Als der britische Europaabgeordnete Daniel Hannan in seinem Blog die amerikanische Präsidentschaftswahl Mitte Oktober für gelaufen und Barack Obama zum Sieger erklärte, hatte er nur ein einziges, überzeugendes Argument: Der Wahlkampf folge dem Drehbuch der Serie „The West Wing“. Und dort gewinnt am Ende auch der charismatische demokratische Außenseiter, der einer ethnischen Minderheit angehört, gegen den alten, moderaten Republikaner.
Millionen Menschen hatten, wie Hannan, schon drei Jahre zuvor im Fernsehen gesehen, was passieren würde. Und die Parallelen waren nur zum Teil zufällig: Eli Attie, einer der Drehbuchautoren, hatte zur Recherche David Axelrod angerufen, der Obama damals im Rennen um den Senat beriet, und lange mit ihm über den Politiker, seinen Stil und seine Ambitionen gesprochen. Obama war ein Vorbild für die Figur des Matt Santos (Jimmy Smits), einem Latino und unwahrscheinlichen Kandidaten für das Präsidentenamt.
Obamas Sieg ist auf eine merkwürdige Art der nachträgliche Höhepunkt dieser herausragenden Serie, die von 1999 bis 2006 den Alltag im Weißen Haus schilderte — fiktiv und dramatisiert, aber im Kern in einem Maße realistisch, dass man sie als politische Bildung sehen kann. Sie zeichnet sich nicht nur durch hervorragende Schauspieler, gute Geschichten und kluge Dialoge aus, sondern auch durch eine Lust, auf dieser realistischen Grundlage verschiedene Szenarien durchzuspielen. Was passiert zum Beispiel, politisch und juristisch, wenn herauskommt, dass der Präsident Multiple Sklerose hat, war er den Wählern nicht gesagt hat? Welche Verfassungskrise entsteht, wenn die Tochter des Präsidenten entführt wird? Die inhaltlichen Gedankenspiele spiegeln sich auch in der Form: Viele Episoden sind zum Beispiel nicht chronologisch erzählt, sondern verschachteln lust- und kunstvoll die Zeitebenen.
„The West Wing“ war während der Amtszeit von George W. Bush so etwas wie eine schmerzhafte Erinnerung, wie es sein könnte, von einem anderen Präsidenten regiert zu werden, und das nicht nur im Sinne einer linksliberalen Fantasie: Der fiktive Präsident Jed Bartlet, gespielt von Martin Sheen, ist zwar Demokrat, vor allem aber klug und weise, belesen und wortgewandt, moderat und reflektiert. Er hat Schwächen und macht Fehler. Aber er wirkt auch dann wie eine Werbefigur für die Institution des amerikanischen Präsidenten.
Dabei zeigt „West Wing“ auch, wie mühsam es selbst vom Weißen Haus aus ist, etwas zu bewegen — nicht nur weil dem fiktiven Präsidenten ein republikanischer Kongress gegenüber steht. Jeder Erfolg wird durch eine Niederlage erkauft. Es ist ein Kampf, bei dem man fast nie in die Offensive kommt, weil sich immer wieder neue Fronten öffnen, an denen es darum geht, überhaupt die Stellung halten zu können. Am Ende einer Folge sind die Mitarbeiter des Präsidenten meistens froh, wenn sie nicht schlechter dastehen als am Anfang. Gelegentlich bricht mal einer aus dem Hamsterrad aus und versucht, die anderen zu motivieren, sich nicht dauernd einschüchtern zu lassen und daran zu erinnern, was für Pläne man hatte und wofür man überhaupt in die Politik gegangen sei. Es hilft wenig.
Die Serie ist bei allem patriotischen Pathos, das sie durchweht, auch eine praktische Warnung, nicht zu viel zu erwarten von einem Präsidenten. Wer sie gesehen hat, hat eine vermutlich realistische Vorstellung davon, in welchem Maß schon die Übergangsphase, die zweieinhalb Monate zwischen Wahl und Amtsantritt, eine Zeit der Kompromisse und des Geschacheres ist. Und dann, heißt es, hat der neue Präsident 100 Tage Zeit, zu tun, was ihm wichtig ist – bevor der nächste Wahlkampf für den Kongress beginnt.
Am Ende geht es in „West Wing“ um den Nachfolger Bartlets, den Wahlkampf von Matt Santos, einem Mann, der versucht, nicht als „der braune Kandidat“ wahrgenommen zu werden, Brücken zu bauen, anders zu sein und auf eine zunehmend aggressivere Kampagne der Gegenseite nicht mit gleichen Mitteln zurückschlägt — das kennen auch Nicht-Zuschauer ja inzwischen. Sein Zauberwort ist nicht „Change“, sondern „Hope“, und er ruft den Leuten zu: „Hoffnung ist echt“. Aber man kann, wie die „New York Times“ schrieb, die Massen auch darauf fast antworten hören: „Yes, We Can“.
Die siebte Staffel von „West Wing“ endet mit der Amtseinführung des neuen, unwahrscheinlichen Präsidenten. Wenn Barack Obama am 20. Januar seinen Eid leistet, beginnt damit im Grunde die achte Staffel von „West Wing“.
(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
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