He can’t live without music. Ralph Siegel braucht den Sieg beim Grand Prix d’Eurovision in Tallinn
TALLINN, 24. Mai. Nichts braucht er mehr als diesen Sieg, und niemand braucht diesen Sieg mehr als er. Er muß gewinnen, er glaubt, er kann gewinnen, und beides zusammen macht ihn halb wahnsinnig. Die Mitarbeiter seiner Plattenfirma, die mitgereist sind nach Tallinn, haben es sich in diesen letzten Tagen zur Hauptaufgabe gemacht, Ralph Siegel von Corinna May und ihren fünf Begleiterinnen fernzuhalten. Damit sich sein Wahnsinn nicht auf die Sängerinnen überträgt. Damit der Druck, den er mit seiner Aufregung hervorruft, nicht noch größer wird, als er schon ist. Damit sie eine Chance haben, das hier einigermaßen zu überstehen.
Deshalb lenken sie ihn weg von den sechs Frauen und lassen ihn lieber noch einmal über die Details seines privaten Abendessens gehen, das er am Donnerstag abend für sein Team und einige Journalisten und Ehrengäste gibt, etwa 50 Personen insgesamt. Das Restaurant Gloria ist das Beste der Stadt, der Papst hat hier gegessen, aber Siegel ist unsicher, zweifelt am Menü, sucht akribisch die richtigen Weine aus und grübelt immer wieder über der Tischordnung. Auch das hier muß perfekt sein, wie alles, was mit dem Grand Prix zu tun hat. Zum Glück ist seine Freundin Kriemhild an seiner Seite, die ihn in seiner Manie gelegentlich bremst und beruhigt. Mit seiner außerordentlichen Aufmerksamkeit, die seine Mitarbeiter an ihm rühmen, der positiven Kehrseite des oft schwer erträglichen Perfektionismus, hat er beim Essen noch gesehen, daß einige Kollegen etwas unglücklich fernab saßen, und eigenhändig geholfen, Tische und Stühle herüberzutragen. Dann, nach dem zweiten Gang, steht er auf und hält eine Rede. Und in dieser Rede, in dieser knappen halben Stunde, steckt das ganze Drama um Ralph Siegel und seinen Grand Prix. Sein Pathos erfüllt den Raum schon nach dem ersten Satz, in dem er sich nur bei dem Pianisten des Restaurants bedankt. Er sagt: „Thank you for the music!“
Musik, sagt Ralph Siegel, haben die Menschen schon vor Jahrtausenden gebraucht, nicht nur Essen und Liebe. Was er selbst braucht, ist viel konkreter: „Der Grand Prix“, sagt er, „ist mein Lebenselixier.“ Dann fällt sein Blick auf den Texter Bernd Meinunger, für den der Grand Prix kein Lebenselixier ist, sondern eine Verrücktheit, die er aus Loyalität und Freundschaft zu Siegel mitmacht. Er sagt: „Bernd, wir schaffen’s doch immer wieder“ und erinnert sich an die vielen gemeinsamen Jahre und Abendessen wie diese, und er muß das Mikrofon für ein paar Sekunden zur Seite nehmen, weil Tränen in ihm aufsteigen, seine Kehle zuschnüren und seine Augen füllen. Seine engsten Freunde und Mitarbeiter befinden sich in diesem Raum, aber vermutlich niemand, der wirklich verstehen kann, was ihn immer wieder zu diesem Wettbewerb treibt. „Ralph, nicht noch einmal Grand Prix“, haben sie ihn angefleht. Und er hat gesagt: „Laßt es uns noch einmal probieren, Kinder.“
Für ihn ist der Grand Prix wie die Teilnahme an den Olympischen Spielen, und er meint damit nicht die Floskel, daß dabeisein alles ist. Er meint damit, daß es um nationale Ehre geht, weshalb er auch nicht versteht, wie Journalisten und Komiker so abfällig über ihn oder Corinna May schreiben können, wo beide doch auch für sie kämpften, für die Deutschen, für Deutschland. Und er meint damit, daß dieser Wettbewerb nicht einfach ein Witz ist, wo man mal hinfährt und sieht, wo man landet, sondern wo man alles, alles dafür tut, daß man gewinnt. Den Sängerinnen hat er Mitte der Woche erzählt, sie müßten nicht unbedingt gewinnen, Platz zwei und drei seien auch in Ordnung. Aber erstens glaubt ihm das hier kaum einer. Und zweitens bedeutet das ja auch, daß Platz vier schon nicht mehr in Ordnung ist.
Kein anderes Land setzt sich in diesem Jahr einem solchen Druck aus. Aber niemand anders als Siegel hat auch mit einer solchen Akribie fast ein Jahr lang auf den Sieg hingearbeitet. Im vergangenen Juli schon setzte er sich mit Meinunger zusammen und suchte nach einem passenden Titel zum Thema Musik, bis sie schließlich auf „I can’t live without music“ kamen. Auf den Text komponierte Siegel zehn verschiedene Melodien und überlegte drei Monate, bis er wußte: „Die ist es.“ Doch auch dann hörte er nicht auf zu basteln und zu schrauben. Die komplizierte Struktur des Liedes zeugt davon, daß er letztlich so viele Elemente aus den anderen Fassungen wie möglich in dieses eine Stück retten wollte. „Ich schreibe Titel gerne mal an einem Wochenende, aber hieran habe ich viele Monate gefeilt“, sagt er. Ralph Siegel hat sich nicht hingesetzt, einen Beitrag für die deutsche Vorentscheidung oder für Tallinn zu schreiben. Er hat sich hingesetzt, den Siegertitel des diesjährigen Grand Prix zu schreiben.
