So. Feierabend.
Jetzt geht das Feilschen los. Wir haben alle Sendungen gesehen (die Jurys für Information/Kultur und Unterhaltung sind schon ganz fertig), morgen Vormittag wird noch einmal ausführlich diskutiert und dann abstimmt, wer einen Adolf-Grimme-Preis 2008 in der Kategorie Fiktion gewinnt. Fünf können wir vergeben, aber ernsthafte Kandidaten gibt es ungefähr doppelt so viele.
Das ist nicht die Regel. Die Grimme-Verantwortlichen müssen ja jedes Jahr für die Presse Sätze sagen wie: „Es war ein besonders hochwertiges Fernsehjahr“, was sich nicht immer wirklich belegen lässt. Aber das vergangene Jahr scheint, was Fernsehfilme angeht, wirklich ein gutes gewesen zu sein. Ich kann mich an Jahre erinnern, in denen wir augenrollend, stirnrunzelnd und händeübermkopfzusammenschlagend vor vielen der nominierten Beiträge saßen und uns uns nach der Hälfte der Zeit ernsthaft fragten, ob wir überhaupt genug Preiswürdiges sehen würden. Dieses Jahr ist anders. Ich glaube, den meisten Juroren geht es wie mir, und sie haben mindestens sieben, acht Filme gesehen, denen sie dringend gerne einen Preis geben würden.
Es gibt ein oder zwei Favoriten, bei denen es sehr wahrscheinlich ist, dass sie durchkommen. Aber dahinter eine große, breite Gruppe von schönen Filmen mit vielen Fans. Und da geht das Geschacher los. Juroren stehen in kleinen Grüppchen zusammen und diskutieren, welche „Pakete“ man schnüren könnte, aus Sendungen, die als Preisträger ein gutes Gesamtbild ergäben. Beim Bier oder Rotwein wird diskutiert, was für Kriterien uns beeinflussen sollten: Soll ein Film, der viele begeistert hat, einen Preis bekommen, obwohl er schon viele andere Preise bekommen hat? Oder schon vor Jahren im Kino lief? Wäre es doof, wenn am Ende ein einzelner Sender vier unserer fünf Preise bekäme? Sollten wir es vermeiden, dass mehr als ein Film ausgezeichnet wird, in dem es um die DDR geht? Müsste unbedingt eine Serie ausgezeichnet werden?
Im Grunde sind viele Argumente, die an so einem Abend im Restaurant des Parkhotels Marl ausgetauscht werden, leicht durchschaubare Taktik: Wer einen Favoriten hat, der kein Krimi ist, findet natürlich schnell Argumente gegen ein übermäßiges Auszeichnen von Krimis. Und wer, um es ein bisschen konkreter zu machen, „Eine Stadt wird erpresst“ von Dominik Graf nicht besonders mag, weist natürlich darauf hin, dass Dominik Graf schon soundso viele Grimme-Preise gewonnen hat und ob man nicht mal jemand anderes… Gelegentlich gibt es offenbar sogar Verabredungsversuche im Sinne von: Stimmst du für meinen Favoriten, stimm ich für deinen.
Aber die ganze Taktiererei hat Grenzen, und das liegt unter anderem an einem ausgeklügelten, komplizierten Abstimmverfahren. (Interessiert Sie das wirklich? Also gut.)
Zunächst wird ein Stimmungsbild erstellt, indem jeder Jurore jedem Nominierten zwischen 0 und 10 Punkten gibt. Das hilft, um zu sehen, welche Kandidaten deutlich unterdurchschnittlich abschneiden; die werden dann aus der Diskussion genommen. Als nächstes erstellt jeder Juror in einer weiteren geheimen Wahl aus den verbliebenen Kandidaten eine eigene Rangliste vom besten zum schlechtesten Film. Auch daraus wird ein Durchschnitt gebildet. Diese Liste wird dann von vorne nach hinten durchgegangen und abgestimmt, ob die Sendung einen Grimme-Preis bekommen soll. (Und zwischendurch natürlich immer wieder diskutiert und gekämpft.) Sobald alle Preise vergeben sind, endet das Spiel. Klingt unnötig komplex, hat sich aber bewährt, weil es einerseits berücksichtigt, wenn einzelne Juroren ein Programm besonders herausragend finden, andererseits aber auch immer eine absolute Mehrheit der Juroren voraussetzt.
