Frankfurter Allgemeine Zeitung
Skandal am Rande: Was hatte Kerner in Erfurt zu suchen?
Den 26. April 2002 wird der elfjährige Mike sein Leben lang nicht vergessen. Es war der Tag, an dem er morgens sah, wie ein Amokläufer durch seine Schule lief und Menschen erschoß. Und es war der Tag, an dem er abends eine Stunde lang frierend unter einem Zeltdach in der Nähe stand, um sich von Johannes B. Kerner fragen zu lassen: „Nun bist du elf Jahre alt, und wir wollen von einem Elfjährigen nicht verlangen, daß man sich sozusagen große Gedanken in einem großen Zusammenhang macht, aber wenn du sagst, du hast dir Gedanken gemacht, welche waren das?“
Das ZDF hatte seine Berichterstattung am späten Freitagabend in die Hände von Kerner gegeben, der angereist war und von dort live, „in Sichtweise des Gutenberg-Gymnasiums“, ein „JBK Spezial“ veranstaltete. Die ganze Sendung lang standen die Gesprächspartner unter einem Zeltdach, traten von einem Bein aufs andere, warteten, daß Kerner sie fragte: Ministerpräsident Vogel, ein Psychologe, ein Seelsorger, ein Beamter aus dem Innenministerium und eben Mike, den Kerner vorstellte als „ein Schüler, der heute dramatische Bilder hat sehen müssen und lange daran arbeiten muß, etwas zu verarbeiten – Mike, wir werden mit aller Vorsicht mit dir sprechen.“ Mit aller Vorsicht fragte Kerner den Jungen dann, wann Schulanfang war, was auf dem Stundenplan stand, in welchem Gebäudeteil er war, als die Schüsse fielen, welche Erinnerungen er an den Moment habe, da sie alle merkten, daß etwas passiert sei, ob er den Täter habe anschauen können, wie der ausgesehen und ob er eine tote Lehrerin gesehen habe. Dann sagte Kerner: „Mike, ich danke dir erstmal ganz herzlich für die Berichterstattung“, und fügte hinzu: „Ich habe nachher noch zwei, drei Fragen an dich. Danke, daß du bei uns bist.“
Selten hat man Johannes B. Kerner so angespannt gesehen. Er starrte, mechanisch nickend, seine Gesprächspartner an, die Konzentration war ihm an den Wangenknochen abzulesen. Es war eine Sendung wie aus der Steinzeit des Privatfernsehens. Tonprobleme machten Passagen des Gesprächs unverständlich, was möglicherweise ein Segen war. Nachdem Bernhard Vogel flehte, die Diskussion über Ursachen nicht gleich heute zu beginnen, erwiderte Kerner: „Es wird viel gesprochen über Gewalt an Schulen, auch über die andere Seite, von möglicherweise zu großem Druck. Offensichtlich sind die Hintergründe der Tat ja die, daß der Attentäter zweimal nicht zum Abitur zugelassen war, den Leistungsanforderungen nicht entsprechen konnte und für sich keine Zukunft sah.“
Den Psychologen fragte er: „Können Sie ohne persönliche Kenntnis eine Art Profil dieses Täters, dieses jungen Mannes abgeben, warum er eine solche Tat beging?“ Und als der, sehr spekulativ, wie er betonte, eine Reihe möglicher Auslöser aufgezählt hatte, beharrte Kerner: „Also Rache als Beweggrund für die Tat.“ Sichtlich erschöpft verneinte der Psychologe, doch Kerner war schon das Sprachrohr für eine Gesellschaft geworden, die, acht Stunden nach Bekanntwerden des Massakers, endlich, endlich abschließende Antworten wollte.
Kerner war überfordert, die Szenerie absurd, die Pannen nervig, und das ZDF hat sich durch seine Entscheidung, das Thema live um 23 Uhr mit einem elfjährigen Augenzeugen zu diskutieren, auf Jahre hinaus für jede Diskussion über journalistische Standards disqualifiziert. Darum war auch die Entscheidung des Senders, sich viermal die Woche mit „JBK“ zu profilieren, so verheerend: Nicht weil dadurch die Verona Feldbuschs dieser Welt mit ihren Boulevardthemen Einzug ins Programm halten. Sondern weil dadurch alle Themen systematisch boulevardisiert werden. Das Problem ist nicht Kerner und seine Unfähigkeit, Gespräche zu führen. Das Problem ist, daß das ZDF Teile seines Informationsauftrages aus der Hand gegeben hat, an die „Spiegel“-Tochter a + i, an eine Redaktion mit Boulevard-Ethik, an einen gelernten Betriebswirt und Daily-Talker. Das ist das Problem. Und ein Skandal.