„Ihre ganz eigene virtuelle Wirklichkeit“

Ich hab’s versucht. Ich wollte etwas schreiben über den gestrigen ARD-„Brennpunkt“ zum Amoklauf in Winnenden und insbesondere den Beitrag, den Moderator Fritz Frey mit den Worten anmoderierte:

Gelernt haben wir, dass das Internet eine wichtige Rolle spielt bei unserem Thema, und das beileibe nicht nur als Plattform für potentielle Täter. Andrea Bähner hat sich heute, am Tag danach, im Netz umgesehen und ist dabei auf eine Art virtuellen Wutausbruch gestoßen. Die, die sich dort ihr ganz eigenes Bild vom gestrigen Wutausbruch machen, können mit der Debatte um Schuld und Verantwortung wenig anfangen.

Und in dem der schöne Satz fiel:

Die Internetcommunity bei YouTube, Twitter oder FlickR baut sich ihre eigene virtuelle Wirklichkeit der Bluttat.

Ich hab’s versucht, aber diese Mischung aus Ahnungslosigkeit und bewusster Desinformation, dieses Konzentrat von Vorurteilen und Scheinheiligkeit, dieser Versuch der ARD-Journalisten, sich ihre ganz eigene virtuelle Wirklichkeit der Bluttat zu bauen, den man natürlich im Kontext mit vielen anderen Sendungen mit der gleichen Stoßrichtung sehen muss — sie macht mich gleichzeitig zu wütend und ratlos.

Lesen Sie also stattdessen bitte den Beitrag von Robin Meyer-Lucht auf Carta.

Was stern.de im Kleinen vorgemacht hat, setzen die professionellen Medien im Großen fort: All das, was man an ihrer Berichterstattung kritisieren muss, auf das Internet zu projizieren.

71 Replies to “„Ihre ganz eigene virtuelle Wirklichkeit“”

  1. Mhmm… Meine Mutter hat mich gestern abend besorgt angerufen und gefragt, ob ich denn auch schon mal auf YouTube solche Gewaltfilme gesehen hätte (und ob ich jetzt auch amoklaufgefährdet sei).

  2. ich will keine erklärung für das unerklärbare. ich will einen schritt zurücktreten, trauern und verarbeiten können. ich will medien, die sich erinnern, was information eigentlich ist: tatsachen eine form zu geben. tatsachen, nicht spekulationen.

  3. Im Moment (seit Jahren) scheinen viele noch immer kopflos und überrascht zu sein, wie sich die Medien verändern. Es wird noch dauern, bis sie alle damit klar kommen und verstehen, wie es geht. Dann werden wir wieder das bekommen, was jj will. Hoffentlich. Könnte aber noch dauern.

  4. die medien spielen samt und sonders das spiel von tim k. mit. in den letzten beiden tagen werden sicher einige desintegrierte jungs mit eindrucksvollen bildern darauf gestoßen, wie toll man einen abgang realisieren kann und wie gerne das mediale establishment diesen auch noch mitinszeniert. die ignoranz und scheinheiligeit, mit der das gemacht wird, ist so dermaßen ekelhaft, dass bei mir derzeiten nichts im tv zu dem thema läuft.

  5. fritz frey hat der altvorderen medialen ahnungslosigkeit ein gesicht gegeben & nachdem er bei flickR das R so hemmungslos gerollt hatte, wartete ich nur noch auf den satz: früher hätte es so etwas nicht gegeben!

  6. Mein Mund steht immer noch offen vor stauen über diesen … TV Beitrag. Mir fehlen da echt die Worte, aber zumindest fühle ich mich jetzt jünger – weil im Internet sind ja nur Jugendliche unterwegs.

    Kurz habe ich die Option erwogen das die noch zynischer und sarkastischer sind als ich und das eine verunglückte Satire war – aber die schienen das wirklich ernst zu meinen.

  7. Irgendwie fühlt man sich bei dieser ganzen Berichterstattung ausgesprochen hilflos.

    Gestern Nachmittag kam z.B. diese seltsame Forennachricht auf und ein paar Minuten später wussten Internetnutzer schon, dass dies ein Fake war. Trotzdem habe ich noch um 22 Uhr in den Nachrichten davon gehört. bei den großen Medien muss doch inzwischen auch einer arbeiten, der sich etwas mit dieser Welt auskennt oder ist das zuviel verlangt?

    BTW: Nicht Waffen töten Menschen sondern Menschen töten Menschen. Aber leider töten Menschen, die Zugang zu Waffen haben, andere Menschen sehr viel leichter. Aber das Thema würde ja die sogennanten Entscheider selber betreffen. Da geht man dann besser nicht dran.

    Gibt es eigentlich Schützenvereine mit Internetanschluß oder sind das zwei Welten, die sich besser nicht berühren sollten?

  8. Ich habe mehrere Leserbriefe an die Zuschauerredaktion angefangen, und wieder abgebrochen.

    Die Anstalten und Qualitätsmedien liefern die besten Argumente für die These, dass sie sich selbst überlebt hatten. Dysfunktionale Relikte einer toten Zeit, deren Verwesen die neue vergiftet.

    Wieso nur kann man die GEZ nicht aus Gewissensgründen ablehnen?

  9. Also mir fehlen da auch völlig die Worte. An dieser Stelle möchte ich mich ganz einfach auch mal bei dir bedanken, dass du einem, wie hier bei der Berichterstattung über den Amoklauf in Winnenden, häufig die Worte aus dem Mund nimmst und auf den Punkt bringst.

  10. Wie man sieht gibt es auch mediale Amokläufer. Die schießen auch um sich und treffen meistens nur Unschuldige. War das bei Amokläufen o.ä. in der Vergangenheit eigentlich auch schon so heftig?

  11. auch heute noch wirbt der Tagesspiegel im Radio-Trailer mit „Der Amokläufer kündigte seine Tat im Internet an“ (sinngemäßes Gedächtnisprotokoll). Immerhin werden in den entsprechenden ausführlichen Artikel Zweifel an der Echtheit des Foreneintrags formuliert, aber der Trailer erweckt doch den Eindruck, das Internet sei ein Tummelplatz für Amokläufer und solche, die es werden (wollen).
    Es ist an der Zeit, dass die traditionellen Medien das Internet als normale Kommunikationsform anerkennen und sich von der Verteufelung von Foren, Chats, Blogs etc. (die nicht von ihnen selbst unterhalten werden, denn auch das gibt es ja durchaus) abwenden

  12. Die lustige Aussprache von Flickr ist mir auch aufgefallen, aber da befanden meine Freundin und ich uns schon in einem Kampf um die Fernbedienung, ich wollte nämlich möglichst schnell umschalten und sie wollte sich noch durch den Rest quälen. Es war grauenhaft.

