Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Man müsste die Menschen inzwischen davon abhalten, versehentlich Sender wie Phoenix einzuschalten. Nicht auszudenken, welchen Einfluss es auf die Politikverdrossenheit im Land hat, wenn eine größere Zahl von Bürgern häufiger die Bundeskanzlerin im ungekürzten Original reden hören würde – wie neulich nach der Sparklausur der Bundesregierung vor der Bundespressekonferenz: „Wir haben ganz klar gesagt, wir müssen jetzt zeigen, 2011, 2012, 2013, 2014, die gesamte mittelfristige Finanzplanung muss überschaubar sein, und damit kommt Stabilität und Verlässlichkeit auch in diese Dinge hinein. Trotz aller schwieriger Entscheidungen sage ich: Dieses ist notwendig. Notwendig für die Zukunft unseres Landes. Auch wenn, das will ich ganz deutlich sagen, es ernste Stunden waren und ich es auch für eine durchaus ernste Situation für unser Land halte, aber ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können, wenn wir das jetzt auch so umsetzen, und das ist uns in harter Arbeit gelungen.“
Man sehnt sich fast nach abgegriffenen Bildern wie einem enger zu schnallenden Gürtel, nach irgendeinem Appell, nach etwas Scheinkonkretem, einem Substantiv, an dem man sich festhalten könnte anstelle der ganzen dürren „das“ und „dieses“ und „diese Dinge“. Selbst ihr vermeintliches „Machtwort“, das sie Tage später sprechen wird, mündet in die hilflose Formulierung, es gehe jetzt darum, „dass wir das jetzt Realität werden lassen“.
Das einzig Konkrete, auf das sich Merkel einlässt, ist die Dauer der Verhandlungen. Die siebzehn Stunden müssen den Ernst der Lage symbolisieren und die Ernsthaftigkeit des Lösungsversuches beweisen. Sie dienen als Scheinbeleg dafür, dass es unvernünftig wäre, jetzt noch über den Inhalt des beschlossenen Paketes zu streiten.
Merkel sagt: „Wir haben uns vorgenommen, Deutschland zu einer Bildungsrepublik zu entwickeln. Wir wissen, dass wir auf einem guten Niveau aufbauen können. Aber wir wissen auch, dass noch eine lange Strecke zurückzulegen ist, bevor wir unser Ziel erreichen können.“ Merkel sagt: „Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen.“ Merkel sagt: „Wir haben im Rahmen der Neujustierung von Sozialgesetzen vor allem darauf geachtet, wie wir die Arbeitsmarktpolitik auch effizienter gestalten.“ Merkel will „die Arbeitsvermittlung zielgerichteter ausrichten können, und wir veranschlagen auch durch diese zielgerichtetere Arbeitsmarktpolitik ausgerichtet auf bestimmte Gruppen dann, dass wir in den Jahren 2013 und 2014 dann auch sichtbare Erfolge sehen in Form von geringeren Leistungen für Hartz-IV-Empfänger“. Merkel will „nach der Bewältigung der Krise in die Exit-Strategie einsteigen“. Und Merkel will „die Bundeswehr zukunftsfähig machen. (. . .) Hier werden wir natürlich auch in den nächsten Monaten sehr intensiv darüber sprechen müssen, was das bedeutet und welche notwendigen Strukturänderungen hier vorgesehen sind.“
Das ist das Äußerste, das man von dieser Bundeskanzlerin erwarten kann: dass man „sehr intensiv“ über etwas spricht. Es ist auch ihr Trick, wenn sie selbst zu ahnen scheint, dass ihre Sätze so abgemagert und blutleer sind, dass womöglich selbst die abgestumpftesten professionellen Beobachter sie nicht mehr als berichtenswert oder nachrichtentauglich akzeptieren würden: Sie streut Wörter wie „wirklich“ oder „konkret“ oder gar „sehr praktisch“ über ihre Sätze. Dann schaffen es selbst ihre Sprachhülsen wie die über ihre Gespräche mit Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew in die „Tagesschau“: „Deshalb ist die Zeit gekommen, hier wirklich in eine Phase einzutreten, wo wir sehr konkret sagen, was müsste gemacht werden . . .“ Oder: „Ich hoffe, dass wir auf einem sehr praktischen Pfad dazu kämen, unsere Zusammenarbeit auf eine neue Stufe zu heben.“
Als die Regierungsparteien im Reichstag ihren Präsidentenkandidaten Christian Wulff vorstellten, erklärte die Bundeskanzlerin der Nation diese Wahl damit, dass er „in einer Zeit, in der es um die Zukunft Europas geht, Verantwortung für unser Land übernimmt und bereit ist, auch mit den Menschen einen Weg zu gehen, der sicherlich nicht immer auch in den nächsten Jahren einfach ist, aber auch ein Land zu repräsentieren, das ein wunderbares Land ist, und in dem wir natürlich auch eine gute Zukunft gestalten wollen“.
Man muss davon ausgehen, dass sie das genau so meint, in aller Formelhaftigkeit, die man trotz des Bildes vom gemeinsamen Wandern des Volkes mit dem Bundespräsidenten nicht einmal mehr blumig nennen mag.
Die Sprache der Angela Merkel wirkt längst nicht mehr so, als würde die Kanzlerin bloß, wie es Politiker immer schon getan haben, vage formulieren, um keine Angriffsflächen zu bieten. Es scheint, als habe sich diese hohle, technokratische, abstrakte, phantasielose Sprache, umgekehrt, längst des Denkens bemächtigt. Als sei sie kein Mittel zum Zweck mehr, sondern Ausdruck einer tatsächlichen Beschränktheit. Ohnehin sind die Zeiten vorbei, in denen die alten Verschleierungs- und Beschönigungstaktiken sinnvoll erscheinen könnten – und, wie Merkel, nicht vom Senken von Ausgaben zu sprechen, sondern vom „Verstetigen von Ansätzen“ und vom „Austarieren von Lücken“.
Das Beschreiten von Wegen und das Gestalten von Zukunft sind die beiden Metaphern, die Merkels Sprache dominieren. Vor allem letztere korrespondiert dabei mit einer echten Sorge der Menschen: Ob Politik heute und morgen überhaupt noch die Möglichkeit hat, die Lebensverhältnisse entscheidend zu bestimmen. Umso verheerender ist es, dass Merkel ausgerechnet daraus ihre Lieblingsleerformel geschnitzt hat – es aber natürlich dabei belässt, zu fordern, dass die Zukunft gestaltet können werden muss, ohne zu sagen, welche Gestalt sie denn nach ihren Vorstellungen haben soll.
Tragisch ist es allerdings, wenn der interessierte Bürger nicht einmal mehr in den Journalisten Verbündete hat im Kampf gegen die erschütternde Sprachlosigkeit der Mächtigen. Nach der traurigen Präsentation von Wulff als Präsidentenkandidaten, die weniger als vier Minuten dauerte, an deren Ende die routiniert vorgetragenen Leerformeln schon wieder vergessen waren, zeigte sich die Hauptstadtbüroleiterin des ZDF sehr angetan. „Dieses war, wie es sein sollte“, kommentierte Bettina Schausten direkt im Anschluss, „nämlich eine würdige Präsentation. Alle haben dies kurz und knapp, aber durchaus mit Freude im Gesicht absolviert.“ Als „würdig“ müsste man demnach ungefähr jeden öffentlichen Auftritt bewerten, der ohne Einsatz von Furzkissen auskommt.