Der britische „Independent“ veröffentlicht auf seiner Titelseite „10 myths about the EU treaty“ und nimmt sie im Inneren einen nach dem anderen auseinander. Was die Zeitung verschweigt: Der Text ist eine fast wörtliche Wiedergabe eines Regierungspapiers zum Thema.
Verurteilt wird diese Praxis knapp zwei Wochen später — im „Independent“. Dessen Medienkolumnist Stephen Glover zitiert dort den Chefredakteur des „Independent“ mit dessen Verteidigung, man habe die Fakten des Papiers geprüft, und widerspricht ihm fundamental:
A newspaper is perfectly within its rights in agreeing with the Government of the day, but if it directly borrows its arguments it should say so. Even then it would be preferable, by way of establishing one’s independent credentials, to amplify and refine those arguments oneself.
Alles im „Independent“ selbst, wohlgemerkt. Warum ist ein solcher offener Pluralismus in eigener Sache, eine solche Debattenkultur in Deutschland undenkbar?
(Und dann waren da noch die Redakteure des „Sydney Morning Herald“, die sich zu Protestkundgebungen versammelten, weil ihre Zeitung zum Jungfernflug des Airbus A380 munter werbliche und redaktionelle Inhalte mischte.)
[beides via Greenslade]
In den deutschen Medien gibts nicht mal eine richtige Debattenkultur zwischen den einzelnen Zeitungen was die eigenen Berufskollegen betrifft.
Herr Posener von der WAMS hat in seinem Blog darauf hingewiesen, dass so etwas bei der Springerpresse möglich ist… Und das irre, er hat da gar nicht soo unrecht mit… liegt evt. aber auch nur am leicht zu widersprechenden Gegenstand… Sorry…
http://debatte.welt.de/weblogs/148/apocalypso/46426/kai+diekmanns+manifest+3
Ich find ja, die taz hat so ’ne Debattenkultur, in Ansätzen. Da gibt’s regelmäßig völlig unterschiedliche Kommentare zum selben Thema, Gegenessays zu Essays aus der Woche vorher und selbstreflektive Debatten, zum Beispiel bei dieser Geschichte damals mit den angeblichen Übergriffen von Neonazis auf ein Kind in nem Schwimmbad in der Zone irgendwo. Und die Rundschau lässt das mittlerweile auch schon gelegentlich mal durchscheinen, dass es innerhalb der Redaktion unterschiedliche Ansichten zum selben Thema gibt, beispielsweise auch zur Umstellung auf das Tabloidformat. Ich denk, das wird auch bei uns schon langsam besser, auch dank solcher Seiten wie Deiner und die im Netz munter geführten Debatten.
@3
Ich denke das sind zwei unterschiedliche Dinge.
Was in Taz und Rundschau gemacht wird, ist ja das zwei (oder mehr) Meinungen vorgestellt werden. Was an sich nichts ungewöhnliches ist.
Die Fälle die hier im Blog aufgeführt wurden handeln aber davon, dass Kritik an der journalistischen Arbeit und zwar sogar an Kollegen der eigenen Zeitung geübt wurde.
Das spielt auf einer ganz anderen Ebene. Der Inhalt bzw. die Aussage des betreffenden Artikel hat ja im Independent keine Rolle gespielt (zumindest was man an den Ausschnitten hier erkennen kann: „A newspaper is perfectly within its rights in agreeing with the Government of the day“).
„Warum ist ein solcher offener Pluralismus in eigener Sache, eine solche Debattenkultur in Deutschland undenkbar?“
Ist doch klar, weil wir in Deutschland einen geschlossenen Pluralismus haben.
Zwei und mehr unterschiedliche Sichten, denen breiter Raum gegeben wird, finde ich auch regelmäßig in der FAZ. Aber dass ein (freier) Mitarbeiter dort dem Schirrmacher ausgibig widerspricht, kann ich mir auch nicht vorstellen. Vielleicht liegt es daran, dass in den Redaktionen mehr Konsens herrscht?
#6, aber auch #1: na zumindest diskutiert herr schirrmacher derzeit munter und kontrovers bei spon (wobei sich faz und spiegel schon länger auf dem „annäherung durch anbiederung“-kurs bewegen)
„Warum ist [..] eine solche Debattenkultur in Deutschland undenkbar?“
Ganz einfach: Bereits nach der ersten Kritik kommt ein Verweis auf entweder
a) Terrorismus oder
b) Hitler.
Oder auch beides.