    Die sehen das Internet wirklich als eine in sich geschlossene Community, die zusammenhält (und zeigen an dieser Stelle ausgerechnet Bilder von youtube-Kommentarsträngen) und die den Bezug zur Realität verloren hat. Das schlimme ist, sie reden von „Jugendlichen“, als ob dieser Zustand eine Krankheit sei.

  13. „Ich hab’s versucht.“

    Vielleicht liesse sich ein solcher Artikel über die Frage aufziehen, wie tief der Graben durch Nutzung unterschiedlicher Medien in der Gesellschaft momentan ist. Immerhin gibt es hier auf beiden Seiten dermassen verhärtete Fronten, dass der Konflikt nicht mehr auf faktischer Ebene stattfindet. Das erinnert zuweilen schon an das Aufeninandertreffen von Hooligans verfeindeter Mannschaften.
    Aus diesem ARD-Beitrag spricht für mich dementsprechend vor allem Angst. Die Angst vor einer fremden Kultur, deren Sprache man nicht versteht und deren Rituale nicht deutbar sind. Wer weiß, ob es sich bei ihnen nicht um Kannibalen handelt.

  14. die haltung der etablierten, vor allem der fernsehberichterstattung scheint mir, wie meyer-lucht es geschrieben hat, eine art generationenkonflikt zu beschreiben. nur, dass beim fernsehen auch einigermaßen junge leute (zumindest vom alter her) dabei sind.
    es wirkt (überspitzt gesagt), als möchten die internet-unaffinen das vergehen von einem der affinen nutzen, um das, was sie nicht kennen anzuprangern. in etwa „da sehen sie mal, zu was einer dieser internet-freaks imstande ist. die wollen uns alle terrorisieren und stehen auf gewalt.“
    das geht meiner meinung nach sowohl am kern der schrecklicken tat als auch an der diskussion zu den konsequenzen komplett vorbei. die nutzen die gelegenheit zur reaktionären neuen-medien-„kritik“.

  15. Mein lieber Stefan, genau das was du jetzt in Bezug auf die Berichterstattung zum Amoklauf feststellst, merken wir anderen bei jedem politischen oder wirtschaftlichen Thema. Die offizielle Berichterstattung kommt mit fertigen Worthülsen und hat die Schuldigen schon fest im Auge. Ich würde sogar soweit gehen, dass sie derartige Ereignisse braucht und deshalb so zelebriert.

    Sie lenkt damit aber nur von noch schlimmeren Mißständen ab. Bis auf ganz wenige Ausnahmen gibt es keinen Journalismus mehr in Deutschland, sondern nur noch Propagandadampfplauderer.

  16. Eine der wenigen erhellenden Beiträge im gestrigen Fernseh-Hype kam von einem Schulpsychologen aus Würzburg, der im BR für eine „Kultur des gegenseitigen Respekts“ zwischen Schülern, Lehrern und Eltern plädierte.
    Nachdem er eine ganze Reihe von konkreten Schritten in diese Richtung benannt hatte, war die hilflose Reaktion der BR-Journalistin:
    „Ja – dann kann man also nur hoffen, dass sowas nicht nochmal passiert.“
    Eben nicht! – Man kann nicht nur hoffen, man kann was tun.

    Aber die überforderte Jounalistin hat wohl nicht einmal verstanden, was ihr Gesprächspartner gerade gesagt hatte. Wie konnte ich da von ihr erwarten, dass sie es journalistisch gekonnt einordnet…?

  17. Es wird leider immer [viele] Menschen geben, die meinen, das Medium sei die Botschaft. In Einzelfällen ist das sicher richtig, da hat ein Autor sich etwas gedacht, hat darüber nachgegrübelt, wie er etwas zutiefst Bemerkenswertes über und in einem bestimmten Medien machen kann. Prominentes Beispiel wären Alan Moore und Dave Gibbons.

    In den allermeisten Fällen spielt es allerdings kaum eine Rolle, obe etwas auf einem Broadsheet, in einer Zeitung, einem Magazin oder Buch gedruckt wurde. Oder heute eben elektronisch verbreitet wird. Ist die Nachricht interessant, womöglich wahr, spielt das Medium keine Rolle.

    Schwierig wird es, wenn im Kopf versteinerte Menschen versuchen, ihnen unbekannte Kanäle zu nutzen, um anderen etwas mitzuteilen. Blödsinn wird selten besser, wenn er nur 140 Zeichen hat, aber dafür möglichst schnell produziert werden muss. Twitter ist ein gutes Medium, um z.B. Zufallsgedanken zu verbreiten, die von vornherein auf Kürze angelegt sind – den guten alten Aphorismus wiederentdecken.

    Wer allerdings bereits vor Twitter mit der Tiefenuntersuchung sehr komplexer Themen abgeschlossen hat, wen nur die Skandalisierung interessiert, wer jeden Furz als Exklusivnachricht höchster Güte sieht, der hat mit „dem Internet“ einen ganz natürlichen Feind gefunden. Bei all dem Quatsch, den jeder Unberufene hier ablässt, findet sich immer ein Angriffspunkt. Umgekehrt entlarven allerdings viele, die früher keine Chance auf Veröffentlichung hatten, jetzt solche Scharlatane.

    Das Internet besteht aus vielen Strukturen und noch viel mehr Diensten und Anbietern. Wie auf einem Marktplatz treffen sich die Menschen hier und kommunizieren. Manchmal miteinander, manchmal gegeneinander. Wir sollten froh sein, dass so manche kriminelle Tat jetzt in aller Öffentlichkeit stattfindet und nicht mehr nur in den Kinderzimmern der guten Gesellschaft.

    Statt Facebook und ähnliche Plattformen zu verdammen, sollten wir sie nutzen, um rechtzeitig Probleme im Einzelfall zu erkennen und Hilfe anbieten zu können. Eine Hilfe, die auf Augenhöhe geboten wird; gerade instabile Jugendliche lehnen sie sonst ab.

  18. Es scheint vollkommen aussichtslos, daß wir zu unserer Lebzeit noch eine Medienlandschaft erleben, in der Selbstreflektion, Verständnis und Kompetenz dominierende Faktoren sind.