Wenn Sie jetzt das Gefühl haben: Ui, das scheint ja eine furchtbar staatstragende Angelegenheit zu sein, dann haben Sie nicht unrecht. Eine Woche lang tun alle Beteiligten so, als sei nicht nur das Fernsehen die wichtigste Sache der Welt, sondern als hänge die Welt auch davon ab, wer diesen Preis bekommt. Das nimmt manchmal beunruhigende Ausmaße an: In einem Jahr soll es sogar zu Tränen und Abreisedrohungen über die Frage gekommen sein, welche Sendung nicht nur einen normalen Grimme-Preis, sondern einen „mit Gold“ bekommt. (Inzwischen ist diese Unterscheidung abgeschafft, vermutlich nicht einmal wegen der Tränen damals.)
Dieser Aufwand und dieses Gefühl, etwas wirklich Bedeutendes zu entscheiden, mag manchmal von außen merkwürdig und sogar arrogant wirken. Aber mir gefällt diese Ernsthaftigkeit, insbesondere weil sie dem Medium Fernsehen inzwischen so selten entgegengebracht wird, sowohl von Machern als auch Kritikern. Und der Grimme-Preis scheint einer zu sein, der immer noch dafür geschätzt wird. Am Dienstagabend, beim „Bergfest“, zu dem traditionell alle Nominierten eingeladen werden, war das wieder zu spüren, welcher Respekt dieser Auszeichnung immer noch entgegengebracht wird, welche Bedeutung sie hat, für die Kreativen und in den Sendern. Das liegt, glaube ich, unter anderem daran, dass sie diesen etwas absurden Aufwand betreibt. Und daran, dass sie, anders als der „Deutsche Fernsehpreis“, zu Recht nicht im Verdacht steht, sich von Kriterien leiten zu lassen wie dem Proporz der ausgezeichneten Sender oder den Wünschen des Programms, das die Verleihung überträgt.
Übrigens: Ein feiner nominierter Fernsehfilm ist bis Mittwoch in Berlin im Kino zu sehen: „Der letzte macht das Licht aus“, eine Komödie um arbeitslose deutsche Bauarbeiter, die sich darauf vorbereiten, nach Norwegen zu gehen, wo es Arbeit für sie gibt. Es ist ein zauberhafter, unterhaltsamer, wunderbar beobachteter kleiner Film des Regisseurs und Autors Clemens Schönborn, ein bisschen in der Tradition britischer Arbeiterkomödien, den das ZDF nach Mitternacht versteckt hat, obwohl er im besten Sinne massentauglich ist. Er läuft im Moviemento und im Central am Hackeschen Markt, und ob er einen Grimme-Preis bekommen wird, kann ich nicht sagen. Aber dass sich ein Besuch im Kino lohnt.
Wenn das ZDF den Film mit den Bauarbeiteremigranten nicht da versteckt hätte, hätte ich da auch nicht zufällig reingezappt ;-)
Von der unglaubwürdigen Verwüstung des mehrstöckigen Gebäudes mit Schützenhilfe des Portiers abgesehen, durchaus empfehlenswert.
Im letzten Satz des Beitrags kaufe ich noch ein f bei läut.
„…nicht unrecht…“.
In all meinen Rethorikseminaren habe ich immer gelernt direkt zu sprechen, indirektes wie das Zitat oben zu vermeiden.
Warum, als ernsthafte Frage an einen Journalisten, warum schreiben dann trotzdem so viele Leute solche Verneinungen?
Was ist schlimm an „Gut“ statt „nicht schlecht“, „viele“ statt „nicht wenige“, usw.?
Ich freue mich über Aufklärung!
„Duell in der Nacht“ von Dominik Graf? Ich dachte, das sei Matti Geschonneck gewesen – anderseits: die Grimme-Jury wird schon wissen, was sie macht…
@Mickey: Stimmt. Ist korrigiert. (Es war wirklich spät.)
Lieber Uwe. Die von dir so derb gescholtene Litotes ist ein rhetorisches Mittel, das – jedenfalls ursprünglich – dazu benutzt wurde, um nicht um einen positiven Begriff herumzuschwurbeln, sondern um ihn zu steigern:
„Nicht schlecht“ ist mehr als nur „gut“. Genauso sind „nicht wenige“ ein bißchen mehr als „viele“ und wer „nicht Unrecht“ hat, hat „verdammt nochmal Recht“. Das hat mit indirekt sprechen „nicht sehr viel zu tun“.
Im Zeitalter des „total scheiße“, „krass viele“ und „korrekt korrekt“ freue ich mich über die meisten Litotes.
Dein zwiebelfischhäutender Alberto
Ist dieser Bauarbeiterfilm wirklich ein „wunderbar beobachteter“ Film oder doch ein „wunderbar beobachtender“ Film?
