen wird. Ich lese auch gerne die Punkteverteilung aus Bayern vor und verspreche zugunsten des Ablaufs mich nicht vorher lange über die großartige Präsentation auszulassen.

  16. Die Lichteffekte sind schön. Von ihrer Form her finde ich die Bühne passt vor allem gut zum aserbaidschanischen „Teufelsbeitrag“. Und den finnischen Hardrockern. Na ja, vielleicht nützt sie auch den „No Angels“.

    Schade um den Beitrag aus Moldova. In dem Video auf der Eurovisionsseite wurde ja viel gestrickt, jetzt wissen wir was dabei rausgekommen ist: Ein unnützer Teddybär. Den weggelassen und im Original statt mit Akzent Englisch gesungen hätte es was werden können.

    Und schade um den Techno-Truthan, die Hauptattraktion aller Vorentscheidungsgespräche. Jetzt werden die meisten Leute gar nicht mitbekommen dass es den gegeben hat. Der Grand Prix wehrt sich also noch ein weitere Jahr dagegen komplett zum Trash zu werden.

  17. Schade, mir hat Estland gut gefallen. Und auch den komischen Truthahn aus Irland fand ich ganz amüsant, auch wenn das arg übertrieben auf lustig getrimmt war. Immer noch besser als der meiste Einheitsbrei. Auch Belgien hätte ich gern im Finale gesehen.

    Musikalisch gesehen gefallen mir Frankreich und Bosnien am besten – Deutschland wird sich im Mittelfeld platzieren, so mein Tipp. Mein Tipp für den Sieger: Russland.

  18. wenn Frankreich nicht endlich wieder eine gute Platzierung erreicht versteh ich’s auch nicht. Auch wenn das lied stark an I’d Love You to Want Me von Lobo errinert, aber nur etwas besser ist :p

    Und die Engel die keine sind bitte weit unten, einfach nur peinliches Lied

  19. @9 myhead:

    Was ist das denn bitte, kannte ich noch gar nicht. Hätte schwören können, dass Stephan Raab und Konsorten den Beitrag ausschlachten, oder ist da einfach nur was an mir vorbeigegangen…

    @Stephan. toller Beitrag, Danke.

  20. Vielen Dank für diese Zusammenfassung! Ein Satz lässt mich jetzt jedoch wünschen, ich hätte es mir selbst angeschaut: „Und auch das muss man sagen (und ist keineswegs typisch für diese Veranstaltung): Live singen konnten die meisten, die da heute um die Wette auftraten, manche Stimmen waren sogar richtig gut.“
    Vielleicht bin ich zu naiv, aber sollte das nicht Grundvorraussetzung sein wenn man sich auf eine Bühne und vor Fernsehkameras traut? Wenn das schon als Pluspunkt erwähnt werden muss, sollte ich vielleicht darüber nachdenken, mich doch dem nervigen Popmusik-Kulturpessimismus anzuschließen…

  21. Der Eiskunstläufer war übrigens der ehemalige Herren-Weltmeister Jewgeni Pluschenko. Der Typ kann viel mehr als nur um einen schlechten Sänger herumkreisen… Ich hoffe, beim Finale haben sie eine größere Eisfläche zur Verfügung, sonst wird’s traurig ;)

  22. Wenn der eine größere Eisfläche braucht, dann soll er zu den European Iceskating Championsips gehen und nicht zum Song Contest.

  23. Höhö, habe mir jetzt mal parallel zum audiovisuellen Genuss des Truthahn-Liedes den Text zu Gemüte geführt. Ist ja echt lustig, wie da ironisch mit der (irischen) Vergangenheit beim Grand Prix umgegangen wird, ernsthaft. Und am Ende des Songs werden noch alle osteuropäischen Länder aufgezählt, damit Irland neben der Punkteschieberei im Ostblock auch profetiert.

    „And don’t forget Swiss“ :)

  24. Ich gestehe ja zu meiner womöglichen Schande, dass ich das nie gucke. Aber nach Deinem Bericht reizt es mich jetzt doch. Ich will die schrecklichen Kostüme sehen! Und den rumpelnen Eiskurver! Und die Frau Plastik-Dschinghis Kahn!
    Mal schauen, ob das on demand in Australien geht…

  25. Das Ding wird doch sogar jedes Jahr in Australien übertragen. Die Australier lieben diesen Event, weil sie da herzlich über das gute alte Europa lachen können und sich freuen so weit weg wie möglich zu sein.

Comments are closed.