    Der „stern“ z. B. zeigt IMO z. Zt. wunderbar, wie er gleich einen ganzen Wald im eigenen Auge nicht sehen kann.
    Aktuell nochmal die „Chatankündigung“, wobei das Problem – laut „stern“ – eben nicht in der unglaublich laschen, wenn überhaupt vorhandenen, Recherche von Polizei und Journalisten liegt, sondern im Medium „Internet“:

    Orte der Anarchie
    In jedem Fall gerät durch diese Panne der Ermittlungsbehörden eine Subkultur des Internet in den Blick der Öffentlichkeit, die den meisten Surfern – und auch vielen Polizisten und Staatsanwälten – bisher verborgen geblieben ist: die Imageboards.
    http://www.stern.de/computer-technik/internet/:Zweifel-Internetank%FCndigung-Wo-L%FCgen-Ton/657772.html

  19. Also, es gibt sicherlich noch gut ausgebildete und gut schreibende Journalisten in Deutschland. Die werden sich über diesen unqualifizierten Sch… genauso ärgern, wie alle anderen mündigen Medienkonsumenten.

    Aber es ist schon erstaunlich, wie überhaupt nicht auf der Höhe, wie schlechter qualifiziert als derjenige, den man ansprechen will, einige Medien da derzeit Beiträge veröffentlichen.

    Das sind nicht nur die Öffis, ich erinnere mal an die Facebook-Artikel auf den Hauptseiten des FAZ-Feuilletons.

    Dabei werde ich den Eindruck nicht los, die Macher sehen gar nicht mehr die Berechtigung der Kritik an ihren Produkten:
    http://twitter.com/stern_digital/status/1316975183

    Wenn wir schon so weit sind, braucht es nicht mehr lange und Internet-Texte lösen Zeitungen mehr und mehr ab.

  20. Was die Medien mit diesem Fall machen ist einfach unglaublich – da werden Falschemeldungen um Falschmeldungen möglichst schnell verbreitet, um von anderen abgeschrieben und noch erweitert zu werden – dann folgt wiederum die Richtigstellung und eine neue Falschmeldung. Im „Chat“ (d.h. Forum) hat der Amokläufer jedenfalls nichts angekündigt, er wurde nicht gefasst und nicht von der Polizei erschossen, das wussten die Medien dann irgendwann auch, dichten aber gleich flockig weiter, dass die Fälscher dennoch aus dem Forum stammen würden. Hat der Täter eigentlich Bücher gelesen? Vielleicht war es ja das. Die Zeitung mit den vier Buchstaben ist wie immer ganz weit vorne und bringt seit Tagen über 10mal das Wort Amok allein auf ihrer Startseite in lauter kleinen und großen reißerischen Überschriften.

  21. @21/Carsten:
    „Aber es ist schon erstaunlich, wie überhaupt nicht auf der Höhe, wie schlechter qualifiziert als derjenige, den man ansprechen will, einige Medien da derzeit Beiträge veröffentlichen.“

    ich glaube das gilt es zu bezweifeln. anscheinend sind genug mit dem zufrieden, was sie da serviert kriegen bzw. hinterfragen es einfach nicht. sonst würden diese medien doch nicht mehr gelesen/verkauft werden oder?

  22. @ Andy, 20:
    „Der „stern” z. B. zeigt IMO z. Zt. wunderbar, wie er gleich einen ganzen Wald im eigenen Auge nicht sehen kann.“
    Schöne Katachrese ;-) Er sieht zwar den Splitter, aber den Balken vor lauter Bäumen nicht.

    @ Jochen Hoff, 17:
    Ich würde Ihnen gern widersprechen, vermag es aber nicht. Bei vielen Ereignissen lässt sich nach der ersten Eilmeldung mit einer 99-prozentigen Trefferquote vorhersagen, in welche Richtung sich der Großteil der Medien-Maschinerie bewegen wird.

    Die Geilheit, mit der sich so einige „Journalisten“ in übelster Alt-68er-Pädagogen-Manier auf das schröckliche Internet und die pösen Ego-Shooter stürzen, ist nicht nur widerwärtig, sondern auch ein trauriger Beweis für das Fehlen einfachster handwerklicher Fähigkeiten.
    Kleines Gedankenspiel, damit klar wird, was ich meine: Es ist nicht zu bestreiten, dass die meisten Körperverletzungsdelikte unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen Rauschmitteln begangen werden. Ist nun jeder, der mal einen heben geht, ein potenzieller Schläger? Ist der Alkohol die Ursache dafür, dass sich bestimmte Menschen aggressiv verhalten? Oder ist er in diesen Fällen nur eine Art Katalysator – und der wirkliche Kausalnexus liegt woanders? Würde ein Alkoholverbot zu einer signifikanten Verringerung einschlägiger Straftaten führen?
    Noch etwas: Die (ebenfalls kaum überraschende) Betroffenheits-Heuchelei im Nachfeld dieses Amoklaufs ist für mich schwer erträglich. Da wird der Starkbieranstich am Nockherberg aus Pietätsgründen verschoben, aber dass soundso viele Menschen tagtäglich verhungern oder in Dauerkrisengebieten wie z.B. Darfur massakriert werden, hat noch nie jemanden dazu veranlasst, eine derartige Veranstaltung zu vertagen.

  23. Ist es nicht gerade „die eigene Wirklichkeit“, die v. a. auf massenmedialer Ebene konstruiert und serviert wird, die mit der erlebten Wirklichkeit v. a. der jüngeren Generationen, die sich (zumindest zum Teil) auch auf anderen individualisierteren Wegen informieren und kommunizieren, so gut wie nichts mehr zu tun hat?

    Ist nicht gerade die aktuelle Medienberichterstattung ein anschauliches Beispiel für den nun überall beklagten Zustand der Gesellschaft?

    Es werden von offenkundig ahnungslosen, in alten Denkmustern verhafteten Personen in Ein-Weg-Medien „Erklärungen“ und „Lösungen“ verkündet, ohne daß man auf diese in effektiver Weise zurückwirken könnte.

    Was, wenn nicht Hilflosigkeit, Verzweiflung und Wut stellt sich dabei ein?

    Stefan Niggemeier schreibt es selbst: „macht mich gleichzeitig zu wütend und ratlos.“

    In ihrer vermeintlichen Beschäftigung und Aufarbeitung mit dem Ereignis zeigen sich genau die Muster, die überhaupt zu solchen Taten führen (können).

    Entrückte, Unwissende und Unbelehrbare schwadronieren über Dinge, die nichts mit ihnen, aber vielen anderen Personen zu tun haben.
    Sie sprechen über diese „anderen“, nicht mit ihnen, von oben bzw. ohne Rückkanal und sind auch an einer Kommunikation nicht interessiert.

    Gleichzeitig schwingen sie sich auf, erklären und bestimmen zu können, wie sich diese „anderen“ zu verhalten haben, was bei ihnen wohl so alles schiefläuft und was sie ändern sollen.
    In ihrem eigenen Verhalten allerdings widersprechen sie sich, wenn sie eben mehr Miteinander fordern, sich aber selbst hinter abgenutzte Floskeln und Kameraobjektive zurückziehen.