@5 „Litotes“? Klingt irgendwie schlüpfrig.
Weißt du auch, was das Wort „eigentlich“ für einen Zweck hat, und wie man dann „uneigentlich“ verstehen müsste?
Das beschäftigt mich, seit wir damals in der 11. Klasse mit uneigentlichen Integralen rumhantiert hatten.
Wo hier gerade alle ihre im Eintrag gefundenen Korinthen zur Schau stellen, möchte ich auch gern eine Kleinigkeit hinmachen: Im ersten Absatz, „… diskutiert und dann abGEstimmt, wer einen …“.
Danke, Alberto. Für mich war „Litotes“ bisher unbekannt.
Und als binärer Informatiker ist „nicht schlecht“ eben alles andere, also z.B. „sehr schlecht“, „mittelmäßig“, „gut“, „sehr gut“, usw. Halt das Invertierte.
Freue mich, wieder was gelernt zu haben!
Nicht alles, was wie eine Litotes aussieht, ist auch eine. Ich jedenfalls habe Stefans „dann haben Sie nicht ganz unrecht“ nicht im Sinn von „Sie haben’s erfasst“, sondern im Sinn von „da ist was dran“ verstanden, also tatsächlich abschwächend: nicht „völlig recht“, sondern „ein bisschen recht“.
„Als nächstes erstellt jeder Juror in einer weiteren geheimen Wahl aus den verbliebenen Kandidaten eine eigene Rangliste vom besten zum schlechtesten Film. Auch daraus wird ein Durchschnitt gebildet.“
Das ist mathematisch Unsinn. Aus einer Ordinalskala kann man keinen Durchschnitt bilden. Allerdings kommt man zu einem Ergebnis und das bedeutet, daß man pünktlich zum Wochenende zu Hause ist :)
—
Ein Litotes ist übrigens ein pelziges Ungeheuer mit gewaltigen Fangzähnen.
A Propos Korinthen:
„…und uns uns nach der Hälfte der Zeit… “ im ersten Drittel.
;)
@11 klar kann man, der ist bloß ziemlich sinnlos, der Durchschnitt (sofern man damit das arithmetische Mittel meint) – außer, wenn man ihn als mittleren Rangplatz versteht – ich meine, da ist das zulässig (ohne einen Eid drauf schwören zu wollen.
Noch mehr Korinthen?
@13: es ist. aus rängen lassen sich durchschnitte bilden, das wird auch in einigen verfahren so gemacht. (ränge sind ja auch schon nicht mehr ordinal)
Das Wahlsystem erinnert mich an das Präferenzwahlsystem. Kommt das hin, Stefan?
Ordinalskalen sind Rangfolgen. Ihnen Zahlenwerte zuweisen ist Willkür. Beispiel: A>B>C sagt nicht über die Abstände aus. B kann ganz knapp an A und meilenweit von C sein oder umgekehrt oder in der Mitte. Gebe ich Ihnen nun Punkte (A=3,B=2,C=1) und bilde Mittelwerte der abgegebenen Stimmen, unterstelle ich, daß bei allen der selbe Abstand ist.
Hätte Stefan erzählt, daß bei Grimme auch gewürfelt würde, wäre der Aufschrei groß.
Ein Verfahren, daß zuverlässiger die allgemeine Zufriedenheit der Beteiligten mit dem Ergebnis erreicht ist z.B: Jeder Wähler hat ein gegebenes Punktekonto (z.B. 100) über alle Kandidaten verteilen (z.B. A=66, B=21, C=13). Dann sich Durchschnittswerte sinnvoll. Ein Problem (wie die Praxis zeigt) ist, daß sich die Punkte auf den Wahlzetteln seltener als angenommen zu 100 addieren. Doch man kann ja elektronische Hilfsmittel zulassen :)
Oh Mann, die Ignoranz mancher Leute hier ist aber schon erschütternd. Da gibt es ein System, das sich über Jahre bewährt hat. Bewährt in dem Sinne, dass es nach Meinung aller Beteiligten mit großer Zuverlässigkeit eine Mischung aus Preisträgern produziert, die das Stimmungsbild in der Jury sehr gut wiederspiegelt. Und irgendwer urteilt mal eben, dass es mit Würfeln vergleichbar wäre?
Außerdem ist die Rangfolgenbildung ja, wie ich beschrieben habe, nur ein Teil des ganzen Abstimmungsprozesses. Vorher kann man, wie ich beschrieben habe, Punkte von 0 bis 10 vergeben und damit für verschiedene Abstände sorgen.