Und jetzt, bei diesem halböffentlichen Abendessen, beschwört er alles, was dafür sprechen könnte, daß dieses Projekt den einzigen angemessenen Abschluß findet. Johnny Logan, der zweimalige Grand-Prix-Sieger aus Irland, hat ein handgeschriebenes Fax mit „besten Wünschen“ geschickt: „Wenn das kein gutes Zeichen ist!“ Fast überall in Europa setzen die Buchmacher Deutschland auf Platz eins, was ja bedeute, erklärt Siegel, daß Menschen so sehr an sein Stück glaubten, daß sie sogar Geld dafür ausgäben. „Da habe ich doch das Gefühl, daß wir nicht so falsch liegen.“ In Internetforen findet er Zustimmung, Anrufer wünschen ihm Glück. „Das Feedback ist so schön, daß man’s gar nicht glauben kann“, sagt er. Und: „Ganz Deutschland drückt dir, Corinna, die Daumen aus ganzem Herzen.“
Er sagt, er wolle gewinnen, um die alte Entertainer- und Sportler-Regel „They never come back“ zu widerlegen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Siegel braucht diesen Sieg, um all die Demütigungen der vergangenen Jahre zu überwinden. Die Niederlagen in den Vorentscheiden, das schlechte Abschneiden vor fünf Jahren im Finale, die traurigen Verkaufszahlen vieler seiner Künstler, die Behauptung, er sei einer von gestern. In dieser Rede in Tallinn tauchen sie alle wieder auf. Er erzählt von der Gruppe Sürpriz, mit der er 1999 den dritten Platz belegte – „aber das hat man in Deutschland nie so richtig bemerkt“. Er erzählt von Stefan Raab, „der mit allen Wassern gewaschene und mit allen Talenten gesegnete Stefan Raab“, der verhindert habe, daß er und Corinna May im Jahr darauf den Vorentscheid gewannen. Er erzählt von den Leuten in den Medien, „die nicht gecheckt haben, was für eine wunderbare Persönlichkeit du bist, Corinna, und was für eine großartige Stimme du hast“.
Dann verliert er noch einmal die Fassung, kämpft wieder gegen die Tränen und läßt sich vom Pathos vollends überwältigen. Dankt den Background-Sängerinnen, die, das sagt er wirklich, „devot und trotzdem sehr engagiert ihre Unterstützung geben“. Dankt dem deutschen Kommentator Peter Urban, der ja das Glück habe, jedes Jahr die Reise zum Song Contest antreten zu dürfen – „ich darf sie ja nur manchmal machen“. Dankt Mark Pittelkau von der „Bild“-Zeitung, daß er täglich Geschichten schreibt, „die wir mal mit Freude, mal mit Verbitterung lesen, aber auch das ist ja eine Leistung“. Und er dankt Corinna May – „so wie du singst, kenne ich selten jemanden, obwohl ich viele Künstler gehört habe“ – und schwärmt von dem Album, das er gerade mit ihr aufgenommen habe, in wochen- und monatelanger harter Arbeit, das so etwas Besonderes sei. Später läuft die Platte im Hintergrund, aber es fällt schwer, mehr darin zu hören als sehr konventionelle Cover-Versionen sehr naheliegender Evergreens wie „Come on baby light my fire“ oder „Blowing in the wind“.
Schließlich greift noch der Präsident des deutschen Grand-Prix-Fanclubs OGAE nach dem Mikrofon und hält eine atemberaubend devote Hymne auf Siegel. Er bedankt sich, daß der Meister nur die Ehrennadel seines Clubs trage (und nicht die des verfeindeten anderen deutschen Fanclubs) und fleht Siegel an, nicht wie – wieder einmal – angekündigt, zum letzten Mal für Deutschland beim Grand-Prix teilgenommen zu haben. Ohne seine Beteiligung seit inzwischen genau 30 Jahren hätte Deutschland all die großen, wunderbaren, zauberhaften Erfolge nicht feiern können, sagt er und setzt den Höhepunkt dieses höchst nationalen und höchst persönlichen Abends mit einer Handbewegung auf die jungen Background-Sängerinnen und dem Satz: „Ihr seid eine Zierde für unser Land.“
Ralph Siegel aber beendet seine Ansprache mit den Worten: „Wenn ich bei all den Anstrengungen der letzten Monate das Lachen manchmal verloren habe – ich hoffe, daß ich es am Samstag wiederfinde.“ Nicht auszudenken, wenn es anders käme.
(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung
[…] wie die dann abgeschnitten haben. Wenn man mal Ralph Siegel da hinter den Kulissen erlebt hat ( «Link» ) ist das einfach sehr sehr angenehm. Auch so als deutsche Selbstdarstellung für die […]
[…] im Baltikum und erlebte in Tallinn Ralph Siegel und Bernd Meinunger so hautnah, dass daraus zwei Texte entstanden, auf die ich heute noch ein bisschen stolz […]