  24. @24/ille
    ich glaube sogar, dass so etwas wie die nockherbergverschiebung nicht geheuchelt ist. die verantwortlichen haben das ja auch selber als menschen durch die medien mitbekommen und fühlen auch irgendwas.
    bei gleicher medialer präsenz (unvorstellbar) der situation der armen dieser welt wäre vermutlich gar kein nockherberg mehr anzusetzen. oder noch besser: die situation der armen endlich besser.

  25. Da gibt es doch diesen Begriff „Qualitätsjournalismus“. War mir immer unklar, wer damit wen oder was meint. Seit Jahren habe ich schon den Eindruck, dass die „Informations Medien“ gleichgeschaltet sind. Deshalb doch die Hatz gegen das Internet.

  26. Die Berichterstattung der letzten drei Tage, vor allem von den öffentlch-rechtlichen Sendern war eine einzige Katastrophe. Ich will mich dazu hier nicht weiter auslassen, das einzige was wirklich tröstlich ist, ist das in einer Woche kein Mensch mehr von diesem Ereignis sprechen wird. Zumindest nicht die Medien. Vielleicht können dann endlich die Opfer und Hinterbliebenen, ohne das ihnen von irgendeinem Sensationsreporter-Darsteller ein Mikrophon unter die Nase gehalten wird, ihrer Trauer nachgehen.

  27. Was mir noch aufgefallen ist: tagelang gab es für die TV-Sender nichts Wichtigeres als die Suche nach zwei Verschütteten in Köln. (Für das zerstörte Kulturerbe interessierten sich die Sender dagegen kaum.) Plötzlich ist das Interesse daran völlig verpufft, nur bei „heute“ (glaube Ich) kam dazu noch eine Meldung. Für RTL aktuell gab es neben dem Amoklauf nichts Weiteres mehr.
    Fast wünscht man sich, es möge Irgendwas in deren Augen noch Spektakuläreres passieren, damit man diesen Namen „Winningen“ (oder wie das Kaff heißt) nicht mehr hören muß.
    Andererseits kam dann bei „Monitor“ ein wirklich guter, weil politischer Bericht über das vorhersehbare Unglück von Köln.

  28. Was will man denn erwarten, wenn die Entscheidungsträger wie Innenminister Rech nicht mal ein Forum von einem Chatraum unterscheiden können und fast alle Medien solche Fehler unreflektiert weiterverbreiten? Die Peinlichkeiten nehmen kein Ende.

  29. Leider wird doch gerade von den TV-Medien immer noch von DEM Internet gesprochen, als handele es sich um eine grosse homogene Masse.
    Ob nun Galileo in ihren „Produkttests” Waren anpreist die man im Internet 10 Euro billiger bekommt oder ein Herr Bosbach den unterschied zwischen Youtube und Flickr nicht begreift ist meist traurig und peinlich in Fällen wie Winnenden ist die Unwissenheit fast schon gefährlich.

  30. Gerade bei „ntvn24“ oder so die Meldung im Laufband „CDU fordert verbot von Gewaltspielen“. Aha. Das Drehbuch ist also immer noch das alte. Ereignisse rufen immer die gleichen Reaktionen hervor, alles funktioniert nach einem bekannten Plan. Nur, alle dreschen auf das böse Internet ein, viele Ahnungslose dabei, sehen die aber nicht fern? Laufen im TV keine „Gewaltorgien?“ Vielleicht hat das mit der Vermeidung der Verschmutzung des eigenen Nestes zu tun.

  31. Zu erwarten, dass heutige Massenmedien echte Emotionalität, Anteilnahme, Pietät und Takt zeigen, wo sie doch offensichtlich nur wie ein Wolsrudel hinter der neuesten Meldung und damit ihren Einschaltqouten hinterher hecheln, ist naiv. Wir sind doch alle derart überfüttert mit Dramen – wo sollen und wollen wir uns da noch berühren lassen? Und wenn wir es tun, was bringt das den Betroffenen, deren Mütter, Väter, Ehepartner, Geschwister, Kinder tot sind? Die Grenze zwischen Voyeurismus und Mitmenschlichkeit ist hauchdünn und kaum noch wahrnehmbar.

    @#29: Du hast völlig recht, vor Winnenden wurde immer noch nach „dem Verschütteten“ gesucht, jetzt hat man „eine Leiche“ gefunden.

  32. @30/Michael: Rech wird wohl nur präsentieren, was die Staatsanwaltschaft ihm vorlegt. Die Medien haben übrigens dort mehrfach und immer wieder kritisch angefragt, wie es um die Richtigkeit der Angelegenheit steht. Man kann die Medien dafür schimpfen, dass sie nicht selbst fähige Ermittler waren, muss man aber nicht zuerst ein ernstes Wörtchen mit den echten Ermittlern reden, die bis gestern abend felsenfest bei ihrer Behauptung blieben?

  33. ich werde ja auch immer ungeheuer wütend, wenn dümmliche argumentation von wegen „killerspielen“ kommt. beispielsweise heute morgen auf n24: Es wurde ein star wars spiel als beispiel gezeigt. mein hirn explodiert, wenn ich darüber nachdenke, was das für sehr viele filme bedeutet. naja.
    ich habe allerdings das gefühl, dass es weniger wird, zwar nur in bezug auf „killerspiele“, aber immerhin. mit jedem amoklauf sieht man weniger blinden aktionismus und hirnlose schuldzuweisungen,über die man sich schwarz ärgern muss. das freut mich und ich glaube ich weiß woran es liegt: jede generation stirbt irgendwann aus. klingt makaber, ist aber so. und hier rückt nach eine generation, die mehr ahnung vom internet hat. ich bin sehr gespannt, was mein universalsündenbock wird, wenn ich alt genug fürs spießertum bin.

  34. lesend dieses hörte ich gleichzeitig ard-mittagsmagazin:
    der täter schickte seine tatankündigung nicht über den pc sondern über seinen laptop
    habe sofort auf pokemon(rtl2)umgeschaltet

  35. Zur Ehrenrettung der Öffentlich-Rechtlichen: hr2-Der Tag gestern zum Thema Amok war eine (wirkliche) Glanzstunden gut recherchierten und objektiven Journalismus‘.
    Warum geht das nicht öfter so? Oder immer?

