Alarm!

Süddeutsche Zeitung

Nach dem Abschied von Christian Ulmen wird MTV in Deutschland zu einem normalen und ironiefreien Musiksender.

So schnell wird aus einem Kompliment die Prophezeiung eines Todes: Die Zeitschrift TV Today hat Moderatoren getestet und bei den Neuen von MTV viel Elend entdeckt. Fazit: „Nur der schlagfertige Christian Ulmen kann MTV vor dem Aus retten. “ Als das Heft am Freitag erschien, hatte Ulmen schon gekündigt: „Das Know-How, die Coolness und der Hochglanz von MTV- Live aus Berlin lassen mich beschließen: Wenn`s am Schönsten ist, soll man aufhören. “ Die Pressemitteilung trieft vor Ironie. Live aus Berlin ist so cool wie der Tigerenten-Club, hat den Hochglanz einer verpatzten Generalprobe und das Know-How eines von Praktikanten gefilmten Moderatorenwettbewerbs in der Fußgängerzone.

Nur weil sein größter Star kündigt, geht kein Musiksender zugrunde. Doch der 23jährige war das letzte Überbleibsel einer Zeit, als MTV nicht im Strom mitschwamm, sondern ihn formte. Ulmens erste Sendung Hot fand vor einem starren Fischauge statt, das ihn in einem fast leeren weißen Raum filmte. Bei Alarm war das Herzstück eine häßliche braune Schrankwand. Live aus Berlin beschreibt Ulmen dagegen als eine „typische Teenie-Nachmittags-Show“.

Dazwischen liegt der Antritt der Geschäftsführerin Christiane zu Salm – und ein Kulturschock. Sie ließ von Alarm nicht eine, sondern bis zu fünf Shows täglich aufzeichnen. In Live aus Berlin verbannte sie Ulmens schrägen Humor in kleine Biotope, was nicht funktionierte, weil ihn im sonst ironiefreien Programm niemand verstand. „Früher wurde bei MTV aus Leidenschaft fürs Programm gearbeitet und experimentiert“, erzählt Ulmen. „Heute heißt es, Fernsehen funktioniere nur nach bestimmten Regeln und alles Schräge von damals wird mit dem Argument abgebügelt: Hat keiner geguckt. “ Zum Glück hat er seine Hamburger Wohnung nicht gekündigt. Jetzt wird ausschlafen und die Angebote anderer Sender prüfen.

Süßes statt Spinat

Salm gibt ihren Kritikern erst einmal recht: „Christian hat MTV das Profil verliehen, das ich gerne hätte. “ Sie sagt, daß ihr bei Live aus Berlin „Substanz und Kanten“ fehlen. Im Konflikt zwischen Kanten und Quoten habe sie sich aber entschieden, mit Telephonspielen erst einmal die Massen zu gewinnen, um ihnen dann irgendwann auch Schräges zuzumuten. „Das ist“, meint Ulmen, „als wollte ich ein Kind dazu bringen, Spinat zu essen, indem ich ihm erstmal ganz viel Süßigkeiten gebe“. Doch die Berlin-Sendung war nicht nur als Zucker für die breite Masse, sondern auch für die Medienanstalt Berlin-Brandenburg entwickelt worden. Die bedankte sich und gab MTV den Vorzug vor Viva bei der Vergabe eines guten Kabelplatzes.

Christiane zu Salm, 32, ist seit einem Jahr Geschäftsführerin von MTV-Central Europe. Sie hat gründlich aufgeräumt. Heute ist kaum ein Mitarbeiter von damals mehr in leitenden Positionen. Komplette Abteilungen sind ausgewechselt; nach Ulmens Kündigung wollen weitere langjährige MTV-Mitarbeiter gehen. Jegliche Spuren ihrer Vorgänger beseitigte Salm, kündigte vorzeitig der Werbeagentur, beendete die Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma MME, ließ Eigenproduktionen und Design außer Haus entwickeln.