@16
Das Problem sehr schön erklärt, aber:
Die Abstände zwischen den Filmen werden eigentlich schon in der 1. Runde bestimmt und genaugenommen entsprechen die dabei ermittelten ersten 5 deinem Anspruch.
Der danach folgende „Firlefanz“ dient wohl eigentlich nur dem Geschachere ;-)
Dein Vorschlag mit Vergabe der 100 Punkte hat aber einen Haken:
Bei freier Punktevergabe könnte es u.U. tendenziell zur Konzentration der 100 Punkte auf den einen Hauptliebling kommen, den man unbedingt als Preisträger sehen will.
Damit gäbe es zwar eine Rangliste über alle Juror/innen, aber nicht unbedingt eine für den/die einzelne/n. Für eine bessere Abstufung zwischen den Filmen könnte man natürlich die 10er Skala erhöhen, aber ob 100 ein guter Maßstab ist?
Welcher Schnitt, welche Grimasse, welches xy entscheidet dann über den Unterschied z.B. zwischen einer Wertung 77 gegenüber 78 Punkten?
18 wurde ohne Kenntnis von 17 geschrieben…
Nachdem ich mein PWS-Wissen u.a. hier etwas aufgefrischt habe, muss ich das zurückzuziehen. Das Präferenzwahlsystem bzw. Instant Runoff Voting-System sieht doch etwas anders aus, da keine Durchschnitte gebildet werden.
@14 Tobias, doch Ränge sind schon ordinal. Wie xy zutreffend beschreibt, ist der Abstand vom 1. zum 2. nicht zwangsläufig genauso groß wie der vom 2. zum 3. (Denk mal an den Sport: Der erste kann auf den zweiten einen viel größeren Zeitvorsprung haben als der der zweite auf den dritten, die Leistungsunterschiede sind also größer, als die Ränge aussagen und Leistungsunterschiede können – trotz gleicher Platzierung – ausserdem auch dauernd anders sein).
Trotzdem, xy, ist auswürfeln ja wohl noch ganz was anderes.
Aber: Mittlere Rangplätze sind durchaus sinnvoll interpretierbar und im Alltagsgebrauch doch auch recht sinnig. Man sollte eben nur nicht aufgrund der zugrundeliegenden Verteilung bzw. deren anderer inhaltlichen Bedeutung keine T-Tests oder Varianzanalysen machen.
Rein methodisch gesehen wäre die 100 Punkte Taktik vielleicht attraktiv, wenn auch recht kompliziert. Zudem wäre noch zu eruieren, ob die menschliche Denkweise zwischen den ersten 50 Punkten die man vergibt und den nächsten 50 nicht doch einen qualitativen Unterschied macht – vielleicht sind die letzten 50 ja subjektiv gesehen viel mehr wert, weil die für den Verteilenden zur Allokation vorhandenen Ressourcen sich langsam verknappen? Könnte ka sein…
@stefan
Ignoranz?? Etwa weil mich die Wahlmodalitäten wirklich interessieren und Deiner Einladung weiterzulesen gefolgt bin? Geschenkt – Ich denke die Woche war anstrengend. Weniger anstrengend ist ein Verfahren, das schneller zu allgemein akzeptierten Ergebnissen kommt.
@stefan, knorke „… auch würfeln.“ -> es gibt eine Zufallskomponente, die darüber entscheidet ob ein Kandidat in die weitere Auswahl kommt.
@zaphodia. Ja, das oben beschriebenes Verfahren ist empfindlich bei Extremwerten (die verzerren da sehr), zumindes die unteren Ausreißer wurden ja in der ersten Stufe herausgefiltert. Ich hab es so verstanden, daß dieser Wahlgang nicht der letzte ist, sondern vielleicht auf 5 Kandidaten eingegrenzt werden soll. Wenn es einen eindeutigen Sieger gibt und alles weitere abfällt, dann ist dies doch ein würdiger Preisträger. Den rausnehmen und sich um die Rangplätze kümmern.
@knorke: ja. Es ist kompliziert, doch das erwähnte ich schon und empfahl Hilfsmittel :). Ich glaube nicht, daß die ersten verteilten Punkte anders wiegen als die letzten. Man geht ja nicht stumpf sequentiell vor, sondern puzzelt solange bis es paßt (und genau auf 100 kommt).
„…weil die für den Verteilenden zur Allokation vorhandenen Ressourcen sich langsam verknappen.“ Mann ist das lange her… :)
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