  36. niggemeier

    Ich verstehe die Debatte nicht. Es gibt in jedem Medium Müll und Qualität. Oder wollen wir hier jetzt auch mit Rilke anfangen? Dieser ganze Twitter etc. Hype ist doch völliger Unsinn. Hier können jetzt Zeugen und alle anderen in Sekunden ihre Beobachtungen und Meinungen hineinstellen. Niemand kann das journalistisch überprüfen. Wie auch? Noch nicht einmal die Einsatzleitung der Polizei kann während des Tatgeschehens einen Überblick haben. Auf Twitter liest man dann nur diffuse Fetzen, bestehend aus subjektiven Eindrücken. Ernsthaft kann eigentlich niemand solche Informationen verwerten wollen. Warum geschieht das trotzdem? Weil es ein überragendes öffentliches Interesse an solchen Ereignissen gibt. Also will in der Konkurrenzsituation jeder Journalist der erste sein. Das war auch schon vor zehn Jahren so – als noch niemand Twitter kannte. Jetzt wird es halt noch schneller – und ihr diskutiert hier über klassische oder neue Medien. In Wirklichkeit sind wahrscheinlich selbst die Twitter User diesem Konkurrenzgedanken schon erlegen. Wenn der erste Schuss fällt, hat der eine oder andere User wahrscheinlich schon die Frage im Kopf wie er jetzt möglichst schnell seine Nachricht absetzen kann.

    Was mich an diesem Journalismus in Winnenden ankotzt, ist diese Neigung nichts mehr zu recherchieren, sondern ohne Rücksicht auf Verluste etwas „Exclusiv“ haben zu müssen. Da wird jeder Teenie interviewt, der behauptet ein Freund oder Bekannter von Tim gewesen zu sein. Relevanz der Aussagen? Wen interessert das noch? Da wird die Familie nach allen Regeln der Kunst auseinander genommen und so getan als wenn man in der Biografie des Täters Ursachen finden kann. Dabei findet man dort lediglich Anlässe. Das ganze Ereignis wird solange mit Nichtigkeiten zugemüllt, dass am Ende kein einziger interessanter Gedanke mehr zu finden ist, sondern am Schluss gähnende Langeweile beim Publikum. Weil Null-Informationen kann man eben nicht weitergeben ohne zu langweilen. Für guten Journalismus brauchte man Distanz zum Geschehen und darf gerade nicht in den Eingeweiden von Täter und Opfern herumwühlen. Das haben alle vergessen oder schlicht keine Zeit mehr, um das in der täglichen Arbeit noch zu realisieren. Was soll die arme Kollegin von RTL oder dem SWR auch ihrer Redaktion sagen, wenn sie eigentlich gar nichts Neues zu sagen hat? Die wollen senden. Kollegen haben auch was Neues – Tim hatte einen glatt polierten Tischtennisschläger und spielte als Kind mit Soldaten … . Hat zwar nichts mit dem Amoklauf zu tun, aber das interessiert uns einen Scheiss. Setze Deinen Arsch in Bewegung und liefere uns was. Hat Tim nicht als Kind gerne Fliegen gequält? Das weiß alles auch Stefan Niggemeier – nur Du musst ja tatsächlich nicht mehr über so einen Scheiss berichten.

    Darüber muss man reden – und nicht diese abgestandene Debatte über alte und neue Medien führen.

    Gruss f.luebberding

  37. sarkasmus on
    es wird zeit für „geht sterben“ – http://www.tagesschau.de/inland/amoklauf178.html
    sarkasmus off

    (vorsichtsmaßnahme: „geht sterben“ war schon öfter der titel von blogeinträgen bei stefan niggemeier, in denen er grobe mißstände bestimmter medien aufzeigte.)

    hier triffts neben der offensichtlich überforderten tagesschau.de redaktion anscheinend auch die polizei. viel mehr als irgendwelche ip-daten, die zeigen werden, dass es ja WIRKLICH eine fälschung war, sollte man lieber im persönlichen umfeld „ermitteln“.

  38. „Wenn der erste Schuss fällt, hat der eine oder andere User wahrscheinlich schon die Frage im Kopf wie er jetzt möglichst schnell seine Nachricht absetzen kann.“
    Vielleicht wäre Afrika ein gutes Twitter-Einsatzgebiet. Oder, Frage eines Unwissenden, gibt es schon twitternde Front-Soldaten?

  39. Übrigens haben in Winnenden viele -hier und an anderern Stellen im Netz mehr oder weniger pauschal in der Kritik stehende- Journalisten verhältnismäßig viele eigene, echte Tränen vergossen. Hört man.

    Auch freie Reporter (die auf Abnehmer abgewiesen sind) haben zwischenzeitlich Betroffene Betroffene sein lassen und haben ( @f.luebberding ) Druck vom Auftraggeber ignoriert. Auch das hört man aus zuverlässiger Quelle. Natürlich bringt das in der Summe nicht viel, es sind Medien aus allen Herren Ländern da und nach wie vor genug deutsche Kollegen, die ihre Manieren in der Redaktion gelassen haben.

    Was mir mittlerweile mächtig stinkt, ist die unglaublich undifferenzierte Betrachtungsweise auf „die“ Journalisten, „die“ Sensationsreporter. Ich meine damit nicht etwa konstruktive Beiträge etwa von Stefan Niggemeier, sondern so ziemlich alle Berufskommentatoren-und Twitterer, die sich inhaltlich um Kopf und Kragen reden, aber alle wie kleine Niggemeiers vorkommen. Insofern kann ich den bescheurten Tweet des stern-Twitterers schon beinahe nachvollziehen, wenngleich er sicher die falsche Adresse trifft.

    Thomas Knüwer schlägt in seinem Blog die richtige Richtung ein, finde ich: Es gibt nicht „die“ perfekte Lösung für Medien. Natürlich geht es zu weit, was mancher Reporter auf der Suche nach heulenden Angehörigen veranstaltet. Aber: Würden die Medien so sparsam und zurückhaltend berichten, wie zur Zeit viele (im Netz) fordern, käme der Aufschrei genau andersherum.

    Medienjournalismus muss/kann/sollte vielleicht nicht nur reflexartig draufhauen, sondern seinem Publikum auch den schmalen Grat zwischen professioneller, journalistischer Arbeit und Arschloch sein aufzeigen. Und nach einem solchen Ereignis ist der Grat sehr schmal!

  40. @40 f.luebberding
    „Oder wollen wir hier jetzt auch mit Rilke anfangen?“
    -Von mir aus gerne. Ich mache mir gerade Gedanken darüber, ob man Bezüge zwischen seiner Streitschrift wider die Puppen und der Killerspiel-Debatte herstellen kann. Woran haben sie gedacht?

    „Weil es ein überragendes öffentliches Interesse an solchen Ereignissen gibt.“
    Eigentlich scheinen Sie sich ja aber dafür auzusprechen, dass Twitter ungeeignet wäre solche Bedrfnisse zu befriedigen. Wie passt das zusammen?