Salm sagt, all das sei nötig gewesen: „Kreativität ist nichts ohne Strukturen, und bei uns war alles immer ein Chaos. “ Alte MTVler nennen dieses Chaos den „Spirit“, der MTV ausgemacht habe. Eine von denen, die frustriert gegangen sind, trägt den schönen Namen Silke Super, bunte Haaren und schräge Klamotten. Sie war für die Kontakte zu Künstlern und der Musikindustrie verantwortlich und wird es in Zukunft für Viva sein: „Musik hat viel mit Gefühl und Identifikation zu tun“, sagt sie. „Man muß als Geschäftsführer nicht unbedingt selbst dieses Gefühl haben. Aber man muß die Leute holen, die es haben. “ Christiane zu Salm holte stattdessen Experten des Mainstream wie Programmchef Christofer Sebald – Ex-Vera-am-Mittag. „Mir fehlt bei MTV heute Liebhaberei“, sagt Super: „Man kann Lifestyle nicht vom grünen Tisch verkaufen. “ Ehemalige Verantwortliche sagen, kein anderer Sender müsse so sehr aus dem Bauch gemacht werden wie MTV. Es sind zwei Welten: Punks, die sich Silke Super nennen und auch so aussehen, und Anzugträger, die die Regeln des Privatfernsehens kennen und für die „Bauchgefühl“ ein anderes Wort für Dilettantismus ist. Salm verabreicht ihre Kulturschocks nicht mit Fingerspitzengefühl.

Die Mannschaft, die sie bei ihrem Amtsantritt vorfand, nennt sie „Hiwis“. Dem Vorwurf, sie habe viele Leute telephonisch aus ihrem Urlaub gefeuert, in den sie gleich nach ihrem Amtsantritt gefahren ist, widerspricht sie: „Die wurden alle vorher entlassen. “ Und bei der Telemesse steht sie vor ihren Moderatoren und erzählt, daß gerade die Moderatoren noch ein Schwachpunkt seien.

Anfang vergangener Woche verkündete MTV nur zwei Monate nach der Programmreform den Erfolg: Viva, bislang weit in Führung, sei überholt worden. Die Zahl der MTV-Zuschauer habe sich nach einer Umfrage des Instituts Phone Research gegenüber 1998 fast verdoppelt. Phone Research sitzt im gleichen Gebäudekomplex wie MTV und ermittelt seit Jahren auch in schlechten Zeiten gute Zahlen für den Sender. Intern arbeiten MTV und Viva mit handfesten GfK-Zahlen. Die gibt es, die Sender müßten aber Millionen bezahlen, um sie veröffentlichen zu dürfen. Laut GfK hat MTV in den ersten beiden Monaten seinen Marktanteil in der Zielgruppe tatsächlich fast verdoppelt, bleibt aber deutlich hinter Viva zurück. Experten führen das darauf zurück, daß MTV seit Januar unverschlüsselt über Satellit zu empfangen ist und doppelt so viele Haushalte erreicht.

Bitte nicht edgy

Dabei sind Quoten nur ein Nebenkriegsschauplatz. MTV und Viva erreichen beide nur Marktanteile im Promillebereich, in der Zielgruppe zwischen ein und zwei Prozent. Niemand wirbt bei einem Musiksender wegen der Zuschauermassen, sondern wegen der engen Verzahnung von Programm und Werbung und der Glaubwürdigkeit der Marke. „Schnell Quoten zu schaffen, wäre kein Problem“, sagt Viva-Chef Dieter Gorny: Man spiele einfach nur Top 20. Doch eine Marke, die Teil der Lebenswelt der Jugendlichen wird und Trends setzt, erzeuge man damit nicht. Salms Vorgänger Michael Oplesch hatte dennoch die Musikauswahl auf Top-40 umgestellt. „Wir mußten gegenüber der Plattenindustrie einen Schlingerkurs verkaufen, bei dem alle drei Monate die Richtung geändert wurde“, sagt Silke Super. Christiane zu Salm gab zwar offiziell die Devise „Back to the roots“ aus. Aber, sagt Super: „Das wurde nur ein Weilchen durchgezogen. Dann hieß es wieder: Bitte nicht zu edgy, verkaufen muß es sich auch.“

Was also wird aus MTV? „Wenn es das Ziel ist, Quote zu machen, werden sie das auch schaffen“, sagt Christian Ulmen, „wenn auch auf Kosten der Identität des Senders“. Den Erfolg von MTV garantiert eine solche Hinwendung zum Seichten in der Tat nicht. „Alarm war von Künstlern, die dort auftreten wollten und das Ambiente liebten, Monate vorher ausgebucht“, sagt Silke Super. Bei Live aus Berlin ist das, Quote hin oder her, offenbar anders. Einige prominente Stars sollen sich weigern, dort überhaupt aufzutreten.