Wenn ausgerechnet Posener den Binnenpluralismus im eigenen Haus lobt, ist das natürlich herzallerliebst ,)
Auch in der britischen Medienlandschaft sind solche Diskussionen innerhalb einer Zeitung selten – und wenn überhaupt nur in „Independent“ und „Guardian“ zu finden. Jedenfalls ist mir in den konservativen Zeitungen noch kein Fall untergekommen, eher im Gegenteil. Zum Beispiel fährt die „Times“ zur Zeit eine ziemlich Beispiellose Kampagne gegen den EU-Vertrag. Pluralismus? Nichts da…
Das hast du ganz falsch verstanden, Stefan. Deutsche Medien würden sicherlich Fehler zugeben und auch kritisieren, aber sie machen einfach keine, wie du siehst.
Der „Independent“ ist nicht aus Deutschland.
Sydney ist nicht in Deutschland
Deutschland ist ein Land mit 10% Innovativen- ich würde sogar sagen weltbewegenden Kräften und 90% Duckmäusertum.
Die Leute in diesem Land haben einfach keine Fähigkeiten, etwas über bloße Gedankenmodell heraus zu schaffen (Es sei denn, es geht um Menschenunwürdige Dingen, das scheinen wir deutschen ganz groß zu sein)
Mich wundert es nicht, dass es in D. keine Kritikfähigkeit (Annehmen und austeilen) gibt.
Stefan Niggemeier schrieb:
Jau! Gute Frage! Insbesondere weil ich vor einiger Zeit mal schrieb:
Gehören Sie auch zu denen, die alles glauben, was in der Zeitung steht? Na, dann sehen Sie sich mal an, was die “FAZ”-Redakteurin Corinna Budras so veröffentlicht: http://37sechsblog.de/?p=964
Ich ergänze: Das ist nicht nur nicht pluraiistisch, sondern auch noch unausgewogen, weil in dem Beitrag nur Arbeitgeber-Juristen zu Wort kommen.
„Warum ist [..] eine solche Debattenkultur in Deutschland undenkbar?”
Weil die meisten Journalisten, die ich kenne, so arrogant und halbgebildet sind, dass sie deshalb (oder wie solche Leute schreiben: „von daher“) niemals merken würden, einen Fehler gemacht zu haben. Die gleichen Gründe sind es, die solche Arroganzler jeden Hinweis auf Fehler als Angriff auf ihre unbefleckte Persönlichkeit betrachten.
Arroganzler gibt es in allen Berufsgruppen, im Mediengeschäft besonders viele.
Ich muß hier, glaube ich, einmal eine Lanze für die FAZ brechen. Es ist mir schon ein paar mal untergekommen, daß sich die Auffassungen in den Leitartikeln im politischen Teil und den Leitartikeln im Feuilleton diametral gegenüberstanden.
Trotzdem, da gebe ich Ihnen Recht, Stefan, ein Diskurs, wie er im „Independent“ stattgefunden hat, wäre in der deutschen Medienlandschaft undenkbar. Leider.
Angelsachsen können zwischen sachlicher und persönlicher Kritik unterscheiden.
Wir können das nicht.
Auch wenn wir es gerne behaupten würden.
Schön, daß man das an Nationen festmachen kann.
Ähnlich geistreich wie die Rede vom nicht existenten dt. Humor, dt. Gründlichkeit (existent) usw.
Wenn die Welt schon nicht am dt. Wesen genesen kann, weil wir die besten sind, dann wollen wir die schlechtesten sein.
Weltmarktführer oder Schlußlicht – aber bitte nichts dazwischen.
Zwischentöne sind selten – aber ist es anderswo anders?
@ scp #16:
Also ich arbeite jetzt seit fast acht Jahren für ein „globale“ Firma mit Firmensitz in London. Mein Eindruck ist, dass persönliche Kritik („Da hast Du was falsch gemacht“) grundsätzlich gar nicht geht und sachliche Kritik bei ganz vielen auch nicht. Niemand sagt im Meeting „nein“ oder gar „ich bin anderer Meinung“.
Mit den Kollegen aus New York habe ich in dieser Hinsicht viel weniger Probleme.
Das sind natürlich nur meine persönlichen Eindrücke, die kann man sicherlich nicht verallgemeinern, aber sie widersprechen diametral dem von Ihnen geschildertem.
@ W. Stefan #17:
Es gibt vieles, was man an Nationen festmachen kann. Hatten Sie schon mal das Vergnügen, „routine tasks“ nach Indien outzusourcen? Oder gescheiterte Projekte mit Engländern zu besprechen? Oder mit Franzosen über dezentrale Prozesse zu diskutieren?
Nein?
Man darf ruhig Vorurteile haben, man muss nur wissen, dass es welche sind.