    „Darüber muss man reden – und nicht diese abgestandene Debatte über alte und neue Medien führen.“
    Warum taucht dann die Debatte im Rahmen von solch brisanten Ereignisen auf? Ist das dann nur ein weiterer Notnagel, an dem sich blind aktionierender Journalismus aufhängt?

  41. Das ist die pure Angst einer Generation, die, wie jede andere vor ihr auch, dazu verdammt ist, verdrängt zu werden und dies nun langsam erkennt.
    Das Internet übernimmt nunmal mehr und mehr die Aufgaben und Bereiche der klassischen Medien und damit kommt auf die ‚alte Garde‘ eine Form des Journalismus, der Berichterstattung und der gesamten Medienauffassung zu, an die sie weder gewöhnt ist, noch die man so einfach begreifen könnte, wenn man nicht damit aufgewachsen ist oder sie schon länger verfolgt.
    Außerdem wäre es ja noch schöner, wenn plötzlich nicht mehr die Medienunternehmen die Meinungen der Menschen bilden, sondern die Realität.
    Man sollte da wohl eher Mitleid haben. Das machen sie einem allerdings zugegebenermaßen verdammt schwer.

  42. Vanguard

    Bei Rilke? Dass Don Alphonso damit die Tussies von der Dresdner Bank ins Bett bekommen hat … . Ich ahnte schon immer, dass mit meiner Marx Lektüre etwas nicht stimmt … .

    Ansonsten könnte man statt Twitter zu benutzen auch Brieftauben einsetzen. Die Kids haben nur den Bezug zu dieser alten Kulturtechnik verloren – siehe Dons Rilke. Außerdem ist es schwierig andauernd einen Schlag Tauben mit sich herum zu schleppen … . Twitter ist ein Instrument, mehr nicht. Es ist schneller als Zettel mit Brieftauben zu verschicken. Also sind natürlich Journalisten gezwungen, damit umzugehen. Nur kann niemand diese Informationen verifizieren – auch ich nicht. Also wird jede Meldung in den Ticker gestellt und wenn sie falsch ist. später dementiert. Das kann niemand ändern. Was man aber ändern kann, ist die Perspektive auf so ein Ereignis. Also wie es die ARD gemacht hat, gerade nicht kurzfristig die Berichterstattung auf Super-Killer umzustellen – und nichts anderes mehr zu senden. In der FAZ ist ja gerade das kritisiert worden. Damit nimmt man aber den Druck aus der Berichterstattung. Etwas anderes fällt mir auch nicht ein.

    Warum das immer bei solchen Ereignissen auftaucht? Weil das Thema jeden berührt – und heute eben jeder mitreden kann. Selbst so ein Einfaltspinsel wie ich … .

    Michael

    Ich habe keine gut informierten Quellen in Winnenden. Aber persönliche Betroffenheit ist für mich weder ein positives, noch ein negatives Kriterium für Berichterstattung. Damit muss jeder selbst fertig werden. Nur es interessiert keinen Mediennutzer unsere Befindlichkeit, wenn man die in der Berichterstattung auch nicht völlig ausblenden kann. Aber gerade die Distanz ermöglicht es uns doch erst zwischen Gerücht und Fakten unterscheiden zu können. Im übrigen ist es aber kein Zufall, dass gerade wenn man nichts zu berichten hat, man über die Athmossphäre in Winnenden erzählt. Weinende Teenager machen sich gut, wenn man es zynisch formulieren will. Auf diese Weise verstärken die Medien selber den Effekt über den sie berichten. Ich bin für analytischen Meinungsjournalismus, aber diese Form der Betroffenheitsbekundung ist nicht mein Fall.

    Was ich heute vermisse, ist so etwas Ödes wie eine Debatte zwischen Adorno und Gehlen aus den 60er Jahren – das wäre wesentlich informativer als den hundersten Psychologen zum Thema Killerspiele zu interviewen.

    Nur leider sind die ja tot.

  43. Ach – vielleicht haben wir alle hier die Programmverantwortlichen nur falsch verstanden! Vielleicht sind wir auch nur undankbar oder unsensibel den Betroffenen gegenüber.

    Das was wir gestern gesehen haben, sind doch alles ernsthafte Dokumentationen!
    Das jedenfalls versichtert mir in einer eMail die Bearbeiterin für ARD-Zuschauerreaktionen.
    Ich hatte mich beschwert, weil ich lieber den abgesetzten „Pelzig“ sehen wollte als den gebotenen „Betroffenheitsjournalismus“ und die Antwort war:

    „Sehr geehrter Herr [mein Klarname]

    vielen Dank für Ihre e-mail und Ihr Interesse am Ersten Deutschen Fernsehen.

    Wir bedauern Ihren Unmut über die aktuellen Programmänderungen im Ersten aufgrund des Amoklaufs mit 16 Toten in Winnenden und Wendlingen.

    Es tut uns Leid, wenn Sie kein Verständnis dafür haben, dass die ARD-Programmverantwortlichen aus Rücksicht auf die vielen Opfer, Hinterbliebenen und Betroffenen die Comedy- und Satireformate durch ernsthafte Dokumentationen ersetzt haben. Von unserer Seite gab es zu dieser Entscheidung keine Alternative. Sie können davon ausgehen, dass Sie auch im Sinne der beteiligten Protagonisten erfolgte.

    Mit freundlichen Grüßen

    [Name des Verfassers]
    Erstes Deutsches Fernsehen
    Programmdirektion
    ARD-Zuschauerredaktion
    Arnulfstraße 42, 80335 München

  44. @47 f.luebberding:

    „Also sind natürlich Journalisten gezwungen, damit umzugehen. “

    Tut mir leid, wenn ich da etwas schwer von Begriff bin, aber für mich klingt das wie „Klar motzen die Leute, wenn wir ihnen hier in der Autowerkstatt viereckige Räder dranmontieren, aber was soll man machen wenn die Nachfrage nach Reifen so groß ist?“

    „Halt“, möchte ich da rufen, „ein Rad ist per Definition rund. Mit solchen viereckigen Dingern hilft man niemandem.“
    Jetzt mal ehrlich – zittert man in den Nachrichtenredaktionen davor, dass irgendein pickliger 14jähriger bei MySpace schreiben könnte „ey die n00bs tun ja nichma tw1tt3rn“?

    „Selbst so ein Einfaltspinsel wie ich … . “
    Klar, und ich ja auch. Aber die Hoffnung stirbt eben zuletzt.

  45. vanguard

    Mein Vater war Reifenhändler. Der hätte auch diesen Wunsch erfüllt … . Wo ist auch das Problem, wenn der Kunde mit viereckigen Reifen zufrieden ist? Es geht bei Twitter um die Schnelligkeit. Ob ich jemanden drei Stunden später interviewe oder der sich schon während der Tat äußert, ist erst einmal egal. Beides sind Quellen. Nur kann ich nicht nach drei Minuten eine Angabe auf Twitter überprüfen, aber diese Quelle auch nicht einfach ingnorieren, weil die lieben Kollegen genau diese Quellen benutzen. Und die lieben Mediennutzer sofort dort hingehen, wo sie die neuesten Informationen bekommen. Das machen übrigens auch Journalisten so … . Wir sind nichts besser. Wer meint, das wieder ändern zu können, der träumt.

    Eine ganz andere Sache ist die Art der späteren Berichterstattung. Knüwer hält das Berichten über die Betroffenheit ja für professionell, weil es den Bedürfnissen der Mediennutzer entspricht. Das mag so sein – nur dieses Bedürfnis gab es immer schon, nur haben wir dem früher nicht den Raum gegeben wie heute. Deshalb plädiere ich ja dafür, die Maschine einen Gang herunterzuschalten. Nur wenn die Medien irritierende Sichtweisen nicht mehr abbilden und alle den gleichen Mist erzählen – Killerspiele, Horrorvideos, zu wenig Rilke Leser, Mama hatte ihn nicht lieb – dann wird das zum Problem. Nach meinem ganz subjektiven Eindruck wären viele Journalisten über die Perspektive eines Adorno oder Gehlen heute doch arg irritiert … .

    Im übrigen werden wir sicherlich jetzt bald auch gute Dokus über diesen Fall sehen. Das macht Hoffnung.

    Angst vor den kids? Ich halte mich bei meiner ältesten Tochter (16) auf dem Laufenden.

    Gruss Frank

  46. […] TV-Sender und Websites fast schon genüsslich die Meldung verbreiteten, dass er seine Tat im gefährlichen und per se bösen Internet angekündigt habe. Umso peinlicher ist die Fälschung nun, sie hat viele hinters Licht geführt. […]

  47. @f.luebberding

    > Das mag so sein – nur dieses Bedürfnis gab es immer schon, nur haben wir dem früher nicht den Raum gegeben wie heute.

    – Gladbeck?

    – Ich hatte kürzlich Gelegenheit, in ein Polizeireporterarchiv der 70er-/80er-Jahre zu blicken. Schock. (Und Erkenntnis: Früher war nicht alles besser ;-) ). Lokalzeitungsaufmacher, die heute tagelang das Bildblog füllen könnten.

    – Äußere Gegebenheiten/Zwänge: Weniger Sender, keine Onlineberichterstattung etc.

    Ich glaube, der Vergleich zwischen „früher“ und heute hinkt ein wenig.

  48. Thomas

    Guter Hinweis. Wäre ja durchaus eine Gelegenheit, den sogenannten „Qualitätsjournalismus“ von früher als Legende zu enttarnen. Nur gab es gerade nach Gladbeck eine heftige Debatte – und das Spezifische an Gladbeck war eine Situation, die viele Journalisten erstmals als Wettbewerb definiert hatten (Auftauchen des privaten Fernsehens). Und Gladbeck hat sich nie wiederholt. Alle waren durchaus klüger geworden. Insofern passt das Argument nicht ganz.

    Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: Es ging hier um den Brennpunkt des SWR. Ich habe mir vorhin den Beitrag von Meyer-Lucht angesehen. Der argumentiert nicht anders als ich in meinem Weissgarnix Text. Den hatte ich schon zu einem Zeitpunkt geschrieben als der Amoklauf noch nicht einmal beendet gewesen war. Nur hatte ich mich wirklich intensiv mit Emsdetten beschäftigt und mit einem angeblich in Köln verhinderten Amoklauf, wo im Rahmen von Präventivmassnahmen der Polizei, ein Jugendlicher in Panik vor eine Strassenbahn gelaufen war. Es war wirklich abzusehen wie jetzt berichtet werden würde. Ich will meinen Text hier nicht wiederholen, aber das eigentliche medienpolitische Problem ist die Verweigerung einer politischen Debatte, die sich mit den Strukturen unserer Gesellschaft beschäftigt. Darüber müsste jeder reden und da ist auch jeder als Staatsbürger kompetent – nur macht kaum einer, weil jeder bei Tim nach dem Fliegenquäler sucht oder man sich über die Bedeutung von Twitter austauscht.

    Aber ich bin halt altmodisch.

  49. Gibt es denn ein Beispiel dafür, wie das Twitter-Gewitter die Berichterstattung auch positiv beeinflust hat?

    Ich kann mir nicht helfen, aber mir kommt das Ding überbewertet vor. Gibt es denn Studien oder Projektionen darüber, wie groß der Verlust wäre, wenn man sich diesem Werkzeug verweigern würde? Welche Zielgruppe wird dabei angepeilt? Wie ist ihr Reaktionsecho darauf? Wird die Signal to Noise Ratio als bereits ausreichend angesehen?

    „Ich will meinen Text hier nicht wiederholen, aber das eigentliche medienpolitische Problem ist die Verweigerung einer politischen Debatte, die sich mit den Strukturen unserer Gesellschaft beschäftigt.“

    Da stimme ich aus vollstem Herzen zu.

    PS: (off topic – entschuldigung)
    Rilke wurde als Kind von seiner Mutter mißhandelt und suchte die Verantwortung dafür später bei den Puppen, mit denen sie als Kind gespielt hat. Ähnlich wird auch gern mal bei der Killerspiele-Debatte argumentiert.

  50. Grad versehentlich bei „Galileo“ gelandet…. Geht natürlich um „brutale Killerspiele“. Muss mich zwingen noch hinzuschauen, nachdem der Autor des Clips sich schon im zweiten Satz dadurch disqualifizierte, dass er nicht einmal gleichzeitig und zeitgleich auseinanderhalten kann.

  51. Naja, der Artikel bei w&v wirkt schon arg zusammengedengelt. Den Polizisten, den er in der Berichterstattung vermisst, gab es groß unter anderem bei SPon (natürlich). Die Nummer mit dem Hairkiller und der „inneren Stimme“ scheint er bei DWDL ( http://www.dwdl.de/article/story_20129,00.html ) aufgeschnappt zu haben. Ob -ach schau an- Thomas G. Hornauer so der Mainstram-Journalist/-Schaulustige ist? Und der „makabere Medienzirkus“ in der Galerie? Es gab einen Amoklauf mit Toten, also kommen Bestatter. Es gab einen Amoklauf mit Toten, also kommt die Presse (über deren Arbeit man im einzelnen ja diskutieren kann), aber wäre der Autor nicht der Chef, könnte der Artikel durchaus den Eindruck erwecken, dass da jemand gezwungen worden ist, dringend eine klickstarke Geschichte zusammenzuklopfen (falls ich dem Autor unrecht tue, tut es mir leid).

  52. Habe ich das richtig verstanden, dass der Innenminister von BW es richtig findet, dass er eine Falschmeldung verbreitet hat? Man wollte doch schnell sein. Und das sagen, was die Menschen hören wollen?

    Da wurde eindeutig schlecht Rech-erchiert.

    „Die Menschen glauben gern was sie wünschen.“ (G.J.Caesar)

  53. Passt hierhin und auch zum Pöbeljournalismus:
    Mein Sohn (19), hat braune Augen, ist manchmal gern allein, zockt hin und wieder mit Freunden Computer- und Pokerspiele, kennt den Unterscheid zwischen einem Chat und einem Forum, ist als Linksaußen beim Fußball nicht so sanftmütig wie sonst, spielt selten Tischtennis und – er hat vor drei Jahren oder so einen Totenkopf auf sein Mathematikheft gemalt und dazu gekritzelt: Ich hasse die Schule!
    Er hat gestern auf dem Weg zwischen U-Bahn und Schule in einem Zeitungsständer am Straßenrand in München den Abendzeitungs-Titel über Tim K. gelesen: ER HASSTE DIE MÄDCHEN – oder hieß es FRAUEN? Egal: Mein Sohn spürte plötzlich „ein Würgen im Hals“ und eine „fürchterliche Wut“ angesichts der weiß auf schwarz gedruckten „Ekelstaben“ (Zitate in „“). Er zählte die Ausgaben, die noch im Kasten waren (Aussage eines Zeugen, noch nicht verifiziert), steckte sorgfältig eine entsprechende Summe Geldes in den Schlitz (glaubhaft, da mein Sohn aufgrund des Berufstandes seiner Mutter, also mir, an sich sehr verantwortungsbewusst und respektvoll im Umgang mit gedruckten Zeitungen ist), entnahm dem Kasten sämtliche Exemplare und stopfte sie in den nächsten Mülleimer. Diese Art von physikalischer Zensur wiederholte er bis zur Schule (Schulzentrum mit über 1000 Schülern, an dem es seines Wissens keinen Frau-Koma-Code gibt) noch zwei Mal (der Zeuge lieh im Kleingeld, dafür ein Dankeschön!). Die Mülleimer im Eingangsbereich der Schule waren proppevoll (wie immer, wegen Personalmangel). Das erzählte mein Sohn später daheim und verschüttete dabei immer noch zornig sein Apfelsaftschorle. Er war (natürlich) verspätet zu einer Schulaufgabe (Pädagogik und Psychologie an der Soz-FOS) eingetroffen, die er trotzdem mitschrieb. Viel Zeit für eine Diskussion über die grauenhafte Horrortat in W. hatte der Lehrer an diesem Vormittag nicht mehr. Es soll auch kein soo großes Interesse der Klasse bestanden haben. Ziemlich viele wollten in der Pause lieber eine rauchen gehen. Deshalb bekam ersatzweise ich nachmittags zu hören, was mein Sohn mit seiner Aktion sagen wollte. Ich hab’s mir gemerkt und aufgeschrieben (das mach ich so bei wichtigen Sätzen): „Dieses Morden war schrecklich. Ich will mir nicht vorstellen, was in diesem Kerl vorging. Zum Beispiel als er aus der Schule weglief. Und was die Lebensmitmenschen der erschossenen Mädels jetzt fühlen müssen, das ist grausam! Aber – was deine so genannten Kollegen über das alles an Ignoranz, Schwachsinn und Einschaltquoten-Geilheit in ihre Zeitungsspalten und Mikros gerotzt haben und noch schleimen werden – das ist für mich widerlicher als die Tat an sich. Und das empfinde nicht nur ich so. Glaubt diese ethiklose Meute ernsthaft, dass ihre Presseausweise in unserer Welt gültig sind?“
    Ich danke meinem Sohn (nicht nur) für das „so genannte“ und hoffe, dass morgen nicht der bayerische Innenminister oder das SEK seinen Laptop konfiszieren kommt.

  54. „Und jetzt von der virtuellen in die reale Welt…“ — auf die ARD und Konsorten natürlich privilegierten (und direkten) Zugriff haben. Was dann kam, war schon bezeichnend (wie es ohnehin interessant war, wie sich der Beitrag dauernd selbst zu kommentieren schien): Schüler, die eigentlich so gar nicht recht wussten, was sie denn jetzt sagen sollen und deswegen mit Suggestivfragen („Hat er dir denn manchmal leid getan?“) geholfen bekamen; und Erwachsene, die, mit der Ausnahme vom Pfarrer und dem Waiblinger Schuldirektor, genau wussten, was zu sagen war.

    Das Übliche, nämlich: die Nummer mit den Vertrauenslehrern und Streitschlichtern und Schulpsychologen (alles ganz alte Hüte). Und eine gehörige Portion Lehrerschelte im Schlußwort: Zeugnis, daß einige Kommentatoren wohl in einer virtuellen Welt leben, in der es weder große, heterogene Lerngruppen noch Lehrplanstress gibt (alles nicht vom Lehrer geschaffen). Schon perfide, wenn man bedenkt, daß ja auch Lehrer unter den Opfern waren…

  55. So leid mir das für alle Opfer tut, so sehr widert mich die voreingenommene Berichterstattung zu diesem Thema an.
    Mir kommt es so vor, als Blinde einen Vortrag über Farben halten.

    Besonders die riesigen Schlagzeilen: „Täter spielte am Abend vor der Tat Killerspiel“ auf SPIEGEL.de, unter denen das Weltgeschehen als Fußnote zu lesen waren, waren für mich Anlass genug aus dem treuen Kreis der Spiegel Leser auszutreten.

  56. […] Und zum Abschluss schalten wir noch einmal um zu unserem Kollegen vor Ort: “Der Trauergottesdienst war sehr ergreifend. Für die Menschen hier wird nach dem heutigen Tag nichts mehr so sein, wie es vorher war. Wir fahren jetzt zum Elternhaus des Täters, das wir zusammen mit den TV-Teams der anderen Sender die nächsten Tage belagern wollen. Und damit zurück ins Funkhaus.” Danke für diese Eindrücke. Blogger und Medienjournalist Stefan Niggemeier schreibt zum ARD-„Brennpunkt“